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Gesine Hindemith (Erfurt)



Stephan Leopold (2014): Liebe im Ancien Régime. Eros und Polis von Corneille bis Sade. München: Fink.



Mit Liebe im Ancien Régime unternimmt Stephan Leopold eine ebenso umfassende wie ambitionierte Studie zur Literatur des Absolutismus, die, in innovativer Weise, die Epochen Klassik und Aufklärung nicht voneinander trennt, sondern sie in eine gemeinsame politische Verklammerung bringt. Die Herrschaft des "Ancien Régime" steckt den zeitlichen Untersuchungsrahmen ab, nicht die herkömmliche Einteilung der Literaturepochen. Dieses Verfahren erlaubt eine überraschend stringente Darstellung einer Literatur, die sich konterdiskursiv zur symbolisch-politischen Ordnung verhält. Dabei ist der Gedanke des Konterdiskurses natürlich absolut nicht neu, wird jedoch in eine andere Form der politischen Lesbarkeit überführt, die über ein political unconscious (Matzat 1982: 210) weit hinausgeht. Leopold weist nach, wie die Tranzparenzdirektive der klassischen Sprache in den Status der Unlesbarkeit gerät und unternimmt es, diese Unlesbarkeit durch ein politisch-historisches Verständnis der Allegorie neu aufzuschlüsseln. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei der enge Zusammenhang von politischen Allegorien und erotisierter Körperlichkeit, die das politische Unbehagen der Epoche formulieren. Leopold ergründet die Literatur des Absolutismus als Spiel mit alternativen symbolischen Ordnungen, die aus der Suggestionskraft der vermeintlich so unmissverständlichen klassischen Sprache gewonnen werden.

Die Studie fußt auf Niklas Luhmanns Annahme, dass literarische Darstellungen der Liebe auf Veränderungstrends der Gesellschaft reagieren. Liebesgeschichten, ob nun die sexuellen Ausschweifungen der Marie Antoinette, die geheime Leidenschaft der Princesse de Clèves oder die inzestuösen Investitionen der Racineschen Heldinnen, werden literarisch veräußert und setzen damit allegorisch das politische Unbehagen gegenüber dem normativen Absolutismus in Szene. Unermüdlich schöpft Leopold dafür ein Allegoreseangebot aus historischen Äquivalenzen. Diese Herangehensweise basiert auf der grundsätzlichen Annahme, dass die Literatur durch die Zeitgenossen politisch deutbar war.

Die weit ausgreifenden einleitenden Kapitel beziehen ihr Anschauungs- und Analysematerial vorwiegend aus dem nicht-kanonischen Diskursbereich und entfalten das Verhältnis von Allegorie, Politik und politischem Unbehagen. Im Weiteren entwickelt Leopold in zwei Teilen ein sehr breites Spektrum von Analysen kanonischer Werke. Während der erste Teil, überschrieben mit "Figuren", Linien und Bezugsnetze zu den thematischen Schwerpunkten "Eros und Polis", "Epistemologie der Liebe" sowie "Verkörperungen der Souveränität" zeichnet, widmet sich der zweite Teil mit dem Titel "Verlauf" eingehenden Einzelfallanalysen von Corneille über Racine, Molière, Madame de Lafayette und Rousseau bis zu Laclos.




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Überzeugend liest sich die Einleitung, wenn sie mitten in den "wilden Umgang mit dem Imaginären" (Warning 1999) einsteigt. Leopold bezieht die grundlegende theoretische Schlagkraft seiner Argumentation nicht aus kanonischen Werken, sondern aus Pamphleten. Anhand der Schmähschrift Vie privée, libertine, et scandaleuse de Marie-Antoinette d'Autriche ci-devant reine de France wird gezeigt, wie die zur unersättlichen Nymphomanin stilisierte Königin Marie Antoinette zur Schwachstelle des Absolutismus gerät und dessen Untergang befördert. Marie-Antoinette verkörpert das exzessive Moment der absoluten Monarchie in eroticis. Sie wird damit für Leopold zum Exempel einer Prozedur, in der der bedrohliche Andere immer über ein Moment exzessiven Genusses konstituiert wird. Die Königin sei damit nicht nur das schlechthin Andere zum empfindsamen Bruderbund, sondern zugleich auch die obszöne Doppelgängerin des absoluten Fürsten. Ist der Genuss der Transgression an den absoluten Willensakt des Fürsten gebunden, so wird hier die souveräne Macht enggeführt mit absolutem Genuss. "Car tel est nostre plaisir" ist der Schlüsselsatz dieser Anordnung.

Das Pamphlet zeichnet das Königspaar als grelle Gegenbilder der offiziellen Rollen und befördert es auf diese Weise zu Allegorien eines von Diskontinuität befallenen corpus politicum. Hier kommt die Zwei-Körper-Lehre zum Tragen, denn nur dem Körper des Königs ist aufgrund seiner Doppeltheit als natürlicher Körper und transzendentaler Zeichenkörper ein mehrfacher Sinn substantiell eingeschrieben. "Die Impotenz des Königs ist die obszöne Rückseite absoluter Souveränität." (30) Leopold argumentiert im Anschluss an Certeaus taktische Krisenallegorien, die sich parasitär an den disziplinierenden Legitimationsdiskurs heften und auf dessen Kosten eine gegenläufige Botschaft verbreiten.

Mit dem Einstieg über das schwächelnde, lustzerfressene Königspaar greift Leopold geschickt den historischen Moment des Übergangs zur Republik auf und zeigt, wie hier die Denkmodelle des Ancien Régime nicht etwa abgewickelt, sondern unter anderen Vorzeichen neu aufgelegt werden. Marie Antoinette gerät in den Pamphleten zum epochalen Symptom: In ihrer Person "kreuzen sich monarchischer und republikanischer Diskurs, zugleich wird sie aufgrund ihrer kastratorischen Macht aber auch zur Verkörperung einer im Freudschen Sinne 'unheimlichen' Impotenz der Republik." (19) Die Königin trägt als lesbisch-inzestuöse Mutter die Zeichen politischer Entdifferenzierung im Körper eingeschrieben. Dabei, und das bleibt die in allen Beispielstudien durchgetragene Arbeitsweise Leopolds, lässt sich die lebensweltliche, bereits verstummte und eingesperrte Marie Antoinette mit der überzeichnet sexualisierten Marie Antoinette der Pamphlete in eine Art Deckungsgleichheit bringen. Die Königin wird gewaltsam zur allegorischen Figur, der lebensweltliche Mensch zum Sündenzeichen.

Ist die Allegorie von ihrer Ontologie her substantialistisch, so Leopold, folgt sie einem analogen Denkmodell, das bei Ludwig XIV. bereits in seiner repräsentatorischen Symbolstruktur verdoppelt und geschwächt ist. Leopold nimmt an, dass sich an politischen Allegorien ein Spielraum abstecken lasse, innerhalb dessen im Ancien Régime kritisches bzw. subversives Sinnpotential verhandelt werden kann. Seine Studie widmet sich über die Klassik hinaus "Formen des Allegorischen, die ontologisch nicht mehr als substantialistisch zu begreifen sind, die jedoch in nicht geringem Maße von einem Denken in Analogien getragen werden" (31). Der Autor zeigt, wie das analogische Modell das kollektive Imaginäre bis zur Revolution prägt und verfolgt dies bis zum Werk de Sades, dessen Körperlogik immer noch an das Ancien Régime rückgebunden werden kann.




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Neben den Pamphleten rund um die unheimliche Königin lässt Leopold einer weiteren nicht genuin literarischen Episode eine Schlüsselstellung in der Transformation der Allegorie zukommen, wenn er im Anschluss an Robert Darnton das große Pariser Katzenmassaker analysiert. Das Massaker ereignete sich in den 1730er Jahren in der Pariser Rue Saint-Séverin in der Druckerei des Jacques Vincent. Festgehalten wurde es durch Nicolas Contat in den 1762 erschienenen Anecdotes typographiques où l'on voit la description des coutumes, mœurs et usages singuliers des compagnons imprimeurs. Zwei Druckerlehrlinge rächen sich an ihren Herren, die sie zugunsten einer verhätschelten Katzenschar ein erbärmliches Dasein fristen ließen. Um dieser verkehrten Welt zu entrinnen, bringen die beiden die Katzenschar so in Verruf, dass die Meisterin sie beauftragt, der Plage ein Ende zu bereiten und alle Tiere, bis auf ihre Lieblingskatze La Grise (die Königin unter den Katzen), zu beseitigen. Die Katzen werden in einem öffentlichen Tribunal hingerichtet, die Lehrlinge töten heimlich auch La Grise.

Die Katzenkönigin (zugleich auch Karnevalskönigin) ist ebenso wie Marie Antoinette Symbol einer verkehrten Welt, die der Allegorie bedarf, um kritisiert und eingeholt zu werden. Der Exzess der verkehrten Welt wird mit einem mörderischen Austilgungsprozess beantwortet. Es kommt zu einer frenetischen und radikalen Inversion der bestehenden Ordnung. Das Ritual an sich erscheint in seiner Exzessivität schon hoch theatralisch. Gesteigert wird dies im Nachhinein, wenn Léveillé das ganze grässliche Ereignis wieder und wieder mimisch re-präsentiert. Contats Text liefert die zweite Repragmatisierung des Massakers. An Darnton anschließend konstatiert Leopold hier einen Transfer des lebensweltlichen karnevalesken Rituals in die Literatur. Diese Literatur der Klassik ist selbst jedoch von formalen und inhaltlichen Zwängen zunehmend gegeißelt, so dass konterdiskursive sexuelle Allegorien im Zuge der bienséance nicht mehr zum Tragen kommen dürfen. "Die damit verbundene Zurückdrängung gegenkultureller Äußerungsformen bedingt", so Leopolds zentrale These, "eine Form literarischer Allegorie, die sich zusehends vom Karneval verabschiedet und sich statt dessen – wie etwa bei Racine – des Diskurses der Leidenschaft bedient, um auf diese Weise ein zum normativen Hegemonialdiskurs konterdiskursives Sinnmoment freizusetzen." (38)

Leopold entwirft ein Allegoriekonzept, dass ganz auf der politischen Lesbarkeit aufruht. Er greift dabei, neben der eingangs schon erwähnten Luhmann-These, das dialektische Verständnis der Allegorie von Doris Sommer auf, wonach sich allegorische Liebesgeschichten und Staatlichkeit gegenseitig beeinflussen. Hier ist die im Laufe der Studie immer wieder herausgestrichene Form einer Art agency der Literatur theoretisch verankert. Die Passio als ehemals passive 'Leidenschaft' wird im Konterdiskurs der klassischen Sprache verwandelt in eine politisch lesbare Äußerungsform (siehe die Phèdre-Analyse in Kapitel II.3). Ein weiteres Standbein findet Leopolds Argumentation in Fredric Jamesons Ansatz, der das an politische Allegorien gekoppelte Bewusstsein immer in einem konkreten historischen Moment verankert.

Die Fallanalysen des zweiten Teils buchstabieren in der Tat, wie im Titel benannt, den "Verlauf" des zuvor theoretisch Erörterten am literarisch kanonischen Beispiel aus. Dabei wählt Leopold mit Corneilles Le Cid (Kapitel I), Racines Bajazet (Kapitel II) und Molières Dom Juan (Kapitel III) drei Theaterstücke der französischen Klassik, die ins Zentrum der Auseinandersetzung um die klassische Sprache und die symbolische Ordnung führen. Die zweite Reihe besteht aus Romanen, die sich Briefen verdanken. Sie setzt mit Madame de La Fayettes Princesse de Clèves (Kapitel IV) in der Klassik an und führt dann über Rousseaus Julie, ou la Nouvelle Héloïse (Kapitel V) und Laclos Liaisons Dangereuses (Kapitel VI) bis ans pervertierte Ende der Empfindsamkeit.




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Die Analysen verlaufen anhand von zwei Achsen. Einmal geht es um das Dispositiv einer hysterischen Position, die sich gegen die souveräne Position in Stellung bringt. Zum anderen geht es um das textgenerierende Verhältnis von Blindheit und Einsicht. Dabei überwiegt die erste in den Theaterstücken und die zweite in den Romanen. Beides greift jedoch auch immer wieder ineinander. Befragen Le Cid, Bajazet und Dom Juan die Möglichkeiten der souveränen Ordnung, die durch hysterische Liebeskonstellationen auf die Probe gestellt werden, so werden in den Romanen La Princesse de Clèves, La Nouvelle Héloïse und Les Liaisons dangereuses Sprache, Subjektivität und absolutistische Ordnung über das Verhältnis von Blindheit und Einsicht als Allegorien des Lesens inszeniert.

Die Analysen legen dabei interessante Schwerpunktverschiebungen zur bisherigen Forschung frei. Besonders gelungen ist die Lektüre von Racines Bajazet, mit der Leopold die an Lucien Goldmann anschließende jansenistische Deutung auf ein neues Niveau hebt. Bajazet wird in seiner Lesart zum hysterischen Text in theologischer Hinsicht. Das Stück könne nicht mehr im affirmativen Sinne als jansenistische Parabel gelesen werden. In der Figur des Sultans spitze Racine kritisch eine Gnadenlehre zu, die ohne die Reziprozität des Guten – der Werkgerechtigkeit – auskommen wolle.

Lohnend ist auch das Kapitel zu Madame de La Fayettes Princesse de Clèves, in dem Leopold die historischen Anspielungen des Romans auf einen von Anfang an präsenten politischen Kataklysmus hin fokussiert der mit dem Verstummen des Textes und dem Austritt aus der höfischen Ordnung der Madame de Clèves zusammenfällt. Die politische Katastrophe ist zugleich die Katastrophe des Textes.

Die Bannung des Weiblichen aus dem Bereich des Politischen ist in den Analysen der Romane und Theaterstücke ein stets verfolgter Strang, den Leopold immer wieder aktualisiert, um zugleich das historische Moment genauer zu fassen. So historisiert er mit Lacan die Barthes'sche Racine-Lektüre:

Worum es bei Racine geht, ist nicht der Widerstand gegen den archaischen surmâle, sondern vielmehr die Verbindlichkeit einer Ordnung, die weitgehend auf symbolischen Strukturen aufruht. Hier treffen sich eros und polis und hier wird auch das, was die Postmoderne so gern als gender politics bezeichnet, zu political gender. Die Inzeststrukturen, die bei Racine gerade dann virulent werden, wenn der Nom-du-père durch die Abwesenheit des Herrschers zur Debatte zu stehen scheint, sind keine Vorankündigungen bürgerlicher Affektdynamik, sondern, um es mit Jameson zu formulieren, 'libidinöse Investitionen' in das Politische. Die Stücke sind also in dem Maße Allegorien eines epochalen Unbehagens, wie sie obsessiv um die Ontologie souveräner Macht kreisen. (244)

Die Utopie von Clarens in der Nouvelle Héloïse scheitert an der Unvereinbarkeit von eros und polis, wobei die in den irrationalen Diskurs fliehende Julie das politische Unbehagen zuvörderst formuliert. Dieses Unbehagen lasse sich mit der letzten Phase des Absolutismus verrechnen und auf die aporetische Rolle der Frau in der bürgerlichen Ordnung beziehen, so Leopold. Dabei enthalten die Ausführungen zur Nouvelle Héloïse eher wenig überraschende Momente. Erst in der Verklammerung mit dem nachfolgenden Kapitel zu den Liaisons dangereuses ergibt sich eine übergreifende Auslegung. Denn auch die katastrophische chute der Madame de Merteuil verdankt sich, auf andere Weise, einer von ihr selbst verhinderten Vereinigung der Parameter eros und polis. Merteuil untergräbt zwar die Genderhierarchie, zerschlägt jedoch zugleich den neuen ständeunterlaufenden Bund der Herzen und ignoriert damit die wesenhafte Verbindung von Standes- und Genderordnung. Das sich gerade entfaltende revolutionäre Sujet wird zerstört.




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So führt Leopold die Auseinandersetzung mit der klassischen Sprache, die zur opaken Kommunikation gerinnt, historisch bis kurz vor die Revolution. Methodisch geht es durchtragend um eine absolute politische Lesbarkeit der Literatur, die mit den historischen Verhältnissen abgeglichen wird. Die kanonischen Lektüren des zweiten Teils schließen sich in erwartbarer Weise an den theoretischen ersten Teil an und spitzen bestehende Forschungspositionen in politisch-historischer Hinsicht zu. Leopold löst sein Vorhaben ein, ein gemeinsames politisches Imaginäres von Klassik und Aufklärung freizulegen und darüber hinaus zu perspektivieren.

Zuweilen könnte man sich als Leser allerdings in eine anekdotisch angereicherte Geschichtsstunde versetzt sehen, die unermüdlich neue Analogien zwischen literarischen und historischen Figuren vor Augen führt. Dies vermittelt an manchen Stellen den Eindruck einer etwas einseitigen Belegführung durch die historischen Verhältnisse. Das Argument der politischen Verstehbarkeit literarischer Allegorien durch die Zeitgenossen nimmt zwar einen etwas überproportionalen Raum ein, nichtsdestotrotz überzeugt die Studie in der Fülle und Stringenz ihrer Analysen, die in einer Engführung von Körpermetaphern und Legitimationsdiskuren das Panorama von Klassik und Aufklärung neu aufspannen. Die Literatur wird auf die Politik hin geöffnet und gewinnt in diesem zugespitzten Zugriff eine linear historische Durchschlagkraft, die sich zu entdecken lohnt.


Bibliographie

Matzat, Wolfgang (1982): Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik. München: Fink.

Warning, Rainer (1999): "Poetische Konterdiskursivität: Zum literturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault", in: ders.: Die Phantasie der Realisten, München: Fink, 150–184.