Zusammenfassung:
Die Bedeutungsvielfalt der Erzählung "Der Sandmann" von E.T.A.Hoffmann
wird in Beziehung zu die Komplexität jeweils reduzierenden historisch-psychologischen,
diskursanalytischen und psychoanalytischen Interpretationen, insbesondere zur
Lesart Freuds gesetzt. Die konstitutionelle Vielfalt textueller Konstruktionen,
auf die postmodernes Denken setzt, droht dabei verloren zu gehen. Es wird Konstruktionsprozessen
psychologischer Konzepte, insbesondere dem der Subjektivität, nachgespürt
und gegen Festlegungen ausschließlicher Lesarten, für eine nicht
abschließbare, sich mit jedem Leser verändernde Zusammenhangsvielfalt
plädiert.
1.
In einem unserer Seminare (Anm.1 ) haben wir die Erzählung 'Der Sandmann'
aus den 'Nachtstücken' von E.T.A. Hoffmann gelesen und zur Diskussion gestellt.
Gedacht war das, nach dem Studium von Derridas 'Freud und der Schauplatz der
Schrift' (Derrida, 1976) als Material für dekonstruktionistische Fingerübungen.
Diese liessen sich auch durchspielen, der Stoff eignet sich prächtig dafür.
Zur Überraschung der Seminarleitung fand die Erzählung jedoch ein
darüber hinaus gehendes Interesse, nämlich als Folie möglicher
Selbstinterpretationen überwiegend junger Menschen, denen wir ausweislich
ihres Psychologiestudiums sowohl sensible als auch einigermassen realistische,
vor allem jedoch heutige Blickweisen unterstellen wollen. Wie das? Unsere in
verschiedenen Zusammenhängen wiederholten Diskussionen ergaben: Die Erzählung
kann als durchaus aktuelle Narration einer sich einer einfachen Fassung entziehenden
Subjektivität und über Beziehungen, durch die hindurch diese sich
bildet wie auch auflöst, gelesen werden. Dazu sollen hier Lesarten vorgestellt
werden (Anm. 2).
2.
Die von E.T.A. Hoffmann 1815 geschriebene Erzählung (Anm. 3) ist im Lauf
ihrer Rezeptionsgeschichte zum Versammlungsort verschiedener Interpretationsrichtungen
und Deutungen geworden. Nicht nur die Literaturwissenschaften fielen, sei es
biographisch-historisch oder werkimmanent forschend, über den Sandmann
her, um ganz unterschiedliche Absichten Hoffmanns aufzuzeigen: die Darstellung
des unverständlichen Einbruchs des Bösen, die Verzweiflung an einer
täuschenden Welt, den ironischen Blick auf eine nach nicht einzulösenden
Werten strebenden Gesellschaft und noch vieles mehr. Die Erzählung lässt
sich auch historisch-philosophisch deuten als Problematisierung der Grenzlinien
der Realitätserfahrung, als ein Stück Lehre von der Möglichkeit
einer 'Erkenntnis, die nicht an die Bedingungen der theoretischen Erkenntnis
gebunden' (Foucault, 1973, S. 271) ist . Schliesslich bietet sie sich einer
sprachstrukturalistischen Deutung geradezu an: als geheimnisvolle Darstellung
eines Konflikts zwischen 'Symbol und Symbolisirtem' wie es schon der Zeitgenosse
Novalis thematisiert hat, was dann die Schnittstelle für heutige lacanianische
Interpretationen liefert (Newman, 1997; Tholen, 1983). Anders ging die Klassische
Psychoanalyse mit der Erzählung um: Freud selbst (Freud, 1919) untersucht
die im Werk verborgenen unbewussten Elemente, die für das Zustandekommen
der Wirkung auf den Leser verantwortlich sein sollen - wir werden in diesem
Aufsatz darauf zurückkommen. ' ... wie in eines matt geschliffenen Spiegels
dunklem Widerschein' (SM, S. 19) - so stehen die zahlreichen Deutungen (Anm.4)
vor der Erzählung, die imstande zu sein scheint, noch mehr aufzunehmen.
Es ist wohl die Vieldeutigkeit der auftauchenden Personen und Ereignisse, die
verrätselte Handlung, die sich nicht auflösen lässt und die auf
allen Ebenen der Erzählung mitschwingende Realitätsunsicherheit, die
die sich auf sie beziehende Sekundärliteratur auf einen derartigen Berg
anwachsen lässt.
An der Rezeption des Sandmann zeigt sich einmal mehr, dass ein attraktiver Text seine Lesart nicht vorschreibt, sondern dass er Beziehungen zwischen sich und den LeserInnen zu evozieren vermag, die sich historisch/kulturell/individuell kontextuell gestalten, fernab von einer einzigen, sich wie auch immer als werktreu oder autorengerecht rechtfertigen wollenden 'richtigen' Lesart.
3.
Es wird hier notwendig sein auf den Inhalt der Erzählung einzugehen. Das
Nacherzählen gestaltet sich jedoch schwierig - und schon sind wir mittendrin
in der Verunsicherung von Eindeutigkeiten. In Einschüben reflektiert nämlich
der Erzähler den Vorgang des Erzählens; er setzt sich in Beziehung
zur Handlung und den auftretenden Personen. Es erzählen nicht nur der Erzähler,
sondern in Briefen auch die Personen, die in die Handlung verwoben sind. Ausserdem
ist oft unklar, aus wessen Perspektive erzählt wird. Schliesslich wird
mit Identitäten, Ähnlichkeiten sowie Differenzen von Eigennamen ein
verwirrendes Spiel getrieben. (Anm.5)
An den Anfang der Erzählung plaziert der Erzähler drei Briefe, die,
wie er später erklärt, ihm die Schwierigkeit des Beginns erleichtern
und die dem Leser einen unbeeinflussten Blick auf die Handlung ermöglichen
sollen.
Im ersten der drei Briefe, der mit "Nathanael an Lothar" überschrieben
ist, berichtet jener Nathanael von "etwas Entsetzlichem", das in sein
Leben getreten ist. Das Entsetzliche, von dem Nathanael dem Freund berichten
will, "besteht in nichts anderm, als daß vor einigen Tagen, ...,
ein Wetterglashändler in meine Stube trat und mir seine Ware anbot."
(SM, S.3). Um sein damit verbundenes Entsetzen darzustellen, berichtet Nathanael
im Rückblick auf seine Kindheit von einem ihm unbekannten Mann, der die
Familie öfters besuchte. Wenn er eintraf,wurden die Kinder, ohne ihn gesehen
zu haben, mit folgender Begründung von der Mutter ins Bett geschickt: ""Nun
Kinder!-zu Bette! zu Bette! der Sandmann kommt, ich merk es schon." (SM,
S.4) Nathanael fragt die Kinderfrau, wer der Sandmann sei, worauf diese ihn
folgendermaßen beschreibt:
"Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht
zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, daß
sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt
sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im
Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen
Menschenkindlein Augen auf." (SM, S.5)
Über Jahre hinweg von der Vorstellung des Sandmannes fasziniert, beschließt
Nathanael mit ca. zehn Jahren, sich in des Vaters Zimmer zu verstecken, um den
Sandmann einmal zu Gesicht zu bekommen. Der geheimnisvolle Besuch stellt sich
als der dem Nathanael bekannte Advokat Coppelius heraus, der bei der Familie
manchmal ißt. Coppelius ist den Kindern wegen kleiner Gemeinheiten verhasst,
so hält Nathanael ihn sofort für den Sandmann:
"Als ich nun diesen Coppelius sah, ging es grausig und entsetzlich in meiner
Seele auf, daß ja niemand anders, als er, der Sandmann sein könne,
aber der Sandmann war mir nicht mehr jener Popanz aus dem Ammenmärchen,
der dem Eulennest im Halbmonde Kinderaugen zur Atzung holt-Nein!- ein häßlicher
gespenstischer Unhold, der überall, wo er einschreitet, Jammer-Not-zeitliches,
ewiges Verderben bringt." (SM, S.8)
Nathanael beobachtet, wie sein Vater und der Advokat am Herd mit ihm unbekannten Dingen hantieren und glaubt plötzlich augenlose Gesichter zu sehen. Er stürzt voller Angst aus seinem Versteck, worauf Coppelius ihn mit dem Ruf: "Nun haben wir Augen - Augen - ein schön Paar Kinderaugen" (SM, S.9) ergreift. Auf Bitten des Vaters läßt Coppelius von Nathanaels Augen ab, wendet sich aber dafür seinen Händen und Füßen zu, die er ab- und wiederanschraubt. Nathanael wird vor Schreck ohnmächtig. Eine darauffolgende lange Krankheit übersteht er.
Als Coppelius das nächste Mal auftaucht, um mit dem Vater am Herd zu arbeiten,
verunglückt dieser bei einer Explosion tödlich.
Der Schluß des Briefes erklärt nun den Zusammenhang dieser Geschehnisse
mit dem Auftauchen des Wetterglashändlers: Nathanael hat nämlich in
ihm den Coppelius erkannt, der sich als "piemontesischer Mechanicus"
(SM, S.11) namens Giuseppe Coppola ausgibt. Nathanael ist entschlossen, "es
mit ihm aufzunehmen und des Vaters Tod zu rächen." (SM, S.12)
Im zweiten Brief, der mit "Clara an Nathanael" überschrieben ist, erfährt der Leser von der falschen Adressierung des ersten Briefes, den Nathanael irrtümlicherweise an seine Verlobte Clara statt an ihren Bruder Lothar geschickt hat. Sie begründet ihr Lesen des nicht an sie gerichteten Briefes mit der Sorge um Nathanael. Sie berichtet, zunächst von der Vorstellung des Coppelius geängstigt gewesen zu sein, sich dann aber in Gesprächen mit Lothar alles folgendermaßen erklärt zu haben: Das seltsame Vorgehen von Vater und Coppelius am Herd waren alchimistische Versuche und der Tod des Vaters wurde durch eine Explosion von Chemikalien verursacht. Sie beschwört Nathanael, sich von der Erinnerung an Coppelius nicht schrecken zu lassen; seine Erscheinung nämlich sei nur in Nathanaels Innerem so furchtbar gewesen. Die Macht des Coppelius und des Wetterglashändlers über Nathanael bestünde nur in seinem Glauben an sie.
Im letzten Brief, der wieder mit "Nathanael an Lothar" überschrieben ist, reflektiert Nathanael die Argumente Claras und zeigt sich beruhigt; er glaube nämlich nicht mehr, daß Coppelius und Coppola dieselbe Person seien. Er erwähnt außerdem seinen neuen Professor Spalanzani und dessen von ihm versteckt gehaltene Tochter Olimpia. Zum Schluß kündigt Nathanael noch seinen baldigen Besuch zu Hause an.
Nun beginnt die erste Einschaltung des Erzählers mit der direkten Anrede
des Lesers. Der Erzähler beschreibt den quälenden Zwang, ein Erlebnis
schildern zu wollen, für die Fülle an Gefühlen und Gedanken aber
nur unzureichende Worte zur Verfügung zu haben. So erlebte der Erzähler
auch die Geschichte des Nathanael, er beschreibt verschiedene Anfänge,
die ihm der Schwere der Geschichte nicht gerecht zu werden schienen und begründet
damit schließlich die an den Beginn gestellten Briefe: "Nimm, geneigter
Leser! die drei Briefe, welche Freund Lothar mir gütigst mitteilte, für
den Umriß des Gebildes, in das ich nun erzählend immer mehr und mehr
Farbe hineinzutragen mich bemühen werde." (SM, S.18) Außerdem
wird der Leser noch über die Lebensverhältnisse Nathanaels aufgeklärt;
Clara und Lothar sind Kinder eines verstorbenen Verwandten, die die Mutter Nathanaels
aufgenommen hat. Nathanael hält sich wegen seines Studiums in G. auf.
Es folgt der Übergang zur in den Briefen begonnenen Handlung, jetzt aus
der Perspektive des Erzählers.
Im Laufe des Besuches zuhause stellt Nathanael sich als verändert heraus. Er spricht von dunklen Mächten, denen der Mensch ausgeliefert sei,"das ganze Leben war ihm Traum und Ahnung geworden." (SM, S. 20). Er verwickelt Clara in Dispute über "das böse Prinzip" (SM. , S.21), das der Coppelius verkörpere. Clara und Nathanael entfernen sich voneinander, Nathanael ist erzürnt über Claras "kaltes prosaisches Gemüt"(SM, S.22). Er verfertigt eine Dichtung, deren Thema die Zerstörung ihrer Liebe durch Coppelius ist. Als Clara Nathanael tief erschrocken anweist, das Gedicht ins Feuer zu werfen, nachdem er es ihr vorgelesen hat, bezeichnet dieser sie voller Zorn als "lebloses, verdammtes Automat" (SM, S.24). Zwischen Lothar und Nathanael kommt es zum Streit, der mit der Verabredung zum Duell endet. Als Clara jedoch die beiden anfleht, sich zu versöhnen, entschuldigt Nathanael sich und scheint von seinem Gedanken an die finsteren Mächte befreit.
Zurück an seinem Studienort, ist Nathanael wegen eines Brandes gezwungen, umzuziehen. Sein neues Zimmer liegt dem Haus Spalanzanis gegenüber, weswegen Nathanael dessen Tochter Olimpia oft in ihrem Zimmer sitzen sieht.
Die vermeintlich überwundene Angst packt ihn erneut, als Coppola wieder
auftaucht und Nathanael Brillen verkaufen will, die er als "sköne
Oke " (SM, S. 26) bezeichnet. Nathanael kauft ein Fernglas, mit dem er
von da an ständig Olimpia beobachtet, die ihm plötzlich wunderschön
erscheint und von der er wie besessen ist.
Kurz darauf veranstaltet Spalanzani ein Fest, bei dem auch seine Tochter präsentiert
werden soll. Nathanael, der Clara völlig vergessen hat, gesteht Olimpia
während des Fests seine Liebe und sucht sie jeden Tag auf, um ihr gegenüber
von "Liebe, von zum Leben erglühter Sympathie, von psychischer Wahlverwandtschaft"
(SM, S. 33) zu monologisieren. Olimpia hört stets stumm zu. Nathanael fühlt
sich völlig von ihr verstanden und beschließt, ihr einen Antrag zu
machen. Als er mit diesem Ziel bei ihr eintrifft, wird er Zeuge eines Kampfes
zwischen Spalanzani und Coppola, die beide an der Olimpia zerren. Als Nathanael
bemerkt, daß Olimpia eine Puppe ist, und als Spalanzani ihn mit ihren
blutigen Augen bewirft, wird er wahnsinnig und "nach dem Tollhause gebracht."
(SM, S. 36).
An dieser Stelle meldet sich der Erzähler wieder zu Wort. In einer satirischen Passage schildert er die Reaktionen auf die Tatsache, daß die Olimpia ein von Spalanzani und Coppola angefertigter Automat war.
Nathanael scheint ein weiteres Mal erlöst, als er zu Hause von seinem Wahnsinnsanfall genesen ist. Als er und Clara aber während eines Spaziergangs durch die Stadt den Ratsturm besteigen, erblicken sie in der Ferne einen "sonderbaren kleinen Busch, der auf [sie] loszuschreiten scheint". (SM, S.39) Nathanael will durch sein Fernglas schauen: 'Er fand Coppolas Perspektiv, er schaute seitwärts. - Klara stand vor dem Glase! Da zuckte er krampfhaft in seinen Pulsen und Adern - totenbleich starrte er Klara an, aber bald glühten und sprühten Feuerströme durch die rollenden Augen ...'. Er will Clara vom Turm werfen. Lothar rettet sie, während Nathanael Coppelius (nicht Coppola!) in der Menge erblickt und daraufhin mit dem Schrei "Ha! Sköne Oke- Sköne Oke" (SM, S.40) in den Tod springt.
4.
"Man möchte glauben, daß man es mit einem sehr tiefen Psychiater
zu tun habe, dem es Spaß macht, seine unheimliche Wirkung mit dichterischen
Formen zu umkleiden, gleich als wenn ein Gelehrter in Fabeln und Gleichnissen
reden wollte" (Baudelaire, S. 272).
Baudelaire beschrieb so die Erzählkunst Hoffmanns, und wirklich beschäftigte dieser sich ausführlich mit Symptomen und Therapie des Wahnsinns. Durch die Bekanntschaft mit dem Nervenarzt Dr. Marcus sowie durch das Studium von damaliger Fachliteratur (Philippe Pinel, Carl Alexander Ferdinand Kluge, Johann Christian Reil) erwarb Hoffmann diesbezügliche Kenntnisse, die in der Darstellung des Nathanael Anwendung gefunden haben könnten (Günzel, 1979, S. 200-204). Gleichwohl schreibt Hoffmann seine Erzählung in einer Zeit, in der die Rede über das Seelische, dessen Differenzierung in Normal und Pathologisch, noch nicht verfestigt oder gar als wissenschaftlicher Diskurs sich institutionalisiert hätte. Psychologie ist erst ansatzweise in medizinisch-psychiatrischer und moralphilosophischer Ausarbeitung. Der psychopathologische Diskurs 'wandert' noch (Obermeit, 1980, S. 7), sucht und findet seine Wegmarken u.a. mittels Literatur und Theater. Hoffmann kann über den Wahn noch nicht aus der Perspektive eines Konsenses über Normalität und Abweichung schreiben. So begibt er sich in unserer Geschichte auch nicht in die Position des distanzierten, all- oder besserwissender Erzählers. Wie der moralischen Unterweisung des entstehenden Bürgertums, die zu Teilen über schöngeistige Lektüre Lektüre lief, kam der Literatur allgemein die nicht unwichtige Aufgabe zu, psychologische Diskursstränge zu entwickeln, zu differenzieren und zu verbreiten.
Als Psychologie kann 'Der Sandmann' so als ein Beitrag zur Verifikation von Wahnsinn und Normalität gelesen werden. Aber nicht im Sinne einer Phänographie, einer erkennenden Beschreibung, oder einer Nosologie, der Feststellung von Krankheitsbildern. Da kann noch nichts in psychopathologische Formen gegossen werden - Nathanaels und der anderen Verhalten hat kein Etikett. Hoffmann kann und braucht sich nicht an eine vorgegebene diskursive Behandlungsvorschrift, etwa ein alltägliches oder wissenschaftliches Regelwerk, zu halten. Er ist frei, Diversität und Tollheit schöpferisch zu gestalten.
5.
Dafür unterwirft sich der Autor einer sozialen Praxis des Diskurses: Er
holt den Leser, zu seiner Zeit den/die gebildete BürgerIn, in die tolle
Bewegung hinein. Erzähler, handelnde Personen, Leser müssen sich ihre
Sichtweisen vom Innen der Geschichte heraus bilden, sie müssen sich hineinbegeben
und sich beweglich halten, sie sollen sich relationieren. Der Leser mag sich
entscheiden für eine der möglichen, keineswegs eindeutigen Positionen,
was ihm aber nicht vor-geschrieben wird. Eine solche soziale Struktur des sich
bildenden psychologischen Diskurses erinnert an das heutige, sozialkonstruktivistische
Konzept des relationalen Selbst , das wir als postmodern ansehen sollen (Gergen,
1991) - womit der Term postmodern wieder einmal mehr im Sinne einer Möglichkeit
des Sprechens und Gestaltens denn als historisches Schema (Anm. 6) aufscheint.
Das sich epochal damals bildende bürgerliche Subjekt wird hier als Leser
in den Zwang der Selbstklärung, der individuellen Positionierung genommen:
ein Partikel der historischen Selbstkonstitution des bürgerlichen Subjekts
im hier literarischen Diskurs.
Ein den "Sandmann" durchziehendes Thema ist die Unsicherheit auf mehreren Ebenen: die Unsicherheit über die Identität mancher Personen (so ist nicht klar, ob Coppelius nun identisch mit Coppola ist oder nicht; so ist der Charakter der Clara schwer zu bewerten: fürsorgliche Vernunft oder kalte Rationalität, oder brave Biederkeit?)
Unsicherheit erzeugt auch der häufige Perspektivenwechsel, der zum einen im Wechsel von der Darstellung der Handlung in den Briefen zur Sicht von außen im folgenden Teil besteht, zum anderen aber auch im heimlichen Verschwinden von anscheinender Klarheit über den gerade Sprechenden, der, wenn er denn toll wäre, keine äussere Relität wahrsprechen könnte, die aber wieder für den Fortgang des Geschehens konstitutiv ist. So im Teil nach den Briefen, den der Leser ja der Perspektive des Erzählers zuordnet, z. B. in der Beschreibung des Kampfes zwischen Spalanzani und Coppola, der aus der Sicht des Nathanael geschildert wird.
Damit zusammenhängende Unsicherheit erzeugen auch die beiden Sichtweisen des Sandmannes: Ist er nun, nach Clara, nur im Inneren Nathanaels existent und verfügt nur so über seine unheimliche Wirkung oder ist er die Verkörperung des bösen Prinzips, wie Nathanael behauptet? Agiert er wirklich, so wie es aus Nathanaels Augen beschrieben wird (schraubt er also z.B. wirklich an seinen Gelenken) oder phantasiert Nathanael hier? Clara erklärt die unerklärlich bleibenden , mit der Gestalt des Coppelius zusammenhängenden Vorgänge für eine aus Nathanaels Angst resultierende Vermischung des tatsächlich Geschehenen mit dem in seiner Phantasie Vorgegangenen. Die dunkle Macht, die Nathanael im Sandmann sieht, ist nach Clara nur zur Wirkung fähig, wenn an sie geglaubt wird.
"Gibt es eine dunkle Macht, die so recht feindlich und verräterisch einen Faden in unser Inneres legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einem gefahrvollen verderblichen Wege, den wir sonst nicht betreten haben würden- gibt es eine solche Macht, so muß sie in uns sich, wie wir selbst gestalten , ja unser Selbst werden; denn nur so glauben wir an sie und räumen ihr den Platz ein, dessen sie bedarf, um jenes geheime Werk zu vollbringen." (SM, S.14)
Der Leser mag dies glauben; auch ihm ist ja das Schrauben an Nathanaels Gelenken unverständlich, auch er hält die seltsamen Handlungen am Ofen gerne für alchimistische Versuche. Aber er kann nicht sicher sein, genausowenig wie Nathanael.
"Die normativen Kriterien, mit deren Hilfe der Leser üblicherweise in der Lage ist, zwischen Wahn und Wirklichkeit zu unterscheiden, verlieren bei der Lektüre des 'Sandmanns' ihre Gültigkeit. Ein individueller Wahn wird zur Wirklichkeit aller verkehrt, eine phantasierte Figur wird zur wirklichen, der Leser verliert seine Orientierung." (Obermeit, 1980, S. 115)
Im zweiten Teil (also nach den Briefen) ist mit der Wiederkehr von Coppelius als Coppola und dem Hantieren an der Olimpia von Coppola und Spalanzani der beginnende Wahnsinn Nathanaels begründet; ein dem Leser ebenso unerklärliches Ereignis findet also in der vermeintlichen Wirklichkeit außerhalb von Nathanael statt.
"Hoffmann stellt seinen Leser vor die irritierende Alternative, entweder die Einheit von Wirklichkeit und Wahn zu akzeptieren oder sich selber als wahnsinnig zu betrachten. Die Alternative prägt die Rezeptionsstruktur der Erzählung. Immer wieder wird der Leser vor sie gestellt, immer wieder soll er eine Entscheidung treffen, die bald zugunsten der einen, bald zugunsten der anderen Variante nahegelegt wird. Der Leser fühlt sich hin- und hergerissen, unsicher, ob er überhaupt in der Lage sei zu entscheiden, welche Ereignisse wahnhaft, welche wirklich geschehen seien." (Obermeit, 1980, S.117)
6.
In Entsprechung zu den verschiedenen Blickwinkeln auf Nathanaels Lebensgeschichte
sind als auffälligstes Motiv die Augen und Elemente aus dem Bereich des
Auges zu nennen. Schon zu Beginn auftauchend, als der Vater die Augen des Sohnes
von dem Zugriff des Coppelius freibittet, wird das Motiv im Laufe der Erzählung
vielfältig eingesetzt: in der Charakterisierung der Clara; in der Dichtung
des Nathanael, in der Coppelius die Augen Claras berührt; in der Person
des Coppola, der Nathanael das ihm Olimpia nahebringende Fernglas verkauft;
in den seltsam toten Augen Olimpias, die dem Nathanael später an die Brust
geworfen werden; im Todesschrei "Sköne Oke" des Nathanael, der
ausgelöst wird durch das Erscheinen des Coppelius. Auch in den Namen Coppelius
und Coppola ist das Augenmotiv enthalten; "coppo" (italienisch) bedeutet
im übertragenen Sinn Augenhöhle.
Der Vielzahl der Sichtweisen auf Nathanaels Lebensgeschichte entspricht die
Vielfalt der Bedeutungen, die dem Wortfeld Auge zugeordnet sind. Ihre leitmotivische
Verwendung verleiht dem perspektivisch offenen Text thematische Dichte. Im mehrfachen
Sinn des Lexems Auge
- als Werkzeug des Sehens und
- als das geistige Anschauungsvermögen, als Einbildungskraft, Verstand,
Urteil ('die Sache schwebt mir vor Augen', 'ich sehe die Sache mit anderen Augen'),
- als Spiegel der Seele sowie
- als erotische Attraktion ('schöne Augen machen', ital. 'gli begli occhi')
schreitet in der Erzählung die Gestaltung des Augenmotivs voran, wobei
der Wortsinn, der sich auf das Auge als sinnlich wahrzunehmendes Organ der visuellen
Wahrnehmung bezieht, durch zahlreiche metaphorische Bedeutungen (Anmerkung 7)
variiert und erweitert wird.
Für uns heutige, postmoderne Leser, die sich auf nicht abschließbare Multiperspektivität einlassen können: Wir werden durch das Augenmotiv zu immer neuen Deutungsmöglichkeiten geführt. Die Vielfalt der Lesarten ist in den Text mittels dieses Motivs eingeschrieben.
7.
Sigmund Freud liest die Erzählung als realistische Darstellung, dem Leser
zur Einsicht vorgelegt. Nach dem bisher Entwickelten scheint uns dies eine reichlich
reduzierte Lesart, die dem Text wenig gerecht zu werden vermag. Wie das dem
für Sprache so sensiblen Freud möglich war, ist seinerseits verwirrend
und würde vielleicht der Analyse lohnen (Anm.8). Sein Aufsatz "Das
Unheimliche" erschien 1919. Im zweiten Abschnitt dieses Aufsatzes sollen
'Personen und Dinge, Eindrücke, Vorgänge und Situationen' (Freud 1919,
250) untersucht werden, von denen eine unheimliche Wirkung ausgeht.
Nach Freud entsprechen sich die Arbeit des Analytikers und des Dichters auf
eine gewisse Weise, indem nämlich der Analytiker das Unbewußte des
Patienten aufzudecken und zu verstehen versucht, der Dichter seine Werke aus
seinem eigenen Unbewußten erschafft, das er zwar nicht eindeutig verstehen
muß, es jedoch auch nicht unterdrückt. In "Der Dichter und das
Phantasieren" (1908) bezeichnet Freud den Dichter als "Träumer
am hellichten Tag" und seine Schöpfungen als "Tagträume".
Der Tagtraum kommt aus einem den Dichter beeindruckenden Erlebnis zustande,
das eine Erinnerung lebendig werden läßt und in einem Werk verarbeitet
wird. Dichtungen werden so von der Psychoanalyse zu einem Material erklärt,
das entsprechend den Träumen oder den freien Assoziationen eines Patienten
gedeutet werden kann. Dieser Vorgabe folgt auch Freuds Lesart der unserer Erzählung
, die in "Das Unheimliche" (1919) als Unterstützung zur Erklärung
eben jenes Gefühls des Unheimlichen dient. Die Erzählung zieht ihre
unheimliche Wirkung, so Freud, vor allem aus der Gestalt des Sandmannes und
der von ihm ausgehenden Bedrohung, die Augen zu verlieren. Die Angst um die
eigenen Augen steht für die Kastrationsangst, auf der im Grunde jede Angst
vor einem Organverlust basiere:
" Man mag es versuchen, in rationalistischer Denkweise die Zurückführung
der Augenangst auf die Kastrationsangst abzulehnen; man findet es begreiflich,
daß ein so kostbares Organ wie das Auge von einer entsprechend großen
Angst bewacht wird, ja man kann weitergehend behaupten, daß kein tieferes
Geheimnis und keine andere Bedeutung sich hinter der Kastrationsangst verberge.
Aber man wird damit doch nicht der Ersatzbeziehung gerecht, die sich in Traum,
Phantasie und Mythos zwischen Auge und männlichem Glied kundgibt, und kann
dem Eindruck nicht widersprechen, daß ein besonders starkes und dunkles
Gefühl sich gerade gegen die Drohung, das Geschlechtsglied einzubüßen
erhebt, und daß dieses Gefühl erst der Vorstellung vom Verlust anderer
Organe den Nachhall verleiht." (Freud, 1919, S.255)
Mehrere Elemente der Erzählung erschließen nach Freud ihren Sinn erst, wenn man Augen- und Kastrationsangst miteinander in Verbindung bringt: so der Zusammenhang von Augenangst mit dem Tod des Vaters, so die Rolle des Sandmanns als "Störer der Liebe" (ebd.) - durch Nathanaels Glauben an das böse Prinzip Coppelius entfernen sich Clara und Nathanael voneinander; der Sandmann zerstört die von Nathanael geliebte Puppe Olimpia und er verursacht den Selbstmord Nathanaels kurz vor der Heirat. Diese Ausführungen werden durch eine umfangreiche Fußnote ergänzt, die, ausgehend von der "Phantasiebearbeitung des Dichters" (ebd.), die "ursprüngliche Anordnung" (ebd.) wiederherstellen will. Statt der eigentlich gemeinten Kastrationsangst wird also Augenangst dargestellt; statt des Kastrationsprozesses das An- und Abschrauben der Gelenke des Nathanael.
Die Vater-Imago ist in Kindergeschichte und späterer Geschichte jeweils in zwei Teile gespalten: Der gute Vater der Kindergeschichte ist Nathanaels echter Vater; der böse Vater ist Coppelius, der das "am stärksten betroffene Stück des Komplexes, der Todeswunsch gegen den bösen Vater" (ebd.) in den Tod des guten Vaters verkehrt. In der späteren Geschichte entsprechen diesem Väterpaar der Professor Spalanzani und der Optiker Coppola; Spalanzani als eine Figur der Vaterreihe und Coppola als identisch mit Coppelius. Sie stellen die Väter der von ihnen gefertigten Puppe Olimpia dar. Zwischen diesen beiden Väterpaaren bestehen Parallelen: der Kampf der Väter um Nathanaels Augen und der von Nathanael beobachtete Kampf um Olimpia, in dessen Verlauf ihre Augen herausgerissen werden. Eine der Vaterfiguren schraubt an Nathanaels Gelenken und ebenso wird später während der Herstellung der Olimpia geschraubt. So erschließt Freud die Figur Olimpia als einen Teil von Nathanael, als die "Materialisation von Nathanaels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit" (Freud, 1919, S.256), d.h. des ödipalen Wunsches, vom Vater genauso geliebt zu werden wie die Mutter (negativer Ödipus-Komplex). Von Nathanaels Beherrschtwerden durch diesen Komplex zeugt seine zwanghafte Liebe zu Olimpia, die eine narzißtische Liebe ist (er liebt sich selbst in Olimpia, die ihm volle Zustimmung bietet). Diese zwanghafte Liebe ist auch die Ursache für seine Unfähigkeit zur Liebe zu Clara. Bezogen auf die Freudsche Definition des Unheimlichen als der Angst, die eine wiederkehrende Verdrängung erfahren hat und die somit auf den Wiederholungszwang hinweist, wird der sich wiederholenden Situation der Begegnung von Nathanael mit dem Sandmann die Bedeutung eines "verfolgenden Schicksals, eines dämonischen Zuges" (Freud, 1920, S. 231) zugewiesen.
Freud verschliesst sich den mehrdeutig-vielfältigen Beziehungen Erzähler / handelnde Personen / Leser. Er untersucht nur die Wirkung, und zwar nur den Anteil der Wirkung, der unheimliche Gefühle hervorruft. Den Auslösern dieser Wirkungsanteile, dem Unheimlichen, spürt Freud nach und entdeckt den wichtigsten Auslöser in der Angst, der Augen beraubt zu werden. Auf den Zusammenhang von erreichter Wirkung und sprachlichen, für die Erzählung charakteristischen Strukturen wird nicht eingegangen.
Freud bezieht sich in seiner Deutung auf seine eigene Nacherzählung der Handlung, die die komplizierte Erzählsituation des Sandmann reduziert; erscheint es in Freuds Nacherzählung doch so, als würde im Sandmann aus der Sicht eines allwissenden Erzählers berichtet. Die an den Beginn der Erzählung gestellten Briefe und ihre Funktion bleiben unerwähnt, genauso wie die eingeschobenen Auftritte des Erzählers und die damit erzeugte Unsicherheit über den gerade Sprechenden sowie über den Wahrheitsgehalt dessen, was geschildert wird:
Freud verzichtet "von vornherein und ganz bewußt darauf (...), den
Text Hoffmanns in seiner ihm inhärenten Komplexität aufzunehmen, sondern
[interessiert] sich nur für Teilbereiche." (Obermeit, 1980, S.105)
Aus der reduzierenden Nacherzählung resultieren auch die Aussagen der besagten
Fußnote, die die versteckte eigentliche Anordnung der Erzählung sichtbar
machen will. Sie endet mit dem Hinweis auf Hoffmanns schwierige Beziehung zu
seinem Vater: "E.T.A. Hoffmann war das Kind einer unglücklichen Ehe.
Als er drei Jahre war, trennte sich der Vater von seiner kleinen Familie und
lebte nie wieder mir ihr vereint. Nach den Belegen, die E. Grisebach in der
biographischen Einleitung zu Hoffmanns Werken beibringt, war die Beziehung zum
Vater immer eine der wundesten Stellen in des Dichters Gefühlsleben."
(Freud, 1919, S.256)
Ohne daß Freud ausdrücklich darauf hinweist, wird hier die Gleichsetzung
von Nathanael als Protagonist der Erzählung und E.T.A. Hoffmann als deren
Autor offensichtlich.
So wird Nathanael/ Hoffmann zu einer für Freud deutbaren Person, die er wie einen seiner Patienten betrachtet. Das zu deutende Material hält die Erzählung bereit, die, der Freudschen Sichtweise des Dichters entsprechend, aus dem Unbewußten des Dichters Hoffmann stammt. Nathanael/ Hoffmann wird zum Fallbeispiel: "Wie psychologisch richtig es aber ist, daß der durch den Kastrationskomplex an den Vater fixierte Jüngling der Liebe zum Weibe unfähig wird, zeigen zahlreiche Krankenanalysen, deren Inhalt zwar weniger phantastisch, aber kaum minder traurig ist als die Geschichte des Studenten Nathanael." (Freud, 1919, S.256)
Nach Freud wäre die Wirkung der Erzählung keine unheimliche, würde Hoffmann Nathanaels Geschichte nicht voller Rätsel belassen: "Es ist aber eine feine ökonomische Kunst des Dichters, daß er seinen Helden nicht alle Geheimnisse seiner Motivierung laut und restlos aussprechen läßt. Dadurch nötigt er uns, sie zu ergänzen, beschäftigt unsere geistige Tätigkeit, lenkt sie vom kritischen Denken ab und hält uns in der Identifizierung mit dem Helden fest. Ein Stümper an seiner Stelle würde alles, was er uns mitteilen will, in bewußten Ausdruck fassen und fände sich dann unserer kühlen, frei beweglichen Intelligenz gegenüber, die eine Vertiefung der Illusion unmöglich macht." (Freud, 1916, S. 235)
Was aber macht Freud mit den für die Wirkung des Sandmann so wichtigen Rätseln, die sich im Laufe der Erzählung nicht auflösen? Er erklärt, zerlegt, und komponiert, seinem äusserlich angelegten Raster entsprechend, eine andere Geschichte. Die geheimnisvolle Puppe Olimpia wird zur "Materialisation von Nathanaels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit" (Freud, 1919, S. 256); die aus Nathanaels Sicht geschilderten Vorgänge, von denen der Leser nicht weiß, ob sie nun tatsächlich stattfinden oder Nathanaels Wahnvorstellungen darstellen, werden zur Illustration der Krankengeschichte eines "durch den Kastrationskomplex an den Vater fixierten Jünglings" (Freud, 1919, S. 256); der Wetterglashändler Coppola wird als Doppelgänger des Advokaten Coppelius zur Verkörperung von Nathanaels Wiederholungszwang.
Die Erzählung als eine Ausdrucksform unbewußter Konflikte ihres
Autors Hoffmann zu sehen, ermöglicht es Freud, sie auf eine ganz bestimmte
Weise zu deuten und zu verstehen, sie als Stütze seiner Theorie zu benutzen;
ja die Dichtung als einen der Psychoanalyse ähnlichen Weg zu beschreiben,
das Unbewußte aufzudecken:
"Wir schöpfen wahrscheinlich aus der gleichen Quelle, bearbeiten das
nämliche Objekt, ein jeder von uns mit einer anderen Methode; und die Übereinstimmung
im Ergebnis scheint dafür zu bürgen, daß beide richtig gearbeitet
haben. Unser Verfahren besteht in der bewußten Beobachtung der abnormen
seelischen Vorgänge bei anderen, um deren Gesetze erraten und aussprechen
zu können. Der Dichter geht wohl anders vor; er richtet seine Aufmerksamkeit
auf das Unbewußte in seiner eigenen Seele, lauscht den Entwicklungsmöglichkeiten
desselben und gestattet ihnen den künstlerischen Ausdruck, anstatt sie
mit bewußter Kritik zu unterdrücken. So erfährt er aus sich,
was wir bei anderen erlernen, welchen Gesetzen die Betätigung dieses Unbewußten
folgen muß, aber er braucht diese Gesetze nicht auszusprechen, nicht einmal
sie klar zu erkennen, sie sind infolge der Duldung seiner Intelligenz in seinen
Schöpfungen verkörpert enthalten. Wir entwickeln diese Gesetze durch
Analyse aus seinen Dichtungen, wie wir sie aus den Fällen realer Erkrankung
herausfinden, aber der Schluß scheint unabweisbar, entweder haben beide,
der Dichter wie der Arzt, das Unbewußte in gleicher Weise mißverstanden,
oder wir haben es beide richtig verstanden." (Freud, 1907, S. 82)
Führt die mögliche Schlußfolgerung, Dichtungen seien eine Art
"irrealer Erkrankung", dahin, ihre Existenz als nicht wünschenswert
anzusehen? In diese Richtung argumentiert Adorno in der "Ästhetischen
Theorie": "Dächte die Psychoanalyse ihr Prinzip zu Ende, so müßte
sie, gleich allem Positivismus, die Abschaffung der Kunst verlangen, die sie
ohnehin in ihren Patienten wegzuanalysieren bereit ist." (zit. nach Rutschky,
1981, S. 9)
Zumindest geschieht in Freuds Deutung das, was bei jeder festlegenden Deutung
vor sich geht: eine Reduzierung, eine Festschreibung, die, so raffiniert und
in ihrem Argumentationszusammenhang stimmig sie auch sein mag, in ihrer Intention,
eine Bedeutung festzulegen, reduziert. Denn die Wirkung der Erzählung "Der
Sandmann" entsteht ja gerade aus ihrer Vieldeutigkeit, aus der Unmöglichkeit
einer Klärung der Geschehnisse, die sich je nach Positionierung von Erzählern
und Lesern anders darstellen. Deswegen muß eine reduzierende Nacherzählung
zwangsläufig platt und langweilig wirken. Sie fixiert und will da Eindeutigkeit
herstellen, wo gerade deren Nichtvorhandenkeit die Herausforderung der Lektüre
ausmacht.
Dabei könnten wir uns mit Freud selbst seiner Reduktionismen erwehren. Nach Freud geht auch die Gestaltung von Dichtung und Traum ähnlich vor sich; dem Traum aber wird eine grundsätzliche Unbestimmbarkeit zugestanden: "In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will. (...) Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluss bleiben, und nach allen Seiten hin in die netzartige Verwicklung unserer Gedankenwelt auslaufen." (Freud, 1900, S. 530)
8.
Ein aus physischer Abwesenheit sprechendes Ich nennt Ingeborg Bachmann in ihrer
Frankfurter Vorlesung "Das schreibende Ich" (Bachmann, 1980, S. 41)
"himmelfern", die Unsichtbarkeit macht es zu einem "Ich ohne
Gewähr" (Bachmann, 1980, S. 42): "Denn was ist denn das Ich,
was könnte es sein? - ein Gestirn, dessen Standort und dessen Bahnen nie
ganz ausgemacht worden sind und dessen Kern in seiner Zusammensetzung nicht
erkannt worden ist. Das könnte sein: Myriaden von Partikeln, die "Ich"
ausmachen, und zugleich scheint es, als wäre Ich ein Nichts, die Hypostasierung
einer reinen Form, irgend etwas wie eine geträumte Substanz, etwas, das
eine geträumte Identität bezeichnet, eine Chiffre für etwas,
das zu dechiffrieren mehr Mühe macht als die geheimste Order."
So gesehen kommt zur Unerkennbarkeit des innerhalb der Erzählung Sprechenden
die generelle Unidentifizierbarkeit eines schreibenden Ichs, die seltsame Beschaffenheit
einer Identität, die uns auf einem Blatt Papier begegnet und während
des Lesens lebendig wird, in jedem Leser auf eine andere Art.
Das schreibende Ich, dem zugestanden wird, seine Geschichte erzählen zu können und so seine Integrität zu garantieren, existiert in der heutigen Literatur kaum mehr; dem Ich kann keine Sicherheit über sich selbst zugetraut werden. Auf die Erzählung "Der Sandmann" treffen interessanterweise die Attributionen zu, die Bachmann dem heutigen Ich zuschreibt: "Die erste Veränderung, die das Ich erfahren hat, ist, daß es sich nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern daß sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält." (Bachmann, 1980, S. 54)
Wo ist das Ich im "Sandmann" zu suchen? Ist überhaupt eines vorhanden? Ist es Nathanaels Blick, der sich durch die Erzählung zieht? Die Feststellung, daß die Geschichte im Ich stattfindet, beschreibt die unauflösliche Verschränkung und Beeinflussung von äußerer und innerer Realität, die im "Sandmann" in der Zerstörung eines Ich´ endet, das das Stattfinden der Geschichte(n) in seinem Inneren nicht mehr erträgt.
"Das Ich leidet daran, keine bestimmte Persönlichkeit zu besitzen, es ist abgeschnitten von jeder Bindung, jedem Bezug, in dem es als solches bestimmt sein könnte. Es entdeckt sich nur mehr als Instrument eines blinden Geschehens." (Bachmann, 1980, S. 58) So also kann die Erzählung auch als Bericht eines "Ich ohne Gewähr" (Bachmann, 1980, S. 42) gesehen werden, als Beweis dafür, "...daß es da viele Ich gibt und über Ich keine Einigung - als sollte es keine Einigung geben über den Menschen, sondern immer nur neue Entwürfe." (Bachmann, 1980, S.43)
Darin mag die verwirrende Attraktivität einer Erzählung aus dem frühen 19. Jahrhundert für uns heutige Leser liegen, deren Verhältnissen man gern das Prädikat 'postmodern' verleiht.
Anmerkungen
1) Seminarreihe MATTES, 'PSYCHOLOGIE UND POSTMODERNE'. Ab WS 1995/96 am Studiengang Psychologie an der Freien Universität Berlin; sowie WS 95/96 bis SS 98 am Institut für Psychologie der Universität Wien. Zuletzt: 'Seminar Psychologie und Postmoderne III. Erzählungen vom Subjekt', Freie Universität Berlin, WS 98/99.
2) Die Lesarten und die Überlegungen, die wir nicht mit ausdrücklichen
Literaturhinweisen belegen, sind durch Seminardiskussionen und -arbeiten angeregt
worden. Dafür danken wir allen beteiligten Studierenden. An schriftlichen
Arbeiten aus diesem Kreis besonders hervorzuheben sind:
Bubitz, Petra (1997). E.T.A.Hoffmann. Der Sandmann. Hausarbeit (unveröff.)
Knapp, Hanna (1998). '...oder wir haben es beide richtig verstanden'. Freud
und der Sandmann. Semesterarbeit (unveröff.)
3) Im Folgenden zitiert als: SM
4) Einen guten Überblick über aktuell bedeutsame Deutungen gibt Tholen (1983, S. 22f.)
5) Die folgende Inhaltsangabe ist denn auch ungewöhnlich lang. Um den zu besprechenden Möglichkeiten gerecht zu werden, verbietet sich jedoch eine Reduktion auf den plot ebenso wie eine Auswahl von Momenten, was von vornherein eine unserer Lesarten allzu sehr privilegieren könnte. Auch wollen wir eine präsente Kenntnis der Erzählung bei den LeserInnen dieses Aufsatzes nicht einfach voraussetzen. Für Nichtkenner: Es lohnt, das Original zu lesen!
6) So macht es bedauerlicherweise Gergen selbst. Er unterscheidet die romantischen, die modernen und die postmodernen Formen des Selbst und analysiert dies als historisch-kulturelle Abfolge. Dem zu entsprechen und E.T.A. Hoffmann als 'romantisch' rubrizieren zu wollen, wäre in unserem Zusammenhang wenig hilfreich.
7) Der Psychoanalytikerin Heidi Möller verdanken wir einen weiteren, feinen Hinweis: Die Augen, Werkzeuge der Erfahrung, und verlängerte Augen, das Fernglas, sind auch Metaphern für die Erlaubnis, sehen zu dürfen, was nicht gesehen werden soll, um nicht wahnsinnig zu werden. So wird der Leser des Beitrags zum Container archaischer Impulse, die er – wie unzureichend auch immer – integrieren muß. Er wird Zeuge frühkindlicher Szenen und im Leseprozess selbst in Abwehrprozesse wie Übertragung, Identifikation und Projektion verwickelt, während er die Erzählung distanziert und zugleich involviert liest.
8) Hertz (1979) vermutet einen Zusammenhang zwischen dieser Lesart und der für Freud bedeutsamen Lebenssituationen zur Zeit der Niederschrift seiner Untersuchung. Er verweist auf die trianguläre Beziehung mit Viktor Tausk und Lou Andreas-Salomé 1912/13 bzw. deren Wiederholung (mit Helene Deutsch) einige Jahre später. Das ist eher spekulativ, als Möglichkeitskonstruktion aber insoweit sehr reizvoll als es treffliches Interpretationsmaterial zu Freuds Selbstkonstruktionen und der Selbstreferentialität seiner psychoanalytischen Konzepte abgibt. Dies wäre dann eine weitere (tolle?) Geschichte.
Literatur
Baudelaire, Charles (o.J.). Über das Wesen des Lachens und besonders über
das Komische in der darstellenden Kunst. München.
Bachmann, Ingeborg (1980). Das schreibende Ich. In: Frankfurter Vorlesungen.
München/Zürich: Piper. S. 41-61
Derrida, Jacques (1976). Freud und der Schauplatz der Schrift. In: Ds.. Die
Schrift und die Differenz. Frankfurt: Suhrkamp.
302 - 350
Freud, Sigmund (1919). Das Unheimliche. In: Ds.. Gesammelte Werke XII, Frankfurt/M:
Fischer (1947 ff). 227-268
Freud, Sigmund (1900). Die Traumdeutung. Gesammelte Werke II-III
Freud, Sigmund (1907). Der Wahn und die Träume in W.Jensens Gradiva. In:
Ds.Gesammelte Werke X. Frankfurt/M: Fischer
Freud, Sigmund (1908) Der Dichter und das Phantasieren. In: Ds., Gesammelte
Werke X, Frankfurt/M: Fischer
Freud, Sigmund (1920). Jenseits des Lustprinzips. In: Ds., Gesammelte Werke
III, Frankfurt/M: Fischer
Gergen, Kenneth J. (1991). The saturated self. New York: Basic Books.
Günzel, Klaus (1979). Hoffmann. Leben und Werk in Briefen, Selbstzeugnissen
und Zeitdokumenten. Berlin
Hertz, Neil (1979). Freud and the Sandmann. In: Harari, Josué V. (Hrsg).
Textual Strategies. Perspectives in Post-Structuralist Criticism. Ithaca: Cornell
University Press
Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1993). Der Sandmann. Hg. v. Rudolf Drux. Stuttgart
Foucault, Michel (1973). Archäologie des Wissens. Frankfurt/Main: Suhrkamp
Newman, Neil M. (1997). Narrating the asymbolic subject in E.T.A.Hoffmann's
Der Sandmann. Seminar - A Journal of Germanic Studies, 33, H.2, S.119-133
Obermeit, Werner (1980). "Das unsichtbare Ding, das Seele heißt":
Die Entdeckung der Psyche im bürgerlichen Zeitalter. Frankfurt/M
Rutschky, Michael (1981). Lektüre der Seele. Frankfurt/M: Ullstein
Tholen, G.C. (1983). Das Unheimliche an der Realität und die Realität
des Unheimlichen. Fragmente 11, S.6-29
erschienen in
Journal für Psychologie 2001, 9, Heft 2, S.39-50