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Cora Rok (Bonn)



Christiane Conrad von Heydendorff (2018): Zurück zum Realen. Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur, Mainz: V&R unipress.


In ihrer 2017 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereichten 450-seitigen Dissertation widmet sich Christiane Conrad von Heydendorff ausgewählten Werken der Autoren Niccolò Ammaniti (*1966), Mario Desiati (*1977) und Roberto Saviano (*1979) und knüpft mit ihrer Untersuchung an die aktuelle Debatte zum "Neuen Realismus" an. Wurde jene zuletzt von Markus Gabriel und Maurizio Ferraris 2014 angeheizt, nimmt die Verf.in weniger den philosophischen Ansatz, den sie ebenfalls in einem Kapitel vorstellt (vgl. 38ff.), als vielmehr literaturwissenschaftliche Positionen wie die Romano Luperinis zum Ausgangspunkt ihrer Erwägungen, der 2005 ein fine del postmoderno heraufbeschwört und eine Wiedererweckung schriftstellerischer Verantwortung konstatiert hat (vgl. 26). Der Titel der Dissertation erinnert vor allem an die 2008 erschienene 57. Ausgabe der Literaturzeitschrift Allegoria, in der Raffaele Donnarumma, Gilda Policastro und Giovanna Taviani mit verschiedenen Autoren über einen möglichen "Ritorno alla realtà" in der italophonen zeitgenössischen Literatur diskutieren.

Dass über die Diagnose einer "Rückkehr zur Realität" nicht unbedingt Einigkeit herrscht, demonstriert die Verf.in in einer Gegenüberstellung der wichtigsten Positionen (vgl. 70ff.); spricht beispielsweise Mauro Covacich vom Anbruch einer "post-zynischen Phase", in der Engagement und Weltbezug die selbstbezügliche Literatur abgelöst habe, hält es Aldo Nove für unmöglich, nach Freud, Lacan und dem Strukturalismus von einem "realismo in buona fede" zu sprechen, sodass man sich bei der Annahme eines neuen Realismus' wohl eher darauf einigen müsse, "che si tratta della convenzione di un'altra fiction" (Nove, zitiert nach C.v.H., 73). Walter Siti bewertet die Wirtschaftskrise, Jugendarbeitslosigkeit sowie die Rückkehr eines historischen, autobiographischen und traditionell mimetischen Romans – Phänomene, die sich als Realitätseinbrüche deuten ließen, – gerade als einem neuen Realismus zuwiderlaufend (vgl. 75). Laut Verf.in könne Siti seine Aussage aber nicht hinreichend begründen, seine Kritik wird an anderer Stelle auf eine "einseitige Realismusrezeption" (71) zurückgeführt, die Realismus und Illusionserzeugung als unvereinbar betrachtet.




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Der Verf.in selbst schwebt eine Rehabilitierung des Realismusbegriffs vor, in dem Exaktheit und Subjektivität, Phantasie und Realismus, Mimesis und Poiesis zusammengedacht werden. Und um zu zeigen, dass auch die Autoren 'alter' Realismen nicht so naiv waren zu glauben, die Wirklichkeit lasse sich problemlos wahrnehmen sowie darstellen, schlägt die Verf.in einen Bogen zum französischen Naturalismus und italienischen Verismus des 19. Jahrhunderts sowie zum italienischen Neorealismus des 20. Jahrhunderts und nennt als traditionelle realistische Schreibverfahren Exaktheit und Wissenschaftlichkeit in der Nachahmung alltäglichen Lebens, das Verschwinden des Autors hinter der Handlung, dialektale Einschübe oder aber die dokumentarische Inszenierung von Zeugenschaft (vgl. 45ff.). Zu einer Epochenbezeichnung, die den Realismus "im Namen" (66) trage, käme es, so hält die Verf.in fest, eben dann, wenn sich in Texten eines historischen Zeitabschnitts vermehrt "effets de réel" auffinden ließen, wobei der Barthes'sche Begriff noch zu erweitern sei. Nicht nur müsse man auch von "effets d'anti-réel" sprechen, um einen Text auf einer Skala zwischen zwei Polen, an deren einem Ende anti-realistische Literatur und an deren anderen Ende realistische Literatur stehe, verorten zu können (vgl. ebd.), auch dürften unter Realitätseffekten nicht nur, wie Barthes vorschlägt, die "détails 'inutile'" subsumiert werden;

jedes Element der Erzählung, jede Darstellungsweise, die Wahl des Genres oder die Führung des Blickwinkels, die die Erzählung in die eine oder andere Richtung bewegt, das heißt, jede Erzählstrategie, die der Authentifizierung oder dem Illusionsbruch in irgendeiner Form dienlich ist, sei es auf Makro- oder Mikroebene des Textes, sei es bezüglich Form oder Inhalt (67)

könne, so die Verf.in, als Realismus-erzeugende (bzw. durchbrechende) Technik fungieren. Die Untersuchungskategorien Federico Bertonis aufgreifend, beabsichtigt die Verf.in, sowohl auf "thematisch-referenzieller Ebene" (dictum) als auch in den "stilistisch-formalen Elementen" (modus) nach Realismusmarkern zu fahnden (vgl. ebd.). Zuvor gibt sie jedoch noch mit David Nelting zu bedenken, dass eine zweite Achse in die Skala einzufügen wäre, auf der ein zeittypisches "Paradigma der Effekte" (ebd.) eingezeichnet werden müsste, da die Art der Mimesis auch von den jeweiligen Wahrheits- und Wirklichkeitsvorstellungen einer Zeit abhängig sei.

Lässt sich nun auf der dictum-Ebene relativ leicht ein zeittypisches Paradigma aufstellen, indem auf den Anstieg literarischer Publikationen zu 'ernsten' Themen wie Migration, Flucht, Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und organisierte Kriminalität seit den 1990er Jahren verwiesen wird (vgl. 77ff.), geht es der Verf.in nicht allein darum zu zeigen, dass das unmittelbare Lebensumfeld der Schriftsteller in der Gegenwart wieder als Themengeber fungiert und jene aus der postmodernen Selbstbespiegelungsphase hinaus zu einer engagierten Beschäftigung mit aktuellen gesellschaftlichen Krisenherden gefunden haben. Anhand der Analyse von fünf Romanen aus den 2000er Jahren – Niccolò Ammanitis Io non ho paura von 2001 sowie Come Dio comanda von 2006, Marco Desiatis Il paese delle spose infelici von 2008 und Foto di classe von 2009 sowie Roberto Savianos Gomorra von 2006 wird der Frage nachgegangen, inwiefern mit der Rückkehr zum Realen auch ein Rückgriff auf traditionelle realistische Schreibweisen (modus) bzw. bestimmte "effets de réel" einhergeht.




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Es stellt sich im Verlauf der Arbeit heraus, dass sich nicht nur thematische und formale Parallelen zu älteren realistischen Werken finden lassen, sondern dass auch postmodernistische Verfahrensweisen umfunktionalisiert werden, die nicht mehr dazu beitragen, Realitätsbezüge aufzulösen und Referenzialität zu negieren, sondern gerade mit der Intention, Realismus zu erzeugen, eingesetzt werden. Insbesondere an den Werken des zu der Gruppe der Cannibali gehörenden Autors Ammaniti lasse sich ein "Transfer postmodernistischer Techniken in neue effets de réel" (116) nachvollziehen, weshalb die Verf.in noch zwei weitere, im Genre des sogenannten Pulp verhaftete Romane Ammanitis, Fango von 1996 sowie Ti prendo e ti porto via von 1999, betrachtet, um die Pulp-Literatur der Cannibali als Scharnier zwischen Postmodernismus und neuen Realismus zu bestimmen, die ähnlich der Scapigliatura im 19. Jahrhunderts eine Umbruchszeit markiere (vgl. 115).

Mit Blick auf Verga, Vittorini, Levi und Scotellaro arbeitet die Verf.in in ihrem Kapitel zu Desiati, der in der Tradition der letzten beiden stehe und ihre Muster und Topoi nicht nur fortführe, sondern auch verstärke und überschreite (vgl. 275), den Meridionalismus als Unterkategorie realistischen Schreibens heraus. Vergleicht die Verf.in einerseits die Protagonistin des Romans Il paese delle spose infelici mit jener aus Levis Cristo si è fermato a Eboli, deren körperlicher Verfall parallel zur Dekadenz Apuliens dargestellt werde, stellt sie andererseits eine Verbindung zwischen Desiatis 'dokufiktionalem' Text Foto di classe und dem Werk Scotellaros fest, der ebenfalls wie Desiati auf Lebensläufe und Fragebögen zurückgegriffen habe (vgl. 276). In der Präsenz des Autor-Erzählers, der sich bei Desiati deutlich zeige und sein Vorgehen selbstreflexiv thematisiere, erkennt die Verf.in dann ein besonderes Merkmal des neueren realistischen Erzählens, das der Erzähltechnik der "alten Realismen, die den Gestus der Maskierung des Vorgehens verfolgten", (244) zwar widerspreche, aber in anderen literarischen Kontexten, wie eben bei Desiati gezeigt, durchaus eine authentizitätsstiftende Funktion erfüllt.

Es muss daher auch nicht paradox wirken, dass die Verf.in Savianos explizit geäußerte Distanzierung von der Postmoderne und sein Anliegen, aus der Realität zu erzählen, betont und dann auf zahlreiche postmoderne Merkmale seines Werks verweist: Mit Gomorra hat Saviano einen Genrehybrid (vgl. 290) geschaffen, der sich zwischen Roman, Sachtext und Reportage ansiedelt und am ehesten als Dokufiktion bezeichnet werden kann. Der Genremix sowie die Intertextualität und Intermedialität – die Verf.in liest Gomorra als Hypotext zu Émile Zolas Le Ventre de Paris (vgl. 339ff.) – sind jedoch nicht als bloße postmodernistische Spielereien aufzufassen, sondern verfolgen didaktische, aufklärerische Zwecke. Bejahe Saviano zwar das Vorhandensein von Simulakren in der zeitgenössischen (extratextuellen) Lebenswelt, die beispielsweise durch Filmkonsum zustande kämen – so wird in Gomorra eine Villa nach dem architektonischen Vorbild aus dem Brian De Palmas 1983 erschienenem Mafiafilm Scarface modelliert – (vgl. 391), negiere er trotzdem die Gleichsetzung von Simulakrum und Realität, da er es für möglich halte, auch noch innerhalb von Fiktionen Einfluss auf die Realität zu nehmen. Der heitere postmoderne Nihilismus ist bei Saviano einem aktualisierten Kant'schen "sapere aude" (43), das "postmodernistische anything goes" einem "whatever works" (399) gewichen, schließt die Verf.in.




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Wurde zu Anfang betont, dass die Ausformungen des Realismus dem Zeitgeist unterliegen, so arbeitet die Verf.in zwar unterschiedliche Realismus erzeugende Effekte in den Texten der drei ausgewählten Autoren heraus, kann aber im homo- bzw. autodiegetischen Erzähler, der trotz seiner subjektiven Perspektive die Authentizität des Erzählten zu verbürgen vermag, sowie in der Offenlegung eines methodischen Vorgehens bei Desiati und Saviano eine "typische" Gemeinsamkeit feststellen (vgl. 412). Der Blick auf andere zeitgenössische Publikationen könnte in zukünftigen Arbeiten das für die 2000er Jahre zeittypische Paradigma neuen realistischen Schreibens zu vervollständigen helfen.

Die insgesamt vier Zwischenfazite, von denen das erste die Ergebnisse des Theorieteils prägnant zusammenfasst, während die anderen drei jeweils auf die Kapitel zu den Autoren folgen, ermöglichen auch ein Querlesen des Buchs und eine schnelle Informierung. Bereits die Einleitung greift schon wesentliche Erkenntnisse der Arbeit vorweg und auch in der Schlussbemerkung wird der Inhalt der Zwischenfazite noch komprimierter wiederholt, weshalb man der Verf.in diesbezüglich wenn nicht Redundanz, so doch eine übermäßige Sorge um das Verständnis des Lesers nachtragen kann, dem doch eigentlich auch hätte zugemutet werden können, sich auf den sprachlich klaren, wohlstrukturierten und kurzum lesenswerten Text als Ganzen einzulassen. Gewitzte Titelüberschriften wie Der 'Kannibalismus' in der Literatur oder die 'Verdauung' der Postmoderne zeugen nicht nur von einem intelligenten und leichten Umgang mit der verhandelten Materie, sondern sorgen auch für Lesevergnügen. Allgemein liegt der Arbeit eine intensive und umfassende Recherche zugrunde, noch dazu demonstriert die Verf.in mit ihren Verknüpfungen zu Werken aus der Literatur- und Filmgeschichte ein breites kulturelles Wissen.

Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass es, bis auf wenige Aufsätze, bislang kaum deutschsprachige Publikationen zu den Werken Ammanitis, Desiatis und Savianos gibt, hat die Verf.in mit ihrem Buch nicht nur einen wertvollen Beitrag für die Forschungsliteratur zu den drei Autoren, sondern auch zu der Debatte um den neuen literarischen Realismus in Italien geliefert. Der Umdeutung postmodernistischer Verfahrensweisen im Kontext neuen realistischen Schreibens sollte unbedingt weiter nachgespürt werden, das Buch von Christiane Conrad von Heydendorff kann für diesen Forschungsansatz wegweisend sein.