KLAUS LEFERINK


Schizophrenie als Modell des Postsubjekts
Thesen zum Zusammenhang von Moderne und psychischer Krankheit*

Ausgangsfragen

Der Text stellt eine Reihe von Thesen zum Zusammenhang von moderner Kultur und bestimmten psychischen Krankheiten zur Diskussion. Es geht dabei nur am Rande um die realen, vorfindbaren und erlittenen Störungen, weit mehr um ihr Bedeutungspotential und ihre Rolle als Medien in Prozessen der gesellschaftlichen Selbstverständigung. Die Thesen betreffen in erster Linie die Schizophrenie; am Ende versuche ich eine Ausweitung und Differenzierung im Hinblick auf andere Störungen.


Schizophrenie ist keine einfache und keine "normale" Krankheit - was allein schon die nicht enden wollende Debatte um die Angemessenheit des Krankheitsbegriffes (siehe Keupp, 1979) belegt. Es ist eine Krankheit, die etwas "zu sagen" und "zu bedeuten" hat oder "zu zeigen" scheint. Schizophrenie führt zum Herausfallen aus sozialen Bezügen, zum Bruch mit Geschichte und Tradition, zum Verlassen des Territoriums der gemeinsamen Sprache und der gemeinsam geteilten Bedeutungen. Was für das betroffene Individuum gilt, scheint in gewisser Weise dem Schicksal des modernen Menschen schlechthin zu ähneln. Kraepelin charakterisierte Schizophrenie als "eigenartige Zerstörung des inneren Zusammenhangs der psychischen Persönlichkeit" (1913, S. 668). Die neueren, die innere Verfassung Moderne betreffenden Zeitdiagnosen - sinnlose Beschleunigung des Lebens, Zersplitterung, Beliebigkeit, Zerreißen des Sinnzusammenhangs - lassen bestimmte Parallelen zur Charakterisierung der Schizophrenie erkennen. "... Die Auflösung eines narrativen Zusammenhang; die Zerstörung des raum-zeitlichen Kontinuums; die Außerkraftsetzung des Kausalitätsprinzips; das verwirrende Spiel mit ... Perspektiven; ... die Konturenlosigkeit und Zersplitterung der Personen; ... die Collagierung unterschiedlichster ... Stile." (Kuhlmann 1994, S. 8) - diese Prädikate sollen nicht den Zustand einer psychischen Störung, sondern den Musikkanal MTV charakterisieren. Jameson (1986) hat diese Art von moderner, medial vermittelter Erfahrungsform als "schizophren" charakterisiert, weil das Individuum nicht mehr imstande sei, sich die Wirklichkeit als kohärenten Text anzueignen. Dies ist nur ein neueres Beispiel für die immer wieder beobachtete Konvergenz von schizophrenen Ausdrucksformen und bestimmten Erscheinungen der modernen Kultur. Viele der "Helden der Moderne" (Künstler, Pop-Stars etc.) waren psychisch krank oder hatten zumindest erhebliche Probleme. Bei diesen "Helden" hat die Krankheit es offensichtlich erleichtert, eine Sprache und einen Ausdruck zu entwickeln, der in der Moderne auf Resonanz stieß. In der Kunst sind, seit der Zeit des Expressionismus diese Anklänge an die psychische Krankheit, allen Wandlungen in der Kunstauffassung zum Trotz, immer aktuell geblieben, und dies, obwohl sie heute an ganz anderen Phänomenen festgemacht als noch vor 80 oder 40 Jahren (damals: Wildheit, Ungezwungenheit und Reinheit des Ausdrucks; dann: Ungebundenheit der Assoziativität, Kombination unterschiedlicher Bedeutungspartikel; heute: eher das Zufällige, Fragmentarische, das Spiel mit den Möglichkeiten des Sinnverlustes). Die moderne Kunst wird bisweilen als "krank" bezeichnet, und die Schizophrenie im Gegenzug nach ästhetischen Kriterien beurteilt. Sass (1992) hat eine Vielzahl dieser und anderer Parallelen zwischen Moderne und Schizophrenie, auch in Bezug auf die Philosophie (etwa Derrida), aufgezeigt. Schizophrenie ist für ihn keine Regression auf frühere, archaische Stadien der phylo- oder ontogenetischen Entwicklung, sondern eher eine Progression, die sich in Hyperreflexivität, Überabstraktheit und einer Entfremdung - gerade nicht von der Rationalität - sondern von den emotionalen und leiblichen Grundlagen des Lebens besteht. Hierin sieht Sass die "Modernität" der Schizophrenie und im gleichen Zuge die "Schizophreniehaftigkeit" bestimmter, mächtiger Tendenzen in der modernen Kultur.

Es ist nicht zuletzt diese Nähe bestimmter Selbsterfahrungs- und Ausdrucksformen des modernen Menschen und schizophrener Seinserfahrungen, die es berechtigt erscheinen lassen, die Schizophrenie als eine, wenn nicht die Krankheit der Moderne zu bezeichnen (wie etwa Deleuze und Guattari: "Sie ist unsere ‘Krankheit’, die des modernen Menschen." 1974, S. 169). Das verbindende Element könnte hier das moderne Subjekt und dessen ‘Krankheit’ sein - die Unsicherheit und Verzweiflung über die von kulturellen Wurzeln und Traditionen mehr und mehr abgeschnittene eigene Existenz.

Die folgenden theoretischen Überlegungen gelten dieser Korrespondenz zwischen dem modernen Subjektivitätsmodell und der schizophrenen Verfassung. Sie gelten ebenso ihren Konsequenzen, die zwischen einer imaginären Identifikation und totaler Ablehnung schwankt. Es handelt sich auch um den Versuch, das Janusgesicht des modernen Umgangs mit psychischen Krankheiten zu erklären: Marginalisierung, Abwertung, Ausgrenzung, bis hin zu physischer Vernichtung auf der einen Seite, Privilegierung, Ästhetisierung bis hin zur Sakralisierung auf der anderen.


Wir werden uns fragen: (1) Was "leistet" die Schizophrenie für die Gesellschaft - und (2) was "leistet" im Gegenzug die Gesellschaft für die schizophrenen Menschen? Die in dieser Frage andeutende Wechselseitigkeit ist essentiell für die Fragestellung.


Wenden wir uns zunächst dem ersten Teil der Frage zu:

(1) Der Zusammenhang zwischen psychisch Krankheit und Gesellschaft, so die These, ist nicht kausaler Art, sondern ergibt sich aus der Konvergenz von Bedeutungsfeldern. Weder wird die Gesellschaft verrückt, noch erzeugt sie die Verrücktheit, wohl aber bedarf sie der Verrücktheit, um sich selbst in einer gewissen Hinsicht zu begreifen. Was sie begreifen will, ist die entwurzelte, freigesetzte Subjektivität. Sie "interessiert sich" für die Verrücktheit und sie "sympathisiert" mit ihr, weil und sofern sie in der Verrücktheit auf sich selbst trifft und einen Moment ihres Verfaßtseins hierin erkennt. Diese These geht weiter als die kulturelle These, wonach die jeweiligen Auffassungen von Krankheit und Gesundheit ein Ausdruck der Kultur sind; ebenfalls weiter als eine Auffassung wie: "Was einer Kultur als Kranksein und Heilung gilt, das eben ist eine Selbstdokumentation der Kultur" (Scharfetter 1986, S.X).

Die Modernisierung von Gesellschaften produziert die Bedingungen (Entwurzelung, Enttraditionalisierung, Subjektivierung), durch die es zu einer Entdeckung bestimmter Geisteskrankheiten (vom Schizophrenie-Typ) kommt und die Entwicklung einer Art von Sympathie befördert wird (Leferink, 1997).

Ich möchte so weit gehen und behaupten, daß auch Engagement und Solidarität, z.B. ein gewisser "Lobbyismus für die Betroffenen" (Dörner & Plog, 1978), von kulturellen Bildern und Diskursen generiert werden, in denen die Kultur eine bestimmte Selbstbeschreibung ausprobiert.

Wenn Schizophrenie nicht im Gegensatz, sondern in Übereinstimmung mit der Gesellschaft steht, dann besagt die These zugespitzt, daß Schizophrenie heute paradoxerweise zu einem affirmativen Modell zukünftiger Normalität werden könnte - als spezielle Variante einer generellen Tendenz, wonach Abweichung (Provokation, Rebellion, Avantgardismus, Tabubruch) zu einem erfolgreichen Modell der Durchsetzung neuer Diskurse geworden ist. Dieser Überlegung liegt der generelle Gedanke zugrunde, daß gesellschaftliche Modellbildungen, die zu einem gewissen Zeitpunkt "deviant", "avantgardistisch" oder "provokativ" erscheinen, zu einem späteren Zeitpunkt affirmativ werden können.

Wenn Sympathie Engagement und Ablehnung gleichermaßen generieren kann, dann sind die sozialen und kulturellen Bedingungen, die im 19. Jahrhundert überall in Europa eine explosionsartige Vermehrung psychiatrischer Anstalten bewirkten, auf diese Sympathie hin ebenso zu befragen wie auch jene Bedingungen, die für die Infragestellung, Kritik und Einschränkung dieses "Behandlungsmodells" verantwortlich sind - eine vergleichbare Regelmäßigkeit, mit der fast überall in westlichen Gesellschaften seit den 60er Jahren das Krankheitsmodell und die Behandlung psychischer Krankheiten in Frage gestellt wurden. Es scheint so zu sein, daß die gleiche Gesellschaft in ihrer Entwicklung, teils simultan, teils zeitversetzt, in Einem Ausschluß und Solidarität, Ablehnung und Wiedereingemeindung hervorbringt. (Für den Theoretiker sei hinzugefügt, daß, indem wir Prozesse der gesellschaftlichen Selbstverständigung unterstellen und somit ein "dialogisches" Modell mit Spruch und Widerspruch annehmen, wir die Dialektik dahin zurück holen, wo sie hingehört, nämlich in den Bereich der Kommunikation).

Die Antipsychiatrie übrigens hat nur die eine, die dunkle Seite der Schizophrenie in der bürgerlichen Gesellschaft gesehen und ihre ebenso vorhandene Wertschätzung, von der sie ja selbst in gewisser Weise Zeugnis ablegte, als bloßen ideologischen Reflex abgetan. Viele Psychiater geben, wie Arieti (1985, S.29f.), ihrer "Bewunderung" für die Schizophrenen Ausdruck. Andere Autoren, wie Hartung (1980,S. 8), sprechen von einem "geheimen Neid" auf den Schizophrenen (und erhoffen sich zudem "von der Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Verrückten Aufschluß über das eigene Leben"; ebd.S.8)? Die Verrückten gelten manchen als die "guten Menschen" - "zu gut für diese Welt" (etwa Alexander und Selesnik, 1969, S. 140). Die psychiatrischen Institutionen dienen deshalb vielleicht gar nicht so sehr zum Schutz der Gesellschaft vor den Verrückten, als vielmehr, in Form des Asyls, zum Schutz der Verrückten vor der Gesellschaft, eine Vorstellung, die sich in modifizierter Form immer wieder findet (auch bei Laing oder Dörner).

Die hier formulierte ("semiotische") These unterscheidet sich von der klassischen Fragestellung in der sozialwissenschaftlichen Thematisierung psychischer Krankheiten, die darauf abzielte, wie Gesellschaften mit abweichendem Verhalten umgehen und wie sie seine Behandlung organisieren. Die veränderte Frage bezieht sich auf den Zeichencharakter psychischer (und körperlicher) Krankheiten, auf die Bedeutung, die psychische Krankheiten für Gesellschaften gewinnen können, ihre Rolle als Medien der Auseinandersetzung (und Modernisierung) dieser Gesellschaften.


(2) Die andere Seite der Fragestellung betrifft die Bedeutungsangebote und Definitionsmöglichkeiten der Gesellschaft an die Betroffenen. - Die Betroffenen, Professionellen und Laien werden als Nutzer gesellschaftlicher Bedeutungsangebote aufgefaßt. Die Kultur enthält einen Speicher verschiedener Modelle und Ideologeme (Kristeva), die als Material als Utensilien verstanden werden können, das die Nutzer bei der Konstruktion ihrer Identitäten verwenden. Die Verwender sind zugleich Mitspieler in einem Spiel, in dem die Bedeutungen der verwendeten Konzepte (wie etwa "Krankheit", "Realität") und die damit verbundenen Praktiken fortwährend neu ausgehandelt werden (z.B.: Wann müssen die Begriffe in Anführungszeichen eingeschlossen werden und wann nicht? Wann ist Distanz, wann Identifikation angesagt?)

Bei der Frage nach dem Zusammenhang von Kultur und Krankheit ist, von der Seite der Betroffenen, das entscheidende Konzept das der Identität. Identitäten können als psychosoziale Gebilde an der Schnittstelle zwischen Personen und ihrer sozialen Umwelt aufgefaßt werden. In der Identität treffen sich kulturelle Kodierungen ("Krankheit") und individuelle Subjektivität (Ziele, Wünsche, Vorstellungen etc.). Identitäten vereinen das dem Menschen Äußerliche mit seinem zutiefst Inneren. Identitäten werden jedoch nicht gegeben oder zugewiesen, sie sind vielmehr etwas, das sich der Einzelne in Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt erarbeitet, das er zu bewahren, zu sichern oder in Krisensituationen zu rekonstruieren versucht. Ebenso wie Menschen beim Erzählen ihrer Biographie bestimmte gesellschaftliche Kodes und Folien benutzen, entlang derer sie ihre Konstruktion organisieren, erfolgt auch die Erarbeitung einer Identität unter Einbeziehung bestimmter gesellschaftlicher Präformierungen.


Einerseits liefern also, um die Thesen zusammenzufassen, psychische Krankheiten Modelle und Metaphern für den im Zuge der Modernisierung unterstellten Identitätswandel, andererseits ermöglichen moderne Identitätsangebote den Betroffenen, neue Formen eigenen Selbstverständnisses zu entwickeln. Es geht also, vereinfacht gesagt, darum das diskursive Potential der psychischen Krankheiten für die Gesellschaft auszuloten, andererseits um die Möglichkeiten, die der gesellschaftliche Wandel mit sich bringt, sich eine neue Identität aufzubauen. Daraus ergibt sich die weiterführende Frage, nämlich wie die Identität psychisch Kranker mit unserer eigenen Identität zusammenhängt.

 


Die Schizophrenie und ihre Bilder

Warum die Schizophrenie und nicht andere psychische Störungen? Hierauf sind mehrere Antworten möglich: (1) Weil die Schizophrenie in ökonomischer, sozialer und schließlich auch wissenschaftlicher Hinsicht erhebliche Probleme aufwirft. (2) Was vielleicht wichtiger ist: Weil die Schizophrenie eine Störung ist, die den Kern dessen betrifft, was für uns Subjekt-Sein ausmacht. Sie ist eine Veränderung, die sich im Zentrum der Person vollzieht. Sie betrifft Denken, Fühlen und Intentionen, das Erleben des Körpers, die Sprache und schließlich auch die gesamte Konstruktion von Wirklichkeit, in der ein Mensch lebt. (3) Weil die Schizophrenie mit der Zeit geht. Sie ist keinesfalls "autistisch" in dem Sinne, daß die Betroffenen abgetrennt von gesellschaftlichen Themen und Diskursen leben würden. In den Halluzinationen und Wahnvorstellungen der Betroffenen kreuzen sich vielmehr, in teils absurden, teils auch erhellenden Synthesen die Strömungen der Zeit. Das, was Vernunft oder Norm gerne auseinandergehalten sehen würden, geht ungeahnte Verbindungen ein (etwa die Verbindung von Kruzifixen, Hakenkreuzen und Hammern und Sicheln auf den Bildern von August Walla). Die Schizophrenie ist wie ein Spiegel, in dem die bekannten oder aber auch die unausgesprochenen Gedanken einer Epoche reflektiert werden. (4) Ein weiterer Grund: "Je weniger gesichertes Wissen über einen Gegenstandsbereich vorhanden ist, desto anfälliger wird dieser für ideologische Theorien." (Wulff, 1983, S. 530). Gerade diese "ideologischen Theorien" und mit ihnen zusammen die Bilder, die Geschichten, die typischen Gesten und Zeichen, mit denen die Verrücktheit bedacht wird, bilden ihre "soziale Repräsentation". Je weniger, anders gesagt, ein Gegenstand wissenschaftlich geklärt ist, um so mehr verspricht er, Zugang zu Tiefenstrukturen des gesellschaftlichen Bewußtseins zu gewähren.


Wenn wir die Schizophrenie als kulturelle Produktion thematisieren, fragen wir, welche Bilder, Vorstellungen, Metaphern etc. die Kultur zur Verfügung stellt, um das Phänomen zu "begreifen" oder "zu modellieren". Es ist kein Geheimnis, daß jeder, auch jeder wissenschaftliche Autor, aus der Schizophrenie seine eigene Sache macht. Die Schizophrenien von Sechehaye, Hanna Green, S. Freud, G. Bateson, K. Conrad oder E. Bleuler, die nüchternen und sachlichen Modelle von Brenner (1986) oder Nuechterlein und Dawson (1984), die dunklen Delire von Artaud und die Erzählungen der Psychoseerfahrenen (Bock et al. 1992) sind phänomenologisch und psychologisch sehr unterschiedliche Konstruktionen. Es gibt, neben den Vorstellungen, die bestimmten Autoren zugerechnet werden können, zahllose allgemeine kulturelle Bilder bzw. Erzählungen des Wahnsinns. Das Bild des gefährlichen, unberechenbaren Wahnsinnigen (etwa Jack Nicholson in ‘Shining’), das Bild des sensiblen, an der Gesellschaft leidenden Rebellen in ‘März’, das Bild des "armen Betroffenen", der immer wieder nur ausgebeutet und entrechtet wird, in der Betroffenheitsliteratur, die Erzählung vom "unschuldig in die Fänge der Psychiatrie geratenen und erst dort richtig verrückt gemachten" Menschen, die Konstruktion des "eigentlich völlig normalen und sehr begabten jungen Menschen, bei dem halt bestimmte biochemische Prozesse verrückt spielen", in der biologischen Psychiatrie. Oder man schreibt der Kultur eine tiefe Irrationalität zu, die der schizophrene Mensch - "stellvertretend für uns alle" - austrägt - "damit in die Nähe zu Christus gerückt" (Scharfetter, 1986, S.X). Oder der Schizo ist eine Variante von Nietzsches Übermensch, ein Mensch des Wunsches: "wie Zarathustra": "Ungeahnte Leiden, Schwindel und Krankheiten kennen sie. Sie haben ihre Gespenster. Sie müssen jede Geste neu erfinden. Aber ein solcher Mensch erschafft sich als freier, unverantwortlicher, als einsamer und fröhlicher Mensch, der endlich fähig ist, ohne Erlaubnis in seinem Namen etwas Einfaches zu sagen und zu tun, Wunsch, dem nichts fehlt ... Er hat einfach aufgehört, Angst vor dem Verrücktwerden zu haben." (Deleuze und Guattari, 1974, S.169). Die beiden Autoren betonen immerhin, daß dieses Bild des Schizophrenen nichts mit dem realen, empirisch vorfindbaren Schizo zu tun hat. Die Verrücktheit der realen Patienten sei eine schlechte, keinesfalls "die wahre Verrücktheit" (ebd., S. 170). Die wahren Verrückten sind mit anderen Worten immer "anderswo", utopische Menschen.

Alle diese unterschiedlichen Bilder, Konstruktionen oder Erzählungen wachsen auf dem Boden der modernen Kultur, es ist gerade die Mannigfaltigkeit, die für diese Kultur bezeichnend ist.

Mit zu diesem Spiel gehört anscheinend aber auch die Auffassung, daß immer nur die Konstruktionen der anderen kulturell bedingt sind (und somit "verzerrt"), während die eigene Auffassung offensichtlich jeglicher kulturellen Bedingtheit enthoben ist. Etwa Scharfetter: "In unserer Kultur werden Erfahrungen außergewöhnlicher Bewußtseinszustände vorschnell als abnorm pathologisiert ..." (1986, S. 193, Hervorhebung KL). Wer solches sagt und sich davon distanziert, sagt implizit, daß er "woanders" steht. Der Autor hätte ebenso gut und ebenso richtig sagen können: ‘In unserer Kultur wird die vorschnelle Pathologisierung als problematisch erkannt ...’. Damit hätte er seine eigene Äußerung als - ebenfalls - kulturelle Produktion zur Diskussion gestellt. Eine konsequentere wissenssoziologische Reflexion der kulturellen Bedingungen kann m.E. zu der (bisweilen auch unangenehmen) Erkenntnis führen, daß wir in einer Kultur der Mannigfaltigkeit leben, für die der selbstreflexive Bezug, die Bespiegelung in diversen Medien, essentiell ist. Dieser Bezug stellt sich in uns als Beobachtern und Sprechern immer wieder neu her. Die Anerkenntnis dieses Zusammenhangs könnte zu einer Sichtweise führen, wonach wir in nicht in einer Welt "verzerrter Sichtweisen", sondern in einer Kultur leben, die zugleich Normalität erzeugt und bestreitet, die Stereotype schafft und auflöst etc.


Die Wirklichkeit der Schizophrenie wird durch kulturelle Modelle charakterisiert - und es sind sehr ähnliche Modelle und Metaphern wie jene, die den Zustand der Moderne beschreiben sollen. Sie beinhalten das gleichzeitige Auftreten von Produktivität und Defizit, Positivität und Negativität, Freiheit und Versklavung, Kreativität und geistiger Verarmung. Ein und das gleiche Phänomen, etwa die "schizophrene Sprache", kann mal als "Verwirklichung der Sprache" (Cooper, 1978), mal als "Zerstörung der Sprache" betrachtet werden.


 

Gibt es eine richtige Sichtweise der Schizophrenie?

Schon im 19. Jahrhundert wird von der Enttäuschung berichtet wird, die den neugierigen Besucher der Irrenanstalt typischerweise befällt, wenn er mit der alltäglichen Wirklichkeit der psychischen Krankheit konfrontiert wird. Auch damals schon sind "poetische und moralistische Auffassungen" verbreitet ...

"Durch jene sind die Laien mit Bildern der Geisteskrankheiten gefüllt worden, welche der Natur im entferntesten nicht entsprechen; wenn dann diese Bilder nicht zutreffen, zweifeln sie, ob Geisteskrankheit vorhanden sei. Wie naiv ist das Erstaunen vieler Besucher in den Irrenanstalten, die sich deren Bewohner so ganz anders gedacht hatten!" (Griesinger 1964, S. 11)

Unendlich auch ist die Geschichte von dem Besucher einer psychiatrischen Klinik, der mit der Beobachtung triumphiert, daß er die Profis nicht von den Patienten unterscheiden konnte. Zahllose andere typische Geschichten existieren.

Es verbietet sich, einfach eine Wahrheit des Wahnsinns ("wie der Wahnsinn wirklich ist") gegen die zahllosen Fiktionen ("was sich Laien einbilden") auszuspielen. Auch unter gestandenen Praktikern können die Ansichten bekanntlich sehr stark divergieren. Die Wirklichkeit der Patienten, die sich in der Klinik bietet, ist zum Teil auch durch die Klinik selbst produziert. Auch der intensive Kontakt zu den Patienten, auf den Psychiater sich berufen könnten, kann nicht der Maßstab aller Dinge sein. "Sachlichkeit" und "Nüchternheit" sind vielmehr auch nur eine Variante der kulturellen Modellierung. Die "Wahrheit der Verrücktheit" ist nicht in einem, bestimmten Bild, sondern der Mannigfaltigkeit der Bilder und Diskurse kodiert.

 


Ist die Modernisierung von Gesellschaften die Ursache von psychischen Störungen?

Eine Sichtweise, die in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet ist, besagt, daß psychische Störungen in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten extrem zugenommen haben müssen. Umgekehrt hielt es nur 1% der Befragten in einer Untersuchung für plausibel, daß psychische Störungen in den letzten Jahrzehnten abgenommen haben könnten (Angermeyer, 1991). Man glaubt also irgendwie, daß die Menschen zunehmend verrückter oder psychisch problematischer werden.

Ebenso weit verbreitet dürfte die Ansicht sein, daß Menschen in vormodernen, archaischen, "natürlichen" Gesellschaften psychisch gesünder seien. Eine Zunahme und Ausbreitung der Verrücktheit wird anscheinend automatisch mit der modernen Gesellschaft assoziiert, auch von Leuten, die nicht der Ansicht sind, daß früher alles besser war (Als Beispiel könnte W. Reichs Phantasie über die Ausbreitung der "emotionellen Pest" gelten). Moderne Gesellschaften müßten demnach etwas Verrücktes an sich haben oder in sich zur Verrücktheit tendieren.

Bei dieser Ansicht scheint es sich um ein kulturelles Apriori zu handeln, d.h. eine Repräsentation, die vor der Erfahrung kommt und sie in mancher Hinsicht bestimmt. Viele Anthropologen (e.g. M. Mead und R. Benedict) waren schon vor und nicht erst durch den Kontakt mit anderen Kulturen zivilisationskritisch eingestellt.

Die Annahme, psychische Störungen hätten zugenommen, beruht, wie ich a.a.O. ausführe, darauf, daß ein semantischer Zusammenhang zu einem empirischen Zusammenhang umgedeutet wird: Die Bedeutungsfelder von Moderne und Verrücktheit überlagern sich, mit der Folge, daß die Moderne verrückt und die Verrücktheit modern erscheint.


Was sagen die Daten? - Aus den vorliegenden (und keinesfalls ausreichenden) epidemiologischen Daten können wir den Schluß ziehen, daß schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland und anderen relativ entwickelten Ländern psychische Probleme haben, die eine Art Störungscharakter aufweisen. Wenn wir zeitweise stationäre Behandlungsbedürftigkeit (zusätzlich zu Einschränkungen der Liebes-, Arbeits- und Kommunikationsfähigkeit) als Kriterium für "schwere psychische Störungen" nehmen, liegt der Anteul der Bevölkerung bei einigen Prozent. Das individuelle Lebensrisiko für Schizophrenie beträgt ca. 1%.

Bestimmte Störungen sind zeit- und kulturgebunden, andere offensichtlich kulturübergreifend.

Zu der ersteren Gruppe scheinen u.a. die hysterischen Neurosen (insbesondere Konversions- und Dissoziationsphänomene) zu gehören, mit denen es Freud und seine Zeitgenossen zu tun hatten. Sie scheinen weitgehend von der Bildfläche verschwunden (obwohl sich in letzter Zeit auch hier ein Revival andeutet). An ihrer Stelle scheinen sich Persönlichkeitsstörungen vom narzißtischen oder Borderline-Typus verbreitet zu haben. Wie gesagt: scheinen! Ob hier wirklich ein Wandel stattgefunden hat, ist unklar. Die Datenlage erlaubt nicht zu entscheiden, ob sich tatsächlich das Störungsspektrum verschoben hat oder die gesellschaftliche Wahrnehmung, Codierung und Bewertung von abweichendem Verhalten.


Nach allem, was wir wissen, ist Schizophrenie in epidemiologischer Hinsicht kein kultur-gebundenes Phänomen: Sie tritt überall auf der Welt mit überraschend gleichartiger Häufigkeit auf (Jablensky 1989). Es liegen auch keine Hinweise dafür vor, daß Schizophrenie in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten an Häufigkeit zugenommen hat. Einige Epidemiologen halten statt dessen eine Abnahme in der Häufigkeit und vor allem im Schweregrad für plausibel.

Somit erscheint Schizophrenie als eine universelle, historisch nicht fixierbare Erscheinung. Es spricht wenig dafür, daß die moderne Gesellschaft die Schizophrenie erzeugt, kausal verursacht hat. Eine entsprechende "Logik" ist allerdings leicht konstruierbar (wie etwa Gabel, 1967; "Zunahme der Entfremdung = Zunahme der psychischen Krankheiten" etc.) Ebenso spricht wenig für die bio-soziale Theorie Torreys (1980), wonach die Bedingungen der modernen Zivilisation dafür gesorgt haben, daß die slow-virus-Krankheit, die Schizophrenie seiner Ansicht nach ist, sich seit dem 18. Jahrhundert ausbreiten konnte - letztlich über die ganze Welt.



Konstitution der Schizophrenie

Eine dritte These, die ich hier vertreten möchte, nenne ich Konstitutionsthese. Konstitution, in Kants Konzept der Gegenstandskonstitution "die Bestimmung sinnlicher Daten zu einem Gegenstand", ist hier die Gesamtheit der Vorgänge, durch die wir lernen, etwas als etwas zu betrachten, also die Gesamtheit der Prozesse, durch die ein vorher nichtkommunizierbares Phänomen, das außerhalb der sprachlichen Welt stand, zu einer sozialen Realität gemacht wird. Dies geschieht, indem das Phänomen in den Bereich der symbolischen Kommunikation gerückt wird.

Ein Erdbeben (wie das von Lissabon) wird erst dann zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, wenn es als etwas aufgefaßt wird, etwa als "Strafe Gottes" oder als "blindes Naturphänomen". Ist eine solche Konstitution geschehen, so kann nicht nur über das Phänomen, sondern auch mit dem Phänomen, im Sinne eines Mediums, kommuniziert werden.


Einer der zentralen Diskurse der Moderne bezieht sich auf die Frage, was das neuzeitliche Subjekt (die Person, das Individuum) ist, was die Möglichkeiten dieses Subjekts, was seine Gefährdungen sind. Wie unterscheidet es sich von anderen Bewußtseins- und Sozialbildungen in anderen Kulturen? Wie ist es historisch geworden, wie wird es sich weiter entwickeln? Worin wird es sein Heil finden - oder sein Unheil? Im Zusammenhang mit all diesen Fragen gelangen psychische Störungen zu ein größeren Bedeutung - als Medien des gesellschaftlichen Diskurses, d.h. als Zeichen.


Die These lautet nun, daß die Moderne die Bedingungen schafft, durch die ein vorher nur latent vorhandenes Spektrum an psychischen Störungen zu einer expliziten gesellschaftlichen Bedeutung gelangt, weiter, daß erst parallel zur Entstehung des modernen Subjekts auch die Schizophrenie als Krankheit der Subjektivität gesellschaftlich konstitutiert wird. Die materiellen und sozialen Voraussetzungen hierfür sind erhöhte gesellschaftliche Mobilität sowie die Enttraditionalisierung auf allen Gebieten, insbesondere der Zerfall traditioneller Lebensgemeinschaften, die Entwurzelung und innere Vereinsamung des modernen Menschen.

Aus der Zeit vor dem 18. Jahrhundert liegen so gut wie keine Zeugnisse vor, die die Existenz schizophrener Erfahrungen sicher belegen könnten (vgl. Jeste et al., 1985). Wie es den vormodernen psychisch Kranken in diesen Lebensgemeinschaften ergangen ist, wissen wir nicht. Auch dies ein Grund, sich vor schnellen Romantisierungen zu hüten. In der vormodernen Gesellschaft wird die Störung, die wir heute als Schizophrenie kennen, kaum zur Kenntnis genommen, oder sie wird in anderen Diskurssystemen als dem der Krankheit verhandelt (etwa religiös, dämonologisch). Damit die Störung Gesellschaft gesellschaftlich wichtig und als eigene Entität symbolisiert werden konnte, mußte erst ein Subjekt vorhanden sein, das durch sie (in wahrnehmbarer Weise) vernichtet werden konnte. Zu den kulturellen Bedingungen der Konstitution rechne ich das Erkennen und die Problematisierung des Ichs, die Trennung von privatem und öffentlichen Leben, eine Kultur der Innerlichkeit, die sich ihre entsprechenden Medien (wie die Briefkultur, den Roman) schuf, um diskursfähig zu bleiben.



Die Sympathie mit der Schizophrenie

Ich habe die These vom Zusammenhang zwischen Schizophrenie und moderner Gesellschaft als "Sympathie mit der Schizophrenie" charakterisiert. Der Begriff der Sympathie, der ursprünglich der Alchemie entlehnt ist, bedeutet nichts anderes als "Nähe", "Übersetzbarkeit", "Verwandtschaft". Im mittelalterlichen Denken (siehe Eco, 1995) stand er für eine generelle Beziehungsform, die jene Anziehungs-, Ähnlichkeits- und Beeinflussungsverhältnisse betrifft, die mittels der üblichen Begrifflichkeiten von Konvention, Kausalität, Ikonizität oder Analogie nicht erfaßt werden können (siehe auch Foucault, 1971, S. 53ff.).

Die unterstellte Sympathiebeziehung zwischen Schizophrenie und Moderne ist die Grundlage dafür, daß die Gesellschaft sich der Schizophrenie bedienen kann, um sich mit sich selbst über ihre Verfassung zu verständigen: Schizophrenie wird wichtig, weil sie zu einem Medium wird.

Indem die Gesellschaft Interpretationen der psychischen Störung anfertigt, deutet sie sich indirekt selbst. Die Interpretationen sind also ein Medium der Selbstdeutung.


Jeder kennt bestimmte sozial typisierte "Figuren" - der Kriminelle, Wahnsinnige, der Wilde, das Kind, der Heilige etc. - die in emblematischer Weise den kognitiven oder moralischen Zustand der Gemeinschaft repräsentieren. Dies gilt auch für den Narren und den Irren. Im Mittelalter wird der Tor in einen moralisierenden Diskurs eingebaut: "Der ‘authentische’ Tor, so Matejovski, bildet ... ein Modell, das benutzt wird, um bestimmte Verhaltensweisen als moralisch verfehlt, als unsinnig hinzustellen." (Matejovski 1996, 29). Die Moral-Didaktiker bedienten sich einer "Toren-Terminologie als einer ethisch-religiösen Kampfparole" um bestimmte Formen der Lebensführung zu kritisieren oder zu propagieren. Bereits hier tritt der Narr in seine Funktion als ideologische Gestalt ein. Der Narr ist nicht mehr nur ein Sonderfall einer sozial-moralischen Abweichung, sondern er ist ihr Modellfall, er steht für jede Form sozialer Randständigkeit.


In der Moderne ist der Irre in anderer, aber nicht minder moralischer Weise eine solche "prinzipielle", "fundamentale" Figur, eine Gestalt, an der etwas festgemacht und bemessen wird, die für etwas "bezeichnend" ist. Die psychische Krankheit geht in eine "Sprache" ein, in der die moderne Kultur sich mit sich selbst verständigt. Foucault übrigens (1968, 121) spricht davon, daß "eine Kultur sich in den Phänomenen, die sie verwirft, positiv ausdrückt"; der Wahnsinn habe deshalb "den Wert einer Sprache", die Kultur artikuliere sich in der Krankheit. Psychische Krankheit wird von der modernen Kultur als eine ihrer Achillesfersen willkommen geheißen. Die Krankheit zeigt uns, daß mit unserer modernen Verfassung evtl. etwas nicht stimmt, sie konfrontiert unser Leben mit anderen Möglichkeiten, dient uns als Spiegel, bildet einen Ansatzpunkt zur Hinterfragung der Normalität. Sie dient zur Anklage und zur Infragestellung (etwa der Familie). Dies alles, wie gesagt, geschieht nicht vom einem Standpunkt jenseits der Kultur, sondern ist kulturkonstitutiv. 



Ausblick: Von der Verdrängung zur Inkonsistenz

Welche psychischen Krankheiten sind heute "modern", welche sind "altmodisch"? Was macht sie dazu? Welche Aspekte psychischer Krankheiten sind "wegweisend"? Was bestimmt die Bedeutung und Bewertung psychischer Krankheiten in der jetzigen (und vielleicht auch zukünftigen) Moderne?

In der klassischen soziologischen und sozialpsychologischen Diskussion wurden psychische Störungen als Variante der sozialen Devianz (etwa Parsons, Scheff, Becker), als "abweichendes Verhalten" (Keupp, 1972) behandelt. In der hier vorgeschlagenen Sichtweise ist bei psychischen Störungen heute nicht primär die Normabweichung bzw. ein ihr zugrundeliegender ungelöster Konflikt zwischen Trieb und Wirklichkeit (wie im psychoanalytischen Modell) entscheidend, sondern die - gesellschaftliche und individuelle - Wahrnehmung und Bewertung von Inkonsistenz. Verdrängung, so die These, ist die Verfahrensform eines älteren Subjektmodells. Modernere Formen der inneren und äußeren Herrschaft bedienen sich als Verfahrensweise der Toleranz von Inkonsistenz.

Konsistenz resp. Inkonsistenz gilt für jene signifikativen Verhaltensweisen, die der sozialen Konstruktion einer Person zugrunde liegen und ebenso bei ihrer Identitätsbildung eine Rolle spielen. Inkonsistenz liegt vor, wenn Menschen Worte, Handlungen, Gesten etc. produzieren, die nicht miteinander übereinstimmen und somit auf den ersten Blick keine integrative Sinnhypothese, keine zentrierte Interpretation ermöglichen. Etwas paßt nicht zusammen - und wenn man hier von Normabweichung sprechen will, dann im Sinne einer internen Abweichung im goodness-of-fit der Person, eine Abweichung, die in eine Infragestellung der Wirklichkeit der Person nach aussen hin umschlagen kann. Personen sind mit anderen Worten für die soziale Umgebung psychisch gestört, nicht wenn sie sich falsch benehmen, sondern wenn sie sich unverständlich benehmen.


Die drei grundlegenden Formen psychischer Störungen, Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Psychosen, lassen sich danach unterscheiden, wie sie mit Inkonsistenz verfahren. Ich orientiere mich hierbei ein Stück weit an Kernbergs (1988) Kreismodell psychischer Störungen.

Beispiel: Ein Patient, der nach eigenen Angaben nichts mehr liebt als seine Familie und nichts mehr schätzt als deren Harmonie, spürt in sich einen immer stärker werdenden Zwangsimpuls, seine Frau und sein Kind zu erwürgen. Hier liegt eine Inkonsistenz zwischen zwei Botschaften vor. Auf der einen Seite "Ich liebe meine Frau" und "Ich liebe mein Kind", auf der anderen Seite: "Ich will sie vernichten". Die soziale Konstruktion der Person, etwa in der Psychotherapie. hat es mit dem Problem mangelnder Authentizität und Integrität zu tun. Welches ist die "wahre Person"? Ist die gewollte Harmonie "echt"? Ist sie die Ursache der Aggression?

Von der Konstruktion einer Neurose wäre dann zu sprechen, wenn beide Gedanken zur Kenntnis genommen und als unvereinbar anerkannt werden. Der negative Impuls wird vom Betroffenen dem eigenen Selbst zugerechnet, gleichzeitig als unvereinbar mit dem Selbst identifiziert. Um die Lücke zu schließen, wird eine Vereinbarkeit beider Gedanken durch Konstruktion einer übergeordneten Sinnhypothese für möglich gehalten, sozusagen eine "Heilung" und Versöhnung des Widerspruchs. Der Widerspruch ist ich-dyston; seine Anerkenntnis schafft hier einen gewissen Veränderungsdruck, eine Motivation und zugleich eine "Eignung" für die Psychotherapie.


Der wesentliche Operationsmodus bei narzißtischen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen ist die Spaltung oder Isolierung. Der Widerspruch wird in diesem Fall gar nicht erst wahrgenommen oder angenommen. Zwei disparate Gedanken oder Handlungen werden durchgeführt, ohne daß sie in Beziehung gesetzt werden. Kernberg führt das Beispiel einer Feministin an, die in einem Playboy-Club als Bunny arbeitet und damit nicht das geringste Problem hat. Zwei Komponenten eines Interpretationsvorganges werden also radikal aufgespalten. Man sucht nicht nach übergeordneten Sinnhypothesen, lokalisiert die wahrgenommenen Probleme nicht im eigenen Leben. Lösungsversuche für psychische Schwierigkeiten beziehen sich dementsprechend nicht auf das eigene Selbst und dessen Beziehung zur Umwelt, sondern auf beliebige äußere Sachverhalte (UFOs, Elektrosmog, Amalgam etc.). Die individuelle Form des Umgangs findet sozialen Anschluß dadurch, daß sich die individuelle Spaltung in Verbindung zu gesellschaftlichen Formen der Spaltung setzt.


Bei Psychosen schließlich wird die Inkonsistenz und der Widerspruch dadurch bewältigt, daß die Realitätsprüfung ausgeschaltet wird. Während bei der Persönlichkeitsstörung zwei unvereinbare Gedanken oder Intentionen existieren, von denen jeder einzelne aber von der Person sich selbst zugerechnet wird, wird in der Psychose der Widerspruch quasi externalisiert: der Gedanke, der in mir ist, ist gar nicht hat mein Gedanke, sondern er wurde mir eingegeben. "Ich denke nicht mehr, ich bin nicht das Subjekt, ich werde gedacht."

Die These besagt, daß in der Konstruktion psychischer Störungen heute immer mehr die Spaltung an die Stelle der Verdrängung tritt. Wenn wir zugleich voraussetzen, daß es sich bei Spaltung und Verdrängung um verinnerlichte Formen externaler Methoden der sozialen Kontrolle handelt, dann könnte diese These erklären, warum moderne Gesellschaft trotz anscheinend zunehmender Desintegration im Bereich der Normen und Werte weiterhin funktionieren (wie bekannt: ein Grundproblem der Soziologie der Devianz, etwa bei Parsons oder Goffman). Wie ist bei weitgehender Toleranz und Permissivität moderner Gesellschaften die Aufrechterhaltung sozialer Kontrolle möglich? Soziale Kontrolle, so die These, kann weiterhin zu funktionieren - aber nicht durch Zurückdrängung bzw. "Repression", sondern durch Spaltung, einer Form von Herrschaft und Kontrolle, die eher durch Kanalisierung und Getrennthaltung bestimmter Elemente funktioniert als durch Ausschluß.


Ich möchte zum Abschluß zwei Subjektmodelle der Moderne gegenüberstellen. In beiden Modellen ist das individuelle, subjektive Sein der Person etwas zutiefst Problematisches. Sie unterscheiden sich darin, wie man mit diesem Problem umgeht. Entscheidend ist dabei wiederum Anerkennung und Bewertung von Konsistenz bzw. Inkonsistenz.


a) Auf der einen Seite steht das klassische Modell, das idealistische Subjektmodell der Aufklärung: Menschen machen widersprüchliche Erfahrungen, sie spüren heterogene Anforderungen, die an sie gerichtet werden; sie müssen mit gegensätzlichen Triebstrebungen und Zielen klarkommen. Das Subjekt arbeitet an seinen widersprüchlichen Erfahrungen und versucht, ihre Gegensätzlichkeit zu überwinden und Konflikte zu lösen - ja, ihre Überwindung ist ein zentrales Entwicklungsprinzip, eine Art Katalysator. Das Subjekt steht, zwischen Wunschregungen auf der einen und Realitätsanforderungen auf der anderen Seite, unter ständigem Druck. Gelingt ihm keine Weiterentwicklung, entsteht Angst. Krisen können aber auch als Chancen für Weiterentwicklung und Neubestimmung erlebt werden.

Das Subjekt versucht, auf verschiedene Weise mit sich im Einklang zu sein, zu einer eigenen Sprache zu finden, mit einer eigenen, unverwechselbaren Stimme zu sprechen. Das Kriterium für das klassische Subjekt ist Integrität und Geradlinigkeit, die Konsistenz:


Übereinstimmung der inneren Teile ; im Einklang mit sich selbst sein

Übereinstimmung von innen und aussen, authentisch sein

Übereinstimmung von Worten und Taten, wahrhaftig sein

Übereinstimmung von Gefühlen und Gedanken, echt und kongruent sein.

Übereinstimmung in der Biographie: geradlinig sein, sich selbst treu bleiben.

Diese Formen der Integration entsprechen allgemeinen Werten und Zielsetzungen der aufgeklärten Psychotherapie. Freiheit ist in diesem Modell mit Wahrheit verbunden. Sie besteht darin, sich so zu geben, wie man eigentlich, d.h. in Wahrheit ist. Wenn Innen und Aussen, das was man sagt und das, was man empfindet etc., nicht übereinstimmen, dann stimmt etwas nicht, und diese Inkonsistenz erzeugt ein Veränderungspotential.


b) Das postmoderne Subjektmodell integriert demgegenüber bestimmte, "pathologische" Merkmale des subjektiven Seins. Unter Berufung auf Marcia (1989) kommt etwa Kraus (1995) zu dem Schluß, daß "ein Identitätsergebnis, welches vordem pathologisch genannt worden wäre, heute kulturell adaptiv sein könne" (S. 55). Man kann es auch umgekehrt formulieren: Um kulturell adaptiv zu sein, müssen heute Individuen Identitäten konstruieren, die vormals pathologisch genannt worden wären. Der Verzicht auf die oben beschriebenen Konsistenzkriterien bedeuten für das Subjekt eine Erleichterung, eine Entlastung. Konsistenz wird immer mehr als Zwang empfunden, ebenso Wahrheit und Authentizität. Man sucht nicht Befreiung, sondern Erleichterung. Zu den Merkmalen des Post-Subjekts gehören die Fragmentierung, die Toleranz von Widersprüchen, das Spiel mit Oberflächen, Zitaten und Rollenversatzstücken, die Zersplitterung der Identität, die beziehungslose Koexistenz unterschiedlicher Realitätsmodelle. Jedem wird in beziehungsloser Indifferenz seine eigene Realität zugebilligt - "es ist ok" - ohne daß daraus ein wechselseitiges Verständnis erwachsen würde. Die Angst ist nicht mehr die neurotische Angst des Ichs, zwischen Wunsch und Realität gewissermaßen zerdrückt zu werden, sondern die Angst des Ichs, sich nicht mehr zu spüren.

Praktisch bedeutet dies für die ("postmoderne") Psychotherapie, daß Wahrheit, Freiheit, Deutung, Aufklärung und "Heilung" (im Sinne der Vereinigung des Disparaten) zugunsten von Konstruktion, Experimentieren, Suggestion und Funktionieren zurückgedrängt werden.


Für die Wahrnehmung der Schizophrenie bedeutet der sich so andeutende Wandel, daß im Gegensatz zu früher auf die Suche nach Sinn bewußt verzichtet werden kann. Psychiatriekritiker älteren Schlages hatten unter Beweis stellen wollen, daß Sinn und folglich Verstehbarkeit auch in der Psychose erhalten bleibt. Der Sinn sei nur in einer besonders poetischen oder privatsprachlichen Weise verschlüsselt. Jaspers (1946), der dies anzweifelte, war ihnen deshalb suspekt geblieben. Das Sinnpostulat richtete sich gegen die biologische Psychiatrie mit ihrer Lehre, die Handlungen und Äußerungen der Patienten seinen krankheitsbedingt und deshalb sinnlos bzw. umgekehrt, ihre Sinnlosigkeit sei halt der beste Beweis für die Krankheitsbedingtheit. In neuerer Zeit dagegen erscheinen diejenigen Aspekte der Schizophrenie interessanter, die dem stop-making-sense-Gebot der Postmoderne entgegenkommen, die "Praktik des Ziellos-Heterogenen, Fragmentarischen und vom Zufall abhängigen" (Jameson).

Während noch Freud die Konstruktion des Unbewußten dadurch zu rechtfertigen versuchte, daß sie dort Sinn ermöglicht, wo Unsinn war, kokettiert die heutige Spätmoderne bewußt mit dem Unsinnigen. Sie strebt nach einer Befreiung von der Sinnforderung, wenn darunter die interpretative Integration unterschiedlicher Verhaltens- und Erlebnisanteile verstanden wird.


Ich gehe davon aus, daß die Formierung von problematischen Identitäten, die mit sich nicht im Einklang sind, heute der gesellschaftliche Normalfall ist. Alle sind Abweichende, Unnormalität wird zum Normalfall, die Individuen bilden eine Gemeinschaft der Sonderlinge, die ihren abweichenden und unglücklichen Status mitunter aggressiv verteidigen. Das Verhältnis zu den psychisch Kranken wird damit zu einer Doppelhaltung aus Ablehnung und Identifikation. Darin steckt auch etwas Schönes. Adorno (1951, S. 78f.) hat schon früh auf den modernen Lustgewinn am eigenen Gestörtsein hingewiesen, durch das man sich nicht mehr als Außenseiter, sondern gerade in Übereinstimmung mit dem Mainstream wisse. Über das masochistische Vergnügen, kein Ich mehr zu sein, wache "die heraufziehende Generation so eifersüchtig wie über wenigen ihrer Güter".

 

* Colloquium vom 9. 7. 1997 


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