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Jutta Kirchner (Berlin)



Gertrude Steins 'Namenssprache' in Tender Buttons



Gertrude Stein's Strategy of Renaming in Tender Buttons
Gertrude Stein is a classic of modern literature whose influence as a "writers' writer" on other authors has been immense. Generations of critics have labored to 'explain' her work, yet Stein's texts, on the verge of nonsense as they are, remain difficult. This essay investigates Stein's language experiment in Tender Buttons, probably her most enigmatic text, in the light of Stein's own poetics and of the Romantic tradition as well as in the context of the fine arts of her time. Stein's style is highly self-reflexive and so non-descriptive that it has often been described as pre-postmodern. But trying to "recreate," by renaming, individual objects in language Stein, under the cover of an apparently amimetic style, develops an asemantic form of mimesis which is as direct as it is hidden. This unconventional way of representation, which is proof of Stein's intimate relationship to the 'real' world of things, consists of syntactic imitations of her objects' visual hallmarks within single sentences as well as of object-related rhythms extending over several 'poems.'



1 Einleitung

Gertrude Stein ist eine Schlüsselfigur der literarischen Moderne, deren avantgardistische Impulse bis heute fortwirken. Generationen von Kritikern haben sich um die Interpretation und Rezeption von Steins Werk verdient gemacht, doch Steins so nah am Nonsense angesiedelte Texte gelten nach wie vor als schwierig bzw. 'opak'. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Steins Sprachexperiment in Tender Buttons, ihrem wohl unzugänglichsten Text, der zunächst sowohl im Spiegel von Steins eigenen poetologischen Aussagen und der romantischen Tradition, zu der sie sich bekennt, als auch im Kontext des zeitgenössischen Kunstbetriebs erörtert werden soll. Tender Buttons wurde unter Verweis auf den stark selbstreflexiven und nicht-deskriptiven Charakter des Textes häufig als prä-postmodern ettiketiert. Doch in dem Versuch, konkrete Objekte durch unkonventionelle Neubenennung zu "rekreieren", entwickelt Stein quer zu ihrem scheinbar amimetischen Stil eine Form der Mimesis, die nicht auf der semantischen, sondern auf einer rhythmisch-syntaktischen Ebene operiert. Diese Form der Repräsentation, die im zweiten Teil der Arbeit behandelt wird, ist Ausdruck von Steins ungewöhnlich direkter Bezugnahme auf die konkrete Dingwelt: Es handelt sich dabei um die Abbildung visueller Merkmale von Objekten im Rahmen einzelner Satzstrukturen bzw. um objektbezogene Rhythmen, die sich über mehrere 'Gedichte' erstrecken.

 

2 Steins poetologisches Konzept

2.1 Magie der Namen

Die Vorstellung eines 'natürlichen', wesenhaften Zusammenhangs zwischen der Form eines Wortes und dem von ihm bezeichneten Ding findet sich bereits in der Antike. Kratylos etwa, dessen Ansichten in Platons gleichnamigem Dialog überliefert sind, war ein solcher 'Naturalist'. Entsprechende Spekulationen über den Ursprung der Sprache waren aber auch noch im 19. Jahrhundert Anlass für ausgedehnte etymologische Untersuchungen. Obwohl sich mit dem Aufkommen des Strukturalismus schließlich die Konventionalisten durchsetzten, die den arbiträren Charakter von Sprachzeichen betonen, übte das Thema Anfang des 20. Jahrhunderts immer noch eine große Faszination aus. Davon zeugt u. a. das Interesse an chinesischen Schriftzeichen, denen ihre Etymologie aufgrund ihres zusammengesetzten ikonischen Charakters quasi eingeschrieben ist (Fenollosa 1936: 25).




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Etwa zeitgleich mit dem Erscheinen von Tender Buttons geht Walter Benjamin dem Traum von einer ursprünglichen direkten Verbindung zwischen Name und Ding nach (Benjamin 1991b). Er analysiert den Urakt der Benennung, die adamitische Namensgebung, in der Wahrnehmung und Benennung als Ausdruck des Erkennens gekoppelt sind: Gott bringt die Tiere zum Menschen, und der Mensch gibt jedem Tier seinen Namen (Genesis 2, 19f) – wobei das Possessivum sein sowohl auf das Tier als auch auf Gott beziehbar ist. Die Besonderheit dieser adamitischen Namensgebung liegt in der unmittelbaren Begegnung mit einem nie zuvor gesehenen und einmaligen Tier (es gab von jeder Art nur je ein männliches und ein weibliches Exemplar) sowie, nach Benjamin, in der Fähigkeit des Menschen, in diesem Tier Gottes schaffendes Wort – und damit das Wesen des Tiers – zu erkennen und seine Schöpfung zu vollenden, indem er ihm 'seinen' Namen gibt: "Die paradiesische Sprache muss die vollkommen erkennende gewesen sein", denn "[d]ie Erkenntnis der Dinge beruht im Namen" (Benjamin 1991b: 152f).1 Mit anderen Worten, das Benannte war dem Namen derart immanent, dass allein das Nennen des Namens in magischer Weise das Benannte vergegenwärtigen konnte. Diese "immanente eigene Magie" der Namensprache Benjamins (Benjamin 1991b: 153) ermöglichte es, sich im Namen die Welt unmittelbar anzueignen (in Steins Worten: to "live and love in names", PG: 140).

Stein bezieht sich ausdrücklich auf diese Ur-Namensgebung und stellt den Akt des Benennens dem gewohnheitsmäßigen Gebrauch einmal geprägter Namen gegenüber (PG: 137). Sie beklagt den automatisierten Sprachgebrauch, der uns – gekoppelt an eine automatisierte Wahrnehmung – von den Dingen entfernt: "slowly as everybody knew the names of everything poetry had less and less to do with everything" (PG: 140). Die Namen verloren ihre magische Kraft, ihre Verbindung zu den Dingen war nicht mehr nachvollziehbar, ihr Gebrauch wurde lieb- und leblos, da konventionell. Sie standen für eine abstrakte Menge von Dingen bzw. eine Vorstellung davon, nicht mehr für ein unverwechselbares konkretes Einzelding – ein Zustand, gegen den Stein in Tender Buttons ganz im Sinne der künstlerischen Moderne anzugehen gedachte. Dabei rekurriert sie auf eine 'frühe Dichtung', die sich im Grund genommen nicht von Benjamins magischer adamitischer Ursprache unterscheidet: "Poetry did then in beginning include everything [...] then everything including what was happening could be made real to anyone by just naming what was happening in other words by doing what poetry always must do by living in nouns" (PG: 139).2

 

2. 2 Steins Beziehung zu den Dingen

Während Stein in The Making of Americans versucht, die Menschen in Typen zu klassifizieren bzw. Einzelfallbeschreibung und Abstraktion zu verschränken, versucht sie sich in ihren frühen Portraits dem Wesen ("bottom nature") menschlicher Individuen und in Tender Buttons dem konkreter einzelner Gegenstände zu nähern, die in ihrer Einmaligkeit immer wieder neu erfahren werden sollen: "the name was not new but the thing being alive was always new" (PG: 142). Wie H. D.'s Lo-fu (H. D. 1990: 105) isoliert Stein hierfür die Dinge, befreit sie von ihrem Kontext: "I used to take objects on a table [...] and try to get the picture of it clear and separate in my mind" (TI: 25).




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Dieser Aspekt klingt (unter vielen anderen) im Titel an: Knöpfe sind an und für sich sehr zweckgebundene Gegenstände, sie existieren, um eine ganz bestimmte Funktion zu erfüllen, z. B. einen Mantel zu schließen (und sie gleichen darin den Wörtern der Sprache, die der Mitteilung dienen). Wenn Stein aber ihre Dinggedichte 'Knöpfe' nennt, dann legt sie den Fokus auf das Ding (den Knopf bzw. das Wort) an sich, das sowohl von seiner üblichen Zweckbindung ("there is no use at all", TB 178) als auch aus seinem gewohnten Kontext befreit ist. Die Anordnung von Steins Gegenständen entspricht keiner logischen oder zweckmäßigen Ordnung: Wie lose Knöpfe in einem Nähkästchen aus ihrer üblichen Serialität befreit sind (Knöpfe treten gewöhnlich in Reihen auf, wie Wörter in bestimmten Sequenzen), finden sich Steins Objekte (ebenso wie ihre Wörter) in ungewohnter Nachbarschaft wieder – und die bloße Neuanordnung, macht sie 'neu': "To have brought the objects together already changed them to other things" (Pi 27). Die Dinge (wie auch die Wörter) verlieren plötzlich ihre Anonymität, aber auch ihre Härte: Sie werden zu zarten (tender) Kleinoden, deren Wahrnehmung um ihrer selbst willen sich lohnt.

Hierfür setzt sie auf die intensive Konzentration auf das Objekt und auf dessen bewusste visuelle Wahrnehmung. Sie öffnet sich (in Benjamins Terminologie) der "Sprache", die von dem Ding ausgeht, sieht es in seiner Einzigartigkeit völlig neu und versucht so sein besonderes Wesen zu erfassen und in ein Sprachäquivalent zu übersetzen: "to constantly realize the thing anything so that I could recreate that thing" (PG: 143). Ausgangspunkt ist also ausdrücklich immer ein real existierendes Objekt, ein Umstand, auf den auch Emerson, Pound und Hulme größten Wert legen.3 Im Gegensatz zu Adams Tieren (und Emersons oder Whitmans Natur) handelt es sich bei Steins objects überwiegend um Haushalts- und damit Gebrauchsgegenstände, die von Menschen geschaffen wurden. Diese Abwendung von der lebendigen Natur als Gegenstand von Dichtung, hin zu unbelebtem Menschenwerk, teilt Stein mit anderen Künstlern der Moderne. Sie findet sich in den Stilleben der Kubisten ebenso wie bei den Vortizisten: "the vastness of American trees, would not be for us [...]. But our industries [...] has reared up steel trees where the green ones were lacking; has exploded in useful growths, and found wilder intricacies than those of Nature" (Lewis 1967: 36).

Doch anders als ihre männlichen Kollegen, namentlich die Futuristen, die sich der Begeisterung für die moderne Technik hingaben (Marinetti 1992: 145–49), wendet sich Stein der häuslichen, und damit traditionell weiblichen Dingwelt zu, die sie oft in eigentümlicher Weise animiert und z. T. gar sexualisiert: etwa in A NEW CUP AND SAUCER (TB: 169), wo sie die Objekte mit leidenschaftlichen Aktionen assoziiert ("[e]nthusiastically hurting", "bite"). Auch indem sie einzelne Lebewesen in den Reigen ihrer Objekte einflicht, durchbricht Stein die übliche Trennung zwischen belebter und unbelebter Welt, und man kann annehmen, dass eine imaginäre Verlebendigung der Dinge eine Voraussetzung für Steins – wie Emersons – Versuch der Weltaneignung ist: "Nature is so pervaded with human life, that there is something of humanity in all, and in every particular" (Emerson 1994b: 1016); "we see only what we animate" (Emerson 1994a: 1090). Nicht zuletzt steht Stein mit ihren Tender Buttons in der Nachfolge von Whitman, der in Song of Myself ein jedes noch so kleine Ding gleichermaßen würdigt – und auf den sich Stein wohl bezieht, wenn sie sagt: "a blade of grass has the same value as a tree" (TI: 16). Seine Leaves of Grass sind in Tender Buttons zitiert als "Leaves in grass" (TB: 191).




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2.3 Steins Wahrnehmung

In der intensiven Auseinandersetzung mit dem Einzelobjekt scheint sich Stein Adams paradiesischer Situation nähern zu wollen. Sie will es selbst sehen, nicht durch die Augen ihrer Vorfahren – und auch diese Haltung hat ihre Wurzeln in der Romantik. Emerson zufolge ist "imitation [...] suicide" (Emerson 1994d: 1046),4 und er ruft dazu auf, die Welt selbständig zu entdecken: "Our age is retrospective. It builds the sepulchres of the fathers [...] Why should not we also enjoy an original relation to the universe? [...] The sun shines today also" (Emerson 1994b: 994). Um es neu zu entdecken, müssen alle bisherigen Erinnerungen, Assoziationen und Konventionen im Zusammenhang mit dem Objekt getilgt werden, was bei Dingen einfacher ist als bei Menschen: "and so I made portraits of rooms and food and everything because there I could avoid this difficulty of suggesting remembering more easily [...] than if I were to describe human beings (PR: 111).

Den negativen Begriffen des Erinnerns und der Wiederholung ("remembering is repetition, remembering is also confusion", PR: 105) stellt Stein die positiven Begriffe "insistence", "emphasis" und "existence" gegenüber: "once started expressing this thing [...] there can be no repetition because the essence of that expression is insistence", und "if you insist you must each time use emphasis and if you use emphasis it is not possible while anybody is alive that they should use exactly the same emphasis" (PR: 99). Die Wahrnehmung bzw. Erfahrung des Dings ist also niemals gleich, sondern ändert sich von Mal zu Mal mit der "emphasis" und konstituiert sich somit jeweils neu in der Gegenwart.5 Diese intensive Erfahrung des Moments korreliert für Stein damit, dass ein neues existentielles Bewusstsein den Aspekt der Geschichtlichkeit unseres Daseins verdrängt: "We in this period have not lived in remembering, we have living in moving being necessarily so intense that existing is indeed something, is indeed that thing that we are doing" (PR: 108). Entsprechend rückt der innere Zusammenhang der Dinge ins Zentrum des Interesses: Der Blick aus dem Flugzeug erschließt das Beziehungsgefüge auf einen Schlag und ersetzt die zeitliche Abfolge von Eindrücken bei einer Reise mit dem Auto (Pi: 76).

Durch die Verknüpfung von "existing" und "moving" betont Stein die dynamische Komponente des Wesens eines Dings: "there was something completely contained within itself and being contained within itself was moving, not moving in relation to anything not moving in relation to itself but just moving" (PR: 119); "my ultimate business as an artist was not with where the car goes as it goes but with the movement inside that is of the essence of its going" (PR: 115). Dass auch einem Ding, das anders als ein Motor oder ein Mensch zumindest dem bloßen Auge statisch erscheint, eine dynamische Komponente inhärent sein soll, ist schwer nachvollziehbar.6 Man könnte argumentieren, dass die räumliche Dimension eines jeden Gegenstandes zwangsläufig eine Sukzession von Augenblicken in Form von Abtastbewegungen des Auges einerseits und der Bewegung des Betrachters um das Objekt herum (ersatzweise der Bewegung des Objekts um seine eigene Achse) andererseits bedingt, will man es möglichst vollständig erfassen. So konstituiert sich der visuelle Eindruck von einem Objekt über eine Serie selektiver Einzelbilder, die sich zu einem komplexen Gesamtbild zusammenfügen – ein Vorgang, den Stein in The Making of Americans und ihren frühen Portraits in Annäherung an die Serialität der Filmtechnik imitiert hat (PR: 117). Die Bewegung resultiert dabei jedoch aus dem Verhältnis des Betrachters zum Ding, so dass dieser Erklärungsversuch auf einer Relationalität beruht, die Stein ja ausdrücklich ausgeräumt wissen will – und daher unbefriedigend ist.




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Für Stein ist Whitman Pionier in der Erfassung von Bewegung als Charakteristikum der Moderne: "He was the beginning of the movement" (HW: 490). Er sieht die Welt als ständigen metamorphotischen Prozess, als Kreislauf des immer Gleichen und doch immer Neuen. Steins Umdeutung des Seinszustandes in dauernde Aktion ("existing [...] is indeed that thing that we are doing", PR: 108) ist wohl am ehesten im Sinne eines solchen metamorphotischen Flusses zu verstehen. Im Sinne einer Sukzession von Seinsmomenten, entsprechend einer permanenten Veränderung in der Zeit, die jedoch nicht linear, sondern zyklisch zu denken ist. Und die besondere, ständig sich neu konstituierenden Seinsform, die kein Bewusstsein ihrer Geschichtlichkeit hätte, sondern nur in jedem Augenblick ihrer Existenz vollkommen sie selbst wäre, wäre die Essenz des jeweiligen Dings.

Auch Steins unmittelbare eigene Erfahrung des Objekts durch ihren Gesichtssinn erinnert an Whitman, der in Song of Myself den direkten, unverstellten Körperkontakt mit der Natur sucht: "I am mad for it to be in contact with me" (Whitman 1994: 2049). Ferner drängt sich die Analogie zu Emersons Seher-Poet auf, wenngleich sich Stein nicht so offen zum romantisch-metaphysischen Aspekt dieser Seherqualität bekennt wie z. B. Pound: "Our life is, in so far as it is worth living, made up in great part of things indefinite, impalpable; and it is precisely because the arts present us these things that we – humanity – cannot get on without the arts" (Pound 1973d: 33). Stein ist in erster Linie an der physiologisch wahrnehmbaren Oberfläche der Dinge sowie an Wahrnehmungs- und Erkenntnisbildungsprozessen an und für sich interessiert. Sie vergleicht sich ausdrücklich mit Picasso, der laut Stein malt, was er tatsächlich sieht (wie ein Kind), ohne das Gesehene auf der Basis seines erworbenen Wissens oder eingefahrener Sehgewohnheiten zum gewohnten Bild zu ergänzen bzw. zu rekonstruieren (Pi: 22f).

Man darf wohl unterstellen, dass Stein, ebenso wie sie es für Picasso reklamiert, nicht an Spekulationen über die 'Seele', sondern am sichtbaren Körper interessiert war (Pi: 21). Aber wenn sie schreibt: "I had to feel anything and everything that for me was existing so intensely that I could put it down in writing" (PG: 145) oder "in the morning there is meaning, in the evening there is feeling [...]in feeling there is recognition" (TB: 177), dann bemüht auch sie ein intensiviertes Empfinden, das ganz sicher über Emersons "superficial seeing" (Emerson 1994b: 995) hinausgeht und womöglich gar nicht so weit entfernt ist von seiner "insight, which expresses itself by what is called Imagination, [...] a very high sort of seeing, which does not come by study, but by the intellect being where and what it sees" (Emerson 1994c: 1082) – oder von H. D.'s "love- and over-mind", jenem besonders klarsichtigen Bewusstseinszustand jenseits der normalen Realitätswahrnehmung, in dem es möglich ist, "to think with the womb and feel with the brain" (H. D. 1990: 94f). Es ist gewiss ein bewusstes, aktives, 'zupackendes' und gestaltendes Sehen, das in Pounds Terminologie zu einem "objective Image [...] like the external original" führt: "Emotion seizing up some external scene or action carries it intact to the mind" – im Gegensatz zu seinem "subjective Image", bei dem sich die Wahrnehmung dem Gehirn quasi passiv eindrückt (Pound 1973a: 344f). In ähnlicher Weise spricht Emerson von "the plastic power of the human eye". Ihm zufolge ist das Auge "the best of artists", "the best composer", und er prophezeit genau die 'Neukonstruktion' des Auges, die moderne Künstler wie Pound und Stein verfolgen: "So shall we come to look at the world with new eyes" (Emerson 1994b: 997, 1020).

 

2.4 Steins Namensprache

Während Stein in The Making of Americans die Unbestimmtheit und Missverständlichkeit von Präpositionen, Konjunktionen, Artikeln, Adverbien und v. a. Verben sucht (PG: 126ff), entdeckt sie mit dem Einzelding in Tender Buttons konkrete 'Namen', bzw. Substantive (und Adjektive): "poetry [is] really loving the name of anything" (PG: 139).




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In diesem Stein-Zitat, das sich direkt auf Tender Buttons bezieht, insinuiert allein der Begriff Name anstelle von Wort den Bezug zum Einzelding: Namen werden identifizierbaren Menschen, Tieren oder auch besonderen Gegenständen gegeben. Es ist jedoch bezeichnend, dass es sich um Namen von "anything", einem beliebigen, unlebendigen Neutrum handelt. "Anything" ist völlig nichtssagend und damit – wiederum in der Nachfolge von Whitmans Leaves of Grass – höchst demokratisch: Poesie ist jedem beliebigen Ding zu eigen. Indem any thing zu "anything" wird, wird aber wiederum alles nur denkbare Spezielle und Konkrete unter ihm subsumiert und abstrahiert. Die Dinge selbst werden dadurch farb- und gesichtslos, auf ein kollektives Genitivanhängsel reduziert. Sie verschwinden hinter den Namen, die ihrerseits ins Zentrum des Interesses, ja der Liebe rücken. Ihnen gilt die eigentliche hingebungsvolle Zuwendung: "Poetry is doing nothing but using losing refusing and pleasing and betraying and caressing nouns [...] I caressed completely caressed and addressed a noun" (PG: 138). Diese Liebe muss wahrhaftig ("really") und in jedem einzelnen Moment neu empfunden sein ("loving"), um Poesie hervorzubringen.

Wohl entdeckt Stein ihre Liebe zu den Namen über ihre Beziehung zu den Dingen: "I called [the things] by their names with passion and that made poetry" (PG: 141). Aber ihr berühmter Satz "A rose is a rose is a rose is a rose", den Stein im selben Kontext zitiert (PG: 138), illustriert die letztendliche Konzentration auf den Namen, dessen klangliche Materialität durch die gleichförmige Wiederholung beschworen wird, während sich seine abstrakte Bedeutung gleichsam verflüchtigt. Nun erschöpft sich Tender Buttons natürlich nicht in der 'liebenden', repetitiven Ausrufung von Namen. Auch die Erfindung neuer Namen in Form von Einzelwörtern, die Adams Situation wohl am nächsten käme und das Darzustellende beispielsweise onomatopoetisch imitieren würde, lehnt Stein ab.7 Sie begreift Sprache als historisch gewachsene "intellectual recreation" (PG: 142), der sie sich nicht entziehen kann und will. Doch sie 'erneuert' sie, indem sie sie in unkonventioneller Weise benützt und dabei den Spielraum innerhalb des sprachlichen Regelwerks erkundet, ausnutzt und erweitert.

Steins eigene Erläuterungen zu ihrer Verwendung von Namen in Tender Buttons klingen zunächst einigermaßen enigmatisch: "I had to feel anything and everything that for me was existing so intensely that I could put it down in writing as a thing in itself without at all necessarily using its name" (PG: 145). "[M]ean names without naming them" (PG: 141) bzw. "refuse them by using them" (PG: 137) ist ihre Devise, d. h., sie will Dinge benennen, ohne deren Namen zu verwenden, bzw. die Namen, die sie verwendet, sollen nicht in ihrem üblichen Sinn eingesetzt werden:8

words that make what I looked at be itself were always words that to me very exactly related themselves to that thing the thing at which I was looking, but as often as not had as I say nothing whatever to do with what any words would do that described that thing. (PR: 113)

 

2.5 Das Ganze und seine Teile

Bei Steins Neubenennung von Dingen in Tender Buttons fällt zunächst auf, dass ein Name durch einen mehr oder weniger langen Text ersetzt wird – ein Prozess, der rein formal an Lexikondefinitionen erinnert. Letztere werden ebenfalls dadurch nötig, dass sich ein Wort nicht von allein erklärt, nicht selbstverständlich auf das Ding verweist, das es bezeichnet. Vielmehr bedarf es anderer Wörter, um es zu erklären, die selbst wiederum der Erklärung bedürfen.




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Nun sind Steins Texte sicherlich nicht explikativ in der Manier von Lexika. Sie erklären nicht die Namen der Überschriften, sondern lösen sie ab: Vor Steins Prozess der Neubenennung, ihrem naming steht der des unnaming, der alte Name wird quasi abgesetzt (wenngleich er noch als Ausgangspunkt für Assoziationen dient, ähnlich dem Titel von Programmusik). Einen neuen Namen im alten Sinn kann es nicht geben, es sei denn, man wollte ihn erfinden. So bleibt nur der neu-zusammengesetzte Text.

Statt einem verlorengegangenen Wortursprung hinterher zu sinnieren, entdeckt Stein das kreative Potential der Kombinatorik. Der alte Einzelname (in dominierenden VERSALIEN) als ideenbündelndes Zentrum ist abgeschafft ("Act so that there is no use in a centre", TB: 196), Steins neue Namen sind Komposita, deren Einzelteile (in Kleinschreibung) allesamt gleichermaßen konstitutiv für das neue Ganze sind ("a single charm is doubtful", TB: 164; "a single plate is not butter, a single weight is not excitement", TB: 184). In dieser Konzeption lässt sich unschwer eine der Moderne eigentümliche Spannung erkennen: hier die Demontage alter Wahrheiten und eine zunehmende Fragmentierung des Wissens, dort der künstlerische Anspruch, ein Werk und damit etwas Ganzes zu schaffen. Wiederum agiert Stein ganz in Emersons elitärem Sinn: "[the poet's] eye can integrate all the parts" (Emerson 1994b: 995). Stein nutzt die inhaltslos gewordenen alten Namen, indem sie sie wie Splitter zu einem neuen Gefäß zusammensetzt, das selbst wiederum Inhalt sein soll ("the thing written is completely contained within itself", EL: 34). Dabei entsteht, um mit Hulme zu sprechen, "a complexity [...] in which the parts cannot be said to be elements as each one is modified by the other's presence, and each one to a certain extent is the whole" (Hulme 1954: 138f).

Für Stein war in diesem Zusammenhang die Begegnung mit Cézanne sehr wichtig:

Up to that time composition had consisted of a central idea, to which everything else was an accompaniment and separate but was not an end in itself, and Cézanne conceived the idea that in composition one thing was as important as another thing. Each part is as important as the whole. (TI: 15)


Stein sieht diese Konzeption einer Komposition aus gleichrangigen Teilen, ohne übergeordneten Fixpunkt oder narrativ-ordnende Notwendigkeit, als "Essenz des 20. Jahrhunderts", dessen "Kreation" sie den USA zuschreibt: "The United States, instead of having the feeling of beginning at one end and ending at another, had the conception of assembling the whole thing out of its parts, the whole thing which made the Twentieth Century productive" (HW: 489). Abgesehen vom Kubismus findet sich diese Vorstellung gleichwertiger Teile auch in Schönbergs Zwölftonmusik und im damals neuen strukturalistischen Sprachkonzept:9 Danach kann nur das Sprachsystem als Ganzes sinnvoll untersucht werden. Die Wörter als Teile des Ganzen definieren sich wechselseitig durch ihre Differenz ("The difference is spreading", TB: 161). Die Idee eines außerhalb des momentan erfassbaren Systems liegenden Ursprungswortes und damit auch die diachrone Dimension werden aufgegeben, statt dessen wird das synchrone, ungerichtete Beziehungsgeflecht der 'Wortgemeinschaft' zum Forschungsgegenstand. Stein drückt das veränderte Zeitgefühl so aus: "the composition forming around me was a prolonged present", "there must be time that is distributed and equilibrated" (CE: 457, 461).

Tender Buttons demonstriert den Wortzusammenhang sowohl innerhalb der einzelnen Textabschnitte als auch im Verhältnis der Textabschnitte zum Textganzen. Die phonologischen, morphologischen und semantischen Bezüge zwischen den einzelnen objects sind überaus vielfältig.




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Das dichte Gewebe des Textes wird durch A FEATHER (TB: 173) symbolisiert: Eine (Hut-)Feder ist Teil eines Bildausschnitts, in dem sich der Hauptgegenstand mit Objekten in seiner Umgebung bzw. seines Hintergrundes verbindet.10 Die Feder selbst ist eine wunderbare Fügung aus Einzelteilen zu einem Ganzen, das "surely cohesive" ist, eine Eigenschaft, die man ohne weiteres auch Steins Text zubilligen kann. Der Standpunkt des Betrachters kontextualisiert die Feder zufällig, eine Änderung desselben ergäbe ein neues Gesamtbild und würde damit auch die Feder in neuem Licht zeigen.

Dasselbe gilt für Steins Wortarrangements: Die Wörter beeinflussen sich gegenseitig und verändern, je nach Nachbarschaft, ihre Qualität. Wenn Stein z. B. sagt: "red weakens an hour" (TB: 161), so artikuliert sie damit den Effekt eines Wortes auf ein anderes: Das Wort "red" schwächt das Wort "hour" – im direkten Kontrast mit dem markanten Klang und starken optischen Effekt von "red" wirkt das vergleichsweise fade klingende und abstrakte Zeitmaß "hour" noch blasser und ungreifbarer. So erprobt Stein in Tender Buttons anhand eines einfachen, relativ begrenzten Wortschatzes immer neue, oft befremdliche Wort-Konstellationen ("binding accident[s]", TB: 168). Mitunter ergibt das ein Gebräu wie aus einer Hexenküche ("Put it in the stew [...]", "a monster puzzle", TB: 185), dessen Herstellung an magische Beschwörungsformeln erinnert: "all the splinter and the trunk, all the poisonous darkening drunk, all the joy in weak success, all the joyful tenderness, all the section and the tea, all the stouter symmetry" (TB: 178).

 

2.6 Linguistic Clusters

Steins Juxtaposition von Substantiven und oft sinnlich-konkreten Adjektiven, die so gar nicht im üblichen Sinn deskriptiv ist, gipfelt in dem Gebilde "[b]lack ink best wheel bale brown" (TB: 176), das als word-heap bezeichnet wurde (Walker 1984: 132). Weinstein belegt Steins Textstücke generell mit dem Begriff des linguistic cluster:

Each second of experience has its corresponding moment in mental time. And in any second of mental time there are words, both in and out of sequence. I would suggest that we call this linguistic cluster in any moment of mental time the 'linguistic moment.' (Weinstein 1970: 62)




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Dieses Konzept erfasst die von Stein angestrebte unmittelbare Transformation von Perzipiertem in Sprache. Mir erscheint jedoch die Vorstellung, Stein habe die Gedanken eines Augenblicks aufgeschrieben, problematisch. Denn obwohl Weinstein immerhin ausschließt, dass es sich um Ausschnitte aus Steins stream of consciousness handelt, so insistiert er doch auf der Assoziationsleistung einzelner Momente:

The description consists of a moment in the subjective continuum of the writer that corresponds to the moment of the visual perception of the object. In that moment, the words that came to Miss Stein's mind were disjointed, disembodied, unassociated, not the conventional descriptive words associated with the object in everyday discourse. [...]the verbal embodiment of the object is [...] as protological as objective reality itself. (Weinstein 1970: 84)


Meines Erachtens ist Tender Buttons ein kunstvoll durchkomponiertes Textarrangement, das für eine sehr bewusste Kreation auf der Basis sorgfältiger Selektion und gegen eine rein spontane Eingebung in Augenblicken erhöhter Konzentration spricht. Stein bestätigt dies, wenn sie sagt, dass sie viele Gedanken als untauglich zu verwerfen hatte: "It is devilish difficult and needs perfect concentration, you have to refuse so much and so much intrudes itself upon you that you do not want it, it is exhausting work" (TI: 29). "This show is made by squeezing" (TB: 170). Dass der Text auf den ersten Blick den Eindruck von assoziativer Unordnung erweckt, sei unbestritten. Aber sofern dieser Effekt von Stein gewünscht war, ist schwer vorstellbar, dass er (ausschließlich) auf dem Zufallsprinzip beruhen soll.11

Gegen den Begriff des cluster als einer unvermittelten Zusammenballung von auf den ersten Blick einander widerstrebenden Elementen ist dagegen nichts einzuwenden. Er taucht bezeichnenderweise auch in Pounds Definition des image auf: "The image is not an idea. It is a radiant node or cluster; it is a vortex, from which, and through which, and into which, ideas are constantly rushing" (Pound 1970: 92). "An 'Image' is that which presents an intellectual and emotional complex in an instant of time" (Pound 1938: 298). H. D. verwendet das Bild einer Perle oder Kristallkugel "for concentrating and directing pictures from the world of vision" (H. D. 1990: 108). In beiden Fällen drückt sich die Kristallisation einer Fülle von Assoziationen in einem dynamischen, energiegeladenen komplexen Gebilde aus, wie sie sich auch in Tender Buttons findet.

 

2.7 Kreative Destruktion

Die Kehrseite der Betonung der Gegenwart durch die moderne Kunst ist der Bruch mit den Traditionen der Vergangenheit: "We stand for the Reality of the Present – not for the sentimental Future, or the sacripant Past" (Lewis 1967: 7).12 Alte, Absolutheit beanspruchende Theorien werden in der Kunst wie in der Wissenschaft (Darwins Evolutionstheorie, Einsteins Relativitätstheorie) radikal in Frage gestellt. So fordern die Vortizisten "Chaos invading Concept and bursting it like nitrogen" (Lewis 1967: 38), und Pound schreibt: "A Risorgimento implies a whole volley of liberations; liberations from ideas, from stupidities, from conditions and from tyrannies of wealth or of army" (Pound 1973c: 117). Die Aggression gegen das bestehende gesellschaftliche System geht seitens der Futuristen und z. T. auch der Vortizisten so weit, dass sie gar den Ersten Weltkrieg als Befreiung begrüßen: "We will glorify war [...] the destructive gesture of freedom-bringers" (Marinetti 1992: 147). "This war is a great remedy" (Gaudier-Brzeska 1970: 69).




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Wenngleich auch Stein glaubt, dass der Krieg einen Entwicklungsschub mit sich bringt,13 so nimmt sich doch ihr Anspruch der Erneuerung der Sprachstruktur gegenüber der Kriegsbegeisterung ihrer männlichen Kollegen vergleichsweise harmlos aus:

the form [of American literature] was always the form of the contemporary English one, but the disembodied way of disconnecting something from anything and anything from something was the American one.

And then I went on to what was the American thing the disconnection and I kept breaking the paragraph down, and everything down to commence again with not connecting with the daily anything and yet to really choose something. (EL: 57f)

 

Stein rückt damit Sprache als Instrument der Erkenntnis, als Zugang zur Welt, ins Zentrum des Interesses. Trotz der offensichtlichen Absurdität vieler Sätze in Tender Buttons bewegt sich Stein innerhalb der logischen Struktur des Satzes, die unser Denken bestimmt und limitiert (Walker 1984: 145).14 Doch sie rebelliert gegen die Logik konventioneller Rede, indem sie die Satzelemente in unzulässiger Weise kombiniert – und die stellt damit das Ordnungsprinzip der Sprache als menschliche Konvention in Frage, das immer nur Konstrukt, nicht jedoch Abbildung von Wirklichkeit sein kann.:

[Tender Buttons'] sentences are systematically patterned to foreground the most fundamental logical operations of syntax. But the freeplay of substitution and combination that these grammatical structures contain defies their inherent logical order. (Walker 1984: 142)

 

2.8 Primat des Kunstobjekts

Steins Regelverstöße weisen Parallelen zum zeitgenössischen, sog. synthetischen Kubismus auf.15 Im vorangehenden analytischen Kubismus 'analysiert' der Künstler noch einen realen Ausgangsgegenstand, indem er seine Formen abstrahiert und daraus eine, wenn auch unkonventionelle, Repräsentation des Gegenstandes komponiert. Die Komposition zeichnet sich durch dieselbe 'syntaktische' Komplexität aus wie Steins The Making of Americans. Im synthetischen Kubismus verselbständigen sich dann die Formen. Sie haben zwar noch ihr Äquivalent in der realen Welt, werden jedoch ohne Anspruch auf illusionistische Repräsentation auf der Leinwand zu einer neuen Realität 'synthetisiert'. Die Formen selbst, aber auch ihre Farbe und Textur werden wichtiger, ihre Juxtaposition verdrängt die komplexe syntaktische Organisation – und entsprechend entwickeln in Tender Buttons konkrete Adjektive und Substantive ein Eigenleben, ohne dabei ihre Repräsentationsfunktion gänzlich zu verlieren. In beiden Fällen wird der Blick auf das Kunstwerk als solches gelenkt.




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Die illusionistische Zentralperspektive verschwindet aus den kubistischen Gemälden wie das auktoriale Ich aus Steins Text: Ihr Standpunkt ist nicht rekonstruierbar, wenngleich der Leser aufgrund der Normwidrigkeit des Textes ständig auf Steins Subjektivität stößt. Auch blitzt ihr I in Form von "eye" als Teil ihrer Objekte hin und wieder auf, und immer wieder spricht sie den Leser direkt an. Die Künstlerin als Schöpferin ihrer Welt steht nicht außer- bzw. überhalb derselben, sondern zeigt (oder besser versteckt) sich in ihrem Kunstwerk und betont damit sowohl dessen Priorität als auch ihre Autorenschaft. Stein ist in ihrem Text ebenso allgegenwärtig und genauso wenig lokalisierbar wie Emersons pantheistisches göttliches Prinzip ("The author of all that is in there behind the door", TB: 197).

Steins Ziel ist es, das Gesehene so zu erfassen, dass es nicht im Sprachobjekt repräsentiert, sondern als Sprachobjekt präsentiert wird. Das eigentliche Objekt ist der Text, der nicht in Konkurrenz oder nachgängig zum realen Objekt betrachtet werden soll: "I wanted to get rid of anything except the picture within the frame" (HW: 493). Wenn Stein sagt: "A writer should write with his eyes, and a painter paint with his ears" (TI: 31), dann steht dies für die Erkenntnis, dass die künstlerische Tätigkeit kategorial verschieden ist von lebensweltlicher Mimesis ("a poem [...] has an architecture of its own, and adorns nature with a new thing", Emerson 1994c: 1076). Die übliche Vorstellung, zu schreiben, was man hört bzw. zu malen, was man sieht, rückt die wahrgenommene Welt in eine Nähe zur 'Kunstwelt', die Stein vermeiden will. Ein 'Schreiben mit den Augen' und ein 'Malen mit den Ohren' dagegen schließt einen repräsentativen Anspruch im üblichen illusionistischen Sinn von vornherein aus. Das Kunstwerk hat seine eigene Realität: "reality for [Spaniards and Americans] is not real and that is why there are skyscrapers and American literature and Spanish painting and literature" (Pi: 27); "the work of man is not in harmony with the landscape, it opposes it and it is just that that is the basis of cubism" (Pi: 35).

Stein will nach The Making of Americans weg von der Beschreibung, von der Anhäufung von Wissen, von der Sammlung toter Schmetterlinge und Käfer (GM: 217), hin zur schöpferischen Gestaltung, zum lebendigen Kunstwerk, das die Dinge nicht tötet, sondern zu neuem Leben erweckt: "a description is not a birthday" (TB: 178); "as [a complete description] is a possible thing one can stop continuing to describe this everything" (GM: 223). Wie Stein vorgeht, um der prominenten deskriptiven Funktion der Sprache auszuweichen, soll im folgenden an wenigen ausgewählten objects exemplarisch dargestellt werden.

 

3 Ausgewählte "Objects"-Interpretationen

3.1 A CARAFE, THAT IS A BLIND GLASS: Entsemantisierung

A CARAFE, THAT IS A BLIND GLASS
A kind in glass and a cousin, a spectacle and nothing strange a single hurt color and an arrangement in a system to pointing. All this and not ordinary, not unordered in not resembling. The difference is spreading. (TB 161)


Stein setzt auch auf der Einzelwortebene ihr Verfahren der Neukombination fort. Sie destruiert die übliche Form-Bedeutungs-Zuordnung von Wörtern und rekombiniert sie ("I had [...] the idea of the recreation of the word", TI 18), was sich in ihrem eigenwilligen Gebrauch von 'Namen' ausdrückt: "I resolutely realized nouns and decided not to get around them but to meet them, to handle in short to refuse them by using them" (PG 137).




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Der erste Hinweis, wie "to refuse them by using them" funktionieren soll, findet sich bereits im ersten Object, A CARAFE, THAT IS A BLIND GLASS. Eine Karaffe ist ein Behälter, der dann undurchsichtig ("blind") ist, wenn er gefüllt ist. Entleert man den Inhalt ("The difference is spreading"), so kann man hindurchsehen, wenn auch das Bild verzerrt sein wird. Der Inhalt der Karaffe entspricht der Bedeutung des Wortes: Ein bedeutungs'volles' Wort wäre opak, während ein sinn'entleertes' seiner üblichen Bedeutung ledig wäre und als transparente Form 'unbelastet' in völlig neuer Weise etwas ganz anderes bezeichnen könnte ("it is so easy to exchange meaning", TB: 177). Dem Verhältnis von bedeutungsvollem zu -leerem Wort entspricht das der spezifischen Bedeutung von "carafe" zu der viel unspezifischeren von "glass": "I would not use words that have definite associations" (TI 26). Auch "spectacle" ist ein mehrdeutiges Wort, und ebenso wie "glass" ist es "a kind" bzw. "a cousin", d. h. weitläufig sinnverwandt mit "carafe".

Den Vorgang des re-naming buchstabiert Stein im zweiten Satz von A BOX (TB: 163) aus: "it is so earnest to have a green point not to red but to point again". Das Wort "green" soll nicht einmal anstelle von "red" benutzt werden (die semantische Verwandtschaft wäre noch viel zu eng), geschweige denn für etwas Grünes (dies versteht sich implizit). Statt dessen soll es so eingesetzt werden, dass es auf neue, verblüffende und daher auf das Wort und die damit bezeichnete Sache selbst aufmerksam machende Weise wirken und bedeuten kann. Wenn es so in der Lage ist, "to point again" (d. h. wieder eine lebendige Beziehung zu etwas herzustellen), kann es gar nicht "disappointing" (in der scherzhaft doppelten Bedeutung von enttäuschend und nicht-bezeichnend) sein. "Not unordered in not resembling" ist Steins Maxime (TB: 161), und sie wird nicht müde, diese immer neu zu formulieren. Wenn Picasso ein Stück Zeitung als Teller auf ein Bild klebt, tut er buchstäblich dasselbe. Der entsprechende steineske Satz könnte lauten: "A newspaper makes a plate".

 

3.2 EYE GLASSES: Sprachwitz

EYE GLASSES
A color in shaving, a saloon is well placed in the center of an alley. (TB: 170)


Für den Wortwitz Steins, vergleichbar mit dem der Kubisten, finden sich zahlreiche Beispiele. So ist das eye in EYE GLASSES – die das BLIND GLASS ersetzen und den Blick auf die Dinge schärfen sollen16 – homophon mit I. Hierdurch wird die Individualität und Subjektivität von Wahrnehmung und Sprachgebrauch besonders betont (zumal die Verbesserung der Sehschärfe durch Brillen durch eine individuelle Verfälschung des Gesehenen erkauft wird).17 Zudem unterstreicht das Wort "saloon" in der Mitte des Textes, dessen graphische Form mit dem Wortteil loo an ein Lorgnon erinnert, Steins spielerische Willkür: Der Benutzer eines Lorgnons hält die Gläser selbst in der Hand.

Die 'Gebrauchsanweisung' für das Auffinden des 'Lorgnons' in EYE GLASSES ist im vorangehenden object, das mit OBJECTS überschrieben ist, verborgen und offenbart sich durch eine 'buchstäbliche' Lesart: "Within, within the cut and slender joint alone, with sudden equals and no more than three, two in the centre make two one side" (TB: 170).




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"Within, within" deutet auf das in "saloon" enthaltene loo hin, das durch "cut" herausgetrennt werden muss. "[S]lender joint alone" benennt das schmale, einzelne l sowie die Verbindung zwischen l und oo (bzw. Stiel und Gläsern). Die "sudden equals" sind die beiden gleichförmigen Buchstaben oo, die 'plötzlich' im Text auftauchen wie die Gläser eines Lorgnons, wenn man sie ausklappt. (Auch mit der Aussprache des Wortes "saloon" ließe sich die Aufklappbewegung des Lorgnons assoziieren.) "[N]o more than three" steht für loo, "two in the centre make two one side" dafür, dass sich die beiden im Zentrum von "saloon" sitzenden oo auf derselben Seite des l befinden.

Das Wort loo selbst hat bezeichnenderweise völlig verschiedene Bedeutungen: Spiel, bei dem der Einsatz in einen Pool gezahlt wird; Liebe; Toilette; als Abk. von lanterloo bedeutungsloser Refrain eines alten Liedes. So treffen sich die Assoziation der 'Häufung' von Geld (das selbst vollkommen bedeutungslos ist, jedoch dem Erwerb beliebiger Dinge dient und als tender auch im Titel auftaucht), der Körperlichkeit auf der Skala zwischen Liebe und Exkretion sowie der Komposition auf rein klanglicher Basis. Allesamt verweisen auf Steins Spiel mit der 'materiellen'/formalen Dimension der Wörter ohne Rücksicht auf deren konventionellen 'Inhalt'. Das Spiel um Geld lässt sich ebenso wie (käufliche) Liebe und Gesang mit "saloon", als Treffpunkt von Männern, assoziieren. "[S]having" weist auf die Befreiung von einer 'Überwucherung' (der Wörter mit konventionellen Bedeutungen?) hin. Vielleicht sind die Augengläser ja rot (Blutung beim "shaving"?) und verleihen daher einem vormals blassen Bild eine intensivere Farbe. "[T]he center of an alley" könnte die Nase zwischen den Sehachsen der beiden Augen sein, die in der Ferne konvergieren und zwei verschiedene Bilder liefern: möglicherweise ein Hinweis auf die Erfassung eines Gegenstandes unter verschiedenen Blickwinkeln – analog der kubistischen Malerei.

Steins EYE GLASSES sind mit ihrer Fülle von Assoziationsmöglichkeiten, die durch die Erzwingung der Nachbarschaft normalerweise unvereinbarer semantischer Felder entsteht, ein wahres "spectacle" (TB: 161): Bedeutungen blitzen auf wie die Spiegelungen und Lichtreflexe in einer Karaffe. Keiner der verwendeten 'Namen' hat üblicherweise etwas mit Augengläsern zu tun, und doch entlockt ihnen die sehr präzise Plazierung ("well placed") einen Zusammenklang von Obertönen bzw. Bedeutungsschichten, der auf Steins Objekt verweist.18 Die Aktivierung metaphorischer und v. a. metonymischer Bedeutungen auch in scheinbar unsinnigen Kombinationen ist ein wesentliches– und unvermeidbares – Prinzip in Tender Buttons, denn ein vollkommen 'bedeutungsleerer' Wortgebrauch ist unmöglich: "I made innumerable efforts to make words write without sense and found it impossible. Any human being putting down words had to make sense out of them" (TI: 18). Man erkennt es eben, wenn ein Teller aus einer Zeitung angefertigt wurde! So macht Stein aus der Not eine Tugend und nutzt auch da noch die Bedeutung von Wörtern, wo es ihr in hohem Maße gelingt, die bedeutungsunabhängige, quasimusikalische Qualität von Sprache als 'objektkonstituierendes' Element einzusetzen.

 

3.3 A BOX

A BOX
Out of kindness comes redness and out of rudeness comes rapid same question, out of an eye comes research, out of selection comes painful cattle. So then the order is that a white way of being round is something suggesting a pin and is it disappointing, it is not, it is so rudimentary to be analysed and see a fine substance strangely, it is so earnest to have a green point not to red but to point again. (TB: 163)




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In manchen objects gelingt es Stein, neben der wortsemantischen die syntaktische Ebene der Sprache ins Spiel zu bringen, indem sie den Satzbau zur Imitation ihrer Gegenstände nutzt. Meines Erachtens kommt sie damit ihrem erklärten Ziel der nicht-deskriptiven 'Rekreation' von Dingen in einer objektiv nachvollziehbaren Form sehr nahe. Dieses Prinzip soll zunächst kurz an A CARAFE und EYE GLASSES und anschließend ausführlicher an A BOX demonstriert werden.

 

3.3.1 Repräsentative Funktion der Textstruktur

A CARAFE ist ausgesprochen parataktisch und in relativ regelmäßigem Rhythmus organisiert, so dass es sich leicht in eine Reihe ungefähr gleichrangiger Teile zerlegen lässt, die man als Äquivalent für die parallel verlaufenden Kanten einer einfach geschliffenen Karaffe auffassen kann: "A kind in glass / and a cousin, // a spectacle / and nothing strange // a single hurt color / and an arrangement // in a system / to pointing. // All this / and not ordinary, // not unordered / in not resembling. // The difference is spreading." Analog ließe sich argumentieren, dass auch die Anordnung der Satzelemente in EYE GLASSES das fragliche Objekt gewissermaßen nachbildet: Die vom Rest des Satzes durch ein Komma getrennte, in sich geschlossene Struktur von "A color in shaving" würde den Umriss des ersten Augenglases 'nachzeichnen', "in the centre of an alley" den des zweiten, während der linear fortlaufende Satz "a saloon is well placed" der verbindende, die Gläser auf der Nase plazierenden Steg wäre. Die Spiegelsymmetrie der Brille zeigt sich zudem in der Umkehrung der Reihenfolge der Wörter "a(n)" und "in" in "A color in shaving" bzw. in "in the centre of an alley". In der Mitte der Gläser säßen die Augen, die als "color" und "centre" die Silbenzahl, den Anfangsbuchstaben, das letzte Phonem und die Betonung gemeinsam haben, jedoch nicht identisch sind. Das Wortpaar evoziert das Bild der farbigen Iris im Zentrum der weißen Augen bzw. der schwarzen Pupille im Zentrum der farbigen Iris.19

Besonders 'augenfällig' erfaßt Stein meines Erachtens jedoch im ersten Satz von "A BOX" die optisch wahrnehmbaren Umrisse eines Gegenstandes unter völliger Außerachtlassung der semantischen Dimension der Wörter, nur mit Hilfe der Textstruktur. Man kann den Satz als 'musikalische' nonsense-Kreation lesen ("it has in between no sense that is to say music", TB 188), die gleichwohl eine repräsentative Funktion hat: Die Substantive (und Adjektive – auf die Sonderstellung insbesondere von "rapid" werde ich später eingehen) können aufgrund ihres 'Gewichts' den Schachtelecken zugeordnet werden, die verbindenden Wörter den Schachtelkanten zwischen den jeweiligen Ecken. Konkret würden "kindness", "redness", "rudeness", "rapid" die vier Ecken der Schachtelgrundfläche markieren, "[o]ut of", "comes", "and out of" und "comes" die verbindenden Kanten. Mit "same" wird der Übergang zur oberen Schachtelebene geschaffen, mit "question" der erste Eckpunkt derselben markiert. Der Aufwärtsschwung wird unterstützt durch die vor dem Komma natürlicherweise steigende Melodie in "same question". Mit "eye", "research", "selection" und "painful cattle" als Eckpunkten wird die zweite Ebene der Schachtel erstellt, wobei die letzte Ecke als Schlusspunkt (und Schloss im Sinn von Verschluss?) besonders markiert ist durch das Zusammentreffen von "painful cattle" und "question".20 Die Verbindungselemente, entsprechend den Seitenkanten, sind abgesehen von geringfügigen Variationen dieselben wie in der 'unteren Ebene'.




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Stellt man sich die 'Zeichnung' der Schachtel für beide Ebenen in derselben Umlaufrichtung vor, so ergeben sich vier kürzere korrespondierende Seitenkanten aus "comes" und vier längere aus "out of", "and out of", "out of an" bzw. "out of". Dabei entspricht der Gleichklang aller "out of" bzw. aller "comes" der Parallelität gegenüberliegender Seitenkanten, während der regelmäßige Wechsel zwischen "out of" und "comes" die Winkel zwischen den Seitenkanten repräsentiert. Das aus der Reihe tanzende "same" macht die dritte Dimension im Raum auf. Das Gesamtbild einer Schachtel mit der Grundfläche eines ungleichseitigen Rechtecks ergäbe sich demnach aus dem Grundschema "out of [...]comes [...]", das jeweils eine halbe Grundfläche umreißt und vierfach variiert wird. Entscheidend ist der Rhythmus, durch den die 'gewichtigen' Ecken in der für eine (achteckige) Schachtel typischen Regularität plaziert werden. Die verbindenden Wörter durchmessen gewissermaßen die Distanz zwischen den Eckpunkten und entsprechen damit Steins Forderung "to express the rhythm of the visible world" (TB: 23).21

Ferner könnte man in Steins Konstruktion, insofern als sie nicht Zutat, sondern integraler Bestandteil ist, auch Pounds "pattern" (im Gegensatz zu "applied decoration") erkennen (Pound 1973a: 344). Pound wird überdies nicht müde, vom Dichter dasselbe Maß an technischer Präzision zu fordern, wie es beim Musiker selbstverständlich ist (Pound 1938: 299f und 1973b: 31) – ein Anspruch, den auch Stein hat: "I took individual words and thought about them until I got their weight and volume complete and put them next to another word" (TI: 18); "make it [...]as exact as mathematics" (HW: 493). Nach Pound ist der Poet für die Literatur und damit das Bewusstsein der Welt, was der Mathematiker für die Naturwissenschaft ist (Pound 1973d: 332 und 1970: 91). Wenn er auch prinzipiell für die strikte Trennung der Künste plädiert, so scheint ihm doch eine Verwandtschaft zwischen Sprache und Musik gegeben: "Poetry is a composition or an 'organisation' of words set to music" (Pound 1973a: 345). Auch Kandinsky bemüht den Vergleich zwischen Musik und moderner Malerei, die auf der Suche nach "Rhythmik, nach mathematischer, abstrakter Konstruktion" sei (Kandinsky 1952: 55):

Die 'irgendwie' zueinander stehenden Formen haben doch im letzten Grunde eine große und präzise Beziehung zueinander. Und schließlich lässt sich auch diese Beziehung in einer mathematischen Form ausdrücken [...] Als letzter abstrakter Ausdruck bleibt in jeder Kunst die Zahl [...]. (Kandinsky 1952: 130)


In diesem Sinn nähert sich Steins BOX-Satz Baudelaires 'poetischem Satz':

Dieser [...] ist reine Ton- und Bewegungsfolge, vermag eine horizontale, eine aufsteigende, eine absteigende Linie zu bilden, eine Spirale, ein Zickzack übereinanderliegender Ecken, – und eben dadurch berührt sich die Poesie mit der Musik und mit der Mathematik. (Baudelaire, zititert in: Friedrich 1996: 58)




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3.3.2 Sense im Nonsense

Lewis spricht von Steins "attempt to use words as though [...] their symbolism could be distorted or suppressed sufficiently to allow of a 'fugue' being made out of a few thousand of them" (Lewis 1957: 114),22 ein Vergleich, der nicht als Lob gedacht war: Lewis glaubt, Stein habe sich in der Wahl der Mittel vergriffen und mit Sprache versucht, was Musik viel besser kann. Immerhin erfasst er die immer neue Variation und Verflechtung ihrer 'Motive' bzw. (Schlüssel-) Wörter und rhetorischer Manöver. Aber er unterschlägt ebenso wie Weinsteins reduktionistisches Fazit die semantische Komponente: "her attack upon the logical architecture of words is in its result flat and literally meaningless" (Lewis 1957: 114); "Tender Buttons is a mirror for our nonsense" (Weinstein 1970: 67). Die semantische Dimension ist jedoch, wie bereits angedeutet, gar nicht eliminierbar. Und da Stein klug genug ist, dies zu erkennen, nutzt sie diese nolens volens (zumindest in einigen objects) sehr geschickt sowohl zur (höchst unkonventionellen) Deskription des Objekts als auch zur Explizierung ihres Programms: "Melody should always be a by-product it should never be an end in itself [...]." (PR: 118).

So lenkt Stein mit der rhythmischen Wiederholung von "out of [...] comes [...]" zwar von der Bedeutung der Wörter ab.23 Indirekt artikuliert sie damit jedoch eine essentielle Funktion der Schachtel: Sie dient in der Regel der Aufbewahrung von etwas, d. h. man steckt etwas in sie hinein, was man später wieder herausholt.24 In diesem Sinne könnte man ergänzen "out of [a box] comes [...]". Nun steht bei Stein nicht a box, sondern "kindness", "rudeness", "eye" und "selection". Diese Wörter wären demnach die 'Schachteln', aus denen andere Wörter zu 'extrahieren' sind, nämlich "redness", "rapid", "research" und "cattle". Untersucht man die möglichen Verbindungen zwischen all diesen scheinbar willkürlich kombinierten Wörtern, so stellt man jedoch fest, dass es sich eher um einen fortlaufenden 'Schachtelprozess' handelt – die Wörter bringen einander hervor, wie Schachteln, die selbst Schachteln enthalten.

Formal entwickelt Stein die ersten vier 'Eckpunkte', indem sie die Wortform systematisch variiert und so das linguistische Prinzip der bedeutungsunterscheidenden Differenz auf der Basis von Ähnlichkeit vorführt ("The difference is spreading", TB: 161): Alle vier Wörter haben dieselbe Silbenzahl und Betonung, die ersten drei überdies dieselbe Endsilbe, die letzten drei denselben Anfangsbuchstaben, das zweite und vierte zudem denselben ersten Vokal. "[R]edness"und "rudeness" unterscheiden sich (phonetisch) nur durch den ersten Vokal. Zwischen "kindness" und "rudeness" besteht die Beziehung einer semantischen Opposition. Zu den anderen beiden Wörtern existieren keine solch systematischen Verbindungen, aber sie lassen sich unschwer in eine Assoziationskette einbinden: "kindness" in einer Beziehung zwischen zwei Menschen führt zur Blutfülle und damit "redness" im Genitalbereich, und diese wiederum zu "rudeness" und "rapid" movements im Geschlechtsakt. Damit wäre die 'untere Ebene' der Körperlichkeit etabliert, die mit der 'oberen' der geistigen Kreativität durch "same question" verbunden ist. Auf die Attributierung ein und derselben Situation mit gegensätzlichen Begriffen ("kindness"/"rudeness") folgt somit die Koppelung zweier gegensätzlicher Erfahrungsbereiche.

"[R]apid" hat eine Sonderstellung, da es kein Substantiv ist. Man könnte es als Abwandlung von rapids auffassen oder auch als Beinahe-Homophon von rabbit – mit assoziativen Anknüpfungsmöglichkeiten zum Kaninchen, das aus dem Hut gezaubert wird, oder zum Labyrinth der Wörter. To rabbit on verweist eindeutig auf die Sprache, und "rapid same question" erinnert an die Wendung a rapid fire of questions.




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Rapid movements kombiniert mit eye ergibt rapid eye movements – einen Begriff aus der Physiologie, der die schnellen Augenbewegungen während der Traumphasen im Schlaf bezeichnet und Steins Prinzip der nur scheinbar sinnlosen Neuordnung von Gedanken bzw. Wörtern unterstreicht.25 Zudem liegt der Gedanke an Steins Augenbewegungen beim Erfassen ihres Objekts nahe.

Die Silbenzahlen der vier 'Eckpunkte' der zweiten 'Ebene' stehen im Verhältnis 1:2:3:4. Sie versinnbildlichen so formal den 'Schachtelprozess': Aus ursprünglich einer 'Schachtel' werden sukzessive vier. Die semantischen Bezüge zwischen "eye", "research" und "selection" sind augenfällig. Qua Gesichtssinn ("eye") erforscht Stein ihr Objekt ("research") und wählt dann ("selection") in einem durchaus mühseligen Prozess ("painful") aus dem Fundus der Sprache die geeigneten Wortelemente, um das Gesehene in Sprache zu transformieren. Das Resultat ist "cattle", eine ganze Herde von Tieren (Steins komplexes Sprachobjekt). A different kettle of fish (etwas ganz anderes, völlig Neues) ersetzt somit das ursprüngliche, 'verbrauchte' Einzelwort ("BOX"). In diese Interpretation der 'oberen Ebene' lässt sich die 'untere' miteinbeziehen, indem man jeweils 'übereinanderliegende Eckpunkte' korreliert: "kindness"/ "eye", "redness"/ "research", "rudeness"/ "selection", "rapid"/ "question"/ "painful cattle". Die Grundhaltung Steins ihren Objekten gegenüber, die sie ansieht ("eye"), ist "kindness". Sie erforscht ("research") deren optische Qualitäten wie z. B. "redness". Sowohl ihre Perzeption als auch ihre Wortwahl basieren auf "selection", die wiederum eine gewisse "rudeness" erfordert. Das Resultat, ihr Sprachobjekt ("cattle"), ist das Ergebnis ihrer Fragestellung ("question": Wie lässt sich das Gesehene in Sprache übersetzen?). Der Kontrast zwischen "rapid" und "painful" könnte der Spannung zwischen dem Wunsch nach momentaner Erfassung eines 'Augenblicks' und dem mühseligen Ringen der Autorin um die ideale sprachliche Form entsprechen.

 

3.3.3 Das Allgemeine im Besonderen

Wiewohl es Stein gelingt, essentielle Merkmale ihres Gegenstandes einzufangen – das ursprüngliche Objekt in seiner Einzigartigkeit wird für den Leser nicht nachvollziehbar: das sah nur Stein. Die prinzipielle Subjektivität von Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen begegnet uns in Steins subjektivem I, das als sehendes "eye" an relativ zentraler Position aus seiner bemerkenswert abstrakten Umgebung hervorsticht. Nur für Stein bestand die innige Verbindung zwischen Ding und Text. Ihr subjektiver Blick ist unter keinen Umständen für andere erfahrbar: "Nobody enters into the mind of someone else [...] In a created thing it means more to the writer than it means to the reader" (TI: 30). Für Stein mag tatsächlich der Originalgegenstand in ihrem Text enthalten gewesen sein, für den Leser aber verschwindet er darin wie in einem Futteral, von dessen Wirkung Benjamin in anderem Zusammenhang schreibt: "Der reale oder sentimentale Wert der derart aufbewahrten Gegenstände wird unterstrichen. Sie werden dem profanen Blick des Nichteigentümers entzogen, und insbesondere wird ihr Umriss auf bezeichnende Art verwischt (Benjamin 1980: 549).26

Steins Texte sind aus Sicht des Lesers solche Futterale, die die Privatheit von Steins singulärer Erfahrung, z. B. der einer besonderen Schachtel, verbergen. Steins Erfahrung mutiert in ihrem Sprachobjekt zur Aussage über die essentiellen Merkmale einer jeden beliebigen (achteckigen) Schachtel (abgesehen von dem Hinweis auf Stecknadeln als möglichem Schachtelinhalt im zweiten BOX-Satz: "a white way of being round is something suggesting a pin").




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Die besondere Beziehung zum Einzelding geht verloren, seine Konturen verwischen, die Essenz aller gleichartigen Dinge jedoch wird in einem neuen einzigartigen Ding (dem Text) exponiert. Es passiert just das, was Stein in The Making of Americans anstrebte: Die Verschränkung der Perzeption bzw. Kreation des konkreten singulären Objekts mit der Abstraktion eines allgemeinen Prinzips – analog Pounds und (in einem sehr allgemeinen Sinn) Emersons Betrachtungen: "I am led from the consideration of the particular circles [...] to the contemplation of the circle absolute, its law; the circle free in all space" (Pound 1973d: 332). "All the endless variety of things make a unique, an identical impression [...] Each particle is a microcosm, and faithfully renders the likeness of the world" (Emerson 1994b: 1008).27 In diesem Sinn ist Steins Sprachobjekt "name of anything" (Kursivdruck von mir): Steins Essenz des Einzeldings wird für den Leser zur Summe der wesentlichen Eigenschaften aller gleichartigen Dinge, genau wie es die alten Namen auch sind. Dies, indem Steins I/"eye" (das nicht absolut, sondern "an eye" ist) hinter der Materialität des Textes verschwindet, für den Leser quasi 'durchsichtig' wird, zu einer Art allsichtigem Emersonschen "transparent eye-ball" (Emerson 1994b: 996).

Das Besondere dieses neuen 'Namens' liegt einerseits in seiner Komplexität sowie in der Oszillation zwischen sense und nonsense, die eine gedankenlose Abnutzung zumindest sehr erschweren, und andererseits in der erkennbar wesenhaften Verbindung zum bezeichneten Ding (bzw. zur Menge der bezeichneten Dinge). Steins Ziel war es ja "to create a word relationship between the word and the things seen" (TI: 25), eine Ähnlichkeit zwischen Objekt und "objective Image" herzustellen, wie sie auch für Pound wichtig war: "that vortex [i. e. the mind] purges [some external scene or action] of all save the essential or dominant or dramatic qualities, and it emerges like the external original" (Pound 1973a: 345). Stein realisiert diese Beziehung in ihrem zusammengesetzten Text durch genau die imitatio, die sie auf der Ebene der Einzelwortneuschöpfung kategorisch ablehnt. Ihr kreativ-kombinatorisches 'Recycling' alter Namen eröffnet raffiniertere, vielschichtigere, zwischen Offensichtlichkeit und Undurchschaubarkeit changierende Bezugsmöglichkeiten als die Prägung von Neologismen – und es macht die Lektüre immer auch zur Erfahrung unseres eigenen unbedingten Willens zur Erkenntnisbildung auf der Basis bekannter Schemata.

Indem Steins Sprachobjekte eine Gesetzmäßigkeit abbilden, stehen sie wieder für etwas, weisen über sich selbst hinaus. Dennoch, ihre irritierende Rätselhaftigkeit erfordert des Lesers volle, hingebungsvolle Konzentration auf das Objekt Sprache – analog Steins Konzentration auf ihren Gegenstand der Betrachtung. Kein zeitgenössischer Autor konfrontiert den Leser so konsequent mit dem Phänomen Sprache wie Stein. Sie zwingt ihn in die Welt der Wörter, und sie zwingt ihn, deren Undurchsichtigkeit zur Kenntnis zu nehmen: Steins Text wird zum Gegenstand, zur Kreation mit eigener Daseinsberechtigung – dem zwar noch die 'Erinnerung' an den Ausgangsgegenstand in Form seines abstrahierten Prinzips innewohnt, die jedoch trotz dieses Zusammenhangs (dem sie ihre Existenz verdankt) ein Eigenleben führt. Wie Gott die Tiere zu Adam brachte, der in den Tieren Gottes Wort vernahm und so das Wesen der Tiere erkennen konnte, offeriert Stein ihre Sprachobjekte dem Leser – der in ihnen Steins Dinge erahnen und dabei das Wesen von Sprache ergründen kann. Dies ist wohl nicht zuletzt deshalb möglich, weil es Stein gelingt, Pounds Forderung an ein Sprachkunstwerk einzulösen:

we must have a simplicity and directness of utterance, which is different from the simplicity and directness of daily speech, which is more 'curial', more dignified. This [...] dignity [...] must be conveyed by art, and by the art of the verse structure, by something which exalts the reader, making him feel that he is in contact with something arranged more finely than the commonplace. (Pound 1973b: 41)




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Steins Variation dieser Aussage verknüpft jedoch die von Pound geforderte Einfachheit mit dem, für Stein ganz entscheidenden, Moment der Kompliziertheit: "After all, my only thought is a complicated simplicity. I like a thing simple, but it must be simple through complication" (TI: 34). Genau diese komplizierte Einfachheit ist so irritierend und erschwert den Zugang zu Steins Werk. Sie macht aber auch dessen besonderen Reiz aus und ermöglicht immer neue Entdeckungsreisen durch Steins Text-Welt.

 

3.4 Themen und Rhythmen, die sich über mehrere Objects erstrecken

3.4.1 Das Automobil: Bewegung vs. Stillstand

There is [...] in the best verse a sort of residue of sound which remains in the ear of the hearer and acts more or less as an organbase. (Pound 1938: 300)


Wie Stein ihre "BOX" auf eine so ungewohnt direkte Art präsentiert, dass man sie auf den ersten Blick nicht ohne weiteres als solche erkennt,28 so versteckt und präsentiert sie zugleich die Bewegung bzw. das Anhalten eines Autos, das sich über mehrere der letzten objects erstreckt und somit quer zur Einteilung der (häuslichen) Welt in diskrete Einzelobjekte steht. Es fährt sozusagen 'draußen' vorbei, läuft als verbindender Generalbass mit, der die bittere Pille von Steins gestückeltem Text versüßen soll ("A recital [...] is an organ [...] it soothes medicine", TB: 180). Mangels einer Überschrift, die uns das object Auto nennen würde, gründet diese Interpretation auf der bekannten Faszination Steins vom Automobil, auf der 'Bewegung' im Text und auf wohlplazierten semantischen Hinweisen.

Nach Steins eigener Aussage erfasst A LITTLE GIRL CALLED PAULINE (TB: 173) die Bewegung eines altmodischen Autos (TI: 24). Das Thema Bewegung bleibt m. E. aber auch in den folgenden objects zentral 29 und erfährt mit SUPPOSE AN EYES (TB: 175) noch einmal einen Aufschwung. Dieses object könnte eine Szene in einem Vergnügungspark sein: "Eyes" (ice), "gate", "hour of closing", "summer", "shutting up twenty-four" deuten die Szenerie an. Der "soldier" und die "sales ladies" vergnügen sich, "in rubbed purr, in rubbed purr get" könnte für die schmeichelnd überredende Stimme des Karussellbetreibers stehen, der das Publikum zur nächsten Runde lockt ("in [...] get"). Die "seats", die abgescheuert sind ("needing blackening") – und auch für die abgegriffenen Wörter der Sprache stehen könnten – wären die "saddles" (auch: "sales of leather") der Karussellpferde. Mit "[g]o red go red" beginnt sich das Karussell langsam zu drehen, die Bewegung wird mit "[l]ittle sales ladies" immer schneller und gipfelt in der juchzenden, schwindelerregenden Freude des "beautiful beautiful, beautiful beautiful".

Das folgende object A SHAWL (TB: 175) wiedersetzt sich einer ähnlich konsistenten Interpretation, aber es wiederholt das Motiv der rotierenden Bewegung bzw. von Rundung in vielfacher Weise: im um den Hals geschlungenen "shawl", in der Krempe des "hat" und im "ballon".




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"[T]alks" 'drehen' sich um ein Thema, mit "wedding" lassen sich der Bund des Lebens, Eheringe, Torten und Tanzrunden ebenso assoziieren wie der Vaginaeingang. Annähernde Rundheit ist auch ein Merkmal von "hollows", "belt" und "bobbles"; "a round" schließlich artikuliert die/das Runde direkt. Eine mehr oder weniger regelmäßige 'Umdrehung' (des Karussells bzw. von Autoreifen) scheint mir greifbar im Rhythmus des Texts: "A shawl is a hat and hurt and a red ballon and an under coat and a sizer a sizer of talks". Dieser Grundrhythmus ist bei allen Abweichungen (die der Unregelmäßigkeit der Fahrt auf holperiger Straße entsprechen) überall in A SHAWL präsent und setzt sich in BOOK (TB: 175f) fort: "It is a sister and sister and a flower and a flower and a dog and a colored sky a sky colored grey and nearly that nearly that let".

In PEELED PENCIL, CHOKE (TB: 176) erfolgt jedoch eine deutliche Unterbrechung der Fahrt. Der Motor ist abgewürgt ("choke"), der Text entwickelt sich kaum. Die dicht aufeinanderfolgenden Explosiv- und Zischlaute in Überschrift und Text lassen an einen zischenden und spuckenden, überhitzten Motor denken. Es ist nach Steins eigener Aussage eines ihrer "sound pictures" (TI: 27). Der Eindruck des Holprigen setzt sich fort im Text von IT WAS BLACK, BLACK TOOK (TB: 176): "Black ink best wheel bale brown" ist eine widerstrebende, unvermittelte Aneinanderreihung von Adjektiven und Substantiven. Wieder sind die Plosivlaute weit überrepräsentiert. Die stimmhaft-plosiven b klingen wie die letzten kraftlosen Geräusche eines absterbenden Motors. Das Wort "wheel" ist ein weiterer semantischer Hinweis auf ein Auto.

In "Excellent not a hull house, not a pea soup, no bill no care, no precise no past" könnte man den Versuch entdecken, den Wagen wieder anzukurbeln (wie es zu Steins Zeit buchstäblich erforderlich war). Die langsam schneller werdende Bewegung endet jedoch in dem frustran verpuffenden "pearl pearl goat". Auch der zweifache Gebrauch von not und der vierfache von no kann im Sinne der Erfolglosigkeit dieses Unternehmens gedeutet werden – und "hull house", "pea soup", "care" haben eindeutig die Konnotation von Hilfeleistung. Im letzten object, THIS IS THIS DRESS, AIDER (TB: 176), muss wohl tatsächlich Hilfe geholt werden ("aider"), die Klage darüber ist im ersten Satz des objects unüberhörbar. Und das Wort "jack" könnte (zusammen mit "kill") im Sinne von to jack up a car als Hinweis verstanden werden, dass das Auto endgültig nicht mehr fährt, sondern aufgebockt und untersucht wird, wie die Textsektion "Objects" von Stein fertiggeschrieben und dem Leser bzw. Alice zur 'Inspektion' freigegeben wurde.

 

3.4.2 Sehen und Schreiben vs. Fühlen und Lieben

Mit der Autobewegung verknüpft sich unübersehbar der Prozess des Schreibens, die Autorbewegung. Direkt vor SUPPOSE AN EYES steht A LEAVE (TB: 174). Das Wort "leave" scheint einerseits auf das nächste object hinzuweisen (Freigang des Soldaten), andererseits für das Ausfließen von Tinte aus der Spitze des Federhalters ("the middle of a tiny spot") – der von der Hand gelenkt wird ("wrist is leading") – auf das Blatt (leaf) zu stehen. Die rundlaufende Bewegung der folgenden objects stünde somit auch für den Fluss des kreativen Schreibens.




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In A BOOK scheint sich jedoch in das Geschäft des Bücherschreibens eine Störung einzuschleichen, die in THIS IS THIS DRESS, AIDER nicht mehr kontrollierbar ist: In diesem letzten object verdrängt eindeutig das Fühlen ("touch") das Sehen, welches ja ausdrücklich Steins bevorzugte Sinneswahrnehmung in Tender Buttons darstellt. Dies wird als störend empfunden ("stop touch"). Die Berührung durch Alice,30 die Gertrude vielleicht mit einem besonderen Kleid verführen will ("THIS DRESS"), wird als etwas, das mit dem Schreiben und der Konzentration auf das Sehen inkompatibel ist (distress), zunächst heftig abgewehrt (zweimal "why", zweimal "stop"). Doch siegt letztlich das körperliche Bedürfnis, das intellektuell-kreative Vergnügen des Schreibens neigt sich dem Ende (der Bleistiftstummel war ohnehin schon ziemlich kurz: "PEELED PENCIL"– evtl. auch ein Hinweis auf den nicht entwickelten Penis in der Beziehung Alice–Gertrude?) und wird vom physisch-sexuellen Spiel mit der Gefährtin abgelöst: Der erste Satz erinnert sehr an das Stöhnen während des Geschlechtsaktes. "[J]ack" steht für das männliche Glied, "king" für Stein, die sich selbst ja in der männlich-königlichen Rolle des Genies sah, und in "meadowed king" klingt das Vereinigungsmotiv von Wasserfall und Wiese aus WATER RAINING (TB: 171) wieder an.

Diese Endszene scheint sich in A BOOK vorzubereiten: Ein Buch scheint abhanden gekommen zu sein. Jemand (Alice?) tut etwas (das Buch wegnehmen?), was er nicht soll ("stop it, stop it"). Obwohl sich das Buch wieder findet, scheint es nichts mehr zu helfen ("back it was returned, it was needless"). "[P]ole" und "pillar" sind wie "jack" Wörter für das männliche Glied. Von "pillar" ist es zudem nicht weit zu pillow, das mit dem Bett als Ort der Ruhe und der Sexualität verbunden ist. In diesen Kontext passt auch "cover". Schließlich wird eine Verbindung von zweien beschrieben ("cover up the two with a little piece of string"), die zu Hoffnung Anlass gibt ("hope rose"). Es ist von "games" die Rede, und "sister and sister" bzw. "a flower and a flower" weisen deutlich auf eine lesbische Beziehung hin. Mit "put a match to the seam" wird das Ende des "Objects"-Texts angekündigt: Am Ende, am Saum bzw. an der Nahtstelle zum nächsten größeren Textabschnitt "Food" steht die sexuelle Vereinigung von Gertrude und Alice und damit auch von Autor und exemplarischem Leser (wobei Alice überdies als 'Geburtshelferin' wirkt, indem sie Gertrudes Texte abtippt und für ihre Publikation sorgt: "aider"). 31

Nun könnte "match" auch für die Paarung von "Objects" und "Food" stehen, bzw. für das, was unverrückbar und auf jeden Fall immer außerhalb von uns bleibt (auch wenn wir es uns mit Hilfe der Sprache einzuverleiben versuchen) und das, was wir buchstäblich inkorporieren. Die sexuelle Vereinigung würde die 'Nahtstelle' zwischen beidem markieren: Es findet ein momentanes Verschmelzen von zwei Menschen zu einer Einheit statt – eine unmittelbare gegenseitige Erfahrung zweier Subjekte jenseits des sprachlich Vermittelbaren als maximale Steigerung des Berührungserlebnisses, das wir beim Fühlen eines Objekts haben.

Indem sie das Sehen am Ende von "Objects" mit dem Fühlen kontrastiert, stellt Stein einerseits die gewünschte Nähe zwischen beidem her und unterstreicht andererseits die Kluft – wobei sie zunächst dem Sehen/Schreiben den Vorzug gibt, dann aber doch der Verlockung des Fühlens erliegt: Alice holt sie auf den Boden der 'Tatsachen' zurück, weg von den Namen der Sprachwelt, hin zur vorsprachlichen Realität des unmittelbaren Kontakts.




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Im 'Sieg' des Fühlens mag sich Steins Einsicht in die letztendliche Unmöglichkeit ihres schriftstellerischen Anspruchs ausdrücken. Aber sie verknüpft hier auch (wie mit den beiden BOX-Ebenen) die Sphären des Körpers und des Geistes, und damit die traditionell 'weibliche' Natur und die 'männliche' Kultur als einander bedingende Aspekte des menschlichen Seins. Dem entspricht, dass der Schreibprozess in der Moderne als sexueller Akt und die künstlerische Produktion als Geburt erfahren wird – was Stein im ersten Satz ihres Romans Ida formuliert: "There was a baby born named Ida". Das Wesen des Autors, seine Essenz, läge demnach in einer schöpferischen Sprachkraft, die Evas Fähigkeit, Kinder zu gebären, und Adams Privileg der Namensgebung vereint.

 

4 Tender Buttons: "Entity" oder "Identity"?

Stein scheint von dem Wunsch beseelt, eine Nähe zu ihren Gegenständen zu erreichen, die sich der Berührung in der sexuellen Vereinigung nähert. Walker spricht in diesem Zusammenhang von einer "interpenetration of mind and matter" (Walker 1984: 137f). Die Aufhebung der Trennung von äußerer und innerer Realität ist ein immer wiederkehrendes Thema Steins, dessen mystische Dimension sie wohl erkennt:

That is what mysticism is, that is what the Trinity is, that is what marriage is, the absolute conviction that in spite of knowing anything about everything about how any one is never really feeling what any other one is really feeling that after all three are one and two are one. (Stein 1935: 57)


Zwischen Außen und Innen ist sprachlich immer nur ein Transfer, eine Übersetzung aufgrund einer flüchtigen Berührung möglich32 – ein unmittelbarer Zugriff auf Welt und damit unmittelbare Erkenntnis muss Wunschtraum bleiben. Dieser Wunsch ist jedoch so elementar, dass er den Mythos einer einst paradiesischen Sprache schuf. Nach Benjamin ist die Übersetzung der Sprache der Dinge in die Sprache des Menschen Teil einer ewigen Sprachbewegung hin auf die Klarheit des göttlichen Wortes: "Die Sprache eines Wesens ist das Medium, in dem sich sein geistiges Wesen mitteilt. Der ununterbrochene Strom dieser Mitteilung fließt durch die ganze Natur vom niedersten Existierenden bis zum Menschen und vom Menschen zu Gott" (Benjamin 1991b: 157).33 Dieser Klarheit, der absoluten Erkenntnis, sucht sich Stein mit ihren Sprachobjekten zu nähern. Ihre Kreativität ist Ausdruck des Verlangens, sich mit Hilfe der dafür eigentlich untauglichen, weil gefallenen Sprache das Paradies zu 'ersprechen' – indem sie die 'Wortsprache' wieder zu einer 'Namensprache' umzukomponieren und damit kaum mehr wahrgenommene Objekte zu verlebendigen bzw. zu aktualisieren versucht. 34

Wie schwierig dies ist, beweisen die Probleme, die der Leser mit der Entschlüsselung dieser neuen Sprache hat, die nur wenigen Eingeweihten aufgrund einer partiellen Einsicht in Steins Gedankengänge ansatzweise zugänglich sein dürfte.




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'Paradiesisch', weil unmittelbar erkennend, kann diese Sprache nur für Stein selbst gewesen sein. Insofern wäre sie eine isolierende Privatsprache, deren betont appellativer Charakter vielleicht eine größere Nähe des Individuums Stein zu den Dingen ermöglichte, die jedoch in ihrer Rätselhaftigkeit ihren Mitteilungscharakter weitgehend verlor. Diesem Problem der (quasi-babylonischen) Sprachverwirrung – entsprechend der letztendlich nur sehr bedingten Mitteilbarkeit der Gedankenwelt – steht in Tender Buttons das Prinzip der liebenden, um Erkenntnis ringenden, aber auch spielerischen Hinwendung gegenüber. Analog Steins Hinwendung zum Objekt (den Dingen wie der Sprache) verlangt der Text als Voraussetzung für seine Aktualisierung und Verlebendigung eine ebensolche Hingabe vom Leser.

Diesem erschließt der Text dann Sprache als einerseits vollkommen arbiträres, andererseits aber dennoch um Mimesis ringendes Medium der Erkenntnis – oder nach Benjamin als "Parodie des ausdrücklich mittelbaren Wortes auf das ausdrücklich unmittelbare, das schaffende Gotteswort" (Benjamin 1991b: 153).35 Nur "[d]er Name ist dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache selbst und absolut sich mitteilt" (Benjamin 1991b: 144). Reiner Name, nur sich selbst mitteilendes Sprachkunstwerk und damit Einheit, "entity" statt "identity" würde Steins Text sein wollen ("the master-piece [...] has to do with the human mind and the entity that is with a thing in itself and not in relation", MP: 151) – wäre da nicht das Bewusstsein, doch nie mehr oder weniger als eine 'Parodie' auf die Welt sein zu können. Steins Kunstgriff in Tender Buttons scheint nun darin zu liegen, dass sie den (in Tender Buttons eindeutig und erklärtermaßen vorhandenen) Bezug zur konkret-realen Welt, durch den ein Kunstwerk dem Bereich von "identity" zugeordnet wird, so gekonnt verbirgt, dass sich der Text dem Bereich der "entity", und damit dem Meisterwerk, nähert: Steins originelle Form der Mimesis scheint sich gewissermaßen selbst zu leugnen, indem sie zu solch abstrakt-allgemeinen Sprachgebilden führt, dass – nach deren Entlassung aus Steins 'Schoß' – eine Zuordnung zu individuell-identifizierbaren Objekten nicht mehr möglich ist.

Stein zufolge scheint "entity", jene mystische Einheit, sowohl im Meisterwerk als auch im kreativen Akt selbst zu existieren:

[Masterpieces] are knowing that there is no identity and producing while identity is not [...] although time like identity is what they concern themselves about of course [...]

And yet time and identity is what you tell about as you create only while you create they do not exist. (MP: 153f)


Für den Autor läge demnach im flüchtigen, mitunter qualvollen Geburtsakt der Namensgebung, noch vor der 'Entbindung', tatsächlich das Paradies. Doch der Aufenthalt dort wäre dem Ausnahmekünstler, dem Genie, vorbehalten, und auch er müsste ihn jeden Moment neu erringen. Die künstlerische Produktion wäre damit paradigmatisch für die Unabschließbarkeit und Prozessualität allen Seins, für ein kontinuierliches "beginning", das wiederum Nicht-Identität mit sich selbst implizieren würde – ein Gedanke, der sich abermals bereits bei Platon findet:

So sagt man [...] von jedem einzelnen Wesen, es habe ein Leben und bleibe dasselbe, wie ein Mensch der Gleiche genannt wird von Kindheit an, bis er ein Greis ist; [...] doch verjüngt er sich stets und büßt das Alte ein [...] und nicht nur im Körper, auch an der Seele [...]. Viel seltsamer noch: auch die Kenntnisse entstehen und vergehen[...]. (Platon 1986: 172)




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So ist der Sterbliche gekennzeichnet durch die Unmöglichkeit der Identität mit sich selbst, und nach Platon ist es Eros, der ihn "zum Zeugen und Befruchten im Schönen" und dadurch zur Teilhabe an der Unsterblichkeit (als Scheinkontinuität) drängt (Platon 1986: 171ff). In diesem Sinne ist Steins Schreiben eine Sukzession von 'Zeugungsmomenten' auf der Basis einer tief empfundenen Liebe zur Welt, die ihr zum Jungbrunnen wird: "geniuses [...] are eternally young" (MP: 153).

 

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Anmerkungen

1 Nach Benjamin ist der "Sündenfall des Sprachgeistes" der Übergang von der erkennenden Namensprache zur menschlichen Wortsprache (dem Geschwätz): "Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst)" (Benjamin 1991b: 153). Das semiotische Dreieck mit seinem dritten Eckpunkt, dem gedanklichen Konzept bzw. Begriff, würde sich demnach erst nach dem Sündenfall entwickelt haben.

2 Vgl. auch Emerson: "language [...] in its infancy [...] is all poetry" (Emerson 1994b: 1002). "Every word was once a poem" (Emerson 1994c: 1079).

3 "[W]ise men [...] fasten words again to visible things" (Emerson 1994b: 1003); "it is not until poetry lives again 'close to the thing' that it will be a vital part of contemporary life" (Pound 1973b: 41); "consider the individual face, not the conventional or type face which we may have learned to expect on canvas" (Pound 1973d: 330). "The object of aesthetic contemplation is something framed apart by itself and regarded without memory or expectation, simply as being itself, as end not means, as individual not universal" (Hulme 1954: 136).

4 Vgl. auch W. C. Williams: " [...]a truth twenty years old is a lie" (Williams 1919: 215) und Lewis: "Blast presents an art of Individuals" (Lewis 1967: 1, 8).

5 Vgl. Emerson: "To the attentive eye, each moment of the year has its own beauty, and in the same field, it beholds every hour, a picture which was never seen before, and which shall never be seen again" (Emerson 1994b: 998).

6 Die Molekülbewegung wird Stein wohl kaum gemeint haben, wenn es auch ihr Bewusstsein für die Allgegenwart von Bewegung geschärft haben mag. Marinetti schreibt dazu: " [...]man muss das unendlich Kleine, das uns umgibt, ausdrücken, das Unwahrnehmbare, das Unsichtbare, die Bewegung der Atome, die BROWNsche Bewegung" (Marinetti 1993: 215).

7 Dennoch erliegt sie in zahlreichen "sound pictures" (TI: 27) der Versuchung der klanglichen Imitation (z. B. CHICKEN, TB: 192).

8 Stein sieht sich hierin explizit in der Nachfolge von Whitman: "He wanted really wanted to express the thing and not call it by its name" (PG: 144). Vgl. auch Williams: "The sense seeks avidly not only a language, but a fresh language" (Williams 1919: 215).

9 Ferdinand de Saussures Cours linguistique, mit dem i. d. R. der Beginn des Strukturalismus gleichgesetzt wird, wurde 1914 als Vorlesung gehalten und 1916 veröffentlicht.

10 Vgl. hierzu die Interpretation von Walker 1984: 137.

11 Vgl. hierzu Kandinsky: "Diese versteckte Konstruktion kann aus scheinbar zufällig auf die Leinwand geworfenen Formen bestehen, die wieder scheinbar in keinem Zusammenhang zueinander stehen: die äußere Abwesenheit dieses Zusammenhanges ist hier seine innere Anwesenheit" (Kandinsky 1952: 129).

12 Vgl. Emerson: "We must set up the strong present tense against all the rumors of wrath, past or to come" (Emerson 1994a: 1095).




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13 "war may be said to have advanced a general recognition of the expression of the contemporary composition by almost thirty years" (CE: 460).

14 Stein: "A sentence [...] is [...] a prison" (TB: 181). Auch bei Marinetti, der "die absolute Freiheit der Bilder oder Analogien, [...]mit unverbundenen Worten, ohne syntaktische Leitfähigkeit und ohne irgendeine Zeichensetzung" will, wird die Syntax nicht restlos zerstört: "In den befreiten Worten meines entfesselten Lyrismus finden sich hier und da noch Spuren der regelmäßigen Syntax und auch völlig logische Sätze" (Marinetti 1993: 214).

15 Ausführliche Darstellung bei Dubnick 1984 und Walker 1984.

16 EYE GLASSES ist das erste Objekt nach der Wiederholung des Untertitels "Objects" in Form von OBJECTS – und legt allein durch die Position eine Analogie zu A CARAFE, THAT IS A BLIND GLASS nahe.

17 Vgl. Emerson: "Perhaps these subject-lenses have a creative power; perhaps there are no objects" und: "People forget that it is the eye which makes the horizon" (Emerson 1994a: 1099, 1100).

18 Stein selbst suggeriert einen 'Zusammenklang' wie bei Einsatz des Forte-Pedals am Klavier: "if the button holder is held by all the waving color" (A PIANO, TB: 167). Marinetti entwirft mit seinem "viellinigen Lyrismus" eine Gleichzeitigkeit, die einen synästhetischen Effekt simuliert und dem Bedeutungszusammenklang bei Stein analog ist (Marinetti 1993: 218).

19 Um diese Lesart vollends auszureizen, ließe sich anhand der Verzerrung von Proportionen eine weitere Parallele zum Kubismus konstruieren: Das erste 'Glas' samt 'Auge' ist kleiner als das zweite und durch ein Komma vom 'Steg' getrennt, während dieser syntaktisch-logisch direkt in das zweite 'Glas' übergeht. Das 'Lorgnon' sitzt nicht in der Mitte, sondern ist wie die 'Augen' hinter den 'Gläsern' dezentriert.

20 Die Form eines question mark ähnelt einem Haken (Stein war sich des optischen Erscheinungsbildes von Satzzeichen sehr bewusst, s. PG), und in dem relativ scharfen Klang von cattle könnte man das Einklinken des Hakens in eine Öse hören.

21 Nicht alle 'Gedichte' in Tender Buttons sind von der gleichen Qualität: " there is as much failure as success in it" (TI: 29).

22 In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Marinetti tatsächlich Begriffe aus der Musik, wie più presto, rallentando etc., als Leseanweisungen verwendet (Marinetti 1993: 217).

23 Vgl. hierzu Kandinsky: "bei öfterer Wiederholung des Wortes (beliebtes Spiel der Jugend, welches später vergessen wird) verliert es den äußeren Sinn der Benennung. Ebenso wird sogar der abstrakt gewordene Sinn des bezeichneten Gegenstandes vergessen und nur der reine Klang des Wortes entblößt" (Kandinsky 1952: 46). Stein: "the only thing that is spontaneously poetic is children. Children themselves are poetry [...] My poetry was children's poetry" (TI: 23).

24 Dabei drängen sich auch die Assoziation des Geschlechtsakts sowie die des Geburtsvorgangs als Metapher für den Schreibprozess auf.




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25 Man denke an Freuds Traumdeutung, die einen in scheinbarem nonsense verborgenen Sinn offensichtlich macht. – Der Begriff der REM-Phase könnte Stein aufgrund ihrer medizinischen Ausbildung durchaus geläufig gewesen sein.

26 Benjamin spricht hier vom Rückzug des Bürgertums im 19. Jh. in die Privatsphäre, ins Gehäuse der Wohnung, und vom analogen Verschwinden von Gegenständen in eigens angefertigten Hüllen, Etuis und Bezügen.

27 Pound verwendet die Kreisformel in einem eingeschränkteren Sinn als Emerson: sie steht bei ihm lediglich für die Abstraktion aller konkreten Kreise. Emerson führt im folgenden aus, dass er nicht nur von offensichtlich analogen Dingen spricht, sondern auch von oberflächlich betrachtet sehr unähnlichen: "Omne verum ver consonat. It is like a great circle on a sphere, comprising all possible circles [...]" (Emerson 1994c: 231)

28 Vgl. Kandinsky, dem zufolge sich der "Geist der Zeit [...] nicht [in] eine[r] klar daliegende[n], [...] in die Augen springende[n] Konstruktion" ausdrückt, "sondern [in der] versteckte[n], die aus dem Bilde unbemerkt herauskommt und also weniger für das Auge als für die Seele bestimmt ist". "Das Kombinieren des Verschleierten und des Bloßgelegten wird eine neue Möglichkeit der Leitmotive einer Formenkomposition bilden" (Kandinsky 1952: 129, 78).

29 S. auch Steins Kommentar zu A DOG (TI: 24).

30 Aider = Ada = Alice. Siehe hierzu die Vorbemerkung des Hg. zu Ada, einem Portrait Steins von Alice, in Haas 1971: 44.

31 Dementsprechend steht A NEW CUP AND SAUCER, TB: 169) als sexualisierte Beziehung zweier Gegenstände am Ende des ersten Teils von "Objects", d. h. direkt vor der Wiederholung des Untertitels "Objects" als OBJECTS-Überschrift.

32 Vgl. Emerson: "Marriage [...] is impossible, because of the inequality between every subject and every object [...] There will be the same gulf between every me and thee, as between the original and the picture…Two human beings are like globes, which can touch only in a point" (Emerson 1994a: 1100) und Benjamin: "Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt [...], so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original" (Benjamin 1991a: 19f).

33 Emerson spekuliert in verwandtem Sinn über eine Bewegung aller Dinge auf eine höhere Seinsform hin: "through that better perception, [the poet] stands one step nearer to things, and sees the flowing or metamorphosis; perceives that thought is multiform; that within the form of every creature is a force impelling it to ascend into a higher form; and, following with his eyes the life, uses the forms which express that life, and so his speech flows with the flowing of nature" (Emerson 1994c: 1080).

34 Vgl. Benjamin 1991a: Benjamin befasst sich hier mit dem Verhältnis der Sprachen untereinander. Ihm zufolge dienen Übersetzungen dem Überleben des Originals durch dessen immer neue Aktualisierung.

35 Vgl. Emerson: "poetry was all written before time was, and whenever we are so finely organized that we can penetrate into that region where the air is music, we hear those primal warblings, and attempt to write them down, but we lose ever and anon a word, or a verse, and substitute something of our own, and thus miswrite the poem" (Emerson 1994c: 1075).

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