Klaus-Jürgen Bruder | |
Klaus-Jürgen Bruder
Die Verdrängung der Frage nach dem Sinn - Psychotherapie und der Diskurs der Macht
Wir erleben gegenwärtig (März 2011) den Zusammenbruch der
bisher bestehenden Sicherheiten und Verbindlichkeiten, die Erosion der
Selbstverständlichkeiten, die Auflösung der „schon immer“ gültigen Gewissheiten,
das Zerbröckeln auf allen nur denkbaren Ebenen, der Ziele und des Horizontes,
in dem und wofür wir gearbeitet, gestrebt, uns gesehnt haben, das Schwinden
des Sinnes dessen was wir tun. Während dieser Text hier entsteht, kämpfen im fernen Japan
die dem Tode geweihten Helfer ihren verzweifelten Kampf gegen den unerbittlichen
Fortgang der Selbst-Zerstörung des dritten Reaktorkerns von Fukushima.
Zum zweiten Mal werden die japanischen Inseln von jenem Unheil erschüttert,
mit dem die Atom-Energie sozusagen die Bühne der Geschichte betreten
hatte. Damals war die Bombe über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen worden,
kam wörtlich „von oben herab“, über die schutzlose Bevölkerung. Dieses
Mal war sie bereits vor Ort gestanden, sie musste nur noch gezündet
werden, sich selbst entzünden. Die Japaner selbst haben sie dort hingestellt,
niemand hat sie ihnen aufgezwungen. Die Japaner? Was sollte das für einen Sinn haben? Sich selbst
die Waffen der Zerstörung ihres Lebens und ihrer Lebensgrundlagen bereit
zu stellen? Nein, das war nicht der Sinn gewesen, weshalb die Japaner
den Reaktor aufgestellt hatten. Der Sinn war im Gegenteil, Produktivität,
Leben, Wohlstand, Fortschritt zu schaffen, mit dem Strom, den der Reaktor,
alle Reaktoren, 60 an der Zahl, herstellen sollten. Die Atomphysik –
die gefeierte Königin der Wissenschaften – hatte Schach gespielt. Dass
diese Technologie so gefährlich sein kann, das „wusste niemand“! Wirklich nicht? War man nicht gewarnt – durch den nicht
weniger verheerenden „Unfall“ von Tschernobyl? Nein, das waren ja „die
Russen“ gewesen, die konnten die Technologie ja nicht beherrschen. Und
Harrisburg? War das auch in Russland? Nein! „Man“ wusste, was geschehen
könnte – und trotzdem? Es ist sinnlos, zu fragen, warum, solange es
das „trotzdem“ gibt. Vielleicht sollten wir nicht fragen, warum haben die Japaner
das gemacht? Bei uns gibt es ebenso genügend Macher, die „weiter so“
fordern, ohne dass sie Japaner wären. Worin liegt der Sinn dieses unbeirrten
und unbeirrbaren „weiter so!“? Nicht nur in der Atomfrage, in der Frage
der Regelung der Finanzmärkte ebenso wie in der der Armut, des Hungers,
der Krankheiten, der Kriege. Im März 2006 hatten sich Psychotherapeuten aller Richtungen
und Schulen in Bonn versammelt, um ihr „Unbehagen“ über die Verdrängung
der Frage nach dem Sinn zu artikulieren, und zwar der Verdrängung innerhalb
der „(Psychotherapie-)Kultur“. Im Einladungstext zu dieser Versammlung
hieß es sinngemäß: Wir beobachten in der Psychotherapie eine Verengung
des Denkens auf naturwissenschaftlich orientierte Ansätze. Sinnverstehende,
einem humanistischen Menschenbild verpflichtete psychotherapeutische
Traditionen haben hierin keinen Platz. Sie sollen inhaltlich, politisch
und ökonomisch verdrängt und ausgegrenzt werden.
[i]
Damit ist eigentlich schon alles gesagt: Verdrängung der
Frage nach dem Sinn – das ist tatsächlich der „Sinn“ dieser Verdrängung
sinnverstehender psychotherapeutischer Verfahren
(und Traditionen). Diese Frage nach dem Sinn soll nicht mehr gestellt
werden. Naturwissenschaften stellen diese Frage nicht. Die Übertragung
der naturwissenschaftlichen Sichtweise, ihres methodologischen Vorgehens,
ihrer Ergebnisse auf Psychotherapie führt deshalb zum Ausschluss der
Sinnfrage. Ist das der „Sinn“ der naturwissenschaftlichen Verfahren?
Zunächst: die Erklärung des Psychischen durch naturwissenschaftlich
erfassbare Prozesse i.S. der Neurophysiologie ist ein – erkenntnistheoretisch
– unsinniges Projekt. Biologie und Psychologie sind zwei verschiedene
„Sprachspiele“ – wie Habermas (2005, 170) zutreffend festhält. Sie konstruieren
unterschiedliche Gegenstände mit unterschiedlichen Methoden. Das Psychische: das Erleben, Verhalten, Denken, Fühlen,
Wollen usw. des (menschlichen) Subjekts ist nicht auf die Ebene biologischer,
neurophysiologischer Prozesse zu reduzieren. Es ist dort nicht abbildbar,
nicht wiederzufinden (Bruder-Bezzel
& Bruder 2004). Keineswegs ist in Frage zu stellen, dass
dem Psychischen biologische Prozesse parallel laufen. Nur: die Vorstellung,
die biologischen seien die Erklärung der psychischen ist vollkommen
naiv. I. Biologie und Psychologie: zwei verschiedene „Sprachspiele“ Wie stellt sich der Gegenstand der beiden Wissenschaftsbereiche
dar? Auf der Ebene der Biologie, der Neurophysiologie führt Manfred
Velden (2005) überzeugend vor Augen, dass allein die dort zu erwartenden
Zahlengrößen möglicher Beziehungen nicht gestatten, ein Verständnis
selbst der Hirnfunktionen zu erwarten – „auch in 1000 Jahren nicht“
– wie John Eccles (1993) von ihm zitiert wird. Milliarden von Synapsen,
von denen jede tausende von möglichen Verbindungen zu anderen besitzen,
in denen Information auf vielfältige, nicht eindeutige Weise transportiert
werden, lassen bereits von der Seite der Biologie die Erforschung scheitern.
Versuche, Psychisches evolutionsbiologisch zu erklären, seien eher als
„adaptive storytelling“ (Rose, Lewontin & Kamin, 1984) einzuschätzen.
Hinzu kommt, dass die Methoden der Naturwissenschaften:
die (ver)objektivierende (externe) Beobachtung – nicht übertragbar ist
auf das subjektive Erleben, Denken, Fühlen, Wollen, nicht einmal auf
das Verhalten von (menschlichen) Individuen. Es gibt im psychischen
keine allgemein gültigen „Gesetze“ (des Verhaltens usw), denn dieses
ist höchst individuell, ständigem Wandel unterworfen, der vor allem
kulturell und gesellschaftlich bedingt ist. Was es dort gibt, sind „Normen“,
Vereinbarungen, Übereinkünfte – wenngleich sie dem einzelnen oft nicht
als Übereinkünfte erscheinen, weil er an ihrem Zustandekommen nicht
beteiligt gewesen war, sondern als Faktizität, oder Zwang, oder gar
Gewalt. Die Versuche innerhalb der Psychologie, den naturwissenschaftlichen
Charakter ihrer Disziplin zu sichern, scheitern am Gegenstand: der fehlenden
Allgemeingültigkeit der „Subjektivität“. Mangelnde Reflexion dieses
Fehlens, mangelnde Reflexion des Charakters des Gegenstands der Psychologie,
führt, wie Velden zeigt, zu einer trial & error Haltung: Korrelationen
zwischen Phänomenen zu berechnen, bzw. deren Signifikanz, ohne Sinn
(und Verstand). Rozeboom (1960, S. 417) diagnostizierte “fundamentales
Missverstehen des Wesens rationalen Schließens“, d.h. mit Instrumenten
zu arbeiten, die naturwissenschaftlich völlig unbrauchbar sind: die
wichtigste Fehlerquelle liegt bereits darin, dass übersehen wird, dass
die Höhe der Signifikanz von der Größe der Stichprobe abhängig ist.
Das Gleiche gilt für die Übernahme von Modellen und Theorien
aus den Naturwissenschaften. Diese können in die Psychologie lediglich
in metaphorischem Sinne übertragen werden, d.h. wieder: in einem Prozess
diskursiver Verständigung eingebracht, (wo sie – wiederum diskursiv
vermittelte – Wirkung entfalten können). Naturwissenschaftliche Erklärungen
im Bereich der Psychologie haben den Charakter von Metaphern, von als-ob-Vergleichen,
die in der Interaktion mit anderen erst als brauchbar angenommen werden
(können) oder verworfen. Das Argument der unermesslichen Zahl von möglichen Zusammenhängen
auf der biologischen Ebene gilt gewiss auch – in vergleichbarem Ausmaß
– auf der Ebene des Psychischen. Nur gibt dies keine Grundlage für die
leichtere Herstellung von Beziehungen zwischen Biologie und Psychologie
ab. Auf der Ebene des Psychischen wird allerdings das Problem nicht
brisant, weil wir dort Möglichkeiten (entwickelt) haben, damit umzugehen,
die wir auf der biologischen Ebene, auf der Ebene der Synapsen prinzipiell
nicht haben: die Möglichkeit der Verständigung zwischen Meinungen, Hypothesen,
Interpretationen, den Austausch von Äußerungen, Sätzen, Satzformationen,
Diskursen und Diskursarten, Intuition und Empathie im Alltag – eben
die diskursive Verständigung über Sinnfragen, deren Austausch – statt
der verobjektivierenden Formulierung experimentell überprüfbarer Sachverhalte,
bzw. Hypothesen. Auf der Ebene der jeweiligen Wissenschaften – im Unterschied
zu deren Gegenstandsbereichen – finden wir diese Dimension des Sinns:
der Interpretation und Deutung, der diskursiven Verständigung, und zwar
im Austausch von Forschungsergebnissen, selbst in den Naturwissenschaften.
Knorr-Cetina geht sogar soweit, diese als Gegenstands-konstituierend
anzunehmen. Das würde bedeuten: die Verdrängung der Fragen nach dem
Sinn, die Verdrängung der Gegenstands-konstituierenden Rolle des Diskurses
ist auch in den Naturwissenschaften eine tatsächliche Verdrängung. Die Übertragung der Naturwissenschaften (naturwissenschaftlichen
Verfahren wie Orientierung) auf die Psychotherapie führt also in doppelter
Weise zur Verdrängung dessen, was die Wissenschaft konstituiert, ihren
Gegenstand wie ihre Methoden, zum Ausschluss der Sinnfrage. II. Die kausal-deterministische Sichtweise verstellt
den Blick auf die psychologischen Zusammenhänge Was aber sind in der Psychotherapie naturwissenschaftliche,
naturwissenschaftlich orientierte Verfahren? Verhaltenstherapie? Sicher
nicht, wenngleich diese den Anspruch haben mag, naturwissenschaftlich
zu sein. Pillen? Natürlich ist das Geben (und Nehmen) von Pillen ein
sozialpsychologischer Vorgang, eingebettet in die Beziehung zwischen
Arzt und Patient und damit der Deutung und der (Miß)verständnisse des
Sinns offen – ebenso wie in der Verhaltenstherapie. Aber aus einer naturwissenschaftlich
orientierten Haltung heraus wird diese Beziehung ausgeblendet. Die Wirkung
wird der Pille selbst zugeschrieben, die – als Ergebnis der Anwendung
naturwissenschaftlicher Forschung – in einen ebenso naturwissenschaftlich
gedachten (erforscht gedachten) Zusammenhang des Organismus eingreift.
Andere Verfahren, chirurgische z.B. wie Operieren berühren Psychotherapie
nur am Rande. Es ist die kausal-deterministische Sichtweise der naturwissenschaftlichen
Orientierung, die den Blick auf die (sozial)psychologischen Zusammenhänge
verstellt – nicht nur des Gebens und der Wirkung der Pille: der Arzt,
der Pillen bei „Depression“ verschreibt, reflektiert (meist) nicht,
dass er dies innerhalb einer Beziehung tut, in der die Frage nach Sinn
und Bedeutung des Tuns eine Rolle spielt und dass hinter dem Leiden
des Patienten ebenso eine Bedeutung, ein Sinn steckt, – sondern die
kausal-deterministische Sichtweise verstellt damit zugleich den Blick
auch auf die therapeutische Wirkung der Beziehung, des Gesprächs – nicht
nur in der Psychotherapie. Auch in der Psychotherapie ist das Gespräch,
genauer: das Sprechen des Patienten in Anwesenheit des Therapeuten,
das Zentrum der heilsamen Beziehung. Das Besondere des psychotherapeutischen
Gesprächs besteht nach III. Die Rolle der Medien und der Pharma-Industrie Sicher: nicht nur die Ärzte, die Patienten selbst haben
die Frage nach dem Sinn (ihrer Beschwerden) selbst bereits verdrängt,
kommen ebenfalls mit einem anderen Bewusstsein, wenn sie nach der Pille
fragen. Sie gehen lieber und lange Zeit zum Arzt, bevor sie sich zur
Psychotherapie bereit finden. Und jeder Therapeut kann ein Lied davon
singen, wie schwierig es ist, die Patienten wieder von den Pillen herunter
zu bekommen. Die Vormachtstellung der naturwissenschaftlichen Orientierung
ist also nicht nur durch die Ärzte den Patienten nahegebracht, sondern
sie ist ein Phänomen des allgemein verbreiteten Denkens. Insofern gehen
naturwissenschaftlich orientierte Psychotherapie und Erwartung der Patienten
konform. Woher diese Konformität? Aus allen Kanälen aller Medien schallt sie uns entgegen:
die Sinnfrage sei unsinnig, es gehe vielmehr darum, das richtige Mittel,
die richtige Behandlung gegen die Krankheit einzusetzen. Es sei „unsinnig,
nach der Mutter, der Geschichte, der Vergangenheit zu fragen“, ebenso
unsinnig sei es, nach den gegenwärtigen Verhältnissen der Beziehung,
der Arbeit des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu fragen (wie Borwin
Bandelow, Psychiater in Göttingen in einem Bericht in der taz vom 25.11.05,
S. 18 über den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde „DGPNN“ in Berlin zitiert wurde).
Es komme darauf an, die Mechanismen und Funktionsweise des – seelenlosen
– Körpers, einzelner Organe, bzw. des Gehirns zu kennen und dann das
richtige Mittel einzusetzen. Dass es uns aus allen Kanälen entgegen dröhnt, erzeugt diese
(gesellschaftliche) Konformität. Die Interessen, die dahinter stecken,
denen die Medien das Sprachrohr geben, sind die der Industrie, in aller
erster Linie der Pharma-Industrie: die Vertreter der Pharma-Konzerne
saßen bei allen Besprechungen der Gesundheitsreform mit am Tisch. Dass die Pharma-Industrie ein Interesse daran hat, ihre
Produkte zu verkaufen und nicht Psychotherapie befördert, die solche
Produkte nicht braucht, ist einleuchtend. Dass die Medien sich dafür
zur Verfügung stellen, ist schon weniger einsichtig, aber inzwischen
reichlich bekannt (Bourdieu 1996, Chomsky 2002). Die Medien sind ja
nicht das, wofür sie sich ausgeben und wofür wir sie halten: sie informieren
uns nicht unabhängig, sondern im Interesse derer, über die sie berichten
(zu informieren vorgeben). Sie sind deren Botschafter, die bei uns für
diese werben und das können sie nur, wenn sie ihre Unabhängigkeit demonstrativ
behaupten. Sie betreiben Werbung für die Pharma-Industrie, nicht nur
indem sie direkt für deren Produkte werben, sondern zugleich indirekt
durch ihre Berichterstattung über Krankheit und Gesundheit, Medizin
und Heilung, indem sie die naturwissenschaftlichen (oder Pseudo- naturwissenschaftlichen)
Erklärungen verbreiten und so den allgemeinen Konsens über Sinn und
Naturwissenschaft herstellen. Mit naturwissenschaftlichen Argumenten sind die ökonomischen
Interessen der Industrie, vor allem der Pharma-Industrie besser zu vertreten
als mit humanwissenschaftlichen. Das naturwissenschaftliche Denken ermöglicht,
Erfolgsnachrichten zu verkünden. Es fasziniert, indem es den Wirkmechanismus
(der Pille) plausibel zu „erklären“ vermag und gleichzeitig den Humanwissenschaften
den Boden zu entziehen versucht: indem es durch die (Berichte über die)
Forschung in Genetik, Neurowissenschaften usw. den Menschen als nichts
anderes erscheinen lässt, als ein nach naturwissenschaftlichen Gesetzen
funktionierendes Labor, oder Computer. Noch vor unserem subjektiven
Entschluss, etwas zu tun, habe das Hirn sich bereits dafür entschieden
(Libet, Gleason, Wright & Perl 1983; Roth 2003). Wenn wir diese
Hirnaktivität selbst (direkt) beeinflussen – was die Naturwissenschaft
als Möglichkeit verspricht – brauchst Du Dir keine überflüssigen Gedanken
zu machen, kannst Du Dir die Frage nach dem Sinn der Symptome sparen,
die Frage nach ihrer Bedeutung, nach Deiner Biographie und Deinen Plänen
und (Zukunfts-) Ängsten. Das ist sogar das Entscheidende: die Behauptung, alles naturwissenschaftlich erklären zu
können – natürlich mit dem Versprechen, diese Erklärung unmittelbar
oder in nächster Zukunft therapeutisch umsetzen zu können: der Speck,
mit dem man die Mäuse fangen möchte. IV. Störungsspezifische Behandlung und Fallpauschale Diese „Botschaft“ erreicht uns, wirkt sich aus auf das Bewusstsein
der Bevölkerung, geht in die Gesetzgebung (zur Gesundheitsreform) ein,
selbst in das Denken der Therapeuten. Auch über die Therapeuten wird
die naturwissenschaftliche Orientierung in die Psychotherapie eingeführt.
Die Therapeuten versprechen sich von dieser Forschung eine – naturwissenschaftliche
– Bestätigung ihrer Konzepte. Eine Auswirkung auf ihre Verfahren ist
wohl eher nicht zu erwarten: wohl kein Therapeut wird sich „direkt“
an die Hirnströme seiner Patienten anschließen
[ii]
, er wird wohl nicht auf die Vermittlung von Sprache
und Deutung verzichten wollen. Aber indirekt wird die naturwissenschaftliche
Orientierung auch über diesen Weg eingeführt. Wenngleich die Argumente gegen die naturwissenschaftliche
Orientierung in den Humanwissenschaften bekannt und nicht neu sind –
Habermas fühlt sich „ins 19. Jhd. zurückversetzt“ (2005, S. 155), zwingen
die Neurowissenschaften die Therapeuten trotzdem, sich mit ihren Versprechungen
und Behauptungen auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung können
die Therapeuten nicht leisten – als Laien auf dem Gebiet. Sie nimmt
ihnen gleichwohl die Zeit und Kraft für ihre eigentlichen Aufgaben,
lenkt sie von ihren Problemen ab. Eine besonders problematische Auswirkung im Bereich der
Diagnostik ist die damit verbundene Möglichkeit, die Vergütung durch
die Kasse - über die „störungsspezifische“ Diagnose-Ziffer - an eine
sogen. „Fallpauschale“ zu koppeln, d.h. die Höhe der Vergütung von Art
und Menge der tatsächlich erbrachten Leistung zu entkoppeln. Diese Möglichkeit
wird seit 1996 zur Vergütung einzelner definierter medizinischer Leistungen
– beispielsweise Blinddarm- und andere Operationen - in Krankenhäusern
angewendet. Der Fallpauschalen-Katalog 2009
[iii]
umfasst aber auch psychische
„Krankheiten“ und „Störungen“: „Geriatrische frührehabilitative
Komplexbehandlung bei psychischen Krankheiten und Störungen“; „Psychiatrische
Behandlung“; „Schizophrene, wahnhafte und akut psychotische Störungen“;
„Schwere affektive Störungen, Angststörungen oder andere affektive und
somatoforme Störungen“; „Ess-, Zwangs- und Persönlichkeitsstörungen
und akute psychische Reaktionen oder psychische Störungen in der Kindheit“;
„Alkohol- und Drogengebrauch
und alkohol- und drogeninduzierte psychische Störungen“. Die „Fallpauschale“ ist das Projekt, das Psychotherapie zentral betreffen wird, und zwar durch
den unmittelbaren Zusammenhang, der zwischen Krankheitsbild, Symptom
einerseits und Behandlungsart und Dauer andererseits behauptet wird.
Dieser Zusammenhang ist nicht zwingend, im Gegenteil: die
naturwissenschaftliche Orientierung führt zur Annahme eines solchen
Zusammenhangs, z.B. mit der Vorstellung, Angstkrankheiten seien am effektivsten
mit dieser, Depressionen dagegen mit einer anderen ganz bestimmten Therapie-Form,
mit bestimmter Stundenzahl und Frequenz, entsprechend den Vorgaben eines
Manuals zu behandeln, usw. (s. Frohburg 2006) Diesem Denken versuchten die Psychoanalytiker mit der Unterscheidung
von symptomatischer und psychodynamischer Diagnostik zu begegnen, aber
wie wir am Beispiel des Nachgebens der DGPT, aus Rücksicht auf den Datenschutz
eine einheitliche Diagnose(ziffer) für alle Störungsformen zu verwenden
(F 48.9) sehen, befindet sich dieser Widerspruch bereits auf dem Rückzug.
Diagnostik ist – jedenfalls innerhalb der Psychotherapie
– gewiss kein naturwissenschaftliches Verfahren, sondern eine – soziale
– Entscheidung, auf einem Kontinuum von Verhaltens- und Erlebensdimensionen
einen qualitativen Schnitt einzuführen, der die beiden Hälften des Kontinuums
in zwei qualitativ unterschiedene Klassen von Symptomen aufteilt. Die Fallpauschale wird die Psychotherapie mehr verändern,
als alles andere, weil sie in die Psychotherapie selbst eingreift, vermittelt
über den zur („Störungsspezifischen“) Diagnostik verpflichteten Therapeuten.
Die Symptomorientierung wird gestärkt, ein verengtes Bild von Heilung
und psychischer Gesundheit befördert. Es werden alle entscheidenden
Dimensionen der therapeutischen Haltung über Bord geworfen durch die
Fokussierung auf das Symptom, die Haltung des Therapeuten wird gezielter,
dem Erzählen des Patienten wird nicht mehr der zu seiner Entfaltung
notwendige Raum gegeben, die Freiheit von Assoziieren und frei-schwebender
Aufmerksamkeit wird zerstört. Die Fokussierung auf die „sogen. „Störung“ ist die Kehrseite
der Propagierung einer „verfahrensübergreifenden“ Psychotherapie – hinter
der sich doch wieder nur der „imperialistische“ Anspruch einer einzigen
Therapieform verbirgt, die sich als die alleinige „wissenschaftliche“,
weil empirisch überprüfte darzustellen versucht: die Verhaltenstherapie.
So Schulte, der „jede empirisch geprüfte Form von Psychotherapie zur
Verhaltenstherapie“ erklärte (zit.n. Kächele & Strauß 2008, S. 409f.),
oder Linden, der 2007 vorgeschlagen hatte, der Verhaltenstherapie überhaupt
das Etikett „evidenzbasierte Therapie“ zu reservieren (S. 149). Diesem Ansinnen widerspricht zwar das im Auftrag
des Bundesministeriums für Gesundheit erstellte „Forschungsgutachten
zur Ausbildung von Psychologischen PsychotherapeutInnen und Kinder-
und JugendlichenpsychotherapeutInnen“: „Ohne eine Berücksichtigung der
unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen und –methodischen Hintergründe
der verschiedenen Verfahren und des jahrzehntelang erworbenen Erfahrungswissens
in einem spezifischen Verfahren kann eine Übernahme verfahrensfremder
Bausteine allerdings zu einem Professionalisierungsverlust führen“ (Strauß
et al. 2009, S. 371). Damit wird aber zugleich die (an sich sinnvolle)
Verlegung der Ausbildung an die Universitäten problematisiert, denn
diese würde - angesichts der ungleichen Repräsentanz der unterschiedlichen
Verfahren an den Universitäten, speziell der massiven Überrepräsentiertheit
der Verhaltenstherapie und der entsprechenden Unterrepräsentiertheit
der Psychoanalyse – von anderen Verfahren ganz zu schweigen – die universitäre
Ausbildung unter dem Etikett einer „verfahrensübergreifenden“ Ausbildung
auf eine Ausbildung in Verhaltenstherapie reduzieren. Diese Tendenz
ist bereits in dem Modellvorhaben der Techniker Krankenkasse „Qualitätsmonitoring
in der ambulanten Psychotherapie“ realisiert, in dem die innerhalb der
Verhaltenstherapie entwickelten Qualitätsmerkmale und -Kriterien in
die Überprüfung der Qualität der anderen Therapieverfahren übernommen
werden. (s. Sasse 2010). Andererseits entspricht dieser „Imperialismus“
durchaus vorhandenen Anforderungen an die Psychotherapie, und zwar solchen,
die aus der in der Folge der „Gesundheitsreformen“ entstandenen „Gesundheitswirtschaft“
kommen, wie Das Symptom, auf das sich die „störungsspezifische Diagnostik
stürzt, ist aber erst nur die Eintrittskarte, die der Patient vorweist
und die „Symptomfreiheit“ tritt häufig relativ bald in der Therapie
ein, wenn der Patient genügend Vertrauen gefunden hat, das Symptom fallen
lassen zu können und sich dem zuzuwenden, was er, auch mit Hilfe des
Symptoms, verdrängt hatte, was ihn aber grundlegend belastet. Folgte
man der Symptom-orientierten Diagnostik, so wäre dann die Therapie zu
Ende, wenn sie beginnen sollte. Vom Therapeuten als Diagnostiker und
Behandler wird ein Wissen verlangt, das er gar nicht hat. Denn Therapie,
psychoanalytische zumal, ist ein – begleiteter – Weg ins Ungewisse,
Unbewusste. Vor diesem Weg haben viele Patienten Angst. Deshalb klammern
sie sich an ihre Symptome und deshalb greifen sie zur Pille, die verspricht
die Symptome zum Verschwinden zu bringen – ohne die Gefahr, das dunkle
Ungewisse sichtbar werden zu lassen. Daher die naturwissenschaftliche
Orientierung, die in der Pille sich materialisiert und die dem Therapeuten
das Wissen zuschreibt, dass alles in seinen kontrollierbaren Grenzen
gehalten werden kann – der Weg, die Frage nach dem Sinn der Symptome
nicht stellen zu müssen. V. Die Allianz von Psychoanalyse und Neurowissenschaften
in der Negation der Willensfreiheit Wir können darin eine gesellschaftlich allgemeine Haltung
erkennen, nach dem Sinn dessen, was wir tun, was uns begegnet und widerfährt,
nicht zu fragen. Ist diese Haltung nicht „konsequent“, angesichts der
herrschenden Unsinnigkeit eines immer größeren Teils unseres Lebens,
seiner gesellschaftlichen Regelung? Ist es nicht unsinnig, dass immer
mehr Menschen keine Arbeit finden, von der sie leben können und gleichzeitig
die Arbeitszeit verlängert wird? Ist es nicht unsinnig, dass immer mehr
gesellschaftlicher Reichtum vergeudet wird, in Produkten, an die wir
zwar gewöhnt sind, deren Wert aber immer mehr lediglich in ihrer Neuheit
besteht, während auf der globalisierten Erde täglich Millionen an Hunger
sterben müssen? An diesem Unsinn, dieser Sinnlosigkeit nicht zu verzweifeln,
erfordert ungeheure Energien an Verdrängung, um die Sinnfrage nicht
aufkommen zu lassen. An dieser Verdrängung arbeiten die Medien und PR-Agenturen,
die gleichzeitig das Geschäft der Unternehmen, der Pharmaindustrie besorgen,
die uns die Mittel der Verdrängung zur Verfügung stellen. Die Wirkung dieser ihrer Reklame für die naturwissenschaftliche
„Therapie“, für die Pillenindustrie, die Pharmakonzerne geht also über
den unmittelbaren – behaupteten – Zusammenhang von Naturwissenschaft
und Therapie hinaus. Und dies nicht als „Neben“wirkung, sondern als
durchaus beabsichtigte wenn man bedenkt, dass die Feier der Erfolge
der Naturwissenschaften, der Gehirnforschung, der Genetik, sich vornehmlich
dem Bereich von Willens- und Entscheidungsfreiheit zuwendet (Möhlenkamp
2008), dass pseudophilosophische Diskussionen vom Zaun gebrochen werden,
mit der triumphalistischen Botschaft: “die Willensfreiheit habe keine
naturwissenschaftliche Erklärung“. „Schlecht für die Naturwissenschaften“ – müssten wir sagen,
könnten wir sagen, wenn wir cool genug blieben, Naturwissenschaft als
lediglich ein anderes Sprachspiel zur Kenntnis zu nehmen und nicht als
eine „grundlegendere“ Wissenschaft, eine, die die Psychologie fundieren
würde. Sprachspiele haben es an sich, dass nicht das eine dem anderen
übergeordnet werden kann (aus epistemologischer Perspektive; s. Lyotard
1983) – dass es vielmehr eine Frage der Hegemonie, des hegemonialen
Anspruchs ist, wenn ein Sprachspiel das andere dominieren möchte, wie
das gegenwärtig mit dem Anspruch der Biologie oder Neurowissenschaften
der Fall ist, Probleme der Psychologie, der Psychotherapie, der Philosophie
zu lösen, Antworten geben zu können. Manfred Velden spricht deshalb
von „Biologismus“ als spekulativer Deutung biologischer Ergebnisse,
die diese zu einem Weltbild überhöht, das die Biologie lediglich als
Grundlage benützt für ihren Angriff auf die Willensfreiheit (Velden,
S. 142 ff). Und die Philosophen antworten auf diese Herausforderung
mit der Unterscheidung zwischen dem „Raum der Gründe“ und dem der Ursachen
(Sellars, 1997). Die Frage nach den Gründen verbiete einen Determinismus,
den die Frage nach den Ursachen durchaus erlaube. Der Handelnde sei
dann frei, wenn er wolle, was er als Ergebnis seiner Überlegung für
richtig halte, hält Habermas fest. Als Unfreiheit erfahren wir nur einen
von außen auferlegten Zwang, der uns nötigt, anders zu handeln, als
wir nach eigener Einsicht handeln wollen. Indem Habermas an dem Unterschied (der Erfahrung) von Unfreiheit
gegenüber Freiheit festhält und diesen Unterschied auf das Vorhandensein
bzw. Fehlen eines „von außen auferlegten Zwangs“ zurück bindet, also
auf Unterschiede im „außen“, weist er die neurobiologische Widerlegung
der Willensfreiheit zurück. Aber der philosophische Rekurs auf die „Erfahrung“,
mit der Habermas gegen die Neurobiologen argumentiert, reicht allerdings
nicht aus. Dieser kann dem Argument der „Selbsttäuschung“ nicht begegnen,
mit dem die Biologisten die („Erfahrung“ der) „Willensfreiheit“ „widerlegen“.
Denn: Wir erfahren auch einen „inneren“ Zwang als Unfreiheit, und wir
erleben nicht jeden äußeren Zwang als Zwang, Beschränkung unserer Freiheit.
Die philosophische Stoßrichtung gegen den neurobiologischen
Reduktionismus wird von der „Erfahrung“ nicht bestätigt; die „Erfahrung“
ist kein Argument gegen die Neurowissenschaften, im Gegenteil, die Neurowissenschaftler
drehen das Argument der Philosophen einfach um. Sie bestreiten: den
Status des Bewusstseins als unabhängig – von Kräften „Jenseits des Bewusstseins“.
Die philosophische Kritik stellt sich selbst ein Bein mit ihrem Rekurs
auf die „Erfahrung“, sie bereitet dem Biologismus selbst den Weg, indem
sie diese Dimension „Jenseits des Bewusstseins“ den Biologisten überlässt.
„Jenseits des Bewusstseins“: das Feld der Psychoanalyse:
das „Unbewusste“. Die philosophische Kritik meint ohne die Dimension
des Unbewussten auszukommen, versucht „mit dem Rücken zum Unbewussten
voranzuschreiten“ (Foucault 1966/1971, S. 477). Im Gegensatz dazu haben die Biologisten verstanden, sich
der Allianz der Psychoanalyse zu versichern, in dem sie behaupten, sie
würden “die Entdeckung Freuds bestätigen“ – und die Psychoanalyse, bzw.
die ihre ersten Vertreter und Wortführer in dieser Debatte waren ihnen
dankbar (s. Hüther 1997; Leuzinger-Bohleber, Mertens & Koukou 1998;
Starobinski, Grubrich-Simitis & Solms 1999). Mittlerweile haben
sich Gegenstimmen erhoben (vgl. Bock et al. 2005; Buchholz 2005, 2009;
Lehmkuhl & Lehmkuhl 2008). Zugleich sind die Neurowissenschaftler
selber kleinlauter geworden (s. Elger et al. 2004). Doch es gibt sie
immer noch, die unbeirrt daran festhalten, dass „die biologischen Mechanismen“
die „mentale Aktivität erklären“ (Beutel 2009, S. 384). Doch ist das
„Unbewusste“ der Hirnforscher wirklich das der Psychoanalyse? Freud hatte tatsächlich damit geliebäugelt, das Unbewusste
in den biologisch-physiologischen Prozessen zu fundieren. Die heutige
Allianz von Psychoanalyse und Neurowissenschaften greift also einen
alten Traum Freuds auf: die „Neuronen“-Theorie des Entwurfs von 1895
wäre der Bezugspunkt. Doch damit ist nicht viel über die Angemessenheit gesagt,
diesen Traum in der Realität bestätigen zu wollen, im Gegenteil, dieser
Wunsch wäre dem Habermas´schen Urteil des „szientifischen Selbstmissverständnisses“
zuzurechnen – es sei denn, man interpretierte Freuds „Neuronen“-Theorie“
wie Derrida (1966): nicht als Programm zur Untersuchung der tatsächlichen
Struktur und Prozesse auf der Ebene der Neuronen und Synapsen, sondern
als Metaphorik. Dass es diese Neuronen nicht gibt, die Freud postulierte,
muss ihm selbst klar gewesen sein, folgt man Derridas Argumentation.
Und damit muss Freud die Unmöglichkeit klar gewesen sein, die Prozesse
des Unbewussten auf der Ebene der Neurowissenschaft abzubilden. Wie
andere, allerdings spätere Äußerungen Freuds erkennen lassen, war er
sich im Gegenteil des „konstruktivistischen“ Charakters seiner theoretischen
Annahmen bewusst (Freud 1937), wenn er seine Metapsychologie als „unsere
Mythologie“ bezeichnete. Die empirische Basis der Psychoanalyse war auch bei Freud
keineswegs die Untersuchung auf der Ebene der Neuronen-Prozesse, sondern
das Gespräch mit dem Patienten. Darin erhielten die Metaphern ihren
Stellenwert und ihren Sinn. „Bestätigung“ kann die Psychoanalyse also
nicht erhalten durch Ergebnisse von Untersuchungen, die außerhalb des
psychoanalytischen Gesprächs durchgeführt wurden. Aber die Allianz mit der Psychoanalyse ist vielleicht für
die Neurowissenschaften sinnvoll. Natürlich kann auch die Psychoanalyse
die Neurowissenschaften ebenso wenig „bestätigen“, wie umgekehrt die
Neurowissenschaften die Psychoanalyse. Der „Sinn“ der Allianz liegt
für die Neurowissenschaften auf einer anderen Ebene. Die Übertragung der psychoanalytischen Konzepte in die Neurowissenschaften
übergeht die unterschiedliche empirische Basis ihrer Gewinnung. Außerhalb
dieser empirischen Basis (des psychoanalytischen Gesprächs) verändert
sich der Status und die Funktion, ja die Gültigkeit der psychoanalytischen
Konzepte und Konstruktionen. Sie sind nicht länger Deutungen im psychoanalytischen
Sinn – Deutungen, die der Patient bestätigen muss: und zwar durch die
„Fortsetzung des Gesprächs“, durch Produktion neuer Einfälle, wozu auch
das Nein gehört, der Widerstand. Sie sind vielmehr etwas anderes, abhängig,
bestimmt durch die Struktur, die Diskursform, in der sie auftreten,
in die sie eingeführt werden. Sie sind “Argumente“ in einem Meinungsstreit,
bzw. werden als solche benützt, die zugleich ihre Überzeugungskraft
daher gewinnen (sollen), dass sie aus einem anderen Bereich stammen,
mit der Behauptung versehen, dass anderswo das selbe gefunden worden
sei – was wiederum nur behauptet werden kann, wenn man die unterschiedliche
empirische Basis leugnet. Für die Neurowissenschaften liegt der Sinn der Allianz mit
der Psychoanalyse darin, einen Verbündeten zu haben, für ihren Kampf
gegen die Willensfreiheit. Auch die Psychoanalyse hält nicht allzu viel
von der Willensfreiheit: das Bewusstsein, das Ich, ist für sie der “dumme
August“. Ihr Argument: das „Unbewusste“. Wenn man das Unbewusste der
Psychoanalyse biologistisch „bestätigt“, dann hat man ein festes Band
zwischen beiden. Hier schließt sich der Kreis: die wechselseitige Bestätigung
von Psychoanalyse und Neurowissenschaft – suggeriert durch die Verleugnung,
dass ihre Gültigkeit an eine jeweils andere, je unterschiedliche empirische
Basis ihrer Gewinnung gebunden ist – findet ihren „Sinn“ im Bestreiten
der Willensfreiheit – der „Sinn“, die Botschaft des neurowissenschaftlichen
Diskurses. Die Frage nach dem Sinn (meiner Entscheidung) – die Frage, mit der das Individuum die Therapie
aufsucht – sie braucht nicht gestellt zu werden, denn es gibt keine
Freiheit der Entscheidung. VI. Ablenkung von der Frage nach dem Sinn Aber die Negierung der Willensfreiheit vor dem Gerichtshof
der Naturwissenschaft schielt nicht nur auf die Therapie, sondern zugleich
auch – bzw. in 1. Linie – auf das alltägliche Bewusstsein und die alltägliche
Erfahrung: die Erfahrung, dass wir tatsächlich in der Freiheit unserer
Entscheidung eingeschränkt sind, dass wir uns tatsächlich die Frage
nach dem Sinn der Regelung unseres Alltags, unseres gesellschaftlichen
Zusammenlebens stellen können, immer mehr zu stellen uns gedrängt sehen:
die Frage nach dem „Sinn“ einer Verteilung der Arbeit, die immer mehr
Arbeitslosigkeit produziert (Sozialabbau), die Frage nach dem Sinn des
ständig wachsenden ungeheuren Reichtums bei gleichzeitig wachsender
Armut (Ziegler 2005). Dass wir nicht mehr fragen, welchen Sinn macht die ökonomische
Orientierung auf privaten Profit, statt auf gesamtgesellschaftlichen
Nutzen? – vom Nutzen für den Einzelnen ganz zu schweigen, und erst recht
von den Kosten des privaten Profits für die Allgemeinheit. Diese Frage
wird nicht mehr gestellt, sie wird - mit der Frage nach dem Sinn - durch
die naturwissenschaftliche Orientierung in der Diskussion über Therapie
wie außerhalb ausgeschlossen, indem diese naturwissenschaftliche Orientierung
eine naturwissenschaftliche Erklärung anbietet, eine Erklärung, die
selbst die Gründe für Armut, Arbeitslosigkeit und Sinnleere in unserer
„Natur“ zu finden behauptet (wie z.B. Lynn & Vanhanen 2002 in den
„genetisch“ bedingten Intelligenzunterschieden - was in der Zwischenzeit
von Sarrazin aufgegriffen worden ist: s. Müller 2010, Lieb 2010, Zander
2010, Heitmeyer 2010, Wagner 2011a & b, Darsow 2011, Bahners 2011).
Die „Argumente“, mit deren Hilfe die ökonomischen Interessen
der (Pharma)Industrie und Neurowissenschaft sich unsere Zustimmung zu
gewinnen versuchen, stellen zugleich eine Antwort auf die gegenwärtige
Situation dar: ein Versuch, die Zukunfts- (und auch die Gegenwarts)Ängste
von immer mehr Menschen zu entkoppeln von den Angst machenden Lebens-
und Arbeitsbedingungen, von drohender Arbeitslosigkeit, Erwerbslosigkeit,
Unsicherheit des Alters und der medizinischen Versorgung, und diese
statt dessen auf Bedingungen unserer „Natur“ zurückzuführen und an diese
zu binden. Dies ist tatsächlich der „Sinn“ des Biologismus, des naturwissenschaftlichen
Diskurses menschlicher Situation, gesellschaftlicher Probleme: diese
beunruhigenden Fragen nach dem Sinn abzulenken von den gesellschaftlichen
Bedingungen der Macht und umzulenken auf die Macht unserer „Natur“.
VII. Reden über die Natur – Schweigen über die Macht In dieser Perspektive ist der Biologismus ein Diskurs der
Macht. Er schiebt eine „Macht der Natur“ vor die „Macht der Mächtigen“,
der Menschen in ihren Verhältnissen. Er trägt zu ihrer Affirmation bei,
indem er uns „Argumente“ bietet, die uns zur Zustimmung bewegen sollen,
indem er die Macht unbewusst macht, hinter den Phantasmen, die er vor
die Macht schiebt, verschwindet lässt (Bruder 2004, 2009, 2011). Das war es, woran der Philosoph unbeholfen in Kategorien
der Erfahrung festhalten wollte: die Tatsache, dass es „Zwang“ gibt,
der „von außen auferlegt“ ist: Herrschaft, hinter der die Macht sich
zugleich verbirgt. Unbeholfen, weil er im Rekurs auf die Erfahrung übersieht,
ausblendet, dass wir diese Macht, nicht immer „erfahren“, bzw. dass
wir sie nicht immer als „von außen auferlegt“ erfahren. Die Macht wirkt
(auch) ohne im Bewusstsein registriert zu werden, sie wirkt „unbewusst“
(Bruder 2005a). Die Macht, die unser Denken, Wahrnehmen, Fühlen und
Handeln bestimmt – gegen unseren Willen und hinter dem Rücken unseres
Bewusstseins – ist nicht (nicht nur) unsere – biologisch fassbare –
„Natur“, sondern auch unsere soziale, gesellschaftliche. Die gesellschaftlichen
Kräfte, die uns lenken, sind (ebenso) unbewusst, wie unsere organische
„Natur“ (Bruder 2005c). Dieses Unbewusste den Biologisten zu überlassen,
befördert ihren Diskurs, und damit den Diskurs der Macht. In diesem Diskurs wird also nicht nur die Frage nach dem
Sinn der Symptome ausgeschlossen, sondern zugleich die nach dem Sinn
der „Ursachen“. Und zwar nicht nur dem individuellen Sinn (der Ursachen),
dem Sinn, den das Individuum den Ursachen gibt, sondern dem gesellschaftlichen.
Es wird nicht nur geleugnet, dass wir sinnproduzierende Wesen sind,
dass wir Antworten auf die Frage nach dem Sinn brauchen, um als Individuen
zu überleben, dass alles, was wir tun, unter einem Sinnhorizont von
uns (nur) getan werden kann und deshalb auch an alles, was uns begegnet,
die Frage nach dessen Sinn gestellt wird, nach der Verursachung und
deshalb auch nach dem Sinn gesellschaftlicher Zustände. Wir geben dem, was uns begegnet einen Sinn, weil wir „verstehen“
wollen was läuft und was Sache ist, ebenso wie wir unsere Antwort auf
das, was uns widerfährt in einem Sinn-Horizont entwerfen, weil unsere
Antwort bereits den Sinn (des Widerfahrenden) gedeutet haben muss, um
eine „sinnvolle“ Antwort sein zu können. Wir sind in der Zuschreibung von Sinn frei, in dem Sinn,
dass unsere Antwort wie unsere Deutung individuell sind. Allerdings
haben wir diese Freiheit der Sinn-Produktion nur als Gattungswesen,
als „anthropologische Ausstattung“, jedoch nicht in derselben Weise
und Umfang als konkrete Individuen (mit je unterschiedlicher gesellschaftlicher
Position und Ressourcen). Als einzelne konkrete Individuen sind wir durchaus nicht
frei, jeden beliebigen Sinn zu erfinden – ohne als „verrückt“ zu gelten,
ausgeschlossen zu werden, unserer Freiheit beraubt. Die Freiheit der
Gattung realisiert sich in der Gebundenheit des einzelnen an – wenngleich
offensichtlich durchaus Gattungskompatible – soziale Vorgaben. Was gesellschaftlich
als sinnvoll definiert ist, bestimmt auch die individuelle Sinn-Produktion.
Den gesellschaftlichen „Sinn“ nicht zu erfüllen, ist deshalb nicht nur
gesellschaftlich wertlos, sondern auch individuell. Arbeitslosigkeit ist das – in unserer Gesellschaft – eindrücklichste
Beispiel (Hunger, vor Hunger sterben zu müssen in anderen Regionen).
Dieses Beispiel zeigt: individuell wertvoll, weil gesellschaftlich wertvoll,
ist: sich bis zur Erschöpfung ausbeuten zu lassen, sich bis zur Selbstverleugnung
unterzuordnen. Wer das nicht tut, ist nicht wertvoll, produziert keinen
Wert, ist (wie die Diskussion über Arbeitslose zeigt) aus der Gemeinschaft
der Wertvollen, weil Wertschaffenden ausgeschlossen. Der Diskurs der Macht, der durch die Medien vermittelte
herrschende Diskurs, zeichnet sich dadurch aus, dass er das nicht so
(offen) formuliert, ausspricht, sondern verdeckt, dass er den Zusammenhang
umdreht, die Ursache zur Folge verdreht, die Folge zur Ursache. Nicht:
Wer keinen Wert produziert ist (deshalb) nicht wertvoll, sondern weil
er nicht wertvoll ist, produziert er keinen Wert. Die gesellschaftlichen
Bewertungen werden zur Folge der psychologischen erklärt, die psychologischen
werden zum Grund der gesellschaftlichen gemacht (Bruder-Bezzel 2005).
Deshalb spricht dieser Diskurs der Macht auch nicht von
Ausbeutung und Unterordnung – weder diejenigen, die Ausbeutung und Unterordnung
verlangen, tun dies, noch diejenigen, die sich unterordnen und ausbeuten
lassen (müssen) – sondern von: „Autonomie“ und „Selbstverwirklichung“.
Boltanski & Chiapello (1999) sahen darin einen „neuen Geist des
Kapitalismus“. Dieser habe Autonomie und Selbstverwirklichung, Authentizität
und Kreativität in sich aufgenommen, als Versprechen, die er zu erfüllen
vorgibt, aber zugleich auch als Forderung an die einzelnen, kreativ
sein zu müssen, sich selbst verwirklichen zu müssen. Als Forderung auch
an denjenigen, der dazu keine Möglichkeit hat, weil er gar keinen Arbeitsplatz
hat. Sein Ausschluss aus der „Gemeinschaft der Wertvollen“ wird ihm
selbst zur Last gelegt. Die Tatsache, dass er keinen Arbeitsplatz hat,
wird zur Folge seiner Unfähigkeit erklärt, sich ausbeuten zu lassen
und sich unterzuordnen. Sein Protest, sein Versuch, Würde und Wert zu
behaupten, findet im gesellschaftlichen Sinn-Horizont keine Resonanz,
keinen Platz. Im gesellschaftlichen Sinnhorizont kommt Arbeitslosigkeit
nicht vor – nicht als gesellschaftliches Problem, sondern als individuelles,
im gesellschaftlichen Sinnhorizont ist der Besitz eines Arbeitsplatzes
stillschweigend vorausgesetzt. So wie im gesellschaftlichen Sinnhorizont Arbeitslosigkeit
nicht vorkommt – ebenso wenig wie Ausbeutung und Unterordnung – so auch
nicht im individuellen. Auch die Arbeitslosen, diejenigen, denen die
Ausbeutung, Unterordnung verwehrt wird, haben andere Sorgen: nämlich
zu allererst überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen, zurück in die
Ausbeutung, Unterordnung, Entfremdung zu finden. Obwohl Ausbeutung, Unterordnung Entfremdung im gesellschaftlichen
Sinn-Horizont nicht vorkommen, bleiben die Folgen von Ausbeutung, Unterordnung
Entfremdung gleichwohl bestehen, ja, verstärken sich: Boltanski &
Chiapello berichten von einem Steigen der (Durkheimschen) Anomie-Indikatoren
seit den 70er Jahren: die Beziehungen werden immer kürzer, die Selbstmordrate
steigt, ebenso wie der Konsum von Psychopharmaka (S. 454). Unmut, Unzufriedenheit
und Leiden breiten sich aus. Boltanski & Chiapello sehen den Grund
dafür nicht nur in der zunehmenden beruflichen Unsicherheit und Verelendung,
sondern zugleich darin, dass die Menschen „immer geringere Einflussmöglichkeiten
auf ihr soziales Umfeld“ haben (S. 452). Die Anforderungen des „neuen“ Geistes des Kapitalismus erwiesen
sich als unerfüllbar, seine Versprechungen sind als Illusionen aufgeflogen.
An die Stelle der Sprache der Selbstverwirklichung musste deshalb eine
andere treten: die Sprache der ökonomischen „Notwendigkeit“: die „Globalisierung“
verlange die „Reform“ des Sozialstaats, die Zurücknahme der Errungenschaften
der gewerkschaftlichen Kämpfe. Die „Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt“
sei „nur durch Reduzierung der Kosten der Arbeitskraft zu erhalten“
lautet die neue Botschaft. Die Verschärfung der Konkurrenz wird zugleich
auch nach innen getragen, ins Innere der Gesellschaft: Die neueste Ausgabe
der Studie „Deutsche Zustände“, herausgegeben vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung
in Bielefeld, stellt eine “deutliche Vereisung des sozialen Klimas” fest, eine „rohe
Bürgerlichkeit“ und einen „zunehmenden Klassenkampf von oben“ (Heitmeyer
2010). Dieser bedient sich der Feindbilder der „muslimischen Fundamentalisten“
und “wirtschaftlich Nutzlosen” (s. a. Bruder-Bezzel 2011, Wolf 2011).
Beide, sowohl die Rede von der ökonomischen „Notwendigkeit“,
als auch die Verachtung der Ausgeschlossenen sind „Deutungsmuster der
sozialen Wirklichkeit“ (Boltanski & Chiapello, 147), die unserem
„Handeln und den Strukturen Sinn geben“ sollen (147), eine „Sinn“-Produktion:
die Behauptung, den „Imperativen“ der Globalisierung könne „man“ sich
nicht entziehen – es sei denn man sei ein „Versager“, ein „Schmarotzer“
oder ein Feind der Gesellschaft, auf jeden Fall als nutzlos und/oder
gefährlich aus der Gemeinschaft auszuschließen. Nicht die Sinn-Produktion
überhaupt wird abgeschafft, sondern jene (individuelle Sinn-Produktion
der Subjekte), die die gesellschaftliche Sinnproduktion in Frage stellen
könnte – und damit die Zustimmung zum Diskurs der Macht. Deshalb wird
die „naturwissenschaftliche“ Argumentation wichtiger: mit ihrer Hilfe
kann die individuelle Sinnfrage als unsinnig abgewiesen werden, ohne
die Interessen der Macht offen legen zu müssen – „unsinnig“, weil „wissenschaftlich“
nicht begründbar.
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Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, behauptet die Verfassung.
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Rezension: Ohne Furcht keine Motivation. Sarrazins pseudowissenschaftliche
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Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung. München: Bertelsmann]
Mail:
Klaus-Juergen.Bruder ( ät ) FU-Berlin.de
[i]
Symposium „Das Unbehagen in der (Psychotherapie-)Kultur.
Sinnverstehende Traditionen – Grundlagen und Perspektiven, Bonn 17./18.
März 2006
[ii]
Es erscheint eher wie eine Karikatur,
wenn Grawe (2004) ins Schwärmen kommt: “Aber (beim Neuropsychotherapeuten)
kommen zusätzliche Überlegungen hinzu. Vor seinem inneren Auge sieht
er die seit langem überaktivierte und deshalb hypertrophierte Amygdala
von Frau H. (chronisch depressive Pat.), die selektiv überempfindlich
auf emotional negative Situationen anspricht. Sie hat gut entwickelte
Verbindungen zum ventromedialen präfrontalen Cortex, dessen Aktivierung
mit negativen emotionalen Zuständen verbunden ist… Der Th. ist sich
im Klaren: Er muss die Aktivierung dieser hypertrophierten Verbindungen
hemmen und die verkümmerten Synapsen im linken präfrontalen Cortex
so oft wie möglich aktivieren…“ (zit. n. Beutel 2009, S. 390)
[iii]
nachzulesen bei: InEK GmbH – Institut
für das Entgeltsystem im Krankenhaus 2007, 2008, 2009, 2010 Klaus-Jürgen
Bruder „Die Unterwerfung der Psychotherapie unter die Gesetze des Marktes transformiert diese in grundlegender Weise“ - Von der Notwendigkeit, die gesellschaftliche Realität (in der Psychoanalyse) zur Kenntnis zu nehmen
I. In
einem bemerkenswerten und viel beachteten Beitrag „Verstehen nach Schemata und Vorgaben?“ setzt
sich Giovanni Maio mit den ethischen Grenzen einer Industrialisierung
der Psychotherapie“ auseinander. (im Psychotherapeutenjournal
2/2011, 132-138) : An die Stelle der Vertrauensbeziehung
Tritt eine Vertragsbeziehung, eine sachliche statt einer persönlichen
Beziehung Der Patient [iS eines Not leidenden Hilfesuchenden]
Ist stattdessen Konsument geworden, ein anspruchsvoller Verbraucher
von Gesundheitsleistungen, ein “Kunde“ Daher werde nach einem Schema gesucht,
nach einem standardisierten Verfahren weil sich innerhalb vorgegebener
Schemata besser abrechnen lässt, aber nicht nur deshalb, sondern weil
die Schemata versprechen, dass man Psychotherapie auch effizienter,
schneller, ergiebiger machen kann. Vielleicht denken Sie nun, hier werden
für Psychoanalytiker Eulen nach Athen getragen!?, wir sind damit nicht
gemeint!? II.
1977 hat Parin diesen Vorschlag ergänzt
mit der Analyse der Bedeutung der Bearbeitung der „Anpassungsmechanismen“
für die Therapie der Neurose. Inzwischen – Parins Vorschläge sind ohne
Nachfolge geblieben - Haben wir ein neues Stadium erreicht: nun kommt
diese „äußere“ Realität, vor der die Psychoanalyse so gerne ihren Blick
abwendet über sie und entzieht ihr auch noch die bisherigen Bedingungen
ihrer Arbeit. Als solcher hat er sich in diese äußere
Realität begeben und dabei die Erfahrung gemacht, die er umschreibt
als das „Ende oder der Abstieg der Einsicht in politischen Entscheidungsprozessen“.
Auch Die Vorstellung vom Experten des Ubw
rührt natürlich an die Frage des Ubw selbst gibt es das – für alle
Analytiker gleiche – Ubw?
Ich denke, man muss nicht den Glauben
an Vernunft und Einsicht aufgeben, sondern den an die Führerpersönlichkeit „Die Entfaltung zur kapitalistischen
Produktionsweise ist zugleich die Geschichte einer Verkehrung: Die ungeheure
Entwicklung von Wissenschaft, Technik bedeutet keine allseitige Entfaltung
des Individuums, oder der Möglichkeiten des Menschen, sondern die Produktion
des Menschen als eines „ebenso geistig wie körperlich entmenschten Wesens“
(Marx) In der Krise zeigt sich das
„Skandalon“ der Verkehrung, die im Kapitalismus
ihr Maximum erreicht: Der durch
ihre Arbeit erzeugte Reichtum kommt nicht ihnen, der überwiegenden Mehrheit
der Bevölkerung zu gute, sein hauptsächlicher Zweck ist es, den Reichtum
einer kleinen Minderheit zu vermehren. IV. »was Herrschaft den Individuen zufügt«wäre
also das Thema der Psychologie, Wenn das die von Freud der PA gestellte
Aufgabe gewesen war, dann könnte sie diese Aufgabe aber nur erfüllen,
wenn sie „Herrschaft“ überhaupt zur Kenntnis nimmt, wenn sie die Tatsache
von „Herrschaft“ in ihre Überlegungen, Untersuchungen, in ihre Praxis
einbezieht, reflektiert und nicht verschweigt. Die Individuen antworten also (mit/durch
ihre(n) Deformationen)auf das, was Herrschaft ihnen zufügt. Insofern auch bringen die Individuen
die Gesellschaftlichkeit, von selbst in die Analyse: die gesellschaftliche
Bedingtheit ihrer Probleme und ihrer Lösungsversuche durch ihr Verhalten
und ihre Interpretation ihres Verhaltens – Das ist es (eigentlich auch) bereits,
was Parin vorgeschlagen hatte, wenn er die gesellschaftliche Realität
in der analytischen (therapeutischen) Arbeit präsent zu halten forderte
(vermittels der „Gesellschaftskritik im Deutungsprozess“). Der Schritt nach außen, in die gesell
Öffentlkt, bzw. Politikden Jürgen Hardt geht (und fordert): liegt durchaus
auf dieser Linie. V.
Mein Thema war, die Notwendigkeit die
gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der PA zur Kenntnis zu nehmen.
Erstaunlich, dass dieser Einschnitt von
der Psychoanalyse nicht ernster genommen wurde (mit Ausnahmen: Erikson,
Erdheim)vielleicht spricht daraus deren Sorge die Jugend verliere den
Anschluß an die Gesellschaftliche „Realität“oder besser umgekehrt: die
„Gesellschaft“ verliere „ihre“ Jugend (an ihre Gegner)s. Bohleber) Mein Thema war, die Notwendigkeit die
gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der PA zur Kenntnis zu nehmen.
Literatur Adler,
A. (1919): Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über die
Schuld des Volkes. Wien. [Reprint (Faksimile) 1994, hrsg. und mit einem
Vorwort versehen von
[i]
Paul Parin (1975): „Gesellschaftskritik
im Deutungsprozeß“
[ii]
Weshalb der Journalist
Peter Scholl-Latour auf die Frage, ob er den Nordafrikanern empfehlen
würde, »unsere Demokratie« zu kopieren (29.10.11)
[ii]
[iii]
in einer Gesellschaft,
die strukturell noch immer charakterisiert ist durch „wechselseitige
u allseitige Abhgkt der gegeneinander gleichgültigen Individuen“
[iv]
in das Verhältnis von
Natur und Geschichte einzubringen
[v]
Vortrag „Zukunft der
Psychoanalyse“ auf dem Gründungskongress der IPV in Nürnberg: Freud
1910, S. 111.
[vi]
Paul Parin (1977): Das
Ich und die Anpassungsmechanismen. Psyche 6 (31), S. 481-515
[vii]
Aufmüpfigkeit, Eigensinn;
„Moden“ als Strategien der Affirmation
[viii]
was Habermas in die
Begriffe der Differenz von System und Lebenswelt fasst (Konkrete Beziehung
– abstrakte Verhältnisse; Imaginäres - symbolisches Register) Klaus-Jürgen Bruder Dekonstruktion
psychologischer Subjektvorstellungen in der Krise der Moderne: Herausforderung
der Postmoderne
Die "postmoderne"
Antwort auf die - postmoderne - Situation zeichnet sich nicht aus durch
die Trauer über den Verlust der alten, liebgewordenen Orientierungen
und Denkmuster, im Gegenteil: die postmoderne Antwort ist eher beflügelt
durch die Freude über die endlich gewonnene Freiheit, neue Wege wählen
zu können, uns etwas Neues ausdenken zu können. Zuweilen ist
sie nicht frei von Spott über die, die am Alten festzuhalten versuchen.
[...] Der postmoderne
Diskurs versteht sich als eine Kritik an den Vorstellungen der Moderne,
an ihren Konzepten von Rationalität und Identität, an ihrem
Versagen in politischen und ökonomischen Entscheidungen, an der Legitimationsfunktion
ihrer "großen Erzählungen" - von Fortschritt und
Emanzipation. Was die Moderne als "Rationalität" versteht,
wird von der Postmoderne vielmehr als Einschränkung unseres Blickfeldes
und unserer Erfahrung erlebt. Jede sogenannte Wahrheit sei eine bloß
temporäre Wahrheit. (Hassan 1987) Eine "verbindliche Zielsetzung"
für Theoriebildung und -anwendung könne nicht begründet
werden. Das Ziel müsse vielmehr offen bleiben. Die Bewegung auf das
Ziel könne nicht als Fortschritt definiert werden. Es gebe nicht
nur ein Ziel, sondern viele und der Streit über die Ziele werde immer
"unvermeidlich antagonistisch" bestimmt sein. (van Reijen 1992,
286) Nicht ein Antagonismus (Lohnarbeit und Kapital) sondern viele (283)
Die "großen Erzählungen" der Aufklärung und
des Idealismus und des Marxismus seien - als große Erzählungen
- fehlgeschlagen in ihrem Versuch, eine heterogene Wirklichkeit unter
eine einzige Perspektive zu fassen, sei es der Erkenntnistheorie oder
der Emanzipation. Sie erzeugten damit Terror und nicht Humanität.
Diese "Delegitimierung" bereitet der Postmodernität den
Weg. (Lyotard 1979, 113, 118) Seyla Benhabib
versteht den postmodernen Diskurs als Kritik der westlichen Rationalität
aus der Perspektive ihrer Peripherie, vom Standpunkt derer, die von ihr
ausgeschlossen wurden. (Benhabib 1992, 14) Dieser Ausschluß - der
Frauen, der Kinder, der Narren und der Primitiven - war die Kehrseite
der grandiosen Vision der modernen westlichen Zivilisation, der "Aufklärung".
Die Aufklärung hatte versucht, das "Andere", das Heterogene,
aus der als homogen vorgestellten sozialen Wirklichkeit zu eliminieren.
Deshalb wird das Denken der Aufklärung im postmodernen Diskurs als
"totalitäres" denunziert. Jacques Derrida erkennt im "endlosen
Spiel binärer Oppositionen" den Versuch, die Anwesenheit des
Anderen in den Texten der westlichen Metaphysik zu löschen. Die Logik
der binären Oppositionen sei eine Logik der Unterwerfung und der
Beherrschung. (Derrida 1991) "Logik des Entweder-Oder". (Horkheimer
& Adorno 1944, 53) Ebenso wie für Lyotard, ist für Derrida
die Differenz unaufhebbar: "Differänz". Die condition postmoderne
sei kein Pluralismus, sondern Folge von unlösbaren Gegensätzen.
(van der Loo & van Reijen 199o, 261) Es gibt keine Synthesis, keine
"Metasprache" (Lyotard), sondern viele Sprachen, viele Arten
zu reden. Zwischen ihnen bestehe ein unaufhebbarer Widerstreit. (Lyotard
1983, 1o) Der postmoderne
philosophische Diskurs reflektiert den umfassenden kulturellen Transformationsprozeß
der Moderne und dessen Konsequenzen für das Subjekt. Die Situation
des Subjekts heute ist durch die Singularität des Augenblicks bestimmt,
durch isolierte, punktuelle Augenblicke, die nicht in einem eindeutigen
Zusammenhang mit vergangenen oder zukünftigen Ereignissen stehen.
Der kommende Augenblick ist ungewiß und undeterminiert. Kein Blick
auf Vergangenes oder Zukünftiges vermag Sicherheit (eines Sinnes)
und Handlungsorientierung zu gewähren. Die Welt bricht unaufhörlich
herein. Das Subjekt wird mit der Kontingenz konfrontiert. Das Individuum
als Subjekt, "das autonome Subjekt der philosophischen Aufklärung"
(van Reijen 1992, 7) verstand sich als Herr über das Objekt: der
Souverän, Bourgeois. Diesen Status hatten allerdings die wenigsten.
Sie verharren im Zustand des Objekts. Dem Objekt wird der Subjekt-Status
angedient: unterworfen, sich unterwerfend, werde es zum Herrn. "Das
Subjekt ist im Anschluß an Kant definiert durch die Doppelung von
Untertänigkeit und Freiheit" (Kittler 1988, 4o2) Das Individuum
zerbricht an den Zumutungen, Subjekt sein zu sollen und es nicht sein
zu können: Psychische Störungen als die Folge der "Überforderung
des Ich". (van der Loo & van Reijen 199o, 23o) "Das Ich
ist nicht Herr im eigenen Haus" (Freud). Freud hat allerdings die
Position des Hausherrn weiterhin offen gehalten, so getan, als gebe es
noch - in der Mietskaserne, in den Kasernen der Fabrik, indem er das Ich
zum "dummen August" machte, der dem "niederen Gesindel
der Triebe" nicht Herr werde. Das Ich wird kontrolliert durch Wünsche,
Bedürfnisse und Kräfte deren Wirkungen sowohl die Inhalte seiner
"klaren und distinkten Ideen" formen, als auch seine Fähigkeit
sie zu organisieren. (Benhabib 1992, 2o7) Es ist nicht die Rede davon,
daß ihm die Ressourcen vorenthalten werden, die zu seiner Realisierung
erforderlich wären. (s. Wahl 1989) Der Wegfall der - sowohl ökonomisch
wie normativ vermittelten - Selbstständigkeit, die dem inner-directed
man der frühbürgerlichen Periode seine ungewöhnliche Ich-Stärke
verlieh. (Breuer 1992, 89f) Als Teil
des epistemologischen Erbes der gegenwärtigen politischen Diskurse
über die Identität ist das "Ich" in und durch den
binären Gegensatz zwischen "Ich" dem "anderen"
gestiftet. Diese Subjekt-Objekt Dichotomie (Hegelsches Modell der Selbst-Anerkennung)
bedingt indes gerade die Problematik der Identität, die sie zu lösen
versucht. Die für die epistemologische Betrachtungsweise charakteristische
Sprache der Aneignung, Instrumentalität und Distanzierung gehört
zugleich zu einer Herrschaftsstrategie, die das "Ich" dem "anderen"
gegenüberstellt. Dieser Gegensatz wird als Notwendigkeit verdinglicht,
indem der diskursive Apparat verschleiert wird, der diese Binarität
konstituiert. (Butler 199o, 212) Die postmoderne
Provokation besteht nicht in der Auflösung des sozialen Bandes, sondern
der Auflösung des isolierten Individums: Dekonstruktion der alten
Subjekt-Vorstellungen. Dezentrierung des Subjekts heißt nicht einfach:
Auflösung" - nicht nur daß das nicht neu ist, sondern
postmodern ist nicht die Larmoyanz der Kulturkritik, sondern die Entpathologisierung
dieser Erscheinungen mit der Perspektive der Befreiung von Einschränkungen
von jeglichem Determinismus, Spiel und zugleich: der Grund dafür
wird in der Entwicklung von Wissenschaft, Technik, Gesellschaft gesucht.
Also wenn es eine Pathologie gibt, dann ist dies eine gesellschaftliche
(strukturell gegründete) nicht eine, die dem Individuum zuzuschreiben
wäre. Von "Dekonstruktion"
zu sprechen, beinhaltet eine Vorannahme bzw. Vorentscheidung: die der
Konstruktion: die Subjektvorstellungen der (alten) Psychologie seien als
Konstruktionen zu betrachten. Laplanche bezeichnet 1991 Dekonstruktion
als das Mittel, das der PsychoAnalyse "eine umfassendere Selbst-Konstruktion
des Menschen" ermöglicht; Nicht durch das Mittel der Aufhebung
der Amnesie, sondern durch eine Dekonstruktion der alten Konstruktionen,
die einer teilweisen Aufhebung der Verdrängungen entspricht. (Laplanche
1991, 493) Dekonstruktion
räumt ein, daß Konstruktion der Grundlage der Selbstthematisierung,
der Psychologie ist. Diese - neue - Konstruktion ist zugleich, wie Laplanche
festhält, nicht die Aufgabe des Analytikers, sie kann nur die des
Analysanden sein, dessen der sein Schicksal baut oder konstruiert, dieser
kann nur Ego sein.(496) Verallgemeinert gesagt: nicht der Psychologe,
sondern der andere, das Individuum selbst, jeder von uns. Diese Verallgemeinerung
über das analytische Setting hinaus ist tragfähig. Der Prozeß
der Dekonstruktion in der Analyse baut auf dem immer schon - auch außerhalb
der Analyse - vorgängig stattfindenden Prozeß der Konstruktion
auf. Der "Konstruktivismus" wäre damit eine epistemologische
Voraussetzung der (neuen) Psychologie. Auch eine
zweite Voraussetzung können wir noch dem psychoanalytischen setting
entnehmen: das Gespräch - zwischen zwei Personen. Als Gespräch
charakterisierte bereits Freud (1926) die Analyse: als nichts anderes,
als daß Analytiker und Analysand "miteinander reden".
(Freud 1926; GW XI, 451) Ein Gespräch allerdings, in dem der Analytiker
sich selbst befragt, in Frage stellt. "Der Analytiker weiß,
daß er nichts anderes ist als ein Subjekt unter Befragung, in Befragung."
(Kristeva 1993, 1o3) "Die Frage vertreibt mich aus der Illusion eines
absoluten Wissens." (1o4) "Der Analytiker bezieht sein Wissen
aus dem Zuhören, dh aus seinem deutenden Denken. Dieses wird nur
dann ein Denken, wenn es sich zur Frage umwandelt." (1o1) "Weil
die unformulierbare Empfindung oder das unformulierbare Trauma für
den Analytiker eine Frage bilden, bilden sie für den Patienten einen
Sinn. Sie erhalten die Möglichkeit, sich zu artikulieren, sich zu
verschieben, sich aufzuarbeiten." (1o3) Am Gespräch
als Grundlage der Psychologie wären die alten (Vorstellungen) der
Psychologie zu messen. Sie weichen mehr oder weniger weit davon ab: Experiment,
Test sind nicht mehr als "Gespräch" erkennbar und dennoch
sind sie - verfremdete Formen davon. Die Dekonstruktion der (alten) Psychologie
müßte also selbst als Gespräch sich verstehen (zwischen
gleichberechtigten Partnern, oder von oben nach unten, mit je unterschiedlichem
Ergebnis) - wenn sie zum Ergebnis haben wollte: was Laplanche für
die Analyse erwartet: eine - teilweise - Aufhebung der Verdrängungen.
Dekonstruktion:
verweist auf Konstruktion, als den Prozeß, in dem wir ständig
engagiert sind. Konstruktion selbst, als Übersetzen, (Deuten) - der
elterlichen Botschaften gefaßt, enthält diese Bezogenheit auf
den anderen; und zwar als ständigen Prozeß. Damit ist festgehalten:
das Individuum / Subjekt / Selbst ist nicht isoliert, sondern eingebunden
in diese Beziehungen, es macht Erfahrungen (nur) in Beziehungen, entsteht
mit seinen Beziehungserfahrungen, reproduziert sich in ihnen, wiederholt
die Erfahrungen seiner Beziehungen, stellt Beziehungen entsprechend seinen
Erfahrungen her: Wiederholung, aber im Deleuze-schen Sinne. "Die
Identität als Praxis, Bezeichnungspraxis zu verstehen, bedeutet,
die kulturell intelligiblen Subjekte als Effekte eines regelgebundenen
Diskurses. Die Regeln, die die intelligible Identität anleiten, operieren
durch Wiederholung. Durch sie wird das Subjekt nicht determiniert. Handlungsmöglichkeit
ist in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholung zu variieren".
(Butler 199o, 213) Die postmoderne Herausforderung, die die Dekonstruktion psychologischer Subjektvorstellungen beinhaltet, liegt in der Verabschiedung der Psychologie als Leitwissenschaft für die Gestaltung des - guten - Lebens: "Jedermann wird seine eigene Geschichte und seinen eigenen Stil selbst bestimmen können; aber dieses "Eigene" ist eine Illusion." (van der Loo & van Reijen 199o, 262)
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