Neue Kunden für
alte Schätze aus der
Handschriftenabteilung


Arthur E. Imhof


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Vor einem halben Jahrtausend


Die wenigsten von uns würden sich wohl wünschen, vor einem halben Jahrtausend gelebt zu haben, so mitten während der erbärmlichen alten, quasi permanent von "Pest, Hunger und Krieg" gepeinigten Zeiten. Nie waren unsere Vorfahren damals sicher, auch morgen noch am Leben zu sein. Im Durchschnitt lag ihr Sterbealter bei fünfundzwanzig, dreissig Jahren, natürlich mit grossen Abweichungen nach unten und oben. Den einen traf's mit zehn, den anderen mit zwanzig, den dritten mit achtzig oder neunzig Jahren. Nur rechnen konnte keiner damit, auch nur annähernd ein so hohes Alter zu erreichen.

Wenn wir uns schon nicht wünschen mögen, vor einem halben Jahrtausend gelebt zu haben, so doch vielleicht, vor einem halben Jahrtausend gestorben zu sein? Die merkwürdige Frage konfrontiert uns mit einem Dilemma unserer Tage. Nach dem inzwischen erfolgten fundamentalen Wandel von der unsicheren zur sicher(er)en Lebenszeit - ohne Pestilenzen, ohne Hunger, ohne Krieg - können wir derzeit wie nie zuvor in der Geschichte mit sechzig, siebzig, achtzig Lebensjahren rechnen. Mit einem gewissen "Recht" dürfen wir uns "in den besten Jahren" - was mittlerweile Jahrzehnte sind - sogar schon "ein bisschen unsterblich" fühlen. Stösst uns einmal etwas zu, werden wir in der Regel umgehend wiederhergestellt. Immer mehr Menschen dringen schliesslich beinahe bis zu der uns von Natur gesetzten biologischen Lebenshülse von durchschnittlichlich gegen achtzig, fünfundachtzig Jahren vor.

Das Dilemma resultiert daraus, dass sich zwar unsere irdische Lebensspanne während der letzten Jahrhunderte verdoppelt oder verdreifacht hat, das Leben insgesamt aber gleichzeitig unendlich kürzer geworden ist. Wir können davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrzahl unserer Vorfahren gläubige Christen waren. Für sie stellte die irdische Phase nur die Vorbereitung auf das ewige Jenseits dar. Ob sie nun zwanzig, fünfzig oder achtzig Jahre währte, spielte eine untergeordnete Rolle. Entscheidend war der richtige Übergang von der irdischen Phase zum ewigen Leben. Wer nicht gottwohlgefällig starb, wurde im letzten Moment noch Opfer teuflischer Mächte und fiel der ewigen Verdammnis anheim.

Was uns Heutige in der Rückschau möglicherweise zudem neidisch werden lässt, nämlich der seinerzeit meist gnädige Tod aufgrund einer rasch tötenden Infektionskrankheit, das fürchteten unsere Vorfahren ganz besonders. Ein unverhoffter jäher Tod liess ihnen zu wenig Zeit für ein bereinigt friedliches Vonhinnengehen. Ausserdem suchten sich Infektionskrankheiten meist nicht nur ein Opfer aus. Vielmehr führten sie immer wieder zu massenhaftem Sterben. Dass Seuchen ansteckend waren, wusste man auch damals schon aus Erfahrung. Wer fliehen konnte, floh, je weiter weg und je länger, umso besser. Die "lieben Angehörigen" bildeten da keine Ausnahme, ebenso wenig die kirchlicherseits seit je als Sterbebegleiter eigentlich vorgesehenen Geistlichen, ganz abgesehen davon, dass auch sie selbst zu den Opfern gehören konnten.

Vor diesem gesamten Hintergrund sowohl der seinerzeitigen irdischen Realitäten wie der damaligen Welt- und Jenseitsanschauungen kam alles darauf an, das plötzlich über einen hereinbrechende Sterben auch ganz allein "richtig" bestehen zu können. Das aber wollte gelernt sein, und zwar von jedermann, jederfrau, ja jedem Kind schon in möglichst jungen Jahren. Doch wie anstellen, wo - abgesehen von ein paar Literati - kaum jemand des Lesens kundig war?




Die Bilder-Ars


Da traf es sich gut, dass vor einem halben Jahrtausend die Reproduktion von Holzschnitten zwecks Herstellung sogenannter Blockbücher in technischer Hinsicht soweit gediehen war, dass kleinere Werke von zwei, drei Dutzend Seiten verhältnismässig billig auch in grösseren Auflagen angefertigt werden konnten. Ein solche Broschüre liegt den folgenden Ausführungen hier zugrunde. Es handelt sich um das "Blockbuch 'Ars moriendi'" aus der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preussischer Kulturbesitz (Signatur: Libr. impr. rar. fol. 142; 24 einseitig bedruckte Blätter). Damit haben wir vor uns, wonach wir suchten: eine Art Leitfaden, wie jedermann die Kunst des Sterbens selbst lernen konnte. Wenig überraschend hatte sich diese Ars (bene) moriendi in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu einem wahren Bestseller entwickelt. Es kam zu ungezählten Auflagen, wobei Textpassagen für allenfalls Lesekundige entweder in (ursprünglichem) Latein wie in unserer Vorlage oder übersetzt in den verschiedenen Volkssprachen mitabgedruckt wurden. Attraktiver als diese Texte und für das bildbasierte Memorieren durch Abertausende Leseunkundiger waren allerdings die elf je blattfüllenden Bilder (Satzspiegel 15,5 x 22,5 cm), was dem ganzen Produkt die Bezeichnung Bilder-Ars eintrug.

Hintergründe, Ursprünge und Änderungen von Textpassagen und Bildern, die nach wie vor offene Frage nach dem Künstler, die Verwandtschaft der unterschiedlichen Auflagen untereinander sowie deren Höhe usw. sind in jüngster Zeit so häufig ausgebreitet und dargestellt worden, dass hier nicht nochmals darauf eingegangen werden soll. (Interessierte können zum Beispiel fündig werden in: Die Kunst des Sterbens. Wie unsere Vorfahren sterben lernten. Stuttgart: S. Hirzel 1998; mit zahlreichen weiterführenden Literaturangaben auf den Seiten 76-82.) An dieser Stelle wollen wir uns vielmehr einer anderen, für die meisten heutigen Menschen wahrscheinlich aktuelleren Frage widmen: Können wir von der damaligen Erfolgsstrategie etwas für unsere eigene Situation lernen und gewonnene Erkenntnisse allenfalls auf unsere Zeit übertragen? Mir jedenfalls will scheinen, dass auch in unseren Tagen viele Menschen wieder für eine den heutigen Verhältnissen angepasste Ars bene moriendi dankbar wären. Denn erneut sterben, wie vor einem halben Jahrtausend, zahlreiche Menschen allein, und dies nach einem nicht selten sehr viel mühsameren, zeitlich sich über Monate oder gar Jahre hinziehenden Sterbeprozess. Auch diese Zusammenhänge kommen im erwähnten Schrifttum bereits ausführlich zur Sprache. Das angeführte Bändchen zum Beispiel trägt den bezeichnenden Untertitel: "Impulse für heute". Somit braucht diese einordnende Problematik ebenfalls nicht nochmals ausgebreitet zu werden.

Kommen wir zum Kern. Die Erfolgsstrategie zeichnete sich vor einem halben Jahrtausend in erster Linie dadurch aus, dass sie die folgenden Umstände unvoreingenommen berücksichtigte und ihnen in adäquater Weise Rechnung trug:

  • Jedermann muss damit rechnen, allein zu sterben.
  • Allein gut sterben lernen geht folglich alle an. Was alle angeht, müssen auch alle verstehen.
  • In der Sterbestunde wird es zu einem Kampf um die Seele von Moribundus kommen; teuflische Mächte setzen alles daran, der bald aus dem Körper entweichenden Seele habhaft zu werden.
  • Ihre fünf grossen Versuchungen werden sein:
    1. Versuchung im Glauben
    2. Versuchung zur Verzweiflung
    3. Versuchung zur Ungeduld
    4. Versuchung zu Überheblichkeit und geistigem Hochmut
    5. Versuchung durch irdische Güter
  • Wer auf diese Versuchungen gut vorbereitet ist, wird ihnen erfolgreich widerstehen.
  • Kaum jemand kann lesen. Bilder ansehen und deren Inhalte memorieren können dagegen die meisten.
  • Die Bilder müssen didaktisch hervorragend aufbereitet, das heisst einprägsam gestaltet sein. Ihre Zahl sollte ein Dutzend nicht übersteigen. Niemand kann sich den Inhalt ausufernder Bildersuiten merken.
  • Am besten eignet sich eine kurze prägnante Dramatisierung des Kampfes um die Seele. Mit Moribundus sollten sich möglichst viele leicht identifizieren können.

Was damals diesem Konzept gemäss entstand, war eine Suite von elf Holzschnitten. In fünf Bildpaaren standen einander die erwähnten fünf Versuchungen und die korrespondierenden erfolgreichen Zurückweisungen dramatisiert und personifiziert gegenüber. Im abschliessenden elften Bild war der Sieg der ausgehauchten Seele zu sehen. Wartende Engel nahmen sie in Form eines kleinen nackten Kindleins in Empfang und geleiteten sie in die ewige Herrlichkeit Gottes. Was für ein Happy End: Ende gut, alles gut!

Die zum Zuge kommende Dramaturgie und didaktische Aufbereitung kann man sich besser kaum vorstellen. Zwei der drei im gedruckten Sammelband pro Beitrag erlaubten Schwarzweiss-Illustrationen sollen das dokumentieren. Nachdem der Sterbende - ein Jedermann von etwa vierzig Jahren - die erste Versuchung (im Glauben) mit Unterstützung eines herbeigeeilten (Schutz-) Engels zurückgewiesen hat, bedrängen ihn die das Sterbelager erneut umzingelnden teuflischen Gestalten diesmal mit der Versuchung zur Verzweiflung (am göttlichen Erbarmen; vgl. Abbildung 1: Versuchung zur Verzweiflung). Während der eine Teufel links oben Moribundus gleich ein ganzes Register begangener Sünden vor Augen hält, erinnern ihn andere Höllenfratzen an seinen unchristlichen Lebenswandel sowie an nie gebeichtete schwere Missetaten: an Ehebruch, Meineid, Geldgier, Geiz, ja gar an Mord. Auch wer unter unseren Vorfahren die eingestreuten lateinischen Spruchbänder beziehungsweise Sprechblasen (à la bande dessinée) nicht zu lesen vermochte, verstand den Inhalt dieser mosaikartig zusammengesetzten dramatischen Einzelszenen ohne weiteres.

Nachdem Moribundus dieser sowie den sich hieran anschliessenden drei weiteren Versuchungen ebenso geduldig und tapfer widerstanden hatte, stirbt er. Der letzte, elfte Holzschnitt zeigt ihn mit geschlossenen Augen: Ein Mönch drückt ihm die Sterbekerze in die Hand (vgl. Abbildung 2: Der glückliche Ausgang des Kampfes um die Seele). Die Teufel gebärden sich rabiat. Sie sind ausser sich vor Wut. Allen listenreichen Drohungen und massiven Einschüchterungen zum Trotz ist ihnen schon wieder eine Seele entgangen.

Wie raffiniert sich auch hier wieder ein dramaturgisches Detail ausnimmt. Sämtliche vorangegangenen zehn Holzschnitte zeigten Moribundus auf dem Sterbelager stets von links unten nach rechts oben. Doch mit dem Tod hat sich "das Blatt gewendet". Wo man aus Gewohnheit den Kopf des Verstorbenen erwarten würde, sieht man im letzten Bild Christus den Erlöser. Wozu bräuchten wir textliche Erläuterungen? Auch unausgesprochen und ohne Schriftband oder Sprechblase versteht jeder: "Noch heute wirst Du mit mir im Paradiese sein!"

Die elfteilige Holzschnittserie ist dermassen attraktiv gestaltet, dass man die Bilder-Ars selbst heute noch gern immer aufs neue ansieht und in ihnen dabei stets Neues entdeckt, so etwa eine in jedem Bild andere Frisur von Moribundus - ganz zu schweigen von seiner ständig wechselnden Physiognomie -, einen anderen Fussboden des Sterbezimmers, ein neues Bettgestell, phantastische Grimassen schneidende Teufel auf kurios verrenkten Leibern, aber auch Vertrauen und Zuversicht einflössende himmlische Gestalten: Engel, Heilige, die Muttergottes, wiederholt die Göttliche Dreieinigkeit höchst persönlich. Wer sich diese Bilder-Ars vor einem halben Jahrtausend auch nur ein paar Mal angesehen hatte, konnte die Serie auswendig - was Sinn der Sache war. Weshalb sollte man sich anschliessend vor dem Sterben, auch dem Sterben mutterseelenallein noch fürchten? Man brauchte es bloss dem Jedermann aus der Broschüre nachzumachen. Dann würde auch der Kampf um die eigene Seele schon ein gleichermassen gutes Ende nehmen.




Lehre und Vorbild für heute ?


Gewiss! Zwar nicht auf naive Art in der Weise, dass eine Neuauflage der alten Bilder-Ars genügen würde, um in heutiger Zeit wieder gut sterben zu lernen. Vergessen wir allerdings nicht, dass die seinerzeitigen didaktisch-pädagogischen Leitlinien bezüglich Prägnanz, Kürze, Attraktivität, Dramatisierung und Personifizierung auch heute noch volle Gültigkeit haben. Abgesehen davon sind jedoch die irdischen Realitäten wie auch die Welt- und Jenseitsvorstellungen radikal andere geworden. Nur wenn wir, wie damals, den grundlegenden Gegebenheiten unvoreingenommen ins Auge sehen und ihnen wiederum angemessen Rechnung tragen, kann der Entwurf einer zeitgemässen neuen Ars moriendi gelingen.

Zu diesen Gegebenheiten zählen folgende Punkte:

  • Die mittlerweile eingetretene Bündelung unserer durchschnittlichen Sterbealter und deren Anhebung auf das doppelte, wenn nicht dreifache Niveau hat ein bereits weitgehendes Ausleben der biologischen Lebenshülse zur Folge.
  • Wir leben durchschnittlich doppelt, wenn nicht dreimal so lange wie unsere Vorfahren, weil wir doppelt und dreimal so gut wie sie leben. Anders geht das nicht.
  • Erstmals könn(t)en wir unser Leben von einem relativ kalkulierbaren Ende her leben und gestalten. Nutzen wir die Chance!
  • Die meisten von uns haben den Glauben an eine jenseitige Ewigkeit verloren. Der irdische Rest ist alles, was uns geblieben ist.

Und noch etwas wäre im Hinblick auf den Entwurf einer neuen Sterbekunst von der alten Ars moriendi zu übernehmen. Genau betrachtet handelte es sich auch bei ihr schon um eine Ars vivendi, eine Anleitung zum richtigen Leben. Wer in seinen irdischen Tagen gar nicht erst Ehebruch begangen hatte, nie einem Mitmenschen etwas zuleide tat, keinen Meineid schwor, weder geldgierig noch geizig gewesen war, den konnten die Teufel in der Sterbestunde natürlich auch nicht zur Verzweiflung bringen, indem sie ihm ein (leeres) Sündenregister vor Augen hielten. Dies scheint mir ein fruchtbarer Ansatz auch für eine neue Kunst des Sterbens zu sein: eine Ars vivendi zu entwickeln, die die Ars moriendi mitbeinhaltet beziehungsweise zum Ziele hat.

Ein letztes Mal wollen wir uns auch diesbezüglich Anregung aus der alten Bilder-Ars holen. Die hier wiedergegebene dritte Illustration zeigt die Holzschnitt-Antwort auf die Versuchung zu Überheblichkeit und geistigem Hochmut (vgl. Abbildung 3: "Sis humilis!"). Erneut sind Engel herbeigeeilt und machen Moribundus Mut in seinem Widerstand. Im Hintergrund sehen wir die Göttliche Dreieinigkeit - den Heiligen Geist in Form einer Taube -, daneben die Muttergottes sowie symbolisch als grösstes damaliges Vorbild christlicher Demut den Eremiten Antonius mit T-Kreuz und Glöcklein. Für Textabhängige hält der eine Engel auch noch ein Spruchband in die Höhe: "Sis humilis!" - "Übe Dich in Bescheidenheit!"

Besinnen wir uns: Wir haben mehr und haben bessere Jahre als unsere Vorfahren und als heute noch die meisten Menschen sonstwo auf der Welt. Wir haben Zugang zu Bildung und Ausbildung, zu Informationen und Wissen wie nie zuvor. Die ganze Welt steht uns offen, real und virtuell. Wir können uns mehr leisten denn je und verfügen über mehr freie Zeit, dies auch zu nutzen. Unsere Vorfahren beteten in der Allerheiligenlitanei: "Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, oh Herr!" - Und heute? Pest? Wozu leisten wir uns denn eine hocheffiziente Gesundheitsmaschinerie! - Hunger? Ein Fremdwort angesichts überbordender Supermärkte. - Krieg? Doch nicht bei uns (wiewohl ab und zu schon wieder in der Nähe)!

Die miserablen alten Zeiten sind zwar passées. Doch genügt das vielen von uns nicht. Wir wollen noch mehr Urlaub und noch längere Reisen und noch besseres Essen und noch komfortablere Wohnungen und noch mehr Lebensjahre und womöglich auch gleich noch eine ganze Ewigkeit dazu. Sis humilis! Bleiben wir auf dem Boden der Realitäten! Ist es wirklich so wenig, was wir haben? Längst geht es mehr darum, den Jahren Leben hinzuzufügen als dem Leben noch weitere Jahre. Nutzen wir die vielen erstmaligen Chancen gemäss einer Art Lebensplan. Dessen Motto könnte lauten: "Menschsein heisst, die in uns angelegte Spannung zwischen Werden, Sein und Vergehen zu akzeptieren, auszuhalten und aushaltend zu gestalten sowie den Tod zur rechten Zeit auf uns zu nehmen". Hier mündet die Ars vivendi tatsächlich in eine Ars moriendi. Wer nach diesem Motto lebte, dürfte am Ende der Tage schwerlich in Torschlusspanik geraten und nachholen wollen, was nicht mehr nachzuholen ist. Das Loslassen fällt leichter, auch wenn keine Fortsetzung in einem Jenseits mehr winkt.




... unter Einbeziehung neuer medialer Technologien


Der durchschlagende Erfolg der seinerzeitigen Bilder-Ars beruhte auf deren pädagogisch-didaktisch hervorragenden Gestaltung, auf deren stupenden Attraktivität, deren einprägsamen Verständlichkeit, deren Prägnanz. Man war sich nicht zu schade, eine so schwierige Materie wie das Gut-Allein-Sterben-Lernen in einer Art "Comic Strip" unter Anwendung damals neuester Holzschnitt-Blockbuch-Reproduktionstechniken in kostengünstig herzustellenden grösseren Auflagen für "den Mann und die Frau auf der Strasse" aufzubereiten, um so möglichst viele, vor allem auch junge Menschen zu erreichen. Jedermann sollte ab frühen Jahren mit der Thematik vertraut gemacht werden.

Auf die heutigen Tage übertragen und im Hinblick auf eine zeitgemässe neue Ars vivendi / Ars moriendi heisst das zweifelsohne, gezielt die Möglichkeiten der neuen Medien, allen voran des World Wide Web und der CD-ROMs einzusetzen, und zwar zu deren Erfolgskonditionen. Bekanntlich ist die Konkurrenz im weltumspannenden Web enorm. Was didaktisch nicht hervorragend gestaltet ist, inhaltlich nicht ohne Umschweife zur Sache kommt, multimediale Möglichkeiten ausser Acht lässt, optisch und akustisch dürftig bleibt, das dürfte kaum bei jemanden über längere Zeit auf ein grösseres Interesse stossen. - Wer ab hier nur Zugang zu einer Papierversion des Sammelbandbeitrags hat, muss sich wohl oder über mit dem Gedruckten und einer "Trockenübung" begnügen. Wer dagegen online ist oder sein kann, braucht die im folgenden webverknüpften Stellen bloss anzuklicken, um die sich dahinter verbergenden Bilder, Texte, Töne auf den Monitor beziehungsweise in den Lautsprecher zu holen. (Noch einfacher und ausführlicher geschieht dies mittels der CD-ROM-Version, die der Festschrift beigefügt ist.)

Betrachten wir nochmals die drei oben behandelten Illustrationen. In Abbildung 1 versuchte eine Meute teuflischer Ausgeburten, Moribundus durch Vorhaltung seiner begangenen Missetaten und seiner Schwächen zur Verzweiflung am Erbarmen Gottes zu treiben. Wer diese Blockbuchseite nun online aufruft, sieht auf der linken Monitorhälfte zuerst zwar auch nichts anderes als den erwähnten Holzschnitt. Rechts davon allerdings wird jetzt zusätzlich eine Liste interaktiv bedienbarer Möglichkeiten angeboten, was die Papierversion verständlicherweise nicht kann. Punktweise untereinander sieht man Moribundi Missetaten in Deutsch und Latein angezeigt. Das Anklicken eines jeden dieser Punkte hat auf der linken Monitorhälfte die Einblendung des diesbezüglichen vergrösserten Bildausschnittes zur Folge. Verharrt der Mauszeiger über dem aufgerufenen Punkt (der zur leichteren Orientierung seine Farbe von blau auf rot wechselt) oder mit identischem Effekt auf dem Holzschnitt über der betreffenden Bildpartie, erscheint in einem Kästchen neben dem Mauszeiger eine knappe Inhaltsangabe. Ist die Vergrösserung erst eingeblendet, gehen vom Mund des jeweiligen Teufels drei halbkreisförmige Schallwellen aus. Dies sowie das mit in Erscheinung tretende kleine Lautsprechersymbol meint, dass per Mausklick eine Sprachausgabe des Spruchbandes in Deutsch und Latein aktiviert werden kann. Erneut hat die Papierversion Vergleichbares nicht zu bieten.

Entsprechende WWW-Anpassungen erfuhren auch die Illustrationen zwei und drei: schnörkellos, einprägsam, attraktiv. Bezogen auf den glücklichen Ausgang in Abbildung 2 fällt es in der Online-Version natürlich leicht, die "ausgehauchte Seele" in Form eines kleinen nackten Kindleins in Vergrösserung einzublenden, desgleichen die Redewendung "das Blatt hat sich gewendet" per Mausklick vor unseren Augen zu aktivieren, das heisst links und rechts zu vertauschen. Die Abbildung 3 mit der Visualisierung realitätsbezogenen Augenmasses geht noch einen (kleinen) Schritt weiter. Beim Anklicken von blauem Punkt beziehungsweise unterstrichenem Ausrufezeichen bei "Sis humilis! - Bleibe bescheiden!" wird nicht nur eine Vergrösserung des ermahnenden Engels auf den Bildschirm geladen - wobei der Spruchbandinhalt zusätzlich wahlweise in Latein oder Deutsch als Schrift oder als Sprache ausgegeben werden kann -, sondern hier erfuhr der Ausschnitt andeutungsweise überdies eine leichte Kolorierung. Der Engel zeigt Gesichtsfarbe. Damit sollen die hier nicht weiter zu vertiefenden immensen Möglichkeiten der digitalen Weiterbearbeitung zumindest angedeutet sein. Ob erlaubt oder nicht und ob es uns passt oder nicht: was im Web als Bild, Sound, Text vorliegt, kann von Dritten kopiert, gespeichert, bearbeitet, verändert werden und wird es auch. Es scheint mir besser, hierauf gefasst zu sein und möglicherweise einige Ideen vorzugeben, im vorliegenden Fall zum Beispiel die Ausarbeitung einer Sequenz mit den elf variierenden Gesichtszügen von Moribundus, digital ausgeschnitten aus den elf Bildern und als Diaschau neu zusammengefügt: selbst wenn als (Moribundi-) Game (gar für Avancierte) gestaltet, nicht einfach eine Spielerei, sondern ein weiterer Beleg für die unübertroffene Gestaltung des seinerzeitigen Leitfadens.

Damit ist das wesentliche dargelegt. Es braucht kaum weiter erläutert zu werden, dass auf diese Weise heutzutage weitaus mehr Menschen an eine wichtige, wiederum uns alle betreffende Thematik herangeführt werden können als mit jeder Buchpublikation. Insbesondere lassen sich so auch und vor allem Jugendliche gewinnen. Aufgrund interaktiver multimedialer Möglichkeiten beschäftigen sie sich mit einer Materie, die ihnen sonst nur schwer zu vermitteln wäre. Unversehens bekommen alte Schätze aus der Handschriftenabteilung eine neue, höchst interessierte Kundschaft. Noch besser geht das ganze für die Handschriften aus. Sie werden nach dem schonenden Digitalisieren nicht länger angefasst, geöffnet, geschlossen, abgenützt, verschlissen, beschädigt. Selbst um genau hinzusehen braucht niemand mehr über dem Original mit einer Lupe zu fuchteln. Jedes Zoomen samt Ausdrucken erfolgt weitaus effektiver auf dem Bildschirm und dem Printer.

*

Die WWW- und CD-ROM-Realisierung des ursprünglichen Papierbeitrags wurde bewusst einfach gehalten. (Die beiden unten genannten Personen sind Historiker, nicht Informatiker.) Wir möchten damit anderen Mut zu ähnlichen zeitgemässen Aufbereitungen machen.




Anmerkung

Der illustrierte Textbeitrag ist online abrufbar unter:

http://www.fu-berlin.de/aeimhof/brandis/beitrag/beitrag.htm

Gültiger Stand aller URLs ist Anfang 1999 (= Abgabe des Beitrags). Eine optimale Wiedergabe erfolgt bei einer Bildschirmauflösung von 1024x768x65000 Farben und Fonts von höchstens 12 Punkt.

Die der Festschrift beigefügte CD-ROM enthält nicht nur eine weitgehend identische Fassung des Online-Beitrags, sondern zudem eine Reihe hauptsächlich multimedialer Zusätze. So lässt sich eine erweiterte Version der "Revue-Passage" (ArsmorCD.exe) aufrufen, ebenso sämtliche HyperCamMovies (mit gesprochenen Erläuterungen zu den elf Holzschnitten). Doch gehen Sie selbst auf Entdeckungsreise! Erproben Sie die verschiedenen Buttons am Ende. Vergessen Sie indes nicht, dass Ihr PC dabei folgende Voraussetzungen erfüllen sollte:

  • CD-ROM-Laufwerk (mindestens 4fach; empfohlen: 8fach)
  • Soundblasterkompatible Soundkarte (16bit)
  • WIN95 / WIN98 / WIN NT 4.0
  • WWW-Browser (Netscape Navigator 4+ / Microsoft Internet Explorer 4+)
  • QuickTime3+
  • MP3-Player
  • Shockwave7

Denken Sie angesichts der Browser-Eigenheiten bitte auch daran, dass beim Aufrufen der Verknüpfungsdatei "Beitrag.htm" auf der CD-ROM normalerweise automatisch der Netscape Navigator geöffnet wird. Möchten Sie die CD-ROM-Inhalte indes im Microsoft Internet Explorer vorgeführt bekommen, müssen Sie diesen Browser selbständig öffnen und die Originaldatei "Beitrag.htm" im Unterverzeichnis "Beitrag" laden.




Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Arthur E. Imhof
Freie Universität Berlin
FB Geschichts- und Kulturwissenschaften
Friedrich-Meinecke-Institut
Koserstrasse 20
D-14195 Berlin
e-mail
: A. E. Imhof (mailto:aeimhof@zedat.fu-berlin.de)
WWW
: A. E. Imhof (URL= http://www.fu-berlin.de/aeimhof)


Die Animationen Revue, Moribundi und Für Avancierte sind von :
Alexander Laudan, M. A.
Freie Universität Berlin
FB Geschichts- und Kulturwissenschaften
Friedrich-Meinecke-Institut
Koserstrasse 20
D-14195 Berlin
e-mail : A. Laudan (mailto:allaudan@zedat.fu-berlin.de)


© A.E.I. 1999/2000

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