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Magdalena Majewska (München)



Heraufholung und Bewältigung von Vergangenheit in Toni Morrisons Beloved



Recovering and Overcoming the Past in Toni Morrison's Beloved
Toni Morrison's novel Beloved is concerned with the traumatic experience of African Americans and with the necessity to struggle with the past. Morrison emphasises the significance of history for the construction of individual and collective images of the self. In finding a personal history and exchanging this history with those of others the wounds of the past may be healed. But these necessary histories do not come to the individual and the collective ready made. They have to be constructed and reconstructed from fragments of memory before they may initiate the process of recovery. The essay attempts to trace the complex process of recovering and overcoming the past in the narrative and thematic composition of the novel.



1 Einleitung

In ihrem Essay "The Site of Memory" spricht Toni Morrison von der Verantwortung, die afro-amerikanische Schriftsteller der Vergangenheit gegenüber haben und über die Notwendigkeit, Aspekte der Sklaverei, über die geschwiegen wird, offenzulegen. Dies ist laut Toni Morrison gerade die Aufgabe der Schriftsteller, nicht etwa der Historiker. Fiktion kann eine Wahrheit vermitteln, die der Geschichtsschreibung nicht zugänglich ist, so betont die Autorin auch an anderer Stelle (in: Taylor-Guthrie 1994: 245). Beloved ist der Versuch, Unaussprechliches auszusprechen und die Lücken im Geschichtsbild zu füllen.

Der Roman beschäftigt sich auf mehreren Ebenen mit Geschichte. Mit der individuellen Geschichte der Protagonistin Sethe, die auf einem wahren Ereignis beruht, sind die Geschichten anderer Figuren verwoben. Allen gemeinsam ist eine kollektive Geschichte: die Geschichte der Afro-Amerikaner.

Ein zentrales Thema in Beloved ist die Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die Selbstdefinition der Figuren und ihr Verständnis der Vergangenheit sind stark voneinander abhängig. Auf die Figuren des Romans hatte die Vergangenheit eine traumatisierende Wirkung, Erinnerung ist schmerzhaft. Ihre Geschichten liegen nicht fertig vor, so daß sie nur erzählt zu werden brauchen, sondern sie müssen erst erarbeitet und verarbeitet werden. Die Hauptpersonen Sethe und Paul D haben ihre Erinnerung größtenteils verdrängt, um psychisch überleben zu können. Die Fragmente dieser Erinnerungen müssen sie erst Stück für Stück zu einem Ganzen zusammenfügen. Genauso muß sich die Geschichte für den Leser schrittweise zusammensetzen, um erträglich zu sein.

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist ein komplexer Prozess, in dem der Impuls, Vergangenes zu verdrängen, mit sich aufdrängenden, unvermutet auftauchenden Bruchstücken der Vergangenheit kämpft. Doch Vergangenheit muss verarbeitet werden, damit eine Zukunft möglich ist. Auf welche Weise in Beloved Vergangenheit heraufgeholt und verarbeitet wird, soll im Folgenden untersucht werden.




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2 Verdrängung der Vergangenheit – Sethe und Paul D

Viele Jahre nach dem Erlangen der Freiheit sind die Protagonisten in Beloved immer noch stark traumatisiert durch die Erfahrungen und Auswirkungen der Sklaverei. Erinnerung und Verdrängung werden bereits auf den ersten Seiten des Romans thematisiert.

Von der Gemeinschaft der Schwarzen isoliert lebt Sethe, nach dem Weglaufen ihrer beiden Söhne und nach dem Tod ihrer Schwiegermutter Baby Suggs, ganz allein mit ihrer Tochter Denver im Haus 124 an der Bluestone Road. Das Haus wird von dem Geist des Kindes heimgesucht, das sie umgebracht hat, um es vor einem Leben als Sklavin zu retten. Durch den Geist ist die Vergangenheit ständig anwesend. Sethe versucht aber die Erinnerung an vergangene Erlebnisse aus ihrem Leben auszuklammern: "As for the rest, she worked hard to remember as close to nothing as was safe." (Beloved 6) Trotz der Versuche, sie zu verdrängen, wird die Vergangenheit oft unerwartet ins Gedächtnis geholt:

Unfortunately her brain was devious. She might be hurrying across a field, running practically, to get to the pump quickly and rinse the chamomile sap from her legs. Nothing else would be in her mind ... Then something. The plash of water, the sight of her shoes and stockings awry on the path where she had flung them; or Here Boy lapping in the puddle near her feet, and suddenly there was Sweet Home rolling, rolling rolling out before her eyes ... (Beloved 6)

 

Erinnerungen erweisen sich zudem als verräterisch, denn ohne daß sie es will und trotz all des Grauens, das sie mit dem Ort verbindet, erscheint die Plantage, auf der sie Sklavin war, als schön vor ihrem geistigen Auge: " ... although there was not a leaf that did not make her want to scream, it rolled itself out before her in shameless beauty." (Beloved 6) Sethe schämt sich für die nostalgische Verklärung, in der das Bild der schönen Bäume auf Sweet Home die Erinnerung an die Männer verdrängt, die an den Bäumen aufgehängt wurden.

Sethe versucht, die Vergangenheit von sich wegzuhalten, doch ihre Erinnerungen zerstören jeden Versuch, in der Gegenwart Fuß zu fassen: "Her brain was not interested in the future. Loaded with the past and hungry for more, it left her no room to imagine, let alone plan for, the next day" (Beloved 70). Ohne sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, ist Sethe in der Vergangenheit gefangen. Sie befindet sich in einem Zustand, in dem sie die Vergangenheit nicht vollkommen verdrängen kann, jedoch nicht fähig ist ihr entgegenzutreten. Die Zeit steht still für sie.

Das Auftauchen von Paul D, eines der Sklaven von Sweet Home, bewirkt jedoch ein Einsetzen schmerzhafter Erinnerungsprozesse. Er weckt in Sethe Erinnerungen an die Plantage, an den Besitzer Schoolteacher und an ihren Mann Halle, den sie seit ihrer Flucht nicht mehr gesehen hat. Paul Ds Anwesenheit bedeutet für Sethe, sich wieder erinnern zu müssen, aber auch sich erinnern zu können, jemandem zu vertrauen, wieder Pläne machen zu können: " temptation to trust and remember [...] to go ahead and feel [...]. Go ahead and count on something." (Beloved 15)

Sethe hat nach der Ankunft im Haus ihrer Schwiegermutter versucht, die grausamen Erlebnisse zu vergessen, so wie Baby Suggs es ihr geraten hat. Nach Sethes Entlassung aus dem Gefängnis kommen sie und Baby überein, daß die Vergangenheit unaussprechbar ist. Paul D davon zu erzählen, daß sie vergewaltigt und brutal ausgepeitscht wurde, sich dem Schmerz hinzugeben, ist für Sethe eine Erleichterung:




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Maybe this one time she could stop dead still in the middle of a cooking meal – not even leave the stoveand feel the hurt her back ought to. Trust things and remember things, because the last of the Sweet Home men was there to catch her if she sank? (Beloved 18)


Einerseits kann sie nun die schrecklichen Erlebnisse mit jemandem teilen, was Erlösung bedeutet, andererseits leben viele quälende Erinnerungen gerade durch seine Anwesenheit wieder auf. Paul D bringt auch noch mehr schreckliche Bilder in ihr Leben, wie die des wahnsinnig gewordenen Halle und seiner eigenen Folterung.

Für sich alleine können beide die Vergangenheit verdrängen. Die Anwesenheit des anderen ruft Erinnerung hervor und zwingt zur Auseinandersetzung. Gleichzeitig können Erinnerungen, die für einen alleine zu schmerzhaft sind, gemeinsam überwunden werden: "Her story was beareable because it was his as well – to tell, to refine and tell again." (Beloved 99) So sehr die Charaktere versuchen, die Erinnerung an Vergangenes zu unterdrücken, sie verspüren auch den Wunsch zu erzählen.

Im Austausch ihrer Geschichten sind beide vorsichtig. Es ist schwer zu erzählen, aber es ist manchmal auch unerträglich zu hören. Sethe ist nicht bereit, Paul D alles mitzuteilen, er will aber auch nicht alles erfahren. Bis Sethe gezwungen ist, Paul D von dem Mord an ihrer Tochter zu erzählen, greift sie das Thema mehrmals auf, erzählt Stücke der Geschichte. Sie erwähnt schon früh, daß sie nach dem Auftauchen Schoolteachers im Gefängnis war, erklärt aber nicht warum. Sie sagt, daß ihre kleine Tochter tot ist, sagt aber nicht, wie sie gestorben ist. Sie ist nicht fähig, sich alles wieder in Erinnerung zu rufen und Paul D ermutigt sie nicht. Ihre Erinnerungen rufen in ihm wiederum schlimme Erinnerungen hervor: "Paul D turned away. He wanted to know more about it, but jail talk put him back to Alfred, Georgia." (Beloved 42) Umgekehrt hat Sethe Angst, all seine Erlebnisse zu hören: "Paul D had only begun, what he was telling her was only the beginning when her fingers on his knee, soft and reassuring, stopped him. Just as well. Just as well. Saying more might push them both to a place they couldn't get back from." (Beloved 72)

Anders als Sethe, die sich auf der Flucht aus der Sklaverei in die Freiheit nur auf die andere Seite des Ohio River bewegt hat, ist Paul D jahrelang gewandert, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sethe und Baby Suggs sind der Meinung, daß eine geographische Veränderung in Wirklichkeit nicht hilft, daß die Schrecken der Vergangenheit überall existieren und einen einholen können: "Not a house in this country ain't packed to its rafters with some dead Negro's grief." (Beloved 5)

Sie behalten Recht, denn obwohl Paul D seit dem Verlassen von Sweet Home einen sehr langen Weg zurückgelegt hat, findet er sich letztendlich am gleichen Punkt wie Sethe wieder. So sehr er sich bemüht hat, Sweet Home und all den Schmerz, den er damit verbindet, hinter sich zu lassen, er ist immer noch nicht frei von dem Grauen, das er erlebt hat. Sein Umgang mit der Vergangenheit wird durch die Tabakdose versinnbildlicht, in die er alle traumatischen Erlebnisse weggepackt hat und die sich an Stelle seines Herzens befindet. Um psychisch zu überleben, hat er in sich Gefühle abgetötet und läßt nur Gedanken über ganz alltägliche Dinge zu: "If he could do those things ... he asked for no more, for more required him to dwell on Halle's face and Sixo laughing." (Beloved 41)

Wärend Sethe, Denver und Baby Suggs sich mit der Anwesenheit des Geistes in ihrem Haus abfinden und verstehen, woher er kommt, vertreibt Paul D den Geist.




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Dies ist jedoch keine Lösung, denn die Schrecken der Vergangenheit sind nicht verschwunden. Anstelle des Geistes bringt Paul D neue gespenstische Bilder in das Leben von Sethe: "A blessing, but in its place he brought another kind of haunting: Halle's face smeared with butter and the clabber too; his own mouth jammed full of iron ... " (Beloved 96). Zudem tritt der Geist in der Gestalt einer jungen Frau leibhaftig in das Leben von Sethe – die Vergangenheit läßt sich nicht ohne weiteres aus dem Leben ausklammern.

Die unmenschliche Behandlung, die Paul D während seiner Zeit als Sklave ertragen mußte, hat sich stark auf seine Selbstwahrnehmung ausgewirkt. Solange Mr. Garner der Besitzer von Sweet Home war, wurden die männlichen Sklaven auch als Männer bezeichnet und mit Respekt behandelt. Sie durften Waffen tragen und ihre Meinung äußern. Als jedoch Schoolteacher die Plantage nach Garners Tod übernimmt, tut er alles, um die Selbstachtung der Männer zu vernichten, und läßt sie ihre Machtlosigkeit auf schmerzvolle Weise spüren. Dies wirft bei Paul D Fragen auf, ob seine Männlichkeit nicht mehr als nur ein Wort sei, das ihm von einem weißen Mann gegeben wurde, um von einem anderen wieder weggenommen zu werden. Als Paul D zur Strafe einen iron bit tragen muss und in Ketten gezwungen ist, sieht er dabei den Hahn, der ironischerweise Mister genannt wird, frei laufen. Ihm wird nicht nur auf schreckliche Art bewußt, daß sein Status dem eines Tieres gleicht, sondern er spürt sogar die Überlegenheit eines primitiven Tieres über sich selbst. Die Steigerung dessen, was er auf Sweet Home erlebt, muß er wärend seiner Gefangenschaft in Alfred, Georgia, ertragen, wo die Männer in Käfigen gehalten und von den Wächtern mißbraucht werden.

All die unerträglichen Fragen bezüglich seiner eigenen Männlichkeit und Menschlichkeit werden wieder aufgerollt, als Paul D nicht dagegen ankämpfen kann, mit Beloved zu schlafen, als er gegen sie und seine Instinkte machtlos ist. Die Ängste in Bezug auf seine eigene Person, projiziert er auf Sethe. Er verweigert jegliches Verständnis für ihre schreckliche Tat und deutet an, ihr Verhalten wäre mehr animalisch als menschlich: "‘You got two feet, Sethe, not four’ ... How fast he had moved from his shame to hers." (Beloved 165) Paul D muß erst verstehen, wie die Grausamkeiten, die er erlebt hat, seine Persönlichkeit beeinflußt haben, bevor er Verständnis für Sethe aufbringen kann. Sethe und Paul D müssen einen weiten Weg gehen, bevor sie bereit sind, ihre Geschichten zusammenzulegen. Sie können sich nicht gegenseitig helfen, solange sie sich den eigenen Erinnerungen nicht gestellt haben.

 

3 Individuelle "rememory" und kollektive Erinnerung

Sethe formuliert den Unterschied zwischen persönlicher Erinnerung, die sie "rememory" nennt und kollektiver Erinnerung, die unabhängig davon, wieviel man verdrängt oder vergißt, existiert:

I was talking about time. It's so hard for me to believe in it. Some things go. Pass on. Some things just stay. I used to think it was my rememory. You know. Some things you forget. Other things you never do. But it's not. Places, places are still there. If a house burns down, its gone, but the place – the picture of it – stays, and not just in my rememory, but out there, in the world. What I remember is a picture floating around out there outside my head. I mean, even if I don't think it, even if I die, the picture of what I did, or knew, or saw is still out there. (Beloved 35–36)




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Vergangenheit existiert im kollektiven Bewußtsein unabhängig von dem individuellen Erinnerungsvermögen. Die Schrecken der Sklaverei sind für die Nachkommen, die sie nie erlebt haben, immer noch vorhanden. Davor hat Sethe Angst und davor will sie Denver beschützen.

Die kollektive Form des Erinnerns läßt zwar die Schrecken der Sklaverei nicht vergessen, fängt sie jedoch im Kollektiv auf. Sethe erinnert sich der glücklichen Tage nach ihrer Flucht, bevor Schoolteacher sie aufgespürt hat, als sie in eine Gemeinschaft eingebettet war und sich mit anderen Menschen austauschen konnte. Gespräche mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben, halfen das eigene Schicksal besser zu ertragen. Nach dem Mord an ihrem Kind ist sie von der Gemeinschaft ausgeschlossen und kann sich nicht im Schutz der Gemeinde mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Der Versuch jedoch, mit der Vergangenheit alleine fertig zu werden, gelingt nicht. Die Reaktion ist Verdrängung.

In einem Interview verweist Toni Morrison auf die Abhängigkeit zwischen Individuum und Gemeinschaft im Heilungsprozess:

And no one speaks, no one tells the story about himself or herself unless forced. They don't want to talk, they don't want to remember, the don't want to say it, because they are afraid of it – which is human. But when they do say it, and hear it, and look at it, and share it, they are not only one, they're two, and three, and four, you know? The collective sharing of that information heals the individual – and the collective. (Taylor-Guthrie 1994: 248)

 

4 Beloved als Inkarnation der Vergangenheit

Die titelgebende Gestalt steht gleichzeitig für eine individuelle und eine kollektive Vergangenheit. Toni Morrison äusserte gegenüber Marsha Darling, daß sie Beloved vor allem auf zwei Ebenen funktionieren lassen wollte. Auf der persönlichen Ebene stellt sie die Reinkarnation von Sethes Tochter dar. Zur gleichen Zeit aber verkörpert sie eine Überlebende der Middle Passage und ist damit repräsentativ für alle Opfer der Sklaverei (Taylor-Guthrie 1994: 247). In einer traumatisierten Sprache beschreibt sie etwas, was als das Jenseits, aber auch als die Zustände auf einem Sklavenschiff verstanden werden kann:

in the beginning the women are away from the men and the men are away from the women storms rock us and mix the men into the women and the women into the men ... She was about to smile at me when the men without skin came and took us up into the sunlight with the deadand shoved them into the sea [...]. (Beloved 213–214)


Susan Bowers bemerkt: "Beloved ... is the embodiment of the collective pain and rage of the millions of slaves who died on the Middle Passage and suffered the tortures of slavery." (Middleton 1997: 217) Sie ist der Geist der kollektiven Vergangenheit der Afro-Amerikaner. Dies erkennen in ihr auch die Mitglieder der Gemeinde – einen Repräsentanten der "people of the broken necks, of fire cooked blood." (Beloved 181)




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Im Unterschied zu Denver erkennt Sethe Beloved lange Zeit nicht. Deborah Guth argumentiert in diesem Zusammenhang, es sei folglich nicht die Erinnerung, die Vergangenheit in Form von Beloved aufleben läßt, sondern es ist die wieder auferstandene Vergangenheit, die die Erinnerung langsam weckt. Beloved kommt leibhaftig, um dem ständigen Vergessen und Meiden entgegenzuwirken (Guth 1993: 585).

Tatsächlich bringt sie das Verdrängte und das Traumatische an die Oberfläche. Paul D sagt zu Stamp Paid: "She reminds me of something. Something, look like, I'm supposed to remember." (Beloved 234) Sie öffnet die Tabakdose, in der er all seinen Schmerz verschlossen hat: "he didn't hear the whisper that the flakes of rust made either as they fell away from the seams of his tobacco tin." (Beloved 117) Sie zwingt ihn, sein Herz zu spüren. Als er sie beim Namen nennen soll, reagiert sie so lange nicht, bis er "Red Heart" schreit.

Beloved hat auf gewisse Weise eine heilende Funktion. Sie spricht die größten psychischen Bedürfnisse von Sethe, Denver und Paul D an und lebt sie aus. Sie erfüllt Denvers Wunsch, Sethe und Paul D zu trennen, und ist für Denver auch eine Erlösung aus ihrer Einsamkeit. Durch Beloved fühlt Denver die Geschichte ihrer Geburt nach.

Beloveds Anwesenheit hat anfangs eine wohltuende Wirkung auf Sethe. Sie glaubt ihrer Vergangenheit endlich entgegentreten zu können: "Now I can look at things again because she is here to see them too. After the shed I stopped." (Beloved 201) Sethe denkt, mit Beloveds Rückkehr sei die Last der Vergangenheit von ihren Schultern genommen worden: "I couldn't lay down nowhere in peace, back then. Now I can. I can sleep like the drowned, have mercy. She come back to me, my daughter, and she is mine." (Beloved 204) Beloved ist ein Katalysator, der Unterdrücktes freiläßt. Durch sie kann sich Sethe zum ersten Mal an Vergangenes erinnern, ohne Schmerz zu verspüren:" ... she found herself wanting to, liking it. Perhaps it was Beloved's distance from the events itself, or her thirst for hearing it – in any case it was an unexpected pleasure." (Beloved 58) Sethes Wunsch die Vergangenheit ruhen zu lassen und mit ihren Töchtern so zu leben, wie es vor dem Mord war, wird jedoch von Beloved sabotiert, denn ihr ständiges Verlangen nach Erklärungen und Wiedergutmachung führt die Selbstzerstörung Sethes herbei.

Die von Beloved verkörperte Vergangenheit ist auch destruktiv. Sie zehrt an der Gegenwart wie ein Vampir. Im Laufe der Handlung werden Beloveds Forderungen immer größer, ihr Hunger immer unstillbarer. Wärend sie selbst immer mehr ißt und grösser wird, verschwindet Sethe fast. Sethes Körper und Psyche werden ausgesaugt.

Diese bedrohende Wirkung des Geistes der Vergangenheit bringt die Gemeinde schliesslich dazu, gegen sie vorzugehen. Ella, die gewissermaßen repräsentativ für die Frauen in der Gemeinde ist, lehnt sich dagegen auf, daß die Vergangenheit über die Gegenwart regiert: "Whatever Sethe had done, Ella didn't like the idea of past errors taking possession of the present." (Beloved 256)

Beloved, die die Kraft nicht akzeptierter Erinnerungen repräsentiert, hat Macht, solange diese nicht eingestanden werden. So kann sie, zum Beispiel, Paul D aus dem Haus treiben und Denver ausschliessen (Page 1995: 137). Die Mitglieder der Gemeinschaft werden gezwungen zu erkennen, was Beloved in ihrem eigenen inneren Leben symbolisiert. Nur so kann Beloved exorziert werden.




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Sie müssen den Mut finden, sich mit den eigenen unartikulierten, unterdrückten Erinnerungen zu konfrontieren. Stamp Paid hat seine Frau verlassen, nachdem sie vom Plantagenbesitzer sexuell missbraucht worden ist. Er begreift, daß auch er nicht ohne Schuld ist und nicht ohne weiteres mit der Vergangenheit abschliessen kann. Ella erinnert sich an ihre schrecklichen Erlebnisse, als sie von zwei weißen Männern gefangengehalten wurde. Sie muss sich eingestehen, daß sie mit Sethe etwas gemeinsam hat, denn sie selbst hat ihr Kind von einem der weißen Männer sterben lassen. Die Erinnerung löst in ihr einen Schrei aus, in den die anderen Frauen der Gemeinschaft einstimmen. Sie formen ein Urgeräusch, mit dem sie Beloved zum Verschwinden bringen. Sie kann nur exorziert werden, wenn die ganze Gemeinschaft zusammenhält und die Vergangenheit konfrontiert.

 

5 Denver als zukunftsweisende Figur

Denver ist an Vergangenheit nicht interessiert: "Besides, she had her own set of questions which had nothing to do with her past. The present alone interested Denver ... " (Beloved 119) Die einzige von Sethes Erinnerungen, die sie immer wieder hören möchte, ist die Geschichte ihrer eigenen Geburt. Diese Erzählung ist für sie eine Zuflucht vor anderen, schrecklichen Geschichten aus einer Welt, die sie nie kennengelernt hat.

Obwohl Denver selbst keine schlimmen Erinnerungen hat, ist sie durch die Vergangenheit Sethes stark betroffen. Sie leidet unter der Isolierung von der Gemeinschaft und der Flucht der beiden Brüder als Folgen des Mordes an Beloved. Einsamkeit wurde zum Kern ihrer Identität.

Sethes Vergangenheit macht sie zu einer Gefangenen. Das Haus und seine nähere Umgebung ist alles, was Denver kennt und kennen will. Die Zeit, in der sie mehr kennenlernen wollte und am Unterricht in der Schule teilnahm, wird schnell beendet, als Sethes Vergangenheit sie heimsucht – die Frage des Jungen Nelson Lord nach dem Mord an ihrer Schwester bedeutet das Ende sozialer Kontakte für Denver. Sie verschließt buchstäblich die Ohren vor der Wahrheit und verliert für zwei Jahre ihr Gehör. Taubheit wird zum Schutz vor unerträglichem Wissen. Aber Wissen und Erinnerung sind notwendig für das Schaffen einer persönlichen Geschichte und einer Identität. So konnte sich Denver nicht zu einem eigenständigen Individuum entwickeln. Erst drückt der Geist ihre Gefühle aus: "Now it held for her all the anger, love and fear she didn't know what to do with." (Beloved 103) Dann macht sie ihr Selbstverständnis von Beloved abhängig, und sie braucht ihren Blick, um sich als ganz zu empfinden. Als sie sich mit Beloved in der Scheune befindet und Beloved sich im Dunkeln auflöst, hat Denver das Gefühl, sich auch aufzulösen. Sie muss jedoch erwachsen werden und Verantwortung übernehmen, als Sethe und Beloved gewissermaßen die Rollen tauschen: "Beloved bending over Sethe looked the mother, Sethe the teething child." (Beloved 250) Als Nelson Lord zu ihr sagt: "Take care of yourself, Denver," ist das für sie ein neuer Gedanke: "a new thought, having a self to look for and preserve." (Beloved 252)

Denver wird in dem Roman eine zukunftsweisende Funktion zugedacht. Sie wurde auf dem Weg in die Freiheit geboren – während der Überquerung des Ohio River auf einem Floss. Ihr Name symbolisiert Hoffnung, denn sie wurde nach dem weißen Mädchen Amy Denver benannt, das ihrer Mutter bei der Geburt geholfen hatte. Sie ist es, die es schafft, sich von dem Haus frei zu machen, in die Welt hinausgehen und damit eine Zukunft zu ermöglichen. Sie bestreitet ihren Weg in die Selbständigkeit und in die Gesellschaft. Als sie hinausgeht, um Hilfe zu finden, schafft sie es, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden und bewirkt letztendlich Rettung für alle, indem sie die Gemeinschaft dazu bringt, Beloved zu vertreiben. Sie schlägt auch einen völlig neuen Weg ein, indem sie im Haus der Bodwins Bücher liest und sogar an weitere Bildung denkt.




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Auf ihrem Weg zu einem Selbst-Sinn ist das Erzählen ein entscheidender Schritt. Beloveds Hunger nach Geschichten bringt Denver dazu, die Umstände ihrer Geburt zum ersten Mal selbst zu erzählen. Zum ersten Mal spielt sie in der Erzählung über ihre Geburt eine aktive Rolle, statt sie aus Sethes Mund zu hören. Erst als sie Beloved die Geschichte selbst erzählt, wird diese vollständig – Narration wird zur Kreation. Shlomith Rimmon-Kennan sagt: "It is through memory (as focalizer) and storytelling (as narrator) that Denver claims ownership of her own birth and gains access to a self." (Rimmon-Kennan 1996: 124)

 

6 Heilung durch Erinnerung

Rimmon-Kennan beobachtet, daß in Beloved Erinnerung mit Zusammensetzung des Körpers verbunden ist, wärend das Nicht-Erinnern in physischer Fragmentation zum Ausdruck kommt (Rimmon-Kennan 1996: 114). Sethe verbindet das Aufleben der Erinnerung nach dem Auftauchen Paul Ds mit dem Wiederentdecken ihres Körpers: "Paul D dug it up, gave her back her body, kissed her divided back, stirred her rememory, and brought her more news." (Beloved 189)

Erinnerung ist ein wichtiger Teil der Identität. Bei Beloved drückt sich die Abwesenheit eines eigenständigen Selbst in körperlicher Fragmentation aus – sie verliert einen Zahn und befürchtet in Stücke zu zerfallen (Beloved 133). Beloved kann sich zwar an Erlebtes erinnern, unterscheidet dabei aber nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart: "it is always now there will never be a time when I am not crouching and watching others who are crouching too I am always crouching ... it is the crouching that is now and always now." (Beloved 210–211) Sie kann die Erinnerung nicht nutzen, um eine persönliche Geschichte zu konstruieren.

Beloved ist abhängig von der Fusion mit Sethe, um Teile ihrer Selbst zu integrieren. Sie kann ihren eigenen Körper von dem ihrer Mutter nicht unterscheiden: "I am not separate from her there is no place where I stop her face is my own and I want to be there in the place where her face is and to be looking at it too" (Beloved 210). Am Ende wird Beloved, die sich nicht erinnern kann, von anderen nicht in Erinnerung behalten: "They forgot her like a bad dream ... Remembering seemed unwise." (Beloved 274)

Angst vor Zerstückelung ist ein sich wiederholendes Motiv in Beloved und das Zeichen einer fehlenden psychischen Ganzheit. Nachdem Sethe ihre Tochter und damit, wie sie glaubt, den besten Teil ihres Selbst verloren hat, glaubt sie in Stücke zerfallen zu müssen. Dagegen erinnert sich Paul D daran, was Sixo über die "Thirty-Mile Woman" sagt, als er seine Gefühle für Sethe ausdrücken will: "She is a friend of my mind. She gather me, man, the pieces I am, she gather them and give them back to me in all the right order." (Beloved 272–273)

Toni Morrisons Verfahren mit Geschichte folgt den Erkenntnissen der modernen Psychoterapie. Um ein schmerzliches Ereignis aus der Vergangenheit zu bewältigen, muß das ursprüngliche Trauma wieder durchlebt werden. Susan Bowers schreibt:

Contemporary research on treatment for post-traumatic stress syndrome indicates that support and caring from others can help victims to heal, but that the most crucial part of healing is the unavoidable confrontation with the original trauma and feeling the pain again. (Middleton 1997: 215)




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Amy Denver sagt über Schmerz: "[I]t's good for you. More it hurts more better it is. Can't nothing heal without pain, you know." (Beloved 78) So muß sich Sethe erinnern und den Schmerz wieder spüren. Beloveds Rückkehr macht den Prozess möglich. Der Kreis der Erinnerung wird geschlossen, als sich die Ereignisse von vor achtzehn Jahren zu wiederholen scheinen. Damals kam Schoolteacher, um Sethe und ihre Kinder zurück in die Sklaverei zu holen, und Sethe sah keinen anderen Ausweg, als die Kinder und dann sich umzubringen. Jetzt nähert sich der weiße Abolitionist Mr. Bodwin dem Haus um Denver zur Arbeit abzuholen, gerade als die Gemeinschaft sich vor Sethes Haus versammelt hat, um Beloved zu vertreiben. Sethe verwechselt ihn mit Schoolteacher und stürzt sich auf ihn, um ihn zu töten. In diesem Augenblick verschwindet Beloved. In dem von der Vergangenheit heimgesuchten Haus kehrt letztendlich Ruhe ein.

Dennoch ist Sethe nicht fähig sich aus eigener Kraft von dem erneuten Verlust ihrer Tochter zu erholen. Sie muß anfangen an ihren eigenen Wert zu glauben, sie muß glauben, was Paul D am Ende zu ihr sagt: "You your best thing, Sethe. You are." (Beloved 273) In ihrer Antwort "Me? Me?" schwingt die Hoffnung auf eine Zukunft mit.

Sethe muß den Weg aus dem Gefängnis der reinen Erinnerung finden und ihre Vergangenheit zu einer persönlichen Geschichte formen – eine Handlung, die es ihr möglich machen würde, in der Gegenwart zu leben. Dazu braucht sie einen Zuhörer, der an ihrer Erzählung der Geschichte teilnehmen wird (Scruggs 1993: 189).

 

7 Bewältigung der Vergangenheit durch Narration

David Lawrence weist darauf hin, daß Sprache, Verfügung über den eigenen Körper und Autorität über den Diskurs eng miteinander verbunden sind. Gleichzeitig haben Sprache und die Formulierung von Geschichte eine Identität konstituierende Funktion. Durch Sprache kann Bestimmung über das Selbst erreicht werden (Middleton 1997: 231–32). Unter der Institution der Sklaverei waren Weiße diejenigen, die Macht über Sprache und Diskurs hatten. Schoolteacher nimmt sich das Recht zu definieren. Sethe ist sich dessen bewußt, als sie Schoolteachers Reaktion auf Sixos Ausrede kommentiert. Nachdem Sixo Essen für sich gestohlen hatte, versucht er der Bestrafung zu entkommen, indem er zu Schoolteacher sagt, er vergrössere dessen Besitz, wenn er etwas ißt. Sethe bemerkt: " ... schoolteacher beat him anyway to show that definition belonged to the definers – not the defined." (Beloved 190)

Schoolteacher nützt seine Position als Bestimmer der Sprache und versucht die Identität von Sethe und der anderen Sklaven mit Hilfe "wissenschaftlicher" Praktiken zu umschreiben. Er reiht Sethes vermeintlich tierische und menschliche Züge in seinem Buch auf. Schoolteacher und seine Neffen hinterlassen auf Sethes Rücken Zeichen ihrer Macht als sie Peitschenhiebe darin "einschreiben." Wie Perez-Torres beobachtet hat, haben sich jedoch diejenigen, die mit der Abwesenheit von Macht leben, das Recht vorbehalten, Zeichen zu kodieren und zu dekodieren (Perez-Torres 1993: 697). Sie können Zeichen eine neue Bedeutung geben, so wie Amy Denver, die obwohl sie weiss ist, einen ähnlichen Status besitzt wie Sklaven, Sethes Narben als blühenden Baum beschreibt.

Auch Namenswechsel helfen den Charakteren, einen Sinn für Subjektivität zu erreichen. Der Namenswechsel wird zum Schaffen einer historischen Selbst-Identität. Baby Suggs nannte sich so mit dem Erlangen ihrer Freiheit, weil ihr Mann sie "Baby" genannt hat und sein Name Suggs war. Stamp Paid gibt sich seinen Namen ebenfalls selbst und will damit ausdrücken, daß er niemandem mehr zu etwas verpflichtet ist. Sethe wurde von ihrer Mutter nach ihrem Vater und dem einzigen Mann, den die Mutter geliebt hat, benannt. Auch Denvers Name hat eine individuelle Geschichte. Dagegen repräsentiert das D in Paul Ds Namen die Unpersönlichkeit der weißen Namensgebung für Schwarze.




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Genauso wie der Name, ist auch die Formulierung einer persönlichen Geschichte ausschlaggebend für das Schaffen einer Identität. Beide Akte sind Ausdruck des Willens zur Selbstbestimmung.

Susan Bowers bemerkt, daß die Figuren die Verbindung zu ihrer eigenen Vergangenheit verloren haben und damit auch einen Teil von sich selbst, etwas aus ihrem inneren Leben (Middleton 1997: 210). Vergangenheit wird totgeschwiegen, da sie unaussprechbar scheint: "Every mention of her past life hurt. Everything in it was painful or lost. She and Baby Suggs had agreed without saying so that it was unspeakable." (Beloved 58) Die Figuren müssen erst für das, was sie erlebt haben, Worte finden. Indem sie das tun, erlangen sie Autorität über die eigene Geschichte. Toni Morrison spricht dieses Problem im weiteren Kontext der afro-amerikanischen Geschichte im Gespräch mit Gail Caldwell an:

I said, then the slaveholders have won if this experience is beyond my imagination and my powers. It's like humor: You have to take the authority back; you realign where the power is. So I wanted to take the power They were very inventive and imaginative with cruelty, so I have to take it back – in a way that I can tell it. And that is the satisfaction. (Taylor-Guthrie 1994: 245)


Am Ende wird die Möglichkeit einer Zukunft für Sethe und Paul D als Zusammenlegen ihrer Geschichten präsentiert: "He wants to put his story next to hers." (Beloved 273) Perez-Torres schreibt in diesem Zusammenhang:

Suggesting a movement beyond the structures of patriarchy and the violence of slavery, Paul D realizes the need to rename and re-identify what their pasts and, as a result, what their future may be. He wants to put his story next to hers, to rewrite and so reroute the course of their narratives. (Perez-Torres 1993: 702)


Aus dem gemeinschaftlichen Austausch von Geschichten und Informationen entsteht ein kollektives Verstehen. Die Vergangenheit erhält Bedeutung als etwas, das über das erlittene Leid hinausgeht. Dadurch kann dieses Leid auch ertragen werden. Für Toni Morrison ist der Akt des Schreibens ein Weg, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit leichter zu machen:

There is necessity for remembering the horror, but of course there's necessity for remembering it in a manner in which it can be digested, in a manner in which the memory is not destructive. The act of writing the book, in a way, is a way of confronting it and making it possible to remember. (Taylor-Guthrie 1994: 247–48)


8 Narrative Strategien in Beloved

Die Erzählstruktur reflektiert die Schwierigkeiten der Charaktere in der Artikulation ihrer Geschichten. Der Leser wird mit einer Welt konfrontiert, in der er sich zunächst kaum zurechtfinden kann. Er ist den Charakteren nicht überlegen, sondern fühlt sich genauso verloren wie sie. Er muß auf Erklärungen warten, sich Fragmente von erzählter Information wieder in Erinnerung rufen und die Chronologie der Ereignisse langsam erstellen.




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Die Narration folgt der Entwicklung der Figuren. Es gibt einen allwissenden Erzähler, der die Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven schildert. Manchmal gibt er die Stimme an einen Erzähler in der zweiten Person ab und einen Ich-Erzähler bei Sethes, Denvers und Beloveds Inneren Monologen. Rückblicke bestimmen vorwiegend die Erzählung. Die Geschichte entwickelt sich nicht linear, sondern richtet sich nach der Art, wie sich die Figuren erinnern. Ein Bild, ein Wort löst die Erinnerung an ein Ereignis aus der Vergangenheit aus. Die Protagonisten beleben ihre Erinnerungen sehr vorsichtig. Sie erinnern sich fragmentarisch, denn die ganze Wahrheit kann nicht auf einmal ertragen werden.

Phillip Page bemerkt über dieser Art der Erzählung: "The novel must be told this way, the reader must wait to hear the full story, because that is the only way characters can remember their past, and therefore it is the only way the story can be told." (Page 1995: 143) Da keiner der Protagonisten die ganze Wahrheit auf einmal ertragen kann, muß der Leser abwarten und wird gezwungen, die Schwierigkeiten, mit denen die Charaktere kämpfen, nachzufühlen. Sethes und Paul Ds Erinnerungen sind oft so grausam und unaussprechlich, daß sie diese ablehnen, bevor sie zu kommunizierbarer Information verarbeitet werden können. Der Leser muß mit Fragmenten von Schmerz fertig werden und den inneren Kampf der Protagonisten miterleben, bis er schließlich emotional ähnlich erschöpft ist wie sie.

Der Mord an Beloved, zum Beispiel, stellt ein zentrales Problem dar, er wird aber erst in der Mitte des Romans geschildert. An einigen Stellen wird das Ereignis jedoch vorweggenommen. Bereits auf den ersten Seiten denkt Sethe an die Grabinschrift "Beloved," für die sie ihren Körper verkauft hat: "That should certainly be enough. Enough to answer one more preacher, one more abolitionist and a town full of disgust." (Beloved 5) Oft fängt Sethe eine Geschichte an und führt sie nicht weiter. Die Figuren überdenken manchmal ein Ereignis und erzählen es anders. Sie lassen eine Erinnerung fallen, um später zu ihr zurückzukehren. Das Erzählen ist voller Wiederholungen und Variationen und evoziert orale Literatur. Ähnlich der oralen Tradition gibt es keine autoritäre Sicht, nach der die Ereignisse beurteilt werden könnten, sondern die Geschichte wird von verschiedenen Erzählern geschildert.

Mit dem Fortschreiten des Romans sammelt sich eine Gemeinschaft von Erzählern. Die Ereignisse werden oft durch das Bewußtsein verschiedener Personen präsentiert, das sich überlappt. Die Umstände, die zu dem Mord geführt haben, werden nicht nur aus Sethes, sondern auch durch Stamp Paids und Baby Suggs Erinnerung erzählt, obwohl Baby zur Zeit der aktuellen Handlung bereits tot ist. Denvers Geburt wird zwei Mal geschildert. Beim ersten Mal erinnert sich Denver daran, was ihre Mutter ihr erzählt hat. Das zweite Mal konstruiert sie die Geschichte selbst aus den Informationen, die sie von ihrer Mutter und ihrer Großmutter bekommen hatte.

In Beloved folgt die Geschichte einer kreisförmigen, statt einer linearen Bewegung. Interessanterweise umkreist Sethe Paul D, als sie ihm von dem Mord an ihrer Tochter erzählt. Der Kreis der Erinnerungen schließt sich, als Sethe glaubt, Schoolteacher sei wieder zurückgekehrt. Die Narration schließt einen Kreis mit dem Wort "Beloved," das zugleich das erste und das letzte des Romans ist.

 

9 Schlussbemerkungen

Die Sklaverei hat in der Psyche derer, die unter ihr gelitten haben, tiefe Spuren hinterlassen. Beloved bietet eine Einsicht in das Innenleben der Opfer. Ihre Existenz ist von ernsthaften Verlusten gekennzeichnet. Unter der Institution der Sklaverei wurden ihnen Familie, Würde und ihr Selbst entrissen.




PhiN 16/2001: 52


Vergangenheit ist etwas, was jeder von ihnen aus dem Gedächtnis streichen möchte. Sie kommt aber in anderen Formen wieder und hält die Menschen gefangen, solange sie ihr nicht entgegentreten. Wenn die Personen versuchen, ihre Vergangenheit auszuklammern, sind sie gleichzeitig von ihrer eigenen Geschichte abgeschnitten und damit von einem wichtigen Teil ihrer Identität.

Toni Morrison überläßt ihre Figuren nicht der Hoffnungslosigkeit. Sie bietet eine Möglichkeit der Heilung durch Liebe und durch die Formulierung einer persönlichen Geschichte.

Das wiederholte "It was not a story to pass on" am Ende des Romans verdeutlicht die Schwierigkeit, diese Geschichte zu erzählen. Gleichzeitig ist der Ausdruck "to pass on" mehrdeutig – er kann sowohl "weitergeben" wie auch "darüber hinweggehen" bedeuten. Die Geschichte darf nicht vergessen werden, sie ist aber so grausam, daß man für sie kaum Worte finden kann.

Der Übergang von der Vergangenheitsform in "It was not a story to pass on" zur Gegenwartsform in "This is not a story to pass on," kann so verstanden werden, daß die Erinnerung an die Geschichte auf den Leser übertragen wird. Die Protagonisten mußten die Vergangenheit hinter sich lassen, um funktionieren zu können. Dennoch muss diese Geschichte in Erinnerung behalten werden. Die Verantwortung liegt beim Leser.

 

Bibliographie

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Page, Phillip (1995): Dangerous Freedom: Fusion and Fragmentation in Toni Morrison's Novels. Jackson, Mississippi.

Perez-Torres, Rafael (1993): "Knitting and Knotting the Narrative Thread – Beloved as a Postmodern Novel." Modern Fiction Studies 39.3–4, 689–708.

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Scruggs, Charles (1993): "The Beloved Community in Toni Morrison's Beloved", in: Sweet Home: Invisible Cities in the Afro-American Novel. Baltimore, 32–67.

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