Klaus-Jürgen Bruder

Klaus-Jürgen Bruder


Die Verdrängung der Frage nach dem Sinn - Psychotherapie und der Diskurs der Macht


Wir erleben gegenwärtig (März 2011) den Zusammenbruch der bisher bestehenden Sicherheiten und Verbindlichkeiten, die Erosion der Selbstverständlichkeiten, die Auflösung der „schon immer“ gültigen Gewissheiten, das Zerbröckeln auf allen nur denkbaren Ebenen, der Ziele und des Horizontes, in dem und wofür wir gearbeitet, gestrebt, uns gesehnt haben, das Schwinden des Sinnes dessen was wir tun.

Während dieser Text hier entsteht, kämpfen im fernen Japan die dem Tode geweihten Helfer ihren verzweifelten Kampf gegen den unerbittlichen Fortgang der Selbst-Zerstörung des dritten Reaktorkerns von Fukushima. Zum zweiten Mal werden die japanischen Inseln von jenem Unheil erschüttert, mit dem die Atom-Energie sozusagen die Bühne der Geschichte betreten hatte. Damals war die Bombe über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen worden, kam wörtlich „von oben herab“, über die schutzlose Bevölkerung. Dieses Mal war sie bereits vor Ort gestanden, sie musste nur noch gezündet werden, sich selbst entzünden. Die Japaner selbst haben sie dort hingestellt, niemand hat sie ihnen aufgezwungen.

Die Japaner? Was sollte das für einen Sinn haben? Sich selbst die Waffen der Zerstörung ihres Lebens und ihrer Lebensgrundlagen bereit zu stellen? Nein, das war nicht der Sinn gewesen, weshalb die Japaner den Reaktor aufgestellt hatten. Der Sinn war im Gegenteil, Produktivität, Leben, Wohlstand, Fortschritt zu schaffen, mit dem Strom, den der Reaktor, alle Reaktoren, 60 an der Zahl, herstellen sollten. Die Atomphysik – die gefeierte Königin der Wissenschaften – hatte Schach gespielt. Dass diese Technologie so gefährlich sein kann, das „wusste niemand“!

Wirklich nicht? War man nicht gewarnt – durch den nicht weniger verheerenden „Unfall“ von Tschernobyl? Nein, das waren ja „die Russen“ gewesen, die konnten die Technologie ja nicht beherrschen. Und Harrisburg? War das auch in Russland? Nein! „Man“ wusste, was geschehen könnte – und trotzdem? Es ist sinnlos, zu fragen, warum, solange es das „trotzdem“ gibt.

Vielleicht sollten wir nicht fragen, warum haben die Japaner das gemacht? Bei uns gibt es ebenso genügend Macher, die „weiter so“ fordern, ohne dass sie Japaner wären. Worin liegt der Sinn dieses unbeirrten und unbeirrbaren „weiter so!“? Nicht nur in der Atomfrage, in der Frage der Regelung der Finanzmärkte ebenso wie in der der Armut, des Hungers, der Krankheiten, der Kriege.

Im März 2006 hatten sich Psychotherapeuten aller Richtungen und Schulen in Bonn versammelt, um ihr „Unbehagen“ über die Verdrängung der Frage nach dem Sinn zu artikulieren, und zwar der Verdrängung innerhalb der „(Psychotherapie-)Kultur“. Im Einladungstext zu dieser Versammlung hieß es sinngemäß: Wir beobachten in der Psychotherapie eine Verengung des Denkens auf naturwissenschaftlich orientierte Ansätze. Sinnverstehende, einem humanistischen Menschenbild verpflichtete psychotherapeutische Traditionen haben hierin keinen Platz. Sie sollen inhaltlich, politisch und ökonomisch verdrängt und ausgegrenzt werden. [i]

Damit ist eigentlich schon alles gesagt: Verdrängung der Frage nach dem Sinn – das ist tatsächlich der „Sinn“ dieser Verdrängung sinnverstehender psychotherapeutischer Verfahren (und Traditionen). Diese Frage nach dem Sinn soll nicht mehr gestellt werden. Naturwissenschaften stellen diese Frage nicht. Die Übertragung der naturwissenschaftlichen Sichtweise, ihres methodologischen Vorgehens, ihrer Ergebnisse auf Psychotherapie führt deshalb zum Ausschluss der Sinnfrage.

Ist das der „Sinn“ der naturwissenschaftlichen Verfahren? Zunächst: die Erklärung des Psychischen durch naturwissenschaftlich erfassbare Prozesse i.S. der Neurophysiologie ist ein – erkenntnistheoretisch – unsinniges Projekt. Biologie und Psychologie sind zwei verschiedene „Sprachspiele“ – wie Habermas (2005, 170) zutreffend festhält. Sie konstruieren unterschiedliche Gegenstände mit unterschiedlichen Methoden.

Das Psychische: das Erleben, Verhalten, Denken, Fühlen, Wollen usw. des (menschlichen) Subjekts ist nicht auf die Ebene biologischer, neurophysiologischer Prozesse zu reduzieren. Es ist dort nicht abbildbar, nicht wiederzufinden (Bruder-Bezzel & Bruder 2004). Keineswegs ist in Frage zu stellen, dass dem Psychischen biologische Prozesse parallel laufen. Nur: die Vorstellung, die biologischen seien die Erklärung der psychischen ist vollkommen naiv.

 

I. Biologie und Psychologie: zwei verschiedene „Sprachspiele“

Wie stellt sich der Gegenstand der beiden Wissenschaftsbereiche dar? Auf der Ebene der Biologie, der Neurophysiologie führt Manfred Velden (2005) überzeugend vor Augen, dass allein die dort zu erwartenden Zahlengrößen möglicher Beziehungen nicht gestatten, ein Verständnis selbst der Hirnfunktionen zu erwarten – „auch in 1000 Jahren nicht“ – wie John Eccles (1993) von ihm zitiert wird. Milliarden von Synapsen, von denen jede tausende von möglichen Verbindungen zu anderen besitzen, in denen Information auf vielfältige, nicht eindeutige Weise transportiert werden, lassen bereits von der Seite der Biologie die Erforschung scheitern. Versuche, Psychisches evolutionsbiologisch zu erklären, seien eher als „adaptive storytelling“ (Rose, Lewontin & Kamin, 1984) einzuschätzen.

Hinzu kommt, dass die Methoden der Naturwissenschaften: die (ver)objektivierende (externe) Beobachtung – nicht übertragbar ist auf das subjektive Erleben, Denken, Fühlen, Wollen, nicht einmal auf das Verhalten von (menschlichen) Individuen. Es gibt im psychischen keine allgemein gültigen „Gesetze“ (des Verhaltens usw), denn dieses ist höchst individuell, ständigem Wandel unterworfen, der vor allem kulturell und gesellschaftlich bedingt ist. Was es dort gibt, sind „Normen“, Vereinbarungen, Übereinkünfte – wenngleich sie dem einzelnen oft nicht als Übereinkünfte erscheinen, weil er an ihrem Zustandekommen nicht beteiligt gewesen war, sondern als Faktizität, oder Zwang, oder gar Gewalt.

Die Versuche innerhalb der Psychologie, den naturwissenschaftlichen Charakter ihrer Disziplin zu sichern, scheitern am Gegenstand: der fehlenden Allgemeingültigkeit der „Subjektivität“. Mangelnde Reflexion dieses Fehlens, mangelnde Reflexion des Charakters des Gegenstands der Psychologie, führt, wie Velden zeigt, zu einer trial & error Haltung: Korrelationen zwischen Phänomenen zu berechnen, bzw. deren Signifikanz, ohne Sinn (und Verstand). Rozeboom (1960, S. 417) diagnostizierte “fundamentales Missverstehen des Wesens rationalen Schließens“, d.h. mit Instrumenten zu arbeiten, die naturwissenschaftlich völlig unbrauchbar sind: die wichtigste Fehlerquelle liegt bereits darin, dass übersehen wird, dass die Höhe der Signifikanz von der Größe der Stichprobe abhängig ist.

Das Gleiche gilt für die Übernahme von Modellen und Theorien aus den Naturwissenschaften. Diese können in die Psychologie lediglich in metaphorischem Sinne übertragen werden, d.h. wieder: in einem Prozess diskursiver Verständigung eingebracht, (wo sie – wiederum diskursiv vermittelte – Wirkung entfalten können). Naturwissenschaftliche Erklärungen im Bereich der Psychologie haben den Charakter von Metaphern, von als-ob-Vergleichen, die in der Interaktion mit anderen erst als brauchbar angenommen werden (können) oder verworfen.

Das Argument der unermesslichen Zahl von möglichen Zusammenhängen auf der biologischen Ebene gilt gewiss auch – in vergleichbarem Ausmaß – auf der Ebene des Psychischen. Nur gibt dies keine Grundlage für die leichtere Herstellung von Beziehungen zwischen Biologie und Psychologie ab. Auf der Ebene des Psychischen wird allerdings das Problem nicht brisant, weil wir dort Möglichkeiten (entwickelt) haben, damit umzugehen, die wir auf der biologischen Ebene, auf der Ebene der Synapsen prinzipiell nicht haben: die Möglichkeit der Verständigung zwischen Meinungen, Hypothesen, Interpretationen, den Austausch von Äußerungen, Sätzen, Satzformationen, Diskursen und Diskursarten, Intuition und Empathie im Alltag – eben die diskursive Verständigung über Sinnfragen, deren Austausch – statt der verobjektivierenden Formulierung experimentell überprüfbarer Sachverhalte, bzw. Hypothesen.  

Auf der Ebene der jeweiligen Wissenschaften – im Unterschied zu deren Gegenstandsbereichen – finden wir diese Dimension des Sinns: der Interpretation und Deutung, der diskursiven Verständigung, und zwar im Austausch von Forschungsergebnissen, selbst in den Naturwissenschaften. Knorr-Cetina geht sogar soweit, diese als Gegenstands-konstituierend anzunehmen. Das würde bedeuten: die Verdrängung der Fragen nach dem Sinn, die Verdrängung der Gegenstands-konstituierenden Rolle des Diskurses ist auch in den Naturwissenschaften eine tatsächliche Verdrängung.

Die Übertragung der Naturwissenschaften (naturwissenschaftlichen Verfahren wie Orientierung) auf die Psychotherapie führt also in doppelter Weise zur Verdrängung dessen, was die Wissenschaft konstituiert, ihren Gegenstand wie ihre Methoden, zum Ausschluss der Sinnfrage.

 

II. Die kausal-deterministische Sichtweise verstellt den Blick auf die psychologischen Zusammenhänge

Was aber sind in der Psychotherapie naturwissenschaftliche, naturwissenschaftlich orientierte Verfahren? Verhaltenstherapie? Sicher nicht, wenngleich diese den Anspruch haben mag, naturwissenschaftlich zu sein. Pillen? Natürlich ist das Geben (und Nehmen) von Pillen ein sozialpsychologischer Vorgang, eingebettet in die Beziehung zwischen Arzt und Patient und damit der Deutung und der (Miß)verständnisse des Sinns offen – ebenso wie in der Verhaltenstherapie. Aber aus einer naturwissenschaftlich orientierten Haltung heraus wird diese Beziehung ausgeblendet. Die Wirkung wird der Pille selbst zugeschrieben, die – als Ergebnis der Anwendung naturwissenschaftlicher Forschung – in einen ebenso naturwissenschaftlich gedachten (erforscht gedachten) Zusammenhang des Organismus eingreift. Andere Verfahren, chirurgische z.B. wie Operieren berühren Psychotherapie nur am Rande.

Es ist die kausal-deterministische Sichtweise der naturwissenschaftlichen Orientierung, die den Blick auf die (sozial)psychologischen Zusammenhänge verstellt – nicht nur des Gebens und der Wirkung der Pille: der Arzt, der Pillen bei „Depression“ verschreibt, reflektiert (meist) nicht, dass er dies innerhalb einer Beziehung tut, in der die Frage nach Sinn und Bedeutung des Tuns eine Rolle spielt und dass hinter dem Leiden des Patienten ebenso eine Bedeutung, ein Sinn steckt, – sondern die kausal-deterministische Sichtweise verstellt damit zugleich den Blick auch auf die therapeutische Wirkung der Beziehung, des Gesprächs – nicht nur in der Psychotherapie. Auch in der Psychotherapie ist das Gespräch, genauer: das Sprechen des Patienten in Anwesenheit des Therapeuten, das Zentrum der heilsamen Beziehung. Das Besondere des psychotherapeutischen Gesprächs besteht nach Jürgen Hardt und Mathias Hebebrand (2006) im „Überschreiten“ des alltäglichen Umgangs mit psychischem Leiden, es ist die „regelhafte Übersetzung“ des Alltagsverstehens der seelischen Störung. Deshalb kann Velden auch von einer Dehumanisierung des Menschenbildes (S. 125) in der Folge der kausal-deterministischen Sichtweise der in der Psychologie sprechen. Man könnte nun dies als (bloßen) Effekt dieser Verdrängung der „humanistischen“ Psychotherapien sehen. Aber man tut nicht Unrecht, wenn man diese Verdrängung in einen größeren Zusammenhang stellt.

 

III. Die Rolle der Medien und der Pharma-Industrie

Sicher: nicht nur die Ärzte, die Patienten selbst haben die Frage nach dem Sinn (ihrer Beschwerden) selbst bereits verdrängt, kommen ebenfalls mit einem anderen Bewusstsein, wenn sie nach der Pille fragen. Sie gehen lieber und lange Zeit zum Arzt, bevor sie sich zur Psychotherapie bereit finden. Und jeder Therapeut kann ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, die Patienten wieder von den Pillen herunter zu bekommen.

Die Vormachtstellung der naturwissenschaftlichen Orientierung ist also nicht nur durch die Ärzte den Patienten nahegebracht, sondern sie ist ein Phänomen des allgemein verbreiteten Denkens. Insofern gehen naturwissenschaftlich orientierte Psychotherapie und Erwartung der Patienten konform. Woher diese Konformität?

Aus allen Kanälen aller Medien schallt sie uns entgegen: die Sinnfrage sei unsinnig, es gehe vielmehr darum, das richtige Mittel, die richtige Behandlung gegen die Krankheit einzusetzen. Es sei „unsinnig, nach der Mutter, der Geschichte, der Vergangenheit zu fragen“, ebenso unsinnig sei es, nach den gegenwärtigen Verhältnissen der Beziehung, der Arbeit des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu fragen (wie Borwin Bandelow, Psychiater in Göttingen in einem Bericht in der taz vom 25.11.05, S. 18 über den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde „DGPNN“ in Berlin zitiert wurde). Es komme darauf an, die Mechanismen und Funktionsweise des – seelenlosen – Körpers, einzelner Organe, bzw. des Gehirns zu kennen und dann das richtige Mittel einzusetzen.

Dass es uns aus allen Kanälen entgegen dröhnt, erzeugt diese (gesellschaftliche) Konformität. Die Interessen, die dahinter stecken, denen die Medien das Sprachrohr geben, sind die der Industrie, in aller erster Linie der Pharma-Industrie: die Vertreter der Pharma-Konzerne saßen bei allen Besprechungen der Gesundheitsreform mit am Tisch.

Dass die Pharma-Industrie ein Interesse daran hat, ihre Produkte zu verkaufen und nicht Psychotherapie befördert, die solche Produkte nicht braucht, ist einleuchtend. Dass die Medien sich dafür zur Verfügung stellen, ist schon weniger einsichtig, aber inzwischen reichlich bekannt (Bourdieu 1996, Chomsky 2002). Die Medien sind ja nicht das, wofür sie sich ausgeben und wofür wir sie halten: sie informieren uns nicht unabhängig, sondern im Interesse derer, über die sie berichten (zu informieren vorgeben). Sie sind deren Botschafter, die bei uns für diese werben und das können sie nur, wenn sie ihre Unabhängigkeit demonstrativ behaupten. Sie betreiben Werbung für die Pharma-Industrie, nicht nur indem sie direkt für deren Produkte werben, sondern zugleich indirekt durch ihre Berichterstattung über Krankheit und Gesundheit, Medizin und Heilung, indem sie die naturwissenschaftlichen (oder Pseudo- naturwissenschaftlichen) Erklärungen verbreiten und so den allgemeinen Konsens über Sinn und Naturwissenschaft herstellen.

Mit naturwissenschaftlichen Argumenten sind die ökonomischen Interessen der Industrie, vor allem der Pharma-Industrie besser zu vertreten als mit humanwissenschaftlichen. Das naturwissenschaftliche Denken ermöglicht, Erfolgsnachrichten zu verkünden. Es fasziniert, indem es den Wirkmechanismus (der Pille) plausibel zu „erklären“ vermag und gleichzeitig den Humanwissenschaften den Boden zu entziehen versucht: indem es durch die (Berichte über die) Forschung in Genetik, Neurowissenschaften usw. den Menschen als nichts anderes erscheinen lässt, als ein nach naturwissenschaftlichen Gesetzen funktionierendes Labor, oder Computer. Noch vor unserem subjektiven Entschluss, etwas zu tun, habe das Hirn sich bereits dafür entschieden (Libet, Gleason, Wright & Perl 1983; Roth 2003). Wenn wir diese Hirnaktivität selbst (direkt) beeinflussen – was die Naturwissenschaft als Möglichkeit verspricht – brauchst Du Dir keine überflüssigen Gedanken zu machen, kannst Du Dir die Frage nach dem Sinn der Symptome sparen, die Frage nach ihrer Bedeutung, nach Deiner Biographie und Deinen Plänen und (Zukunfts-) Ängsten.

Das ist sogar das Entscheidende: die Behauptung, alles naturwissenschaftlich erklären zu können – natürlich mit dem Versprechen, diese Erklärung unmittelbar oder in nächster Zukunft therapeutisch umsetzen zu können: der Speck, mit dem man die Mäuse fangen möchte.

 

IV. Störungsspezifische Behandlung und Fallpauschale

Diese „Botschaft“ erreicht uns, wirkt sich aus auf das Bewusstsein der Bevölkerung, geht in die Gesetzgebung (zur Gesundheitsreform) ein, selbst in das Denken der Therapeuten. Auch über die Therapeuten wird die naturwissenschaftliche Orientierung in die Psychotherapie eingeführt. Die Therapeuten versprechen sich von dieser Forschung eine – naturwissenschaftliche – Bestätigung ihrer Konzepte. Eine Auswirkung auf ihre Verfahren ist wohl eher nicht zu erwarten: wohl kein Therapeut wird sich „direkt“ an die Hirnströme seiner Patienten anschließen [ii] , er wird wohl nicht auf die Vermittlung von Sprache und Deutung verzichten wollen. Aber indirekt wird die naturwissenschaftliche Orientierung auch über diesen Weg eingeführt.

Wenngleich die Argumente gegen die naturwissenschaftliche Orientierung in den Humanwissenschaften bekannt und nicht neu sind – Habermas fühlt sich „ins 19. Jhd. zurückversetzt“ (2005, S. 155), zwingen die Neurowissenschaften die Therapeuten trotzdem, sich mit ihren Versprechungen und Behauptungen auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung können die Therapeuten nicht leisten – als Laien auf dem Gebiet. Sie nimmt ihnen gleichwohl die Zeit und Kraft für ihre eigentlichen Aufgaben, lenkt sie von ihren Problemen ab.

Eine besonders problematische Auswirkung im Bereich der Diagnostik ist die damit verbundene Möglichkeit, die Vergütung durch die Kasse - über die „störungsspezifische“ Diagnose-Ziffer - an eine sogen. „Fallpauschale“ zu koppeln, d.h. die Höhe der Vergütung von Art und Menge der tatsächlich erbrachten Leistung zu entkoppeln. Diese Möglichkeit wird seit 1996 zur Vergütung einzelner definierter medizinischer Leistungen – beispielsweise Blinddarm- und andere Operationen - in Krankenhäusern angewendet. Der Fallpauschalen-Katalog 2009 [iii] umfasst aber auch psychische „Krankheiten“ und „Störungen“: „Geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung bei psychischen Krankheiten und Störungen“; „Psychiatrische Behandlung“; „Schizophrene, wahnhafte und akut psychotische Störungen“; „Schwere affektive Störungen, Angststörungen oder andere affektive und somatoforme Störungen“; „Ess-, Zwangs- und Persönlichkeitsstörungen und akute psychische Reaktionen oder psychische Störungen in der Kindheit“; „Alkohol- und Drogengebrauch und alkohol- und drogeninduzierte psychische Störungen“.

Die „Fallpauschale“ ist das Projekt, das Psychotherapie zentral betreffen wird, und zwar durch den unmittelbaren Zusammenhang, der zwischen Krankheitsbild, Symptom einerseits und Behandlungsart und Dauer andererseits behauptet wird.

Dieser Zusammenhang ist nicht zwingend, im Gegenteil: die naturwissenschaftliche Orientierung führt zur Annahme eines solchen Zusammenhangs, z.B. mit der Vorstellung, Angstkrankheiten seien am effektivsten mit dieser, Depressionen dagegen mit einer anderen ganz bestimmten Therapie-Form, mit bestimmter Stundenzahl und Frequenz, entsprechend den Vorgaben eines Manuals zu behandeln, usw. (s. Frohburg 2006)

Diesem Denken versuchten die Psychoanalytiker mit der Unterscheidung von symptomatischer und psychodynamischer Diagnostik zu begegnen, aber wie wir am Beispiel des Nachgebens der DGPT, aus Rücksicht auf den Datenschutz eine einheitliche Diagnose(ziffer) für alle Störungsformen zu verwenden (F 48.9) sehen, befindet sich dieser Widerspruch bereits auf dem Rückzug.

Diagnostik ist – jedenfalls innerhalb der Psychotherapie – gewiss kein naturwissenschaftliches Verfahren, sondern eine – soziale – Entscheidung, auf einem Kontinuum von Verhaltens- und Erlebensdimensionen einen qualitativen Schnitt einzuführen, der die beiden Hälften des Kontinuums in zwei qualitativ unterschiedene Klassen von Symptomen aufteilt.

Die Fallpauschale wird die Psychotherapie mehr verändern, als alles andere, weil sie in die Psychotherapie selbst eingreift, vermittelt über den zur („Störungsspezifischen“) Diagnostik verpflichteten Therapeuten. Die Symptomorientierung wird gestärkt, ein verengtes Bild von Heilung und psychischer Gesundheit befördert. Es werden alle entscheidenden Dimensionen der therapeutischen Haltung über Bord geworfen durch die Fokussierung auf das Symptom, die Haltung des Therapeuten wird gezielter, dem Erzählen des Patienten wird nicht mehr der zu seiner Entfaltung notwendige Raum gegeben, die Freiheit von Assoziieren und frei-schwebender Aufmerksamkeit wird zerstört.

Die Fokussierung auf die „sogen. „Störung“ ist die Kehrseite der Propagierung einer „verfahrensübergreifenden“ Psychotherapie – hinter der sich doch wieder nur der „imperialistische“ Anspruch einer einzigen Therapieform verbirgt, die sich als die alleinige „wissenschaftliche“, weil empirisch überprüfte darzustellen versucht: die Verhaltenstherapie. So Schulte, der „jede empirisch geprüfte Form von Psychotherapie zur Verhaltenstherapie“ erklärte (zit.n. Kächele & Strauß 2008, S. 409f.), oder Linden, der 2007 vorgeschlagen hatte, der Verhaltenstherapie überhaupt das Etikett „evidenzbasierte Therapie“ zu reservieren (S. 149).

Diesem Ansinnen widerspricht zwar das im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellte „Forschungsgutachten zur Ausbildung von Psychologischen PsychotherapeutInnen und Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen“: „Ohne eine Berücksichtigung der unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen und –methodischen Hintergründe der verschiedenen Verfahren und des jahrzehntelang erworbenen Erfahrungswissens in einem spezifischen Verfahren kann eine Übernahme verfahrensfremder Bausteine allerdings zu einem Professionalisierungsverlust führen“ (Strauß et al. 2009, S. 371).

Damit wird aber zugleich die (an sich sinnvolle) Verlegung der Ausbildung an die Universitäten problematisiert, denn diese würde - angesichts der ungleichen Repräsentanz der unterschiedlichen Verfahren an den Universitäten, speziell der massiven Überrepräsentiertheit der Verhaltenstherapie und der entsprechenden Unterrepräsentiertheit der Psychoanalyse – von anderen Verfahren ganz zu schweigen – die universitäre Ausbildung unter dem Etikett einer „verfahrensübergreifenden“ Ausbildung auf eine Ausbildung in Verhaltenstherapie reduzieren. Diese Tendenz ist bereits in dem Modellvorhaben der Techniker Krankenkasse „Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie“ realisiert, in dem die innerhalb der Verhaltenstherapie entwickelten Qualitätsmerkmale und -Kriterien in die Überprüfung der Qualität der anderen Therapieverfahren übernommen werden. (s. Sasse 2010).

Andererseits entspricht dieser „Imperialismus“ durchaus vorhandenen Anforderungen an die Psychotherapie, und zwar solchen, die aus der in der Folge der „Gesundheitsreformen“ entstandenen „Gesundheitswirtschaft“ kommen, wie Jürgen Hardt und Ulrich Müller (2009) darlegen: dort in der Gesundheitswirtschaft gehe es nicht mehr darum, Kranke zu versorgen und zu behandeln, Mitmenschen, die Hilfe und Unterstützung brauchen, sondern dort „wird das Produkt Gesundheit hergestellt, verwaltet und gehandelt, um es für möglichst alle kostengünstig auf dem Markt bereit zu halten“ (S. 275). Die Behandlungsrealität ist dem System (der „Gesundheitswirtschaft) in ihrer Sinnhaltigkeit fremd (S. 274). Aber: dieses „gibt alleine die Logik des Denkens vor, sie entwickelt die Sprache, der sich auch die Therapeuten bedienen müssen, […] Zugleich werden im aufgezwungenen Gebrauch der administrativ/ökonomischen Sprache das Denken der Therapeuten und somit langfristig auch die Behandlungspraxis verformt“ (S. 274).

Das Symptom, auf das sich die „störungsspezifische Diagnostik stürzt, ist aber erst nur die Eintrittskarte, die der Patient vorweist und die „Symptomfreiheit“ tritt häufig relativ bald in der Therapie ein, wenn der Patient genügend Vertrauen gefunden hat, das Symptom fallen lassen zu können und sich dem zuzuwenden, was er, auch mit Hilfe des Symptoms, verdrängt hatte, was ihn aber grundlegend belastet. Folgte man der Symptom-orientierten Diagnostik, so wäre dann die Therapie zu Ende, wenn sie beginnen sollte. Vom Therapeuten als Diagnostiker und Behandler wird ein Wissen verlangt, das er gar nicht hat. Denn Therapie, psychoanalytische zumal, ist ein – begleiteter – Weg ins Ungewisse, Unbewusste.

Vor diesem Weg haben viele Patienten Angst. Deshalb klammern sie sich an ihre Symptome und deshalb greifen sie zur Pille, die verspricht die Symptome zum Verschwinden zu bringen – ohne die Gefahr, das dunkle Ungewisse sichtbar werden zu lassen. Daher die naturwissenschaftliche Orientierung, die in der Pille sich materialisiert und die dem Therapeuten das Wissen zuschreibt, dass alles in seinen kontrollierbaren Grenzen gehalten werden kann – der Weg, die Frage nach dem Sinn der Symptome nicht stellen zu müssen.

 

V. Die Allianz von Psychoanalyse und Neurowissenschaften in der Negation der Willensfreiheit

Wir können darin eine gesellschaftlich allgemeine Haltung erkennen, nach dem Sinn dessen, was wir tun, was uns begegnet und widerfährt, nicht zu fragen. Ist diese Haltung nicht „konsequent“, angesichts der herrschenden Unsinnigkeit eines immer größeren Teils unseres Lebens, seiner gesellschaftlichen Regelung? Ist es nicht unsinnig, dass immer mehr Menschen keine Arbeit finden, von der sie leben können und gleichzeitig die Arbeitszeit verlängert wird? Ist es nicht unsinnig, dass immer mehr gesellschaftlicher Reichtum vergeudet wird, in Produkten, an die wir zwar gewöhnt sind, deren Wert aber immer mehr lediglich in ihrer Neuheit besteht, während auf der globalisierten Erde täglich Millionen an Hunger sterben müssen?

An diesem Unsinn, dieser Sinnlosigkeit nicht zu verzweifeln, erfordert ungeheure Energien an Verdrängung, um die Sinnfrage nicht aufkommen zu lassen. An dieser Verdrängung arbeiten die Medien und PR-Agenturen, die gleichzeitig das Geschäft der Unternehmen, der Pharmaindustrie besorgen, die uns die Mittel der Verdrängung zur Verfügung stellen.

Die Wirkung dieser ihrer Reklame für die naturwissenschaftliche „Therapie“, für die Pillenindustrie, die Pharmakonzerne geht also über den unmittelbaren – behaupteten – Zusammenhang von Naturwissenschaft und Therapie hinaus. Und dies nicht als „Neben“wirkung, sondern als durchaus beabsichtigte wenn man bedenkt, dass die Feier der Erfolge der Naturwissenschaften, der Gehirnforschung, der Genetik, sich vornehmlich dem Bereich von Willens- und Entscheidungsfreiheit zuwendet (Möhlenkamp 2008), dass pseudophilosophische Diskussionen vom Zaun gebrochen werden, mit der triumphalistischen Botschaft: “die Willensfreiheit habe keine naturwissenschaftliche Erklärung“.

„Schlecht für die Naturwissenschaften“ – müssten wir sagen, könnten wir sagen, wenn wir cool genug blieben, Naturwissenschaft als lediglich ein anderes Sprachspiel zur Kenntnis zu nehmen und nicht als eine „grundlegendere“ Wissenschaft, eine, die die Psychologie fundieren würde.

Sprachspiele haben es an sich, dass nicht das eine dem anderen übergeordnet werden kann (aus epistemologischer Perspektive; s. Lyotard 1983) – dass es vielmehr eine Frage der Hegemonie, des hegemonialen Anspruchs ist, wenn ein Sprachspiel das andere dominieren möchte, wie das gegenwärtig mit dem Anspruch der Biologie oder Neurowissenschaften der Fall ist, Probleme der Psychologie, der Psychotherapie, der Philosophie zu lösen, Antworten geben zu können. Manfred Velden spricht deshalb von „Biologismus“ als spekulativer Deutung biologischer Ergebnisse, die diese zu einem Weltbild überhöht, das die Biologie lediglich als Grundlage benützt für ihren Angriff auf die Willensfreiheit (Velden, S. 142 ff).

Und die Philosophen antworten auf diese Herausforderung mit der Unterscheidung zwischen dem „Raum der Gründe“ und dem der Ursachen (Sellars, 1997). Die Frage nach den Gründen verbiete einen Determinismus, den die Frage nach den Ursachen durchaus erlaube. Der Handelnde sei dann frei, wenn er wolle, was er als Ergebnis seiner Überlegung für richtig halte, hält Habermas fest. Als Unfreiheit erfahren wir nur einen von außen auferlegten Zwang, der uns nötigt, anders zu handeln, als wir nach eigener Einsicht handeln wollen.

Indem Habermas an dem Unterschied (der Erfahrung) von Unfreiheit gegenüber Freiheit festhält und diesen Unterschied auf das Vorhandensein bzw. Fehlen eines „von außen auferlegten Zwangs“ zurück bindet, also auf Unterschiede im „außen“, weist er die neurobiologische Widerlegung der Willensfreiheit zurück. Aber der philosophische Rekurs auf die „Erfahrung“, mit der Habermas gegen die Neurobiologen argumentiert, reicht allerdings nicht aus. Dieser kann dem Argument der „Selbsttäuschung“ nicht begegnen, mit dem die Biologisten die („Erfahrung“ der) „Willensfreiheit“ „widerlegen“. Denn: Wir erfahren auch einen „inneren“ Zwang als Unfreiheit, und wir erleben nicht jeden äußeren Zwang als Zwang, Beschränkung unserer Freiheit.

Die philosophische Stoßrichtung gegen den neurobiologischen Reduktionismus wird von der „Erfahrung“ nicht bestätigt; die „Erfahrung“ ist kein Argument gegen die Neurowissenschaften, im Gegenteil, die Neurowissenschaftler drehen das Argument der Philosophen einfach um. Sie bestreiten: den Status des Bewusstseins als unabhängig – von Kräften „Jenseits des Bewusstseins“. Die philosophische Kritik stellt sich selbst ein Bein mit ihrem Rekurs auf die „Erfahrung“, sie bereitet dem Biologismus selbst den Weg, indem sie diese Dimension „Jenseits des Bewusstseins“ den Biologisten überlässt.

„Jenseits des Bewusstseins“: das Feld der Psychoanalyse: das „Unbewusste“. Die philosophische Kritik meint ohne die Dimension des Unbewussten auszukommen, versucht „mit dem Rücken zum Unbewussten voranzuschreiten“ (Foucault 1966/1971, S. 477).

Im Gegensatz dazu haben die Biologisten verstanden, sich der Allianz der Psychoanalyse zu versichern, in dem sie behaupten, sie würden “die Entdeckung Freuds bestätigen“ – und die Psychoanalyse, bzw. die ihre ersten Vertreter und Wortführer in dieser Debatte waren ihnen dankbar (s. Hüther 1997; Leuzinger-Bohleber, Mertens & Koukou 1998; Starobinski, Grubrich-Simitis & Solms 1999). Mittlerweile haben sich Gegenstimmen erhoben (vgl. Bock et al. 2005; Buchholz 2005, 2009; Lehmkuhl & Lehmkuhl 2008). Zugleich sind die Neurowissenschaftler selber kleinlauter geworden (s. Elger et al. 2004). Doch es gibt sie immer noch, die unbeirrt daran festhalten, dass „die biologischen Mechanismen“ die „mentale Aktivität erklären“ (Beutel 2009, S. 384). Doch ist das „Unbewusste“ der Hirnforscher wirklich das der Psychoanalyse?

Freud hatte tatsächlich damit geliebäugelt, das Unbewusste in den biologisch-physiologischen Prozessen zu fundieren. Die heutige Allianz von Psychoanalyse und Neurowissenschaften greift also einen alten Traum Freuds auf: die „Neuronen“-Theorie des Entwurfs von 1895 wäre der Bezugspunkt.

Doch damit ist nicht viel über die Angemessenheit gesagt, diesen Traum in der Realität bestätigen zu wollen, im Gegenteil, dieser Wunsch wäre dem Habermas´schen Urteil des „szientifischen Selbstmissverständnisses“ zuzurechnen – es sei denn, man interpretierte Freuds „Neuronen“-Theorie“ wie Derrida (1966): nicht als Programm zur Untersuchung der tatsächlichen Struktur und Prozesse auf der Ebene der Neuronen und Synapsen, sondern als Metaphorik.

Dass es diese Neuronen nicht gibt, die Freud postulierte, muss ihm selbst klar gewesen sein, folgt man Derridas Argumentation. Und damit muss Freud die Unmöglichkeit klar gewesen sein, die Prozesse des Unbewussten auf der Ebene der Neurowissenschaft abzubilden. Wie andere, allerdings spätere Äußerungen Freuds erkennen lassen, war er sich im Gegenteil des „konstruktivistischen“ Charakters seiner theoretischen Annahmen bewusst (Freud 1937), wenn er seine Metapsychologie als „unsere Mythologie“ bezeichnete.

Die empirische Basis der Psychoanalyse war auch bei Freud keineswegs die Untersuchung auf der Ebene der Neuronen-Prozesse, sondern das Gespräch mit dem Patienten. Darin erhielten die Metaphern ihren Stellenwert und ihren Sinn. „Bestätigung“ kann die Psychoanalyse also nicht erhalten durch Ergebnisse von Untersuchungen, die außerhalb des psychoanalytischen Gesprächs durchgeführt wurden.

Aber die Allianz mit der Psychoanalyse ist vielleicht für die Neurowissenschaften sinnvoll. Natürlich kann auch die Psychoanalyse die Neurowissenschaften ebenso wenig „bestätigen“, wie umgekehrt die Neurowissenschaften die Psychoanalyse. Der „Sinn“ der Allianz liegt für die Neurowissenschaften auf einer anderen Ebene.

Die Übertragung der psychoanalytischen Konzepte in die Neurowissenschaften übergeht die unterschiedliche empirische Basis ihrer Gewinnung. Außerhalb dieser empirischen Basis (des psychoanalytischen Gesprächs) verändert sich der Status und die Funktion, ja die Gültigkeit der psychoanalytischen Konzepte und Konstruktionen. Sie sind nicht länger Deutungen im psychoanalytischen Sinn – Deutungen, die der Patient bestätigen muss: und zwar durch die „Fortsetzung des Gesprächs“, durch Produktion neuer Einfälle, wozu auch das Nein gehört, der Widerstand. Sie sind vielmehr etwas anderes, abhängig, bestimmt durch die Struktur, die Diskursform, in der sie auftreten, in die sie eingeführt werden. Sie sind “Argumente“ in einem Meinungsstreit, bzw. werden als solche benützt, die zugleich ihre Überzeugungskraft daher gewinnen (sollen), dass sie aus einem anderen Bereich stammen, mit der Behauptung versehen, dass anderswo das selbe gefunden worden sei – was wiederum nur behauptet werden kann, wenn man die unterschiedliche empirische Basis leugnet.

Für die Neurowissenschaften liegt der Sinn der Allianz mit der Psychoanalyse darin, einen Verbündeten zu haben, für ihren Kampf gegen die Willensfreiheit. Auch die Psychoanalyse hält nicht allzu viel von der Willensfreiheit: das Bewusstsein, das Ich, ist für sie der “dumme August“. Ihr Argument: das „Unbewusste“. Wenn man das Unbewusste der Psychoanalyse biologistisch „bestätigt“, dann hat man ein festes Band zwischen beiden.

Hier schließt sich der Kreis: die wechselseitige Bestätigung von Psychoanalyse und Neurowissenschaft – suggeriert durch die Verleugnung, dass ihre Gültigkeit an eine jeweils andere, je unterschiedliche empirische Basis ihrer Gewinnung gebunden ist – findet ihren „Sinn“ im Bestreiten der Willensfreiheit – der „Sinn“, die Botschaft des neurowissenschaftlichen Diskurses. Die Frage nach dem Sinn (meiner Entscheidung) –  die Frage, mit der das Individuum die Therapie aufsucht – sie braucht nicht gestellt zu werden, denn es gibt keine Freiheit der Entscheidung.

 

VI. Ablenkung von der Frage nach dem Sinn

Aber die Negierung der Willensfreiheit vor dem Gerichtshof der Naturwissenschaft schielt nicht nur auf die Therapie, sondern zugleich auch – bzw. in 1. Linie – auf das alltägliche Bewusstsein und die alltägliche Erfahrung: die Erfahrung, dass wir tatsächlich in der Freiheit unserer Entscheidung eingeschränkt sind, dass wir uns tatsächlich die Frage nach dem Sinn der Regelung unseres Alltags, unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens stellen können, immer mehr zu stellen uns gedrängt sehen: die Frage nach dem „Sinn“ einer Verteilung der Arbeit, die immer mehr Arbeitslosigkeit produziert (Sozialabbau), die Frage nach dem Sinn des ständig wachsenden ungeheuren Reichtums bei gleichzeitig wachsender Armut (Ziegler 2005).

Dass wir nicht mehr fragen, welchen Sinn macht die ökonomische Orientierung auf privaten Profit, statt auf gesamtgesellschaftlichen Nutzen? – vom Nutzen für den Einzelnen ganz zu schweigen, und erst recht von den Kosten des privaten Profits für die Allgemeinheit. Diese Frage wird nicht mehr gestellt, sie wird - mit der Frage nach dem Sinn - durch die naturwissenschaftliche Orientierung in der Diskussion über Therapie wie außerhalb ausgeschlossen, indem diese naturwissenschaftliche Orientierung eine naturwissenschaftliche Erklärung anbietet, eine Erklärung, die selbst die Gründe für Armut, Arbeitslosigkeit und Sinnleere in unserer „Natur“ zu finden behauptet (wie z.B. Lynn & Vanhanen 2002 in den „genetisch“ bedingten Intelligenzunterschieden - was in der Zwischenzeit von Sarrazin aufgegriffen worden ist: s. Müller 2010, Lieb 2010, Zander 2010, Heitmeyer 2010, Wagner 2011a & b, Darsow 2011, Bahners 2011).

Die „Argumente“, mit deren Hilfe die ökonomischen Interessen der (Pharma)Industrie und Neurowissenschaft sich unsere Zustimmung zu gewinnen versuchen, stellen zugleich eine Antwort auf die gegenwärtige Situation dar: ein Versuch, die Zukunfts- (und auch die Gegenwarts)Ängste von immer mehr Menschen zu entkoppeln von den Angst machenden Lebens- und Arbeitsbedingungen, von drohender Arbeitslosigkeit, Erwerbslosigkeit, Unsicherheit des Alters und der medizinischen Versorgung, und diese statt dessen auf Bedingungen unserer „Natur“ zurückzuführen und an diese zu binden.

Dies ist tatsächlich der „Sinn“ des Biologismus, des naturwissenschaftlichen Diskurses menschlicher Situation, gesellschaftlicher Probleme: diese beunruhigenden Fragen nach dem Sinn abzulenken von den gesellschaftlichen Bedingungen der Macht und umzulenken auf die Macht unserer „Natur“.

 

VII. Reden über die Natur – Schweigen über die Macht

In dieser Perspektive ist der Biologismus ein Diskurs der Macht. Er schiebt eine „Macht der Natur“ vor die „Macht der Mächtigen“, der Menschen in ihren Verhältnissen. Er trägt zu ihrer Affirmation bei, indem er uns „Argumente“ bietet, die uns zur Zustimmung bewegen sollen, indem er die Macht unbewusst macht, hinter den Phantasmen, die er vor die Macht schiebt, verschwindet lässt (Bruder 2004, 2009, 2011).

Das war es, woran der Philosoph unbeholfen in Kategorien der Erfahrung festhalten wollte: die Tatsache, dass es „Zwang“ gibt, der „von außen auferlegt“ ist: Herrschaft, hinter der die Macht sich zugleich verbirgt. Unbeholfen, weil er im Rekurs auf die Erfahrung übersieht, ausblendet, dass wir diese Macht, nicht immer „erfahren“, bzw. dass wir sie nicht immer als „von außen auferlegt“ erfahren. Die Macht wirkt (auch) ohne im Bewusstsein registriert zu werden, sie wirkt „unbewusst“ (Bruder 2005a). Die Macht, die unser Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln bestimmt – gegen unseren Willen und hinter dem Rücken unseres Bewusstseins – ist nicht (nicht nur) unsere – biologisch fassbare – „Natur“, sondern auch unsere soziale, gesellschaftliche. Die gesellschaftlichen Kräfte, die uns lenken, sind (ebenso) unbewusst, wie unsere organische „Natur“ (Bruder 2005c). Dieses Unbewusste den Biologisten zu überlassen, befördert ihren Diskurs, und damit den Diskurs der Macht.

In diesem Diskurs wird also nicht nur die Frage nach dem Sinn der Symptome ausgeschlossen, sondern zugleich die nach dem Sinn der „Ursachen“. Und zwar nicht nur dem individuellen Sinn (der Ursachen), dem Sinn, den das Individuum den Ursachen gibt, sondern dem gesellschaftlichen. Es wird nicht nur geleugnet, dass wir sinnproduzierende Wesen sind, dass wir Antworten auf die Frage nach dem Sinn brauchen, um als Individuen zu überleben, dass alles, was wir tun, unter einem Sinnhorizont von uns (nur) getan werden kann und deshalb auch an alles, was uns begegnet, die Frage nach dessen Sinn gestellt wird, nach der Verursachung und deshalb auch nach dem Sinn gesellschaftlicher Zustände.

Wir geben dem, was uns begegnet einen Sinn, weil wir „verstehen“ wollen was läuft und was Sache ist, ebenso wie wir unsere Antwort auf das, was uns widerfährt in einem Sinn-Horizont entwerfen, weil unsere Antwort bereits den Sinn (des Widerfahrenden) gedeutet haben muss, um eine „sinnvolle“ Antwort sein zu können.

Wir sind in der Zuschreibung von Sinn frei, in dem Sinn, dass unsere Antwort wie unsere Deutung individuell sind. Allerdings haben wir diese Freiheit der Sinn-Produktion nur als Gattungswesen, als „anthropologische Ausstattung“, jedoch nicht in derselben Weise und Umfang als konkrete Individuen (mit je unterschiedlicher gesellschaftlicher Position und Ressourcen).

Als einzelne konkrete Individuen sind wir durchaus nicht frei, jeden beliebigen Sinn zu erfinden – ohne als „verrückt“ zu gelten, ausgeschlossen zu werden, unserer Freiheit beraubt. Die Freiheit der Gattung realisiert sich in der Gebundenheit des einzelnen an – wenngleich offensichtlich durchaus Gattungskompatible – soziale Vorgaben. Was gesellschaftlich als sinnvoll definiert ist, bestimmt auch die individuelle Sinn-Produktion. Den gesellschaftlichen „Sinn“ nicht zu erfüllen, ist deshalb nicht nur gesellschaftlich wertlos, sondern auch individuell.

Arbeitslosigkeit ist das – in unserer Gesellschaft – eindrücklichste Beispiel (Hunger, vor Hunger sterben zu müssen in anderen Regionen). Dieses Beispiel zeigt: individuell wertvoll, weil gesellschaftlich wertvoll, ist: sich bis zur Erschöpfung ausbeuten zu lassen, sich bis zur Selbstverleugnung unterzuordnen. Wer das nicht tut, ist nicht wertvoll, produziert keinen Wert, ist (wie die Diskussion über Arbeitslose zeigt) aus der Gemeinschaft der Wertvollen, weil Wertschaffenden ausgeschlossen.

Der Diskurs der Macht, der durch die Medien vermittelte herrschende Diskurs, zeichnet sich dadurch aus, dass er das nicht so (offen) formuliert, ausspricht, sondern verdeckt, dass er den Zusammenhang umdreht, die Ursache zur Folge verdreht, die Folge zur Ursache. Nicht: Wer keinen Wert produziert ist (deshalb) nicht wertvoll, sondern weil er nicht wertvoll ist, produziert er keinen Wert. Die gesellschaftlichen Bewertungen werden zur Folge der psychologischen erklärt, die psychologischen werden zum Grund der gesellschaftlichen gemacht (Bruder-Bezzel 2005).

Deshalb spricht dieser Diskurs der Macht auch nicht von Ausbeutung und Unterordnung – weder diejenigen, die Ausbeutung und Unterordnung verlangen, tun dies, noch diejenigen, die sich unterordnen und ausbeuten lassen (müssen) – sondern von: „Autonomie“ und „Selbstverwirklichung“. Boltanski & Chiapello (1999) sahen darin einen „neuen Geist des Kapitalismus“. Dieser habe Autonomie und Selbstverwirklichung, Authentizität und Kreativität in sich aufgenommen, als Versprechen, die er zu erfüllen vorgibt, aber zugleich auch als Forderung an die einzelnen, kreativ sein zu müssen, sich selbst verwirklichen zu müssen. Als Forderung auch an denjenigen, der dazu keine Möglichkeit hat, weil er gar keinen Arbeitsplatz hat. Sein Ausschluss aus der „Gemeinschaft der Wertvollen“ wird ihm selbst zur Last gelegt. Die Tatsache, dass er keinen Arbeitsplatz hat, wird zur Folge seiner Unfähigkeit erklärt, sich ausbeuten zu lassen und sich unterzuordnen. Sein Protest, sein Versuch, Würde und Wert zu behaupten, findet im gesellschaftlichen Sinn-Horizont keine Resonanz, keinen Platz. Im gesellschaftlichen Sinnhorizont kommt Arbeitslosigkeit nicht vor – nicht als gesellschaftliches Problem, sondern als individuelles, im gesellschaftlichen Sinnhorizont ist der Besitz eines Arbeitsplatzes stillschweigend vorausgesetzt.

So wie im gesellschaftlichen Sinnhorizont Arbeitslosigkeit nicht vorkommt – ebenso wenig wie Ausbeutung und Unterordnung – so auch nicht im individuellen. Auch die Arbeitslosen, diejenigen, denen die Ausbeutung, Unterordnung verwehrt wird, haben andere Sorgen: nämlich zu allererst überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen, zurück in die Ausbeutung, Unterordnung, Entfremdung zu finden.

Obwohl Ausbeutung, Unterordnung Entfremdung im gesellschaftlichen Sinn-Horizont nicht vorkommen, bleiben die Folgen von Ausbeutung, Unterordnung Entfremdung gleichwohl bestehen, ja, verstärken sich: Boltanski & Chiapello berichten von einem Steigen der (Durkheimschen) Anomie-Indikatoren seit den 70er Jahren: die Beziehungen werden immer kürzer, die Selbstmordrate steigt, ebenso wie der Konsum von Psychopharmaka (S. 454). Unmut, Unzufriedenheit und Leiden breiten sich aus. Boltanski & Chiapello sehen den Grund dafür nicht nur in der zunehmenden beruflichen Unsicherheit und Verelendung, sondern zugleich darin, dass die Menschen „immer geringere Einflussmöglichkeiten auf ihr soziales Umfeld“ haben (S. 452).

Die Anforderungen des „neuen“ Geistes des Kapitalismus erwiesen sich als unerfüllbar, seine Versprechungen sind als Illusionen aufgeflogen. An die Stelle der Sprache der Selbstverwirklichung musste deshalb eine andere treten: die Sprache der ökonomischen „Notwendigkeit“: die „Globalisierung“ verlange die „Reform“ des Sozialstaats, die Zurücknahme der Errungenschaften der gewerkschaftlichen Kämpfe. Die „Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt“ sei „nur durch Reduzierung der Kosten der Arbeitskraft zu erhalten“ lautet die neue Botschaft. Die Verschärfung der Konkurrenz wird zugleich auch nach innen getragen, ins Innere der Gesellschaft: Die neueste Ausgabe der Studie „Deutsche Zustände“, herausgegeben vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld, stellt eine “deutliche Vereisung des sozialen Klimas” fest, eine „rohe Bürgerlichkeit“ und einen „zunehmenden Klassenkampf von oben“ (Heitmeyer 2010). Dieser bedient sich der Feindbilder der „muslimischen Fundamentalisten“ und “wirtschaftlich Nutzlosen” (s. a. Bruder-Bezzel 2011, Wolf 2011).

Beide, sowohl die Rede von der ökonomischen „Notwendigkeit“, als auch die Verachtung der Ausgeschlossenen sind „Deutungsmuster der sozialen Wirklichkeit“ (Boltanski & Chiapello, 147), die unserem „Handeln und den Strukturen Sinn geben“ sollen (147), eine „Sinn“-Produktion: die Behauptung, den „Imperativen“ der Globalisierung könne „man“ sich nicht entziehen – es sei denn man sei ein „Versager“, ein „Schmarotzer“ oder ein Feind der Gesellschaft, auf jeden Fall als nutzlos und/oder gefährlich aus der Gemeinschaft auszuschließen. Nicht die Sinn-Produktion überhaupt wird abgeschafft, sondern jene (individuelle Sinn-Produktion der Subjekte), die die gesellschaftliche Sinnproduktion in Frage stellen könnte – und damit die Zustimmung zum Diskurs der Macht. Deshalb wird die „naturwissenschaftliche“ Argumentation wichtiger: mit ihrer Hilfe kann die individuelle Sinnfrage als unsinnig abgewiesen werden, ohne die Interessen der Macht offen legen zu müssen – „unsinnig“, weil „wissenschaftlich“ nicht begründbar.



[i] Symposium „Das Unbehagen in der (Psychotherapie-)Kultur. Sinnverstehende Traditionen – Grundlagen und Perspektiven, Bonn 17./18. März 2006

[ii] Es erscheint eher wie eine Karikatur, wenn Grawe (2004) ins Schwärmen kommt: “Aber (beim Neuropsychotherapeuten) kommen zusätzliche Überlegungen hinzu. Vor seinem inneren Auge sieht er die seit langem überaktivierte und deshalb hypertrophierte Amygdala von Frau H. (chronisch depressive Pat.), die selektiv überempfindlich auf emotional negative Situationen anspricht. Sie hat gut entwickelte Verbindungen zum ventromedialen präfrontalen Cortex, dessen Aktivierung mit negativen emotionalen Zuständen verbunden ist… Der Th. ist sich im Klaren: Er muss die Aktivierung dieser hypertrophierten Verbindungen hemmen und die verkümmerten Synapsen im linken präfrontalen Cortex so oft wie möglich aktivieren…“ (zit. n. Beutel 2009, S. 390)

[iii] nachzulesen bei: InEK GmbH – Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus 2007, 2008, 2009, 201

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Literatur:

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Klaus-Jürgen Bruder, Psychoanalytiker, Professor für Psychologie, Freie Universität Berlin, Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Psychologie, Psychoanalyse, Postmoderne.
Herausgeber der Schriftenreihe »Subjektivität und Postmoderne« im Psychosozial-Verlag Giessen. Mitherausgeber der Zeitschrift »Geschichte der Psychologie«
Veröffentlichungen u.a.: Psychologie ohne Bewußtsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982; Jugend. Psychologie einer Kultur. (mit Almuth Bruder-Bezzel) München: Urban & Schwarzenberg 1984; Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993; Monster oder liebe Eltern. Sexueller Mißbrauch in der Familie. (mit Sigrid Richter-Unger) Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1993, 2. Auflage: Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997; »Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben«. Psychoanalyse und Biographieforschung. Giessen: Psychosozial-Verlag 2003; Kreativität und Determination. Studien zu Nietzsche, Freud und Adler (mit Almuth Bruder-Bezzel). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004; Lüge und Selbsttäuschung (mit Friedrich Voßkühler). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009.

Mail: Klaus-Juergen.Bruder ( ät ) FU-Berlin.de


Klaus-Jürgen Bruder


„Die Unterwerfungder Psychotherapie unter die Gesetze des Marktes transformiert diese in grundlegender Weise“ - Von der Notwendigkeit, die gesellschaftliche Realität (in der Psychoanalyse) zur Kenntnis zu nehmen

 

I.

In einem bemerkenswerten und viel beachteten Beitrag „Verstehen nach Schemata und Vorgaben?“ setzt sich Giovanni Maio mit den ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie“ auseinander. (im Psychotherapeutenjournal 2/2011, 132-138) :
Die gegenwärtige Psychotherapie sei wie viele andere Bereiche unserer Gesellschaft auch dem Diktat der Ökonomie so weit unterworfen, dass darunter ihre ureigene Identität verloren zu gehen droht ihre Identität nämlich als verstehende Sorge um einen leidenden Menschen
Die Auswirkungen der Ökonomisierung seien deswegen besonders prekär, weil sie nicht nur den äußeren Rahmen psychotherapeutischer Arbeit diktieren, sondern weil sie zu einem allmählichen inneren Bewusstseinswandel führen, der sich so schleichend und kaum merklich vollzieht.
Viel zu oft gerate bei diesem Trend aus dem Blick, dass die Psychotherapie konstitutiv auf eine Begegnung angewiesen ist;
diese Begegnung sei nicht in ein standardisiertes Verfahren zu gießen.
Unter dem Druck der Ökonomisierung gehe der Begegnungscharakter der Psychotherapie verloren, das Singuläre und Unverwechselbare der Begegnung werde ausgeblendet (abstract)

An die Stelle der Vertrauensbeziehung Tritt eine Vertragsbeziehung, eine sachliche statt einer persönlichen Beziehung

Der Patient [iS eines Not leidenden Hilfesuchenden] Ist stattdessen Konsument geworden, ein anspruchsvoller Verbraucher von Gesundheitsleistungen, ein “Kunde“
Mit der Ökonomie komme durch die Hintertür die Vorstellung der wissenschaftlichen Machbarkeit hinein, die in den Kategorien der Naturwissenschaft den Menschen als Maschine sehe. Hier spreche man von evidenzbasierter Wissenschaft, von verobjektivierbarer Wirksamkeit, mit der jede Krankheit und Krise steuerbar, planbar, behebbar ist wenn man das richtige Mittel anwendet (S. 135)

Daher werde nach einem Schema gesucht, nach einem standardisierten Verfahren weil sich innerhalb vorgegebener Schemata besser abrechnen lässt, aber nicht nur deshalb, sondern weil die Schemata versprechen, dass man Psychotherapie auch effizienter, schneller, ergiebiger machen kann.
Das aber gehe an dem Kern der PT vorbei, und dieser Kern sei ja die Beziehung, die Zuwendung, das authentische Verstehen: darin liege das Heilsame der PT und dies könne nicht reduziert werden auf evidenzbasierte Verfahren, auf messbare Parameter (S. 136)

Vielleicht denken Sie nun, hier werden für Psychoanalytiker Eulen nach Athen getragen!?, wir sind damit nicht gemeint!?
Die Reaktionen auf diesen Beitrag im PT-Journal waren auf der einen Seite emphatische Zustimmung, auf der anderen rigorose, manchmal unflätige Ablehnung.
Maio beschreibt aber Trends, die von der Gesundheitsindustrie/-& Politik ausgehend, relativ langsam fast unmerklich den Rahmen unseres Arbeitens bestimmen und die in unseren Reihen allzu bereitwillig selbst aufgegriffen werden – und denen von unseren Berufsverbänden keinerlei Widerstand entgegengesetzt wird – im Gegenteil: sie machen oder fördern selbst Forschung, die die Zielvorgaben der Evidenzbasierung und Schematisierung verfolgen, nicht zu letzt aus dem Kalkül, die eigene Existenz – die ja für viele tatsächlich bedroht ist - zu retten bzw. herzustellen für diejenigen, denen sie durch das Fehlen von Kassensitzen verweigert wird

II.


Es rächt sich, dass die PA die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zur Kenntnis genommen hat, dass sie die sozialen Probleme nicht in den Blick genommen hat.
Eigentlich ist es doch so: die Psychoanalyse hat über Generationen hinweg die gesellschaftliche Realität vernachlässigt, als „äußere Realität“ aus ihrem Horizont ausgeschlossen. Und jetzt überfällt diese sie hinterrücks. Darauf ist die Psychoanalyse nicht vorbereitet.
Vor 35 Jahren hatte Paul Parin gefordert, die gesellschaftliche Realität nicht aus der Psychoanalyse, nicht aus der psychoanalytischen Therapie auszuschließen, sondern sie explizit hereinzubringen, dadurch dass er Ergebnisse der Gesellschaftstheorie & Kritik für seine Deutungsarbeit heranzieht. und zwar aus Gründen der erfolgreichen Durchführung der Therapie/Analyse selbst. [i]
Der Analysand soll dadurch in die Lage versetzt werden, seine Problematik nicht nur als Resultat seiner individuellen und insofern zufälligen Biographie zu deuten, sondern sie zugleich als Ergebnis einer von bestimmten Machtstrukturen gekennzeichneten Gesellschaft zu verstehen.

1977 hat Parin diesen Vorschlag ergänzt mit der Analyse der Bedeutung der Bearbeitung der „Anpassungsmechanismen“ für die Therapie der Neurose.
„Die Anpassungsmechanismen [dienen der Entlastung des] Ich von der ständigen Auseinandersetzung mit der Außenwelt [in ähnlicher Weise], wie die Abwehrmechanismen das gegenüber den abgewiesenen Triebansprüchen leisten.
Die andere Seite der Entlastung ist jedoch Erstarrung und Einschränkung: Was das Ich an Stärke gewonnen hat, büßt es an Flexibilität und Elastizität ein.
Die Analyse vertieft sich, schreibt Parin (1977, S. 485f)wenn man dem Ich durch solche Deutungen [der Anpassungsmechanismen], vorübergehend die stützende Funktion seiner automatischen Anpassung entzieht.“
Die Bewusstmachung [dieser Mechanismen] ist für die Ich–Entwicklung in der Therapie von entscheidender Wichtigkeit. (Parin 1977, S. 501)

Inzwischen – Parins Vorschläge sind ohne Nachfolge geblieben - Haben wir ein neues Stadium erreicht: nun kommt diese „äußere“ Realität, vor der die Psychoanalyse so gerne ihren Blick abwendet über sie und entzieht ihr auch noch die bisherigen Bedingungen ihrer Arbeit.
Nun geht es nicht mehr – wie noch bei Parin – um die Vollständigkeit bzw. Unvollständigkeit der Analyse, sondern um ihre Arbeitsbedingungen selbst.
Es geht nicht mehr „nur“ darum, die gesellschaftliche Realität in der psychotherapeutischen Praxis (im Deutungsprozess) sichtbar werden zu lassen, sondern inzwischen müsste der Analytiker die Bedingungen und Voraussetzungen dieser Praxis selbst verteidigen, also: aus den Grenzen (sic!) seines Settings heraustreten, in die Öffentlichkeit vor deren grellem Licht ihn bisher die „Abstinenz“ vermeintlich geschützt hatte
Diese Forderung - in die Öffentlichkeit zu treten - vertritt Jürgen Hardt Psychoanalytiker, 10 Jahre Präsident der hess PT-Kammer

Als solcher hat er sich in diese äußere Realität begeben und dabei die Erfahrung gemacht, die er umschreibt als das „Ende oder der Abstieg der Einsicht in politischen Entscheidungsprozessen“.
Er fordert deshalb vom Psychoanalytiker, Stellung zu beziehen und zwar außerhalb seines therapeutischen Elfenbeinturmes, in politische Prozesse und Diskurse einzugreifen und zwar gerade als - wie er sich ausdrückt: „Fachmann für das Ubw“

Auch Jürgen Hardt geht – wie Maio - aus von der Vorstellung (vom Bild) der „Transformation“ einer „Kultureinrichtung“ durch deren Ökonomisierung: der Transformation der „solidarischen Krankenbehandlung“ in die „wettbewerbliche Gesundheitswirtschaft“.
in dieser „wettbewerblichen Gesundheitswirtschaft“ sieht Hardt - ähnlich wie Maio - das Ende der Psychotherapie
Aber er bleibt nicht dabei stehen, sondern sieht daraus zugleich auch eine politische Verpflichtung der PA erwachsen
Denn: es werde ein ethisches Gebot verletzt wenn Einsicht nicht mehr verantwortlichem Handeln vorausgehe
Dieses ethische Gebot dass Einsicht verantwortlichem Handeln vorausgehen soll verbinde Politik wie Therapie
Die politische Verpflichtung der Psychoanalytiker als „Fachleute des Unbewussten“ besteht nach Jürgen Hardt darin,  die Tatsachen unseres Lebens in Erinnerung zu halten Weil nicht mehr zu unterscheiden sei, zwischen den Gefahren von „außen“ und denen von „innen“, müsse der PAler sich verstärkt dem „außen“ zuwenden dort sich einsetzen das Wissen des „Innen“ (Experte des UBw) nach „außen“ tragen
So zB: sei er gefragt, wenn es darum geht, ob die Ängste der Bevölkerung angesichts der aktuellen Bedrohung neurotische oder reale seien, durch die realen Gefahren d Umwelt begründete

Die Vorstellung vom Experten des Ubw rührt natürlich an die Frage des Ubw selbst gibt es das – für alle Analytiker gleiche – Ubw?
und ist es nicht die Konzeption des Ubw als losgelöst von der äußeren, genauer: gesellschaftlichen Realität, die uns in diese Sackgasse geführt hat, indem sie die gesellschaftlichen Verhältnisse unserem Blick entzogen hatte, die uns jetzt hinterrücks und unvorbereitet überfallen?
Muss nicht die Konsequenz gezogen werden aus dem Scheitern der Psychoanalyse, auf ihrem eigenen Feld dem Scheitern, ihr eigenes Feld zu verteidigen. Muss dieses Scheitern nicht betrachtet werden als Folge der psychoanalytischen „Blickabwendung“ihrer Verleugnung der gesellschaftlichen Kräfteund der Verdrängung ihres eigenen Versagens, Wegguckens, Augenverschließens
Das „Ubw“ des Experten des Ubw kann nicht das der „alten“ Psychoanalyse sein
Das Ubw muss in seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit erfasst werden, verstanden werden als Sediment der (gesellschaftlichen und gesellschaftlich bestimmten) Erfahrung


III.


Die Unterscheidung zwischen „innen“ und „außen“ ist in der klassischen Psychoanalyse mit einer zweiten (weiteren) Unterscheidung verbunden: mit der zwischen „Natur und Kultur“
Genauer an die Vorstellung eines Widerspruchs von Natur und Kultur und zwar an die Idee der Bedrohung durch „Natur“gewalten, denen die Kultur Einhalt gebieten solle.
Dabei ist es gar nicht primär die Bedrohung von außen, sondern primär von innen, von den inneren Triebkräften des Individuums
Die Kultur, deren Sinn es sei, das Leben gegen drohende Gefahren zu schützen, beruhe – so Jürgen Hardt - auf der Einsicht in die Tatsachen des Lebens.
Diese „Tatsachen des Lebens“ sieht Jürgen Hardt darin, - dass wir einander bedürfen, um überleben zu können. - und dass wir uns Triebeinschränkungen auferlegen müssen,    wenn wir nicht in einen Krieg aller gegen alle zurückfallen wollen,    den niemand gewinnen kann (4).
Diese Einsicht in die Tatsachen des Lebens habe Freud nur „Menschen von überwältigender Geisteskraft“ und mit tiefer Einsicht in die Notwendigkeiten des Lebens zugetraut, einer „Führerpersönlichkeit“, die die – „irrationale“ - Masse „mit Vernunft lenkt und den Kulturprozess sichert und befördert“ (13)
Gegen Ende seines Lebens sei Freud allerdings „skeptisch“ geworden - „in seinem Glauben an Vernunft und Einsicht“ – meint Jürgen Hardt: habe er doch noch erleben müssen, dass seine Staatsidee, für die er Platon als Gewährsmann angeführt hatte, „in perverser Form“ sich zu verwirklichen schien.

Ich denke, man muss nicht den Glauben an Vernunft und Einsicht aufgeben, sondern den an die Führerpersönlichkeit
Das bedeutet im Rahmen der Psychoanalyse zugleich,den Glauben daran aufzugeben, dass es „Natur“ -gewalten seien, denen „die Kultur“ Einhalt gebieten sollte.
Im Gegenteil wäre zu erkennen, daß die Bedrohung bereits von den Mächten der „Kultur“ selbst ausgeht,von der – kulturellen, gesellschaftlichen – Macht der Menschen - über andere Menschen.
Diese Bedrohung durch die gesellschaftlichen Mächte (durch die gesellschaftliche Macht von Menschen)ist es, die in die Natur lediglich verschoben wird, als Bedrohung durch die Natur(gewalten) dargestellt wird.
Gewiss „konstituiert sich das Individuum im Austausch mit der Natur“ (Brückner, S. 68). Aber: „damit gerät es [das Individuum] unter die jeweiligen konkreten Entwicklungs-Bedingungen, die ihm der historische Stand von Wissenschaft, Technik, Kultur und der gesellschaftlichen Verhältnisse setzt (Brückner, S. 69).
die „Natur“ ist keine von Menschen unberührte, sondern durch sie veränderte, also historisch bestimmte.
Und zugleich gilt: was als „Natur“ erscheint, ist historisch geworden und damit auch wieder veränderbar: die Handlungsbereitschaften, Denkmuster, Gewohnheiten: die „Zweite Natur“ des Menschen selbst

„Die Entfaltung zur kapitalistischen Produktionsweise ist zugleich die Geschichte einer Verkehrung: Die ungeheure Entwicklung von Wissenschaft, Technik bedeutet keine allseitige Entfaltung des Individuums, oder der Möglichkeiten des Menschen, sondern die Produktion des Menschen als eines „ebenso geistig wie körperlich entmenschten Wesens“ (Marx)
d.i.: seinem Gattungswesen entfremdet.
“unser eigenes Produkt hat sich auf die Hinterfüße gegen uns gestellt“ verfestigt zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durchkreuzt.
Die Verkehrung zeigt sich darin, dass die Menschen leben, um zu arbeiten statt dass sie arbeiten, um leben zu können:         oder wie der Soziologe Ulrich Beck taz vom 31.10.2011:         dass „Wirtschaft die Demokratie dominiert, statt          dass die Demokratie die Wirtschaft kontrolliert. [ii]
was die Menschen wollen, spielt längst keine Rolle mehr. Die Interessen der gerne als „Finanzmärkte“ umschriebenen Spekulanten, der Groß- und Investmentbanken und Hedge-Fonds, bestimmen die Agenda. Von Demokratie ist heute gar nicht mehr Rede. Die Märkte und ihre Interessen diktieren der Politik, wo es lang geht. Die Börsenkurse gelten dabei als Gradmesser des Erfolgs. (Jens Berger NDS 03.11.2011)
Frank Schirrmacher (FAZ 02.11.2011) spricht noch vom „Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen“
und Habermas der einen Gegensatz zw System & Lebenswelten erblickte:nimmt den Ball auf und ruft zur „Rettung der Würde der Demokratie“ auf: (2011): Rettet die Würde der Demokratie. Papandreou hält dem zerrissenen Europa den Spiegel vor.  Ein Kommentar zu Frank Schirrmachers „Demokratie ist Ramsch“. (FAZ 04.11.2011)
Beides Kommentare zur „Krisen“-Politik,die unbeirrt und immer unverhohlener auf die – „marktkonforme“ Transformation der Demokratie zusteuert - „marktkonforme Demokratie“ wie Merkels neueste Parole lautet

In der Krise zeigt sich das „Skandalon“ der Verkehrung, die im Kapitalismus ihr Maximum erreicht:  Der durch ihre Arbeit erzeugte Reichtum kommt nicht ihnen, der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung zu gute, sein hauptsächlicher Zweck ist es, den Reichtum einer kleinen Minderheit zu vermehren.
Was diese Verkehrung die Entfremdung des Menschen von sich selbst(von seinem Gattungswesen)für seine „Individuierung“ bedeutet, findet in der PA ihren theoretischen Ausdruck, in den undurchschauten Abhängigkeiten, die Freud nachwies (68).„aber sie weiß dies nicht und kann deshalb ihren adäquaten Ausdruck noch nicht finden“ (S. 71)
Auf seinem langen Weg von der „Mutter-Kind-Dyade“ bis zum Erwerbstätigen [iii] konstituiert sich d Individuum bereits als zerrissenes, (70)gespalten – durch Herrschaft, Macht (69)
vielleicht der Grund, weshalb die PA den „Konflikt“ ins Zentrum rückt aber: Die Psychoanalyse begreift die „Zerrissenheit“ nicht als Phänomen der gesellschaftlichen Entwicklung sondern verlagert diese in die sogen Triebentwicklung, Triebschicksale(s. dagegen Gross)
Zwar habe Freud, wie Peter Brückner formulierte, in Bezug auf den Widerspruch von Natur und Kultur gesehen, »was Herrschaft den Individuen zufügt«, »was die ›Ungleichheit der Vermögen‹ für die Aggressivität in den zwischen-menschlichen Beziehungen bedeute«, (Brückner 1972, S. 74),
ihm sei aber »die wirkliche, anthropologisch-geschichtliche Substanz dieser Verhältnisse entgangen«: nämlich, »dass die Gattungskräfte nicht die der Individuen sind, sondern des Privateigentums« (Brückner 1972, S. 74):
der Skandal der Verkehrung, der im Kapitalismus sein Maximum erreicht also das Produktionsverhältnis« (ebd., S. 74).
Deshalb wäre, was die Psychoanalyse über die Individuen ermittelt, »unter Reflexion auf diesen Skandal zu (re)formulieren. [iv]
Dieses Desiderat (der Reflexion auf diesen Skandal der Verkehrung)ist theoretisch und historisch nicht eingelöst.
Vielmehr hat die Psychoanalyse die realen Erfahrungen für die Erklärung psychischer Entwicklung ausgeschaltet zugunsten der Phantasietätigkeit.
Und diese psychische Entwicklung endet für sie mit der frühen Kindheit, alles weitere ist für sie Wiederholung.
Leupold-Löwenthal lässt diesen Ausschluss von Realereignissen mit Freuds Aufgabe der Verführungstheorie beginnen, mit der Freud die sexuelle Verführung des Kindes in die Phantasie verlegte (1988, S. 279).
1908 hatte Freud Erklärungen über die „Nervosität“ durch zivilisatorische Einflüsse (wie Hektik, Lärm, Schnelligkeit etc.) als „unzulänglich“, zurückgewiesen (1908, S. 144-148). Nur gelegentlich spricht Freud vom »realen Leiden» oder von Erkrankungen durch ein »äußeres Moment» – wobei er eher an das (traumatische) Ereignis eines „Objektverlustes“ zu denken scheint und weniger an fortwährend einwirkende Lebensbedingungen (1912, S. 322f).
Als er sich im Zusammenhang mit dem Krieg mit dem realen Trauma der Kriegsneurose befassen musste, psychologisiert er auch hier: Kriegsneurose sei ein Ich-Konflikt zwischen dem alten friedlichen und dem neuen kriegerischen Ich angesichts der realen Lebensgefahr (1919, S. 323).
in der psychoanalytischen Therapie führt dieser Ausschluss von Realien – sofern die Praktiker dieser Theorie folgten – zu einer folie à deux, wie Leupold-Löwenthal im Anschluss an Jeanne Lampl-de Groot schreibt.
Die psychoanalytische Therapie wird „weltlos“, –  so Dahmer (2004, S. 9), um damit bei sich und den Patienten den Abwehrmechanismus der Anpassung, die stillschweigende Akzeptanz der Realitäten, zu befördern.
Auch Anna Freud oder Otto Fenichel kritisierten die Überbetonung der psychischen Realität gegenüber der äußeren Realität (in Übertragung und Widerstand) (Anna Freud), den »Widerstand des Analytikers in seiner Vernachlässigung des Lebens» (wie Fenichel sagt) (Leupold-Löwenthal 1988, S. 293).
Dabei geht es ja nicht um eine Alternative entweder psychische oder objektive Realität.
Vielmehr steht psychische Realität in einem komplexen, dialektischen Verhältnis zur äußeren erfahrenen Realität. Innen und außen sind voneinander abhängig.
Psychische Realität ist eine individuelle, schöpferische (wie Adler sagen würde) Verarbeitung der je erlebten objektiven Realität, durch die Strukturen und Lebensstile gebildet werden.
Psychische Realität gibt der äußeren Realität Sinn, Bedeutung, Bewertung. Darin gehen sog. Fakten, wie sie wahrgenommen werden, ein, aber auch intersubjektiv vermittelte Sichtweisen, sozial vermittelte Normen, Werturteile, Diskurse, die offene und versteckte Botschaften transportieren. Innerpsychisches ist intersubjektiv vermittelt, wie die Intersubjektivsten sagen (Stolorow).
Wir verkennen die psychische Realität in ihren bewussten und unbewussten Anteilen, wenn wir nicht die soziale Macht und den gesellschaftlichen Diskurs einbeziehen, kennen und anerkennen.
„Wirtschaftliche und soziale Fragen können hier nicht zur Behandlung kommen“. Das hatte Ernst Bloch in der Zeit der Arbeitslosigkeit, der Wohnungsnot, des Hungers nach dem 1.Weltkrieg in einer Wiener psychoanalytischen Beratungsstelle für verhinderte Selbstmörder als Aushang gefunden (zitiert im „Prinzip Hoffnung“ (1979, S. 72). Natürlich könnte man dies so verstehen, dass es in der psychoanalytischen Beratungsstelle keine finanzielle Unterstützung gibt oder keine Arbeitsstellen vermittelt werden. Aber Bloch versteht den Aushang offenbar so, dass es die zentralen, Depressionen auslösenden Sorgen und Ängste sind, die die Psychoanalyse, in einer Art von Wolkenkuckucksheim schwebend, nicht sähe, die nicht Thema sein dürfen, ausgeklammert seien. Bloch ging davon aus, dass damals über 90% der Selbstmorde aus wirtschaftlicher Not geschahen.
Aber damit bleibe auch gerade das verborgen, worum es der Psychoanalyse erklärtermaßen geht: Das Innenleben bleibt verborgen, wenn wir das Außen nicht sehen, das Innen erschließt sich erst über das Außen.
„Verständlicherweise war vom Innenleben des verhinderten Selbstmörders auf diese Art wenig zu erfahren.“ (1979, S. 72).
Psychoanalyse entmaterialisiert (Ludwig Rubiner); indem sie nur das Innen (der „psychischen Realität“) sieht, - sieht sie es nicht. Letztlich steht hinter der Vernachlässigung des Außen die Vernachlässigung der existentiellen Grundlagen der Selbsterhaltung, theoretisch und praktisch.
„Der Hungerstachel“ wird von der Psychoanalyse „sekretiert“ wie Bloch sagte, der “Selbsterhaltungstrieb“ ... merkwürdigerweise nicht dem Magen und Leibsystem insgesamt zugeordnet.“ Ohne Nahrung, schreibt Bloch weiter, lasse es sich nicht leben, aber ohne Liebesgenuss, ohne Befriedigung des Machttriebs und ohne „Regression zur Urzeit“, wie er gegen die Trias Freud, Adler, Jung schreibt (S.71-73).
und dieser Ausschluss von Außenwelt und Arbeitswelt wird auf die Spitze getrieben durch den Ausschluss von Vater, in der Konzentration auf die Mutter-Kind-Dyade. In der Mutter-Kind-Dyade erscheint der Ausschluss der gesellschaftlichen Realität am überzeugendsten, - was natürlich ein Irrtum ist, denn das Umfeld, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Familie, prägen selbst die Mutter-Kind-Dyade und rufen spezifische Bewältigungsstrategien hervor. In allen späteren Lebensphasen, ab der Zeit, in dem das Kind nach außen geht (Kindergarten) kann dieser Ausschluss der gesellschaftlichen Realität nur noch durch das Konstrukt aufrechterhalten werden, alle späteren Entwicklungen nur als Neuauflage der frühkindlichen Konflikte zu definieren (Erdheim 1990, S. 27).

IV.

»was Herrschaft den Individuen zufügt«wäre also das Thema der Psychologie,
einer Psychologie, der bereits Freud die Aufgabe / den Auftrag zu einer „rücksichtslosen Bloßlegung [der] Schäden und Unzulänglichkeiten“ [v] der Gesellschaft gestellt hatte (1910). Daraus auch begründete er das Selbstverständnis, die Gesellschaft „muss sich im Widerstande gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie“ und „zerstören Illusionen“; „wir weisen ihr nach, dass sie an der Verursachung der Neurosen selbst großen Anteil hat“.

Wenn das die von Freud der PA gestellte Aufgabe gewesen war, dann könnte sie diese Aufgabe aber nur erfüllen, wenn sie „Herrschaft“ überhaupt zur Kenntnis nimmt, wenn sie die Tatsache von „Herrschaft“ in ihre Überlegungen, Untersuchungen, in ihre Praxis einbezieht, reflektiert und nicht verschweigt.
Zu dem, »was Herrschaft den Individuen zufügt«, gehören auch die „Deformationen“ mit denen die Individuen auf die Zumutungen der Herrschaft antworten. bzw. die aus dem Versuch entstehen, auf die Zumutungen der Herrschaft zu antworten, aus dem Versuch,  unter diesen Zumutungen der Herrschaft zu überlebenund trotz dieser.
Die bei Maio beschriebene „Konsumentenhaltung“ der Patienten wäre ZB eine solche – deformierte - Antwort auf die gesellschaftliche Deformation ebenso wie der Wunsch, schnell wieder marktfähig zu werden
Derartige Erwartungen entstehen aus gesellschaftlichen Versprechungen, bzw. Zumutungen,  ebenso wie die Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit, die die Patienten in die Therapie mitbringen.

Die Individuen antworten also (mit/durch ihre(n) Deformationen)auf das, was Herrschaft ihnen zufügt.
Zugleich verleugnen sie aber auch diesen Zusammenhang, verleugnen, dass sie sich den Zumutungen der Herrschaft unterworfen haben, dass sie sich an diese angepasst haben, als Überlebensstrategie (Abwehrmechanismen sind Anpassungsmechanismen: Parin [vi] )

Insofern auch bringen die Individuen die Gesellschaftlichkeit, von selbst in die Analyse: die gesellschaftliche Bedingtheit ihrer Probleme und ihrer Lösungsversuche durch ihr Verhalten und ihre Interpretation ihres Verhaltens –
der Psychoanalytiker muss diese Gesellschaftlichkeit gar nicht erst rein bringen, sondern (die bereits rein gebrachte, von den Analysanden rein gebrachte Gesellschaftlichkeit) nur wahrnehmen (und gegebenenfalls thematisieren).

Das ist es (eigentlich auch) bereits, was Parin vorgeschlagen hatte, wenn er die gesellschaftliche Realität in der analytischen (therapeutischen) Arbeit präsent zu halten forderte (vermittels der „Gesellschaftskritik im Deutungsprozess“).
Er stellt(e) dem Psychoanalytiker die Aufgabe:immer die Gesellschaftlichkeit der Probleme des Pat. zu reflektieren und von daher das eigene Handeln des Therapeuten zu reflektieren und zu setzen.

Der Schritt nach außen, in die gesell Öffentlkt, bzw. Politikden Jürgen Hardt geht (und fordert): liegt durchaus auf dieser Linie.
Dieser Schritt erfordert(e) zugleich auch einen anderen Begriff von Realität sowohl von „äußerer“ Realität als gesellschaftlicher als auch von „innerer“ (psychischer) Realität (als vergesellschafteter).
Er zeigt aber auch, dass wir als „Fachleute für das Unbewusste“ zugleich aber auch einen anderen Begriff des Unbewussten benötigten: einen, der das Unbewusste nicht in die (Trieb)“Natur“ verbannt, sondern seine Quellen auch in der „Kultur“ berücksichtigt dh in der gesellschaftlichen Realität der Macht, der Herrschaft des Menschen über den Menschen.
Auch diese, die „Tatsache“ der Herrschaft gehört(e) zu den „Tatsachen des Lebens“ (facts of life) die in der kleinianisch bestimmten Traditionwieder reduziert sind auf die Quasi-Natur-Tatsachen:Zeugung, Geburt und Tod.

V.


Wenn „äußere“ Realität als gesellschaftliche zu konkretisieren ist, so ist „innere Realität“ nicht frei von gesellschaftlichen Einflüssen, Wirkungen. Sie ist Antwort auf die „äußere“, gesellschaftliche Realität, deren Verarbeitung, der über Familienmitglieder, Freunde, Kollegen, vermittelten bis hin zu den „Pseudo“-Freunden in den Medien, nicht nur der Vergangenheit des Individuums, sondern auch der Gegenwart
Gesellschaftliche ist die Realität von Anfang an sowohl die innere als auch die äußere in vielfältiger Form, Gestalten, Vermittlungsebenen bereits in der Dyade von Mutter und Kind gegeben: die Mutter vermittelt dem Kind ihre Haltung zum Leben (zu den „facts of life“)ihre Sicht auf die gesellschaftliche Realität ihreÜbernahme gesellschaftlicher Normen, Erwartungen, Bewältigungsweisen - mehr ubw als bew
Außerhalb dieser ersten Dyade warten andere:ebenso wenig frei von gesellschaftlichen Einflüssen
manche sehen in der von Vater und Kind bereits eine andere, die zweite nach der von Mutter und Kindund binden daran die Theorie der „Triangulierung“, des Ödipus (wie Freud)(und glauben damit bereits alle Ebenen der Beziehungen durchlaufen zu haben
Aber es warten noch weitere:sowohl innerhalb der Familie: die Geschwister, Großeltern, Onkel und Tanten, Cousinen und Vettern, Neffen und Nichten, Freunde der Eltern und der anderen Familienmitglieder:Sie alle bringen neue Elemente, neue psychische Realitäten, neue Sichtweisen der äußeren Realität und Umgangsweisen mit dieser in die ursprüngliche „psych Realität“
außerhalb der Familie kommen dann Schule mit Lehrer und Mitschüler, deren Eltern und weitere Familien, deren Freunde bis hin schließlich zu Kollegen, und alle Formen der Beziehung im Erwachsenenalter
Jede neue, weitere Beziehung sprengt die Ausschließlichkeit der Beziehung zwischen Zweien der vorangegangenen Ebeneund bringt Erfahrungen, Sichtweisen und Handlungsmuster die bisher noch nicht vorhanden waren:
das was wir mit „Triangulierung“ bezeichnen(und auf das Dreieck Mama-Kind-Papa beschränken) wiederholt sich auf jeder weiteren Ebene mit jeder neu hinzutretenden Beziehung
Immer haben wir Einfallstore für äußere Realität und Anlässe für deren Verarbeitungen die nicht folgenlos bleiben
Einen Einschnitt muss man allerdings herausheben:den Übergang von der Familie/Schule in den Beruf, Brückner erscheint dieser als derart gravierend, dass er ihn als „zweite Geburt“ bezeichnet
Hier wird nicht eine Ebene der Beziehung von einer weiteren abgelöst hier kommt vielmehr eine qualitativ andere Dimension dazu:die mit dem Beruf verbundene (meist hinter diesem versteckte)Dimension der Warenförmigkeit, des (Tausch)Werts
Maio sprach ja von Vertragsbeziehung die an die Stelle der Vertrauensbeziehung trete, sachlicher Beziehung statt persönlicher Beziehung
auf dieser Ebene tritt die Notwendigkeit für den Einzelnen, sich als Ware zu betrachten und zu behandeln mit unübersehbarer Deutlichkeit in Erscheinung
(im Unterschied zu den „psychologischen“ Dimensionen in den Beziehungen auf den vorangegangenen Ebenen (obwohl die Warenförmigkeit auch in diese eindringt, indirekt, vermittelt über andere Personen, Dinge (Spiele und Spielzeuge), Erzählungen usw)
Man könnte umgekehrt sagen: der (Tausch)Wert, die Warenförmigkeit, das Geld dringt deshalb in die persönlichen, familiären, freundschaftlichen Beziehungen ein, weil es (das Geld) das Medium des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist (und nicht die persönlichen Bande)
Mit dem Eintritt in den Beruf rückt dieses Medium an die erste Stelle der Orientierung, Lenkung, Beurteilung, Planung, Vorstellung, Entscheidung
Heute: etwas, was vor 40 Jahren noch keine Rolle gespielt hat – (zumindest im allgemeinen Bewusstsein nicht) – der Eintritt in den Beruf wird vielen verwehrt, zumindest erschwert Praktikum, vorübergehende Jobs, Zeitverträge USW
Aber diese Veränderung bedeutet nicht, dass ihnen damit erspart wird, unter die abstrakte Logik der Waren-Verhältnisse subsumiert zu werden, sie werden vielmehr ausgeschlossen – von der Teilhabe am Markt.
Diese (durch den Ausschluss erzeugte) Differenz überlagert und verschärft zugleich jene Differenz die Brückner im Auge hatte und die er an den Unterschieden des Alters des Berufseinstiegs festmacht und damit der durch die unterschiedliche Länge der Vorbereitung auf diesen Berufseinstieg bedingten Differenz der Lebensverhältnisse, kurz die Differenz der gesellschaftlichen Klassen:
Der Lebensabschnitt vor dem Berufseinstieg, mit „Jugend“ bezeichnet ist für die einen kurz, für die anderen länger, und deshalb für die letzteren mit der Möglichkeit der Entfaltung einer differenzierten „Kultur“ verbunden (Bruder-Bezzel & Bruder)
Solche Jugend-Kultur kann die Absetzbewegung gegen das Herkunftsmilieu der Eltern in die Gesellschaft hineintragen und damit zugleich zur Quelle und Ressource für Veränderung werden. [vii]
Veränderung von gesellschaftlich wie selbstverständlich Gegebenem und damit auch: von der PA für selbstverständlich Gehaltenem

Mein Thema war, die Notwendigkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der PA zur Kenntnis zu nehmen.
Ich habe mit einigen prominenten zustimmenden Stimmen innerhalb der pa Community versucht, diese Notwendigkeit aus der Arbeit des Psychoanalytikers selbst zu begründen.
Ich habe dann zu begründen versucht, dass diese Arbeit des Psychoanalytikers wenn er die gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb seiner Arbeit zur Kenntnis zu nehmen versucht, zugleich andere Begriffe braucht:
- einen anderen Begriff der psychischen Realität sowohl von „äußerer“ Realität als gesellschaftlicher als auch von innerer (psychischer) Realität (als vergesellschafteter)
- ebenso einen anderen Begriff des Unbewussten einen, der das Unbewusste nicht in die (Trieb)“Natur“ verbannt, sondern seine Quellen auch in der „Kultur“ berücksichtigt dh in der gesellschaftlichen Realität der Macht

Erstaunlich, dass dieser Einschnitt von der Psychoanalyse nicht ernster genommen wurde (mit Ausnahmen: Erikson, Erdheim)vielleicht spricht daraus deren Sorge die Jugend verliere den Anschluß an die Gesellschaftliche „Realität“oder besser umgekehrt: die „Gesellschaft“ verliere „ihre“ Jugend (an ihre Gegner)s. Bohleber)
in dieser (impliziten und versteckten) politischen Stellungnahme der PA zeigt sich jene, die gesamte Gesellschaft durchziehende Struktur: von Herrschaft: Die in der Differenz der Lebensgelände (nur) versteckt ist: die Spaltung der Gesellschaft in Herrschende und der Herrschaft Unterworfene. [viii]
(Differenz in die von System und Lebenswelt bei Habermas)
Diese Differenz ist tatsächlich eine, die die schrittweise Abfolge von einer Ebene persönlicher (personaler) Beziehungen zur nächstenqualitativ und grundlegend sprengt die Kontinuität, die in der bloßen Aufeinanderfolge noch liegt, vollkommen überschreitet: Triangulierung
Triangulierung meint ja:Aufsprengen eines geschlossenen Systems. Aufsprengen des Systems der Familie durch die staatlichen Institutionen:(s. Trotha)
Dieses Aufsprengen ist zugleich unbewusst - (weil sie – die Triangulierung – bis in die ersten Beziehungen von Mutter und Kind eindringt, von einer Ebene zur nächsten Ebene der personalen Kontakte mitgeschleppt (wird), alle Beziehungen durchzieht, sie „in der Wolle färbt (Brückner)

Mein Thema war, die Notwendigkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der PA zur Kenntnis zu nehmen.
Ich habe mit einigen prominenten zustimmenden Stimmen innerhalb der pa Community versucht, diese Notwendigkeit aus der Arbeit des Psychoanalytikers selbst zu begründen.
Ich habe dann zu begründen versucht, dass diese Arbeit des Psychoanalytikers wenn er die gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb seiner Arbeit zur Kenntnis zu nehmen versucht, zugleich andere Begriffe braucht:
- einen anderen Begriff der psychischen Realität sowohl von „äußerer“ Realität als gesellschaftlicher als auch von innerer (psychischer) Realität (als vergesellschafteter)
- ebenso einen anderen Begriff des Unbewussten einen, der das Unbewusste nicht in die (Trieb)“Natur“ verbannt, sondern seine Quellen auch in der „Kultur“ berücksichtigt dh in der gesellschaftlichen Realität der Macht



[i] Paul Parin (1975): „Gesellschaftskritik im Deutungsprozeß“

[ii] Weshalb der Journalist Peter Scholl-Latour auf die Frage, ob er den Nordafrikanern empfehlen würde, »unsere Demokratie« zu kopieren (29.10.11) [ii]
meinte: Sie können es selbst nicht wollen, wenn sie sehen, wie ohnmächtig unsere Parlamente sind

[iii] in einer Gesellschaft, die strukturell noch immer charakterisiert ist durch „wechselseitige u allseitige Abhgkt der gegeneinander gleichgültigen Individuen“

[iv] in das Verhältnis von Natur und Geschichte einzubringen

[v] Vortrag „Zukunft der Psychoanalyse“ auf dem Gründungskongress der IPV in Nürnberg: Freud 1910, S. 111.

[vi] Paul Parin (1977): Das Ich und die Anpassungsmechanismen. Psyche 6 (31), S. 481-515

[vii] Aufmüpfigkeit, Eigensinn; „Moden“ als Strategien der Affirmation

[viii] was Habermas in die Begriffe der Differenz von System und Lebenswelt fasst (Konkrete Beziehung – abstrakte Verhältnisse; Imaginäres - symbolisches Register)

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Literatur

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Bruder-Bezzel, A. (2005) „Wirtschaftliche und soziale Probleme können hier nicht zur Behandlung kommen. Kann die Psychoanalyse mit der Realität der Arbeitslosigkeit umgehen? (im Druck).
Brückner, P. (1972): Marx, Freud. [wieder abgedruckt in und zitiert nach: Peter Brückner (1984): Vom unversöhnlichen Frieden. Aufsätze zur politischen Kultur und Moral. Berlin (Wagenbach), S. 65-98].
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Vogl, J. (2011): Das Gespenst des Kapitals. diaphanes

 


Klaus-Jürgen Bruder

 

Dekonstruktion psychologischer Subjektvorstellungen in der Krise der Moderne: Herausforderung der Postmoderne
(Auszüge aus: Journal für Psychologie 4, 1995, 1/ 1996, 27-38)



Es gibt heute kaum einen Bereich unseres Lebens, unseres Alltags und Berufs, unserer Praxis, oder kein Gebiet des Wissens, in dem nicht von einem "tiefgreifenden Wandel" die Rede wäre: Wandel der (Wert)-Haltungen und Einstellungen, der Arbeitsbedingungen und -verhältnisse, der Lebenstile, der (gesellschaftlichen) Bedingungen insgesamt, der theoretischen Auffassungen, der praktischen Antworten, Lösungsversuche, Interventionen. Wir sind inzwischen daran gewöhnt, diesen Zustand einen "postmodernen" zu nennen. Wir bezeichnen damit einen Zustand, in dem die bisherigen - die "modernen" - Orientierungen nicht mehr funktionieren, nicht mehr greifen. Postmoderne wird so zur Diagnose des Zerfalls, der Auflösung: Auflösung der Familie, der Nachbarschaften, der gewachsenen Strukturen und Identitäten. (van Reijen 1988, 397) Diese Situation kann die Sehnsucht nach der Rückkehr der alten Zustände entstehen lassen, verbunden mit dem Festhalten an den alten Lösungsmustern und Denkschablonen.

Die "postmoderne" Antwort auf die - postmoderne - Situation zeichnet sich nicht aus durch die Trauer über den Verlust der alten, liebgewordenen Orientierungen und Denkmuster, im Gegenteil: die postmoderne Antwort ist eher beflügelt durch die Freude über die endlich gewonnene Freiheit, neue Wege wählen zu können, uns etwas Neues ausdenken zu können. Zuweilen ist sie nicht frei von Spott über die, die am Alten festzuhalten versuchen. [...]

Der postmoderne Diskurs versteht sich als eine Kritik an den Vorstellungen der Moderne, an ihren Konzepten von Rationalität und Identität, an ihrem Versagen in politischen und ökonomischen Entscheidungen, an der Legitimationsfunktion ihrer "großen Erzählungen" - von Fortschritt und Emanzipation. Was die Moderne als "Rationalität" versteht, wird von der Postmoderne vielmehr als Einschränkung unseres Blickfeldes und unserer Erfahrung erlebt. Jede sogenannte Wahrheit sei eine bloß temporäre Wahrheit. (Hassan 1987) Eine "verbindliche Zielsetzung" für Theoriebildung und -anwendung könne nicht begründet werden. Das Ziel müsse vielmehr offen bleiben. Die Bewegung auf das Ziel könne nicht als Fortschritt definiert werden. Es gebe nicht nur ein Ziel, sondern viele und der Streit über die Ziele werde immer "unvermeidlich antagonistisch" bestimmt sein. (van Reijen 1992, 286) Nicht ein Antagonismus (Lohnarbeit und Kapital) sondern viele (283) Die "großen Erzählungen" der Aufklärung und des Idealismus und des Marxismus seien - als große Erzählungen - fehlgeschlagen in ihrem Versuch, eine heterogene Wirklichkeit unter eine einzige Perspektive zu fassen, sei es der Erkenntnistheorie oder der Emanzipation. Sie erzeugten damit Terror und nicht Humanität. Diese "Delegitimierung" bereitet der Postmodernität den Weg. (Lyotard 1979, 113, 118)

Seyla Benhabib versteht den postmodernen Diskurs als Kritik der westlichen Rationalität aus der Perspektive ihrer Peripherie, vom Standpunkt derer, die von ihr ausgeschlossen wurden. (Benhabib 1992, 14) Dieser Ausschluß - der Frauen, der Kinder, der Narren und der Primitiven - war die Kehrseite der grandiosen Vision der modernen westlichen Zivilisation, der "Aufklärung". Die Aufklärung hatte versucht, das "Andere", das Heterogene, aus der als homogen vorgestellten sozialen Wirklichkeit zu eliminieren. Deshalb wird das Denken der Aufklärung im postmodernen Diskurs als "totalitäres" denunziert. Jacques Derrida erkennt im "endlosen Spiel binärer Oppositionen" den Versuch, die Anwesenheit des Anderen in den Texten der westlichen Metaphysik zu löschen. Die Logik der binären Oppositionen sei eine Logik der Unterwerfung und der Beherrschung. (Derrida 1991) "Logik des Entweder-Oder". (Horkheimer & Adorno 1944, 53) Ebenso wie für Lyotard, ist für Derrida die Differenz unaufhebbar: "Differänz". Die condition postmoderne sei kein Pluralismus, sondern Folge von unlösbaren Gegensätzen. (van der Loo & van Reijen 199o, 261) Es gibt keine Synthesis, keine "Metasprache" (Lyotard), sondern viele Sprachen, viele Arten zu reden. Zwischen ihnen bestehe ein unaufhebbarer Widerstreit. (Lyotard 1983, 1o)

Der postmoderne philosophische Diskurs reflektiert den umfassenden kulturellen Transformationsprozeß der Moderne und dessen Konsequenzen für das Subjekt. Die Situation des Subjekts heute ist durch die Singularität des Augenblicks bestimmt, durch isolierte, punktuelle Augenblicke, die nicht in einem eindeutigen Zusammenhang mit vergangenen oder zukünftigen Ereignissen stehen. Der kommende Augenblick ist ungewiß und undeterminiert. Kein Blick auf Vergangenes oder Zukünftiges vermag Sicherheit (eines Sinnes) und Handlungsorientierung zu gewähren. Die Welt bricht unaufhörlich herein. Das Subjekt wird mit der Kontingenz konfrontiert.
"Die Position des Subjekts [ist heute] schlichtweg unhaltbar geworden. Heute ist niemand mehr in der Lage, sich zum Subjekt der Macht, des Wissens oder der Geschichte zu machen. ... diese unerfüllbare Aufgabe [ist] einfach lächerlich geworden ... mit dem Universum der Psychologie und der bürgerlichen Subjektivität. Wir erleben die letzten Zuckungen dieser Subjektivität, und dabei werden immer noch neue Subjektivitäten erfunden". (Baudrillard 1983, 14o)

Das Individuum als Subjekt, "das autonome Subjekt der philosophischen Aufklärung" (van Reijen 1992, 7) verstand sich als Herr über das Objekt: der Souverän, Bourgeois. Diesen Status hatten allerdings die wenigsten. Sie verharren im Zustand des Objekts. Dem Objekt wird der Subjekt-Status angedient: unterworfen, sich unterwerfend, werde es zum Herrn. "Das Subjekt ist im Anschluß an Kant definiert durch die Doppelung von Untertänigkeit und Freiheit" (Kittler 1988, 4o2) Das Individuum zerbricht an den Zumutungen, Subjekt sein zu sollen und es nicht sein zu können: Psychische Störungen als die Folge der "Überforderung des Ich". (van der Loo & van Reijen 199o, 23o) "Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus" (Freud). Freud hat allerdings die Position des Hausherrn weiterhin offen gehalten, so getan, als gebe es noch - in der Mietskaserne, in den Kasernen der Fabrik, indem er das Ich zum "dummen August" machte, der dem "niederen Gesindel der Triebe" nicht Herr werde. Das Ich wird kontrolliert durch Wünsche, Bedürfnisse und Kräfte deren Wirkungen sowohl die Inhalte seiner "klaren und distinkten Ideen" formen, als auch seine Fähigkeit sie zu organisieren. (Benhabib 1992, 2o7) Es ist nicht die Rede davon, daß ihm die Ressourcen vorenthalten werden, die zu seiner Realisierung erforderlich wären. (s. Wahl 1989) Der Wegfall der - sowohl ökonomisch wie normativ vermittelten - Selbstständigkeit, die dem inner-directed man der frühbürgerlichen Periode seine ungewöhnliche Ich-Stärke verlieh. (Breuer 1992, 89f)

Als Teil des epistemologischen Erbes der gegenwärtigen politischen Diskurse über die Identität ist das "Ich" in und durch den binären Gegensatz zwischen "Ich" dem "anderen" gestiftet. Diese Subjekt-Objekt Dichotomie (Hegelsches Modell der Selbst-Anerkennung) bedingt indes gerade die Problematik der Identität, die sie zu lösen versucht. Die für die epistemologische Betrachtungsweise charakteristische Sprache der Aneignung, Instrumentalität und Distanzierung gehört zugleich zu einer Herrschaftsstrategie, die das "Ich" dem "anderen" gegenüberstellt. Dieser Gegensatz wird als Notwendigkeit verdinglicht, indem der diskursive Apparat verschleiert wird, der diese Binarität konstituiert. (Butler 199o, 212)

Die postmoderne Provokation besteht nicht in der Auflösung des sozialen Bandes, sondern der Auflösung des isolierten Individums: Dekonstruktion der alten Subjekt-Vorstellungen. Dezentrierung des Subjekts heißt nicht einfach: Auflösung" - nicht nur daß das nicht neu ist, sondern postmodern ist nicht die Larmoyanz der Kulturkritik, sondern die Entpathologisierung dieser Erscheinungen mit der Perspektive der Befreiung von Einschränkungen von jeglichem Determinismus, Spiel und zugleich: der Grund dafür wird in der Entwicklung von Wissenschaft, Technik, Gesellschaft gesucht. Also wenn es eine Pathologie gibt, dann ist dies eine gesellschaftliche (strukturell gegründete) nicht eine, die dem Individuum zuzuschreiben wäre.

Von "Dekonstruktion" zu sprechen, beinhaltet eine Vorannahme bzw. Vorentscheidung: die der Konstruktion: die Subjektvorstellungen der (alten) Psychologie seien als Konstruktionen zu betrachten. Laplanche bezeichnet 1991 Dekonstruktion als das Mittel, das der PsychoAnalyse "eine umfassendere Selbst-Konstruktion des Menschen" ermöglicht; Nicht durch das Mittel der Aufhebung der Amnesie, sondern durch eine Dekonstruktion der alten Konstruktionen, die einer teilweisen Aufhebung der Verdrängungen entspricht. (Laplanche 1991, 493)

Dekonstruktion räumt ein, daß Konstruktion der Grundlage der Selbstthematisierung, der Psychologie ist. Diese - neue - Konstruktion ist zugleich, wie Laplanche festhält, nicht die Aufgabe des Analytikers, sie kann nur die des Analysanden sein, dessen der sein Schicksal baut oder konstruiert, dieser kann nur Ego sein.(496) Verallgemeinert gesagt: nicht der Psychologe, sondern der andere, das Individuum selbst, jeder von uns. Diese Verallgemeinerung über das analytische Setting hinaus ist tragfähig. Der Prozeß der Dekonstruktion in der Analyse baut auf dem immer schon - auch außerhalb der Analyse - vorgängig stattfindenden Prozeß der Konstruktion auf. Der "Konstruktivismus" wäre damit eine epistemologische Voraussetzung der (neuen) Psychologie.

Auch eine zweite Voraussetzung können wir noch dem psychoanalytischen setting entnehmen: das Gespräch - zwischen zwei Personen. Als Gespräch charakterisierte bereits Freud (1926) die Analyse: als nichts anderes, als daß Analytiker und Analysand "miteinander reden". (Freud 1926; GW XI, 451) Ein Gespräch allerdings, in dem der Analytiker sich selbst befragt, in Frage stellt. "Der Analytiker weiß, daß er nichts anderes ist als ein Subjekt unter Befragung, in Befragung." (Kristeva 1993, 1o3) "Die Frage vertreibt mich aus der Illusion eines absoluten Wissens." (1o4) "Der Analytiker bezieht sein Wissen aus dem Zuhören, dh aus seinem deutenden Denken. Dieses wird nur dann ein Denken, wenn es sich zur Frage umwandelt." (1o1) "Weil die unformulierbare Empfindung oder das unformulierbare Trauma für den Analytiker eine Frage bilden, bilden sie für den Patienten einen Sinn. Sie erhalten die Möglichkeit, sich zu artikulieren, sich zu verschieben, sich aufzuarbeiten." (1o3)

Am Gespräch als Grundlage der Psychologie wären die alten (Vorstellungen) der Psychologie zu messen. Sie weichen mehr oder weniger weit davon ab: Experiment, Test sind nicht mehr als "Gespräch" erkennbar und dennoch sind sie - verfremdete Formen davon. Die Dekonstruktion der (alten) Psychologie müßte also selbst als Gespräch sich verstehen (zwischen gleichberechtigten Partnern, oder von oben nach unten, mit je unterschiedlichem Ergebnis) - wenn sie zum Ergebnis haben wollte: was Laplanche für die Analyse erwartet: eine - teilweise - Aufhebung der Verdrängungen.

Dekonstruktion: verweist auf Konstruktion, als den Prozeß, in dem wir ständig engagiert sind. Konstruktion selbst, als Übersetzen, (Deuten) - der elterlichen Botschaften gefaßt, enthält diese Bezogenheit auf den anderen; und zwar als ständigen Prozeß. Damit ist festgehalten: das Individuum / Subjekt / Selbst ist nicht isoliert, sondern eingebunden in diese Beziehungen, es macht Erfahrungen (nur) in Beziehungen, entsteht mit seinen Beziehungserfahrungen, reproduziert sich in ihnen, wiederholt die Erfahrungen seiner Beziehungen, stellt Beziehungen entsprechend seinen Erfahrungen her: Wiederholung, aber im Deleuze-schen Sinne. "Die Identität als Praxis, Bezeichnungspraxis zu verstehen, bedeutet, die kulturell intelligiblen Subjekte als Effekte eines regelgebundenen Diskurses. Die Regeln, die die intelligible Identität anleiten, operieren durch Wiederholung. Durch sie wird das Subjekt nicht determiniert. Handlungsmöglichkeit ist in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholung zu variieren". (Butler 199o, 213)

Die postmoderne Herausforderung, die die Dekonstruktion psychologischer Subjektvorstellungen beinhaltet, liegt in der Verabschiedung der Psychologie als Leitwissenschaft für die Gestaltung des - guten - Lebens: "Jedermann wird seine eigene Geschichte und seinen eigenen Stil selbst bestimmen können; aber dieses "Eigene" ist eine Illusion." (van der Loo & van Reijen 199o, 262)


Literatur:

Adorno, Th. W. (1974): Philosophische Terminologie. Bd. 2. Frankfurt

Baudrillard, J. (1983): Les stratégies fatales. Paris. [Die fatalen Strategien. München: Matthes & Seitz, 1985]

Benhabib, Seyla (1992): Situating the Self. Gender, Community and Postmodernism in Contemporary Ethics. New York: Routledge

Breuer, Stefan (1992): Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation. Hamburg: Junius

Bruder, K.J. (1993): Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie. Frankfurt: Suhrkamp

Butler, Judith. (199o): Unbehagen der Geschlechter. (Frankfurt: Suhrkamp 1991)

Derrida, J. (1991): Gesetzeskraft. Der "mythische Grund der Autorität". Frankfurt: Suhrkamp

Foucault, M. (1972): L`Ordre du discours. Paris: Gallimard. [dt.: Die Ordnung des Diskurses. München: Hanser 1974]

Foucault, M. (1982): Interview mit Foucault. In: Dreyfus, H.L. & R. Rabinow 1982. Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics. Chicago. [dt. in: Dreyfus, H.L. & Rabinow, P.: Michel

Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt: Athenäum 1987]

Hassan, I. (1987): Pluralismus in der Postmoderne. In: Kamper, D. & Van Reijen, W. (Hg.) Die unvollendete Vernunft. Frankfurt

Horkheimer, Max & Theodor W. Adorno (1944): Dialektik der Aufklärung. Amsterdam: de Munter (1968)

Kittler, F. (1988): Das Subjekt als Beamter. In: In: Frank, M., Raulet, G. & van Reijen, W. (Hg.) Die Frage nach dem Subjekt. Frankfurt: Suhrkamp, 4o1-42o

Kristeva, Julia (1993): Les nouvelles maladies de l'âme. Paris: Librairie Arthème Fayard [dt.: Die neuen Leiden der Seele. Hamburg: Junius 1994]

Laplanche, Jean (1991): L'interprétation entre déterminisme et herméneutique: une nouvelle position de la question. Revue Française de Psychoanalyse, 55 [dt.: 1992. Deutung zwischen Determinismus und Hermeneutik. Eine neue Fragestellung. In: Psyche XLVI, 6, Juni 1992, 467-498]

Lyotard, J.-F. (1979): La condition postmoderne. Paris: Editions de Minuit. [Das postmoderne Wissen. Wien: Böhlau 1982]

Lyotard, J.F. (1983): Le Différend. Paris: Editions de Minuit. [dt.: Der Widerstreit. München: Fink 1987]

Lyotard, J.-F. (1994): Interview mit Lyotard. taz 13.8.94 (Jörg Herrmann)

van der Loo, Hans & Willem van Reijen. (199o): Modernisierung. München: dtv (1992)

van Reijen, Willem (1988): Das unrettbare Ich. In: Frank, M., Raulet, G. & van Reijen, W. (Hg.) Die Frage nach dem Subjekt. Frankfurt: Suhrkamp 1988, 373-4oo

van Reijen, W. (1992): Allegorie und Melancholie. Frankfurt: Suhrkamp

Wahl, K. (1989): Die Modernisierungsfalle. Frankfurt: Suhrkamp

 

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