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Annika Bartsch (Jena)



Svenja Frank / Julia Ilgner (Hg.) (2017): Ehrliche Erfindungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne, Bielefeld: transcript Verlag. 446 Seiten, kart. 39,99 €


Der von Svenja Frank und Julia Ilgner herausgegebene Sammelband Ehrliche Erfindungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne geht auf eine Tagung im Rahmen des Writer-in-Residence-Programms des DAAD mit Felicitas Hoppe im Dezember 2012 an der University of Oxford zurück. Die Tagung und der daraus hervorgegangene Sammelband zeigen das sich fortsetzende Interesse für die Literatur der Büchner-Preisträgerin und ihre Poetik. Nachdem Stefan Neuhaus 2008 Beiträge zu Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zusammenstellte, ist Ehrliche Erfindungen inzwischen bereits der fünfte Sammelband, der die Autorin und ihr Werk zum Thema hat. Zahlreiche Beiträge der bisherigen Forschung als auch feuilletonistische Besprechungen haben immer wieder auf ein starkes Traditionsverhalten der Autorin einerseits und den ganz eigenen 'Hoppe-Sound' andererseits hingewiesen. Der Band von Frank und Ilgner teilt diese Feststellung und konstatiert gerade das Zusammendenken von literarisch-kultureller Tradition und ästhetischem Autonomieanspruch als programmatisches Moment der Hoppe'schen Poetik. Dass dabei die Konzepte von 'Autor' und 'Werk' besondere Beachtung finden, ist in Hoppes Texten angelegt und spiegelt sich auch in der thematischen Bündelung der Beiträge: Der umfangreiche Tagungsband versammelt 19 Aufsätze und wird eröffnet durch einen poetologischen Text der Schriftstellerin selbst. Hoppes Schnell-Ritt durch ihr Werk unter dem Titel "Sollen sie pfeifen und winken!" – ein Zitat aus ihrem Debüt Picknick der Friseure – kann als Reaktion der Autorin auf die Erwartung des Literaturmarktes nach Neuen, nach dem nächsten großen Wurf gelesen werden. Die Spannung zwischen Leben und Werk ist auch in diesem Kurztext der Angelpunkt, wenn hier die "auf Bestellung der Wissenschaft in eine Selbstbetrachtung versunkene" Schriftstellerin die Beschreibung ihres Karrierewegs mit sieben beginnen lässt und festhält, immer ein "denkendes Kind" geblieben zu sein, das Zugang zur Welt über das Schreiben gewinnt, "das aber (immerhin) weiß, dass sich die Geschichte des Lebens nicht in ein Buch binden lässt, sondern sich unablässig weitererzählt und weiterschreibt, von Text zu Text, von Buch zu Buch und über die Ränder der Bücher hinaus" (12).




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Nach Dankwort und Einführung der Herausgeberinnen sowie dem Text von Felicitas Hoppe sind die Beiträge thematisch in vier Sektionen gruppiert. Die erste Abteilung von fünf Aufsätzen steht unter der Überschrift ERZÄHLEN UND LITERARISCHE TRADITION. Dabei werden einerseits Bezüge auf die literarische Tradition thematisiert; Lena Ekelund untersucht beispielsweise die "Bedeutung der kinderliterarischen Intertexte in Felicitas Hoppes Roman Hoppe" (87) und Michaela Holdenried kontextualisiert Hoppes Texte in der Tradition des Familien- und Generationenromans. Andererseits wird der Umgang mit der literarischen Tradition zum Thema, wenn Ernest Schonfield argumentiert, dass in Hoppes Johanna der Prozess der Kanonbildung metapoetisch verhandelt werde. Die vielfältigen Bezüge auf die literarische Tradition werden auch im benutzerorientierten Personen- und Werkregister, das dem Band angehängt ist, auf einen Blick offenkundig.

Ebenfalls fünf Beiträge beschäftigen sich mit den spezifischen ERZÄHLVERFAHREN bei Felicitas Hoppe. Sandra Langer verwendet den metaphorischen Begriff der "Erzählbrücke", um die Struktur von Hoppes Texten zu beschreiben. Langer zeigt auf, dass Sinn in Hoppes Texten nicht über Kohärenz versprechende, kausallogische Ordnungskategorien erzeugt werde, sondern über ein "Geflecht von Bezügen" heterogener Textelemente. Beispielhaft untersucht sie "wiederkehrende Figuren […], Handlungselemente, Szenarien, Schauplätze, Formulierungen [und] Motive" (156) in dem Roman Paradiese, Übersee. Die Sinngenerierung über Erzählbrücken, so betont Langer, funktioniere jedoch auch über den Einzeltext hinaus und lasse sich für das Gesamtwerk der Autorin als essenziell bestimmen. Sie greift außerdem die von Claude Conter 2008 eingeführte These einer Bezugnahme Hoppes auf die Romantik auf. Dabei ergänzt sie Conters Argumentation jedoch nicht nennenswert, sondern relativiert sie vielmehr, wenn sie Hoppes Romantikrezeption nur durch den romantischen Mittelalterbezug erklärt und damit Romantik bei Hoppe lediglich als "doppelte[s] Mittelalter" (162) deutet.

Das in der Erzählstruktur angelegte Spiel von Ordnung und Orientierungslosigkeit zeigt sich auch im ERZÄHLEN VON RAUM UND ZEIT, dem die dritte Abteilung des Bandes mit drei Aufsätzen gewidmet ist. Die Beiträger und Beiträgerinnen legen dar, dass die raum-zeitliche Einheit aufgekündigt werde und so etablierte Deutungsmuster destabilisiert würden. Ebenso wie der Bezug auf literarische Intertexte immer im Modus des radikalen Hinterfragens oder Konterkarierens stehe, würden auch die topographisch-temporalen Dimensionen aufgerufen, um systematisch mit ihnen zu brechen und Zwischenräume zu erzeugen.




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So deutet Erik Schilling die Gestaltung von Raum und Zeit in Johanna nicht nur intratextuell, sondern auch autopoietisch. Die Beiträge dieser Sektion zeigen überzeugend auf, dass die "Außerkraftsetzung der kausallogischen Raum-Zeit-Disposition […] temporale Imaginationsräume von transgressivem Status und hohem rezeptivem Potenzial [generieren], die es ermöglichen, die tradierten Bedingungen des eigenen Erzählens metapoetisch zu reflektieren und in transmoderner Wirkungsabsicht alternative Schreibweisen zu erproben." (34) Die so entstehenden "Metafiktionale[n] Räume" (259) und "Sehnsuchtsorte" (273) verweisen auf die Selbstreferenzialität in Hoppes Literatur insgesamt, die vor allem die Konzepte von Autorschaft und Werk in die Schwebe zwischen Fiktion und Realität setzt. So thematisieren vier Aufsätze in der letzten Sektion TRANSMODERNE AUTOFIKTIONEN UND AUTORSCHAFTSINSZENIERUNGEN, bevor der Band mit einem essayistischen Epilog von Uwe Dörwald zu Hoppe schließt. Abgesehen von David Wachter, der "Grenzgänge narrativer Identitätskonstruktion" (321) in einer Erzählung aus Verbrecher und Versager untersucht, fokussieren alle Beiträge der letzten Abteilung auf die fiktionale Autobiografie Hoppe. Hervorzuheben ist Florian Lipperts narratologisch genaue Beschreibung der komplexen Struktur ontologischer Ebenen des Romans und seine fundierte Kontextualisierung in den Diskurs der soziologischen und kunstästhetischen Theorie der Rahmung. Antonius Weixlers Beitrag schließt daran an und untersucht ebenfalls die Erzählstruktur dieser 'Traumbiografie'. Dabei geht es Weixler weniger um den Abgleich Hoppes mit Theorien von Autofiktion, sondern er erschließt den Text durch die je spezifischen Wirkzusammenhänge von "Autorschaft, Autorität und Authentizität" (359). Das titelgebende Zitat "Ehrliche Erfindungen", das aus dem Roman selbst stammt (Hoppe 2012: 25), stelle eine pointierte Kurzfassung des Erzählprinzips dar.

Die vorgenommene Kategorisierung bietet den Lesern und Leserinnen einen guten Überblick und lässt die Schwerpunkte des Bandes auf einen Blick erkennbar werden. Dabei ist zu betonen, dass die Beiträge nicht nur innerhalb der gebildeten Abteilungen, sondern auch in der Perspektive auf den Gesamtband ein stimmiges, sich ergänzendes und thematisch und methodisch aufeinander bezogenes Netz aufspannen. Nahezu alle Beiträger und Beiträgerinnen greifen die Erkenntnisse und Desiderate der bisherigen Forschung auf und arbeiten daran, nicht für sich stehende Einzeltextanalysen vorzulegen, sondern Hoppes Poetik in größere Zusammenhänge zu stellen. Hervorzuheben ist die klar fokussierte und ergiebige Einleitung der Herausgeberinnen. Svenja Frank und Julia Ilgner gelingt es, eine überzeugende Verbindungslinie der Einzelbeiträge des Bandes zu zeichnen, sowie die Ergebnisse in den größeren Kontext der Gegenwartsliteratur einzuordnen. Wie der Untertitel des Sammelbandes zusammenfasst, verorten Frank und Ilgner "Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne".




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Der Begriff der Transmoderne, der auf die Philosophin Rosa María Rodríguez zurückgeht, hat sich in der germanistischen Forschung bislang nicht durchgesetzt, auch wenn das mit ihm bezeichnete mehrfach festgestellt wurde (z.B. Krumrey 2014, Schilling 2013, Schramm 2010). So zeige sich ein Paradigmenwechsel, der darin bestehe, die "ethischen, subjekttheoretischen oder gesellschaftsutopischen Herausforderungen anzugehen, indem man die Konstruiertheit der zugrundeliegenden Konzepte – Transzendenz, Identität und Wirklichkeit – akzeptiere" (29; Frank/Ilgner beziehen sich hier auf Amian 2008). In der Transmoderne herrsche nicht mehr eine "radikale Infragestellung des Seins und der Wirklichkeit als Kennzeichen des Postmodernismus" (30), sondern es zeige sich ein zunehmendes Interesse für "metaphysische Fragestellungen" (29) und die Reflexion der dekonstruktivistischen Tendenz der sogenannten Postmoderne. Richtig ist in jedem Fall die Beobachtung, die dem Sammelband zugrunde liegt, dass in Hoppes poetologischem und literarischem Werk "die formal postmodernen Schreibweisen […] eine andere Funktionalisierung erfahren" (30). Hoppes Texte reflektieren ihren Fiktionsstatus nicht nur, sondern sie stellen auf verschiedene Weise und auf verschiedenen Ebenen aus, dass Fiktion zum einzig adäquaten Modus des Wirklichkeitsbezugs“ werde (31). Die einzelnen Beiträge, die der Band versammelt, belegen die in der Einleitung postulierten Thesen überzeugend an verschiedenen Texten der Autorin, wenngleich nur wenige explizit auf den von Ilgner und Frank in der Einleitung vorgeschlagenen Begriff der 'Transmoderne' eingehen. Insgesamt zeigt sich ein besonders starkes Interesse an Hoppes fiktionaler Autobiografie Hoppe, die zahlreiche Beiträge des Bandes untersuchen, während einige andere Romane oder Erzählungen gar nicht oder nur beiläufig Erwähnung finden. Dabei hätte der methodische und theoretische Ansatz des Bandes es angeboten, vor allem auch Hoppes poetologische Texte und Poetik-Vorlesungen genauer zu untersuchen. Der Band reiht sich insofern ein in eine gute und inzwischen recht ausführliche Erforschung von Hoppes Romanen (allen voran Hoppe), bei der jedoch andere relevante Texte der Autorin wie etwa die Vorlesungen (z.B. Sieben Schätze, Abenteuer – Was ist das?, Das geographische Geheimnis der Ewigkeit) oder poetologische Kurztexte wie Auge in Auge oder Über Geistesgegenwart weitestgehend außer Acht gelassen werden und insofern weiterhin ein Desiderat darstellen. Der Band von Ilgner und Frank besticht jedoch dennoch durch seine fast durchgängig scharfen Analysen und vor allem die pointierte und überzeugende Thesenbildung, die über Einzelaspekte hinausgeht, und an die bisherige Forschung anknüpfend Hoppes Texte und Aussagen als Gesamtwerk interpretiert. Damit setzt der Band analytisch um, was Hoppe in ihrem Beitrag Sollen sie pfeifen und winken selbstreflexiv feststellt:




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Zwar habe sich "bei näherem Hinhören" die Stimme verändert, sie sei "natürlich allmählich älter geworden, trennschärfer, selbstreflexiver unfreier, in anderen Worten: befangen" (13), aber dennoch zeigt sich der innewohnende Zusammenhang: "Schon im Picknick ist alles vorhanden, wovon später genauer die Rede sein wird: Die Meerfahrt mit Pigafetta, der Ritter aus Paradiese, die Flüchtlinge aus Verbrecher und Versager, die Not und Tugend einer Johanna, und, last but not least, Leben und Werk von fh in Hoppe." (13) Und vielleicht erkennen wir in "de[m]selbe[n] Ritter mit demselben Rucksack, der sich vor Jahren auf den Weg gemacht hat, um ein Abenteuer zu suchen" (13) auch die Schriftstellerin Felicitas Hoppe mit einem zwinkernden Auge.

Bibliographie

Hoppe, Felicitas (2012): Hoppe, Frankfurt a.M.: S. Fischer.

Amian, Katrin (2008): Rethinking Postmodernism(s). Charles S. Pierce and the Pragmatist Negotiations of Thomas Pynchon, Tony Morrison, and Jonathan Safran Foer (Postmodern Studies 41), Amsterdam/New York: Rodopi.

Krumrey, Brigitta u.a. (Hg.): Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der postmoderne?, Heidelberg: Winter, 2014.

Schilling, Erik (2013): "Literarische Konzepte von zeit nach dem Ende der Postmoderne", in: Silke Horstkotte / Leonhard Herrmann (Hg.): Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000, Berlin/Bosten: De Gruyter, 173–187.

Schramm, Moritz (2010): "Neue Sinnkonstruktionen? Tendenzen der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur", in: Text & Kontext 32, 7–26.