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Timo Kehren (Mainz)



Mohr, Jan / Struwe, Carolin / Waltenberger, Michael (Hg.) (2016): Pikarische Erzählverfahren: Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin/Boston: Walter de Gruyter.


Das wissenschaftliche Interesse an der Pikareske oder – allgemeiner gefasst – am Pikaresken scheint angesichts der Menge an rezenteren Publikationen in diesem Bereich ungebrochen. Zwei vielbeachtete Sammelbände haben die deutschsprachige Forschung in den letzten Jahren maßgeblich beeinflusst: In Das Paradigma des Pikaresken (2007), das von Christoph Ehland und Robert Fajen herausgegeben wurde, wird das Pikareske als ebenso transkulturelles wie transhistorisches "Inventar miteinander kombinierbarer diskursiver, narrativer, stilistischer und perspektivischer Grundmuster" (Ehland/Fajen 2007: 12) definiert; Das Syntagma des Pikaresken (2014), für das Jan Mohr und Michael Waltenberger verantwortlich zeichneten, nimmt hingegen die historisch gebundenen "Konstitutionsbedingungen und Konstruktionsprinzipien [der] narrativen Entfaltung" (Mohr/Waltenberger 2014: 10) der pikaresken Gattung in den Blick. Im gleichen Jahr erschien Transformationen des Pikarischen1 unter der Federführung von Niels Werber und Maren Lickhardt; hier liegt der Fokus auf der "Wandlungsfähigkeit von Gattung und Gattungselementen im Sinne einer sehr losen Architextualität" (Werber/Lickhardt 2014: 5).2

Mit Pikarische Erzählverfahren: Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts (2016) legen Jan Mohr und Michael Waltenberger nun erneut eine Aufsatzsammlung zum Pikaresken vor; zu den Herausgebern zählt dieses Mal auch Carolin Struwe, die aufgrund ihrer Dissertationsschrift Episteme des Pikaresken: Modellierungen von Wissen im frühen deutschen Pikaroroman (2016) als Expertin auf diesem Themengebiet gelten darf. Nach dem Vorbild früherer Publikationen sind auch in dem vorliegenden Sammelband Aufsätze aus verschiedenen Philologien, in diesem Falle der Germanistik und Romanistik, zusammengestellt. Worin aber unterscheidet er sich von seinen Vorgängern?




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Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung erklären, besteht ihr primäres Anliegen darin, "eine Gattung 'Pikaroroman' nicht als transhistorisch konsistente strukturell-diskursive Formation zu konzeptualisieren, sondern stattdessen einzelne Momente ihres Profils diachron in den Persistenzen und Verschiebungen ihrer narrativen Integration und semantischen Funktionalisierung zu verfolgen" (5). Zu diesem Zweck werden Ansätze der Narratologie, die sich auf "motivische[] Rekurrenzen, plot-Strukturen und Sujetfügung" (8) beziehen, mit epistemologischen Fragestellungen verzahnt: "Bestände eines kulturellen Wissens [werden] nicht nur in Strukturen des Erzählten, sondern auch des Erzählens gespeichert, verarbeitet, reproduziert, aber ebenso produziert […]." (11) Zentral ist in diesem Zusammenhang der Befund, dass Wissen im Schelmenroman auf individueller Erfahrung beruhe und somit prinzipiell situationsgebunden, prozessual und vorläufig sei, was insbesondere zur Schwierigkeit der syntagmatischen Schließung der Handlung sowie deren Überführung in ein telos führe. Der Schelmenroman sei Ausdruck einer "epistemischen Krise" (16), in der übergeordnete Sinnzusammenhänge ihre Gültigkeit verlören und Autoritäten neu zugewiesen würden.

In den einzelnen Beiträgen werden nun zum Teil sehr unterschiedliche Deutungsverfahren gewählt, die die Herausgeber formal durch die Einteilung in vier thematische Gruppen zu organisieren versuchen.

Die erste Gruppe widmet sich der systematischen Beschreibung von pikaresken Textkomponenten sowie deren generisch bedingten Formierungen und historischen Funktionalisierungen. Den Auftakt bildet Rainer Warning mit einer Untersuchung zur pikaresken Komik anhand von Francisco de Quevedos Buscón (1626). Im Zentrum von Warnings Ausführungen steht der amerindische Mythenzyklus Der göttliche Schelm, der 1954 von Carl Gustav Jung, Karl Kerényi und Paul Radin herausgegeben wurde. Der Schelm und näherhin Don Pablos de Segovia sei göttlich – so lässt sich zusammenfassen –, weil das Lachen über ihn im Sinne Helmuth Plessners ein Moment des "intellektuell Unabgegoltene[n]" (45) enthalte. Das pikareske Lachen basiere nicht etwa auf einer wertbesetzten Normopposition, das dann dem Bereich der Satire zuzuordnen wäre, sondern sei maßgeblich dualer Natur: Die Listen des Schelms "indizieren […] Entmächtigung bei beibehaltener Exzeptionalität" (45). Dementsprechend lasse sich die Einsamkeit des Schelms nicht mit seiner sozialen Marginalisierung, sondern mit seiner mythischen, das heißt vorgesellschaftlichen, Alterität erklären.

Dem Aufsatz von Thomas Althaus liegt die Feststellung zugrunde, dass es im Zuge der Übertragung spanischer Schelmenromane ins Deutsche zu einer "topischen Radikalisierung" (74) komme. Daran schließt sich die Frage an, ob diesen Adaptationen mithilfe von allegorischen Verfahren noch eine verbindliche Moral zugewiesen werden kann. Althaus nimmt drei Texte ins Visier: Die 1615 erschienene Guzmán de Alfarache-Adaptation von Aegidius Albertinus fasst er hinsichtlich der Deutungsebene als "überregulierte[n] Text" (77) auf; Niclas Ulenharts History von Isaac Winckelfelder und Jobst von der Schneid (1617), die auf die cervantinische Novelle Rinconete und Cortadillo (1613) zurückgeht, attestiert er "offene Darstellungssituationen, deren eindimensionale Bewertung zu einer unterkomplexen Auseinandersetzung mit dem pikarischen Erzählen führt" (83); in der Landstörtzerin Iustina Dietzin Picara genandt (1626/27) schließlich falle die "allegorische Kontrolle des Sinns" (91) ganz aus. Daraus lasse sich schließen, dass die Lehren in den deutschen pikaresken Texten zunehmend situativ bedingt seien, wodurch die Auslegung der Handlungen nicht länger Allgemeingültigkeit beanspruchen könnten.




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Christian Kirchmeier befasst sich seinerseits mit den Spannungen, die zwischen traditioneller Moralsatire und 'pikarischen Erzählverfahren' bestehen. Dabei orientiert er sich an der Hypothese Émile Durkheims, dass die universellen moralischen Normen im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung einem individuellen Wertesystem gewichen seien. Demnach lasse sich der Protagonist von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668) als "Liminalitätsfigur" (105) deuten, die gleichsam auf der Grenze zwischen gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion wandle. Vom Einsiedel geschult, trage Simplex die althergebrachten Moralvorstellungen in die Welt hinaus, in der er sich erst Gehör verschaffen könne, als er zum Hofnarren wird. In die Gesellschaft integriert werde er allerdings erst, als er sich zu einem Schelmenleben entscheidet und somit den verbürgten Werten abschwört. Im Simplicissimus redivivus (1743) dann werde das Problem der gesellschaftlichen Integration des Schelms anhand einer national differenzierten Wertegemeinschaft gelöst: Der wiederauferstandene Simplex marschiert im Rahmen des Österreichischen Erbfolgekriegs als französischer Söldner in Prag ein, um sich dann aber den ungarischen Truppen anzuschließen und Teil eines habsburgischen Gemeinwesens zu werden.

Die zweite Gruppe befasst sich mit Möglichkeitsbedingungen produktiver Textrezeption in transkulturellen Zusammenhängen. Im Mittelpunkt der Untersuchung von Rosmarie Zeller stehen die intertextuellen Bezüge des Wolfgang Caspar Printz zugeschriebenen Güldnen Hunds (1675). Unter Berufung auf Jean Chapelain und Charles Sorel zeichnet die Verfasserin zunächst die Entwicklung des komischen Romans nach, als dessen Ausgangspunkt Apuleius' Goldener Esel angeführt wird. Dieser gelte nicht nur als Vorbild für den Schelmenroman, sondern bilde hinsichtlich der Erzählstruktur und Motive auch eine Vorlage für den Güldnen Hund. Neben den Gemeinsamkeiten mit dem Goldenen Esel identifiziert Zeller auch eine Reihe von Parallelen mit dem Simplicissimus. Anders als bei Grimmelshausen sei der Schreibanlass hier allerdings kein Geständnis, sondern der Anspruch, eine in den Jahren der Entstehung des Textes weit verbreitete Nachricht richtigzustellen, der zufolge ein böhmischer Edelmann in einen Hund verwandelt worden sei. Somit reflektiere der Text letztlich auch über den Wirklichkeitsgehalt, der dem komischen Roman analog zu faktualen Textsorten traditionell zugeschrieben werde.

Frank Estelmann diskutiert in seinem Beitrag zunächst die Bedeutung literarischer Epigonen und kritisiert in diesem Zusammenhang teleologische Literaturgeschichten, die den Aufstieg und Verfall literarischer Gattungen erzählen. Sodann zeigt er auf, wie in der Hija de Celestina (1612) von Alonso de Salas Barbadillo ein celestinesk-pikaresker Erzählstrang um die Schelmin Elena mit einem höfisch-novellistischen Erzählstrang um ihren Liebhaber Don Sancho konkurriert. Mit der Hinrichtung der Schelmin setze sich letzterer Erzählstrang durch; der einstige Liebhaber zeigt sich reumütig. Anschließend wendet sich Estelmann der Verbreitung spanischer Texte jenseits der Iberischen Halbinsel und ihren fremdsprachlichen Übertragungen in der Frühen Neuzeit zu. Dies führt ihn zu Paul Scarrons Hypocrites (1657), einer französischen Adaptation der Hija de Celestina. Dabei handle es sich nicht einfach nur um eine Übersetzung, sondern um eine kulturspezifische Aneignung des Textes nach Maßgabe des roman comique. Insbesondere moralisierende Passagen seien variiert, was dazu führe, dass Elena nun ungeschoren davonkommt.




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In Anknüpfung an Thomas Althaus befasst sich Jan K. Hon mit der pikarischen Erzählstrategie in Niclas Ulenharts History von Isaac Winckelfelder und Jobst von der Schneid (1617) vor dem Hintergrund der konfessionellen Konflikte des 17. Jahrhunderts. Während in der spanischen Textvorlage die katholische Scheinheiligkeit in der Sevillaner Unterwelt gespiegelt werde, sei der Blick in Ulenharts Übertragung auf die unterschiedlichen Konfessionen in Böhmen vor dem Dreißigjährigen Krieg gerichtet. Mit Bezug auf die bisherige Forschung schlüsselt Hon auf, welche gesellschaftlichen und politischen Bezüge der History zugrunde liegen könnten, um dann dezidiert auf die Frage der narrativen Vermittlung zu sprechen zu kommen. Die auf Cervantes zurückzuführende Wahl eines hetero- und extradiegetischen Erzählers erzeuge eine dialogische Vielfalt, die zu einer Objektivierung der Perspektive und Sprache des pikaresken Personals führe. Dadurch werde der Raum für eine Inszenierung zeitgenössischer Diskurse geschaffen, die sich einer vereindeutigenden Lektüre bewusst entziehe und einen Leser voraussetze, der aktiv an der Bedeutungskonstitution des Textes partizipiert.

Die dritte Gruppe, deren thematischer Schwerpunkt nicht weiter spezifiziert wird, eröffnet Sebastian Speth. In seinem Beitrag zur Funktion der Fortuna in deutschsprachigen pikaresken Texten führt er diverse Romane von Johann Beer – namentlich Der simplicianische Welt-Kucker (1677–79), Corylo (1680) und Jucundus Jucundissimus (1680) – mit dem Erstdruck des anonymen Fortunatus (1509) und dessen moralisierender Version von ca. 1850 zusammen. Speth organisiert seine Argumentation durch eine horizontale Achse, die das ziellose Herumirren der pikarischen Helden beschreibt, sowie eine vertikale Achse, die der Bewältigung dieser Kontingenz durch die Fortuna dient. Im Jucundus stünden diese Achsen im Zeichen von Tugendlohn und Sündenstrafe. Im Falle des Fortunatus gerate die vertikale Achse ins Hintertreffen; im moralisierenden Fortunatus aber werde sie durch die Straffung der Handlung sowie die Einführung einer Kommentarebene privilegiert.

Simon Zeisberg bringt die Romane Johann Beers seinerseits mit der "funktionalen Optimierung des (adligen) Haushaltes" (212) zusammen, durch die sich Angehörigen niederer Stände Aufstiegsmöglichkeiten als Verwalter oder Hofmeister boten. Das Handeln des pikarischen Helden fasst Zeisberg mit Michel de Certeau als taktisch auf; der atopische Schelm zeichne sich durch ein parasitäres Eindringen in den 'Ort des Anderen' aus. Corylos Aufstieg sei von zahlreichen Zufällen und Verwechslungen geprägt; demgemäß schließe die Handlung mit dem unerwarteten Klostergang des Protagonisten. Im Falle des Jucundus liege hingegen ein unmissverständlich erklärter Aufstiegswille vor, der mit taktischem Kalkül verfolgt werde. In der Willenhag-Dilogie schließlich greife Beer auf ein romaneskes Handlungsschema zurück: Die Hauptfigur erweist sich am Ende des ersten Teils als Sohn eines Edelmanns, womit sie am 'Ort des Anderen' angekommen sei. Die Fortsetzung des Romans schließlich könne ihre Sujethaftigkeit dank der Integration pikarischer Figuren bewahren, die der nobilitierte Held zum Erzählen ihrer Geschichten einlädt.




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Jörg Krämer geht bei seiner Befragung des Politischen Romans auf pikareske Elemente davon aus, dass dessen poetologisch verbürgter moraldidaktischer Anspruch durch "Tendenzen einer Widerständigkeit des Erzählens gegen seine Funktionalisierung" (227) unterlaufen werde. Mithilfe eines pikarischen Lebenslaufmodells sowie der vom Romantitel vorgegebenen Leitmotivik würden im Politischen Näscher (1678) von Christian Weise erzähltechnische Verfahren des Schelmenromans, der italienischen Novellistik und deutscher Schwanksammlungen zusammengeführt. Dabei wirke das pikareske Erzählmodell "wie eine narrative Hohlform, die ihres ursprünglichen Sinnes weitgehend entleert" (235) sei. Die Figur des Crescentio gelange – anders als im Schelmenroman üblich – nicht zur Einsicht; dadurch bleibe die Umsetzung des moraldidaktischen Programms bis zum Ende aus. Die einzelnen Episoden würden immer wieder durch willkürlich eingestreute Binnenerzählungen unterbrochen, die sich durch ein Übermaß an Unterhaltung auszeichneten. Somit könne die Einheit des Textes letztlich nur durch auktoriale Eingriffe gerettet werden, die aber ebenfalls wie Fremdkörper wirkten.

Die vierte Gruppe steht im Zeichen der Wandlungen und Grenzen pikarischen Erzählens auf der Schwelle zwischen Barock und Frühaufklärung. Carolin Struwe wendet sich dem Frantzösischen Kriegs-Simplicissimus (1682/83) von Johann Georg Schielen zu, der den Simpliziaden, den Nachahmungen des Simplicissimus Teutsch, zugerechnet wird. Die Hauptfigur gibt sich als Vetter des Simplicius aus und behauptet, im Niederländisch-Französischen Krieg an der Seite der Franzosen gekämpft zu haben. Struwe beschäftigt sich nun mit der Frage, wie die narrativen Verfahren des Modells überholt werden. Bereits der Beiname des Protagonisten weise auf die formalen Veränderungen hin: Er wird als variegattus, als 'bunt gemacht', ausgewiesen, womit auf seine "unabschließbare Wandlung" (253) angespielt werde, die sich nicht mehr in den "übergeordneten Sinnhorizont" (253) der conversio einspannen lasse. Erzählstrukturell werde dies an eingestreuten "Kriegsavisen und Relationen, Dokumenten und Diskursen" (258) erkenntlich, die den individuellen Lebenslauf überwucherten. Der Wahrheitsgehalt der verschiedenen Quellen werde bisweilen in Form von Streitgesprächen verhandelt, die an die Stelle der gattungstypischen Konfrontation von erzähltem und erzählendem Ich trete.

Claus-Michael Ort befragt den sechsteiligen Romanzyklus des Medicinischen Maul-Affen (1694–1720) von Johann Christoph Ettner auf das dort verhandelte Verhältnis von Wissen und Fiktion. Er verortet den Roman mit Michel Foucault in einer epistemologischen Umbruchsphase, in der sich das medizinisch-pharmazeutische Wissen von seinem moral-theologischen Fundament löse. Demgemäß erfasse die Hauptfigur Eckarth Wissen kumulativ-enzyklopädisch, anstatt es an übergeordnete Sinnzusammenhänge zurückzubinden. Allerdings zeige etwa ihr Rekurs auf Paracelsus, dass sich das neue Medizinverständnis noch nicht verfestigt habe. Pikarisch sind in dem Text die Quacksalber und Scharlatane – die 'Maul-Affen' –, die Eckarth im Verlauf seiner Erkundungsreisen je nach Disposition zur Läuterung bringe oder nach dem Prinzip des arroseur arrosé entlarve. Aus gattungshistorischer Sicht bestehe zudem ein "Dignitätsproblem von Romanen als Vermittler[n] wissenschaftlichen Erfahrungswissens" (304). Ettner begegne diesem Umstand, indem er den Erzählvorgang durch "pflichtethische Digressionen" (304–5) unterbreche, die von den Figuren qua Metalepse selbst studiert würden.




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Mit dem Aufsatz von Christian Wehr öffnet sich der Band abschließend auf die amerikanische Pikareske. Den im Vizekönigreich Peru entstandenen Lazarillo de ciegos caminantes (1775), der "an der Schnittstelle zwischen periegetischer Literatur und narrativer Fiktion" (313) stehe, fasst Wehr als Vorboten von José Joaquín Fernández de Lizardis Periquillo Sarniento (1816) auf, in dem 'pikarische Erzählverfahren' gezielt zur Subversion des spanischen Kolonialregimes eingesetzt würden. Der peruanische Lazarillo knüpfe aber auch außenpragmatisch an die Gattungsgeschichte an, insofern er bereits vor seiner Erstveröffentlichung in Gijón in Lima zirkuliert sei (ähnliches galt seinerzeit für den Buscón). Darüber hinaus komme es hinsichtlich der Autorschaft zu einer "karnevalesken Mésalliance" (317) zwischen dem spanischen Kolonialbeamten Alonso Carrió de la Vandera und seinem Schreiber Concolorcorvo, bei dem es sich seinem Namen nach (con color de cuervo) um einen Eingeborenen handle. Die beiden lieferten sich ein auf der Produktionsebene des Textes ausgetragenes Duell um die Deutungshoheit, bei dem die Grenzen zwischen Kolonisator und Kolonisiertem im Sinne von Homi Bhabhas Mimikry verwischten.

Pikarische Erzählverfahren stellt eine wertvolle Ergänzung im Forschungsfeld der Pikareske dar. Wie bereits frühere Sammelbände gezeigt haben, lohnt sich die Zusammenarbeit verschiedener Philologien zur pikaresken Gattung, die schon bald nach ihrer Entstehung auf der Iberischen Halbinsel in andere, zunächst europäische und später koloniale, Kulturräume migrierte, um sich dort weiterzuentwickeln. Dementsprechend begnügen sich die Autoren des Sammelbandes auch nicht damit, die 'pikarischen Erzählverfahren' als bloße gattungsinterne Weiterentwicklung zu beschreiben, sondern sie berücksichtigen in ihren Analysen die spezifischen gesellschaftlichen Kontexte, in denen die Texte jeweils entstanden. Literaturwissenschaftlern, die sich gegen den cultural turn verwehren, sei an dieser Stelle versichert: Die kulturwissenschaftlichen Ansätze werden hier in der Regel geschickt – und mit Blick auf die vorliegenden Ergebnisse auch durchaus ertragreich – mit erzähltheoretischen Überlegungen verknüpft. Der literarische Text wird nicht einfach nur als eine kulturelle Manifestation unter anderen aufgefasst, sondern hinsichtlich seiner sprachlichen und strukturellen Eigenheiten ernst genommen. Dies ist zweifellos ein Verdienst dieses Bandes.

Die hier versammelten Beiträge zeichnen sich durch ihre unterschiedlichen Deutungsmodelle zum Verständnis 'pikarischer Erzählverfahren' aus. So, wie die einzelnen Autoren in ihren Analysen den Verlust einer allgemein verbindlichen Ordnung zugunsten subjektiven Weltwahrnehmens konstatieren, wählen sie auch individuelle Deutungsmodelle, um die jeweiligen Partikularitäten der von ihnen untersuchten Romane herauszustellen. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass ein strengeres Lektorat der Klarheit und Prägnanz manchen Aufsatzes sicher zugutegekommen wäre. Zudem wären in einem Band, der zwischen unterschiedlichen Philologien vermittelt, an der ein oder anderen Stelle mehr inhaltliche Informationen zu den Texten für die Angehörigen der jeweils anderen Philologie hilfreich gewesen. Diese Mängel sollten die Relevanz des überwiegenden Teils der Beiträge jedoch nicht schmälern.





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Bibliographie

Ehland, Christoph/Fajen, Robert (2007): "Einleitung", in: dies. (Hg.): Das Paradigma des Pikaresken (GRM-Beiheft 30). Heidelberg: Winter, 11–21.

Mohr, Jan/Waltenberger, Michael (2014): "Einleitung", in: dies. (Hg.): Das Syntagma des Pikaresken (GRM-Beiheft 58). Heidelberg: Winter, 9–35.

Werber, Niels/Lickhardt, Maren (2014): "Vorwort", in: dies. (Hg.): Transformationen des Pikarischen (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 175). Stuttgart/Weimar: Metzler, 5.


Anmerkungen

1 Statt vom 'Pikaresken' ist hier vom 'Pikarischen' die Rede, das in der deutschen Forschung zumeist als Synonym der ersteren Bezeichnung gebraucht wird. Zur Differenzierung böte sich in Anlehnung ans Spanische allerdings an, 'pikaresk' allgemein für die Gattung und 'pikarisch' speziell für die Figur des Schelms zu verwenden.

2 Neuerdings kommt auch der Kategorie des Geschlechts im Schelmenroman vermehrt Aufmerksamkeit zu: Lickhardt, Maren/Schuhen, Gregor/Velten, Hans Rudolf (Hg.) (2018): Transgression and Subversion: Gender in the Picaresque Novel. Bielefeld: transcript; Schuhen, Gregor (2018): Vir inversus: Männlichkeiten im spanischen Schelmenroman. Bielefeld: transcript; Kehren, Timo (in Vorbereitung): Königreich Sodom: Politik der Lust in der spanischen Pikareske (Romanica). Göttingen: V&R unipress.