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Angela Calderón Villarino (Heidelberg/Saarbrücken)



Marie Guthmüller / Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.) (2016): Das nächtliche Selbst. Traumwissen und Traumkunst im Jahrhundert der Psychologie. 1850-1900. Bd. 1. Göttingen: Wallstein.


Henri Rousseaus Schlafende Zigeunerin ziert den Einband des Sammelbandes, der in Anlehnung an ein DFG-Netzwerk entstanden ist; dieses wiederum gibt dem Band (bis auf den Untersuchungszeitraum) seinen Titel. Datiert auf 1897, steht es genau in der Mitte des beforschten Abschnittes und markiert in etwa das Ende des vorliegenden ersten Bandes, auf den noch ein zweiter folgen soll (vgl. 20), der den Untersuchungszeitraum 1900 bis 1950 umfasst. Es ist nicht auszumachen, was dieses Gemälde genau zur Darstellung bringt: Ist die schlafende Frau der Traum oder die Träumende? Ist das Gemälde eine Traumdarstellung? Wer träumt – der Autor, die Frau, oder träumt gar der Löwe von einem wehrlosen Opfer? Auf diese Weise eignet sich das Gemälde (das auch als Sinnbild des DFG-Netzwerks ausgewählt wurde) in besonderer Weise zur Darstellung des Inhalts, denn es wirft in Bezug auf Trauminhalt, Traumdarstellung und Traumsubjekt eben jene Fragen auf, um welche die Beiträge des Bandes kreisen: Wer träumt? Die Frage nach dem Subjekt in der Traumforschung; Traumkünste als ästhetische Innovation und Positionen des Übergangs lauten die Überschriften der drei Hauptsektionen, in die der Sammelband untergliedert ist. Sie bilden seine thematischen Zentren, die vor dem Horizont der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte erschlossen werden sollen.




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Zwar ist der Band kein Tagungsband im eigentlichen Sinne, doch gehen die Beiträge in Teilen auf Vorträge einer interdisziplinären Tagung (The Psychological Exploration of the Dream and the Inception of Modernity, 1850–1900) zurück; zu einem anderen Teil bauen sie auf den netzwerkeigenen Forschungstreffen auf. Diese Eckdaten legen eine Schwerpunktsetzung auf Psychologie und Moderne fest, die im Wesentlichen eingehalten wird. So wie Henri Rousseau selbst als Grenzgänger zur Moderne gilt, ist der Band deutlich auf diese hin ausgerichtet, wodurch vorhergehende wissenschaftshistorische sowie theoretische Bestimmungsmerkmale, die zur Herausbildung einer eigentlichen Traumforschung von Bedeutung sind, eher marginal und monolithisch eingeflochten werden. Wie der Tagungstitel nahelegt, wird weiterhin besonders das Feld von Psychologie und Traum untersucht. Eine deutliche Stärke des Bandes liegt daher in einer gründlichen Analyse zeitgenössischer Traumuntersuchungen in eben diesem Feld (der Band fällt überhaupt durch eine besondere Sorgfalt positiv auf), die ihrerseits aus mehreren Perspektiven in den Blick genommen werden; der Fokus auf das 'Jahrhundert der Psychologie' wird insofern gewahrt, als Kongruenzen und Differenzen maßgeblich vor dem Hintergrund der Psychologie vorgenommen werden. Der Band umfasst insgesamt fünfzehn Artikel, von denen je sechs sich der Frage nach dem Subjekt und den Traumkünsten als ästhetische Innovation widmen. Die übrigen drei kreisen um die Positionen des Übergangs; sie sind quantitativ den übrigen Teilen nachgeordnet, doch da der Großteil der Beiträge wesentlich auf die Moderne ausgerichtet ist, sind sie von besonderer Bedeutung, um einzuhalten, was auch das Cover verspricht.

Wie in der Einleitung mehrfach betont, wird mit dem Sammelband ein dezidiert komparatistischer Blick unternommen, der einen länder- und sprachübergreifenden Ansatz wählt und aus diesem Grund Beiträge präsentieren möchte, die transnationale Verflechtungen besonders berücksichtigen (vgl. 10, 18, 34). Dies gilt weniger für die einzelnen Artikel, doch in der Zusammenschau können die Entwicklungen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten problemlos zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, da die Untersuchungen einen ausgewogenen, umfassenden und urteilssicheren Einblick geben. Die Schauplätze sind maßgeblich Frankreich und Deutschland, da diese "in der Traumforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führend waren" (ebd.), wie die Herausgeber nuancieren; flankiert wird dies durch einzelne Untersuchungen zu Italien, England und natürlich Österreich. Der zweite Band, so scheint es, soll auch die Sowjetunion sowie die USA integrieren.




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Der erste Teil untersucht hauptsächlich Werke, die einen psychologisch-medizinischen Schwerpunkt der Traumanalyse setzen; so steht also die französische Theoriebildung um Alfred Maury, Antoine Charme und Hervey de Saint-Denys im Vordergrund. Eine umfassende Analyse der Subjektkonstitution, die sich aus den zeitgenössischen Traumtheorien und Forschungsansätzen zum Traum ableiten lässt, durchzieht außerdem diesen ersten Teil. Die Wissenschaftsgeschichte wird vor diesem Hintergrund schlüssig und überzeugend dargelegt. Besonders gut gelungen ist hier zudem die Anordnung der Beiträge, die einen plausiblen wie erkenntnisreichen Bogen spannen und Entwicklungslinien hin zur Ausbildung der Psychologie prägnant, überzeugend und kenntnisreich ausarbeiten. Dabei werden besonders die zentralen Referenzen wiederholt in den Blick genommen (Maurys Le Sommeil et les rêves, "vergleichbar im Rang mit der Traumdeutung heute." [60]; siehe insbesondere auch den Beitrag von Mireille Berton) und auf diese Weise nuanciert stark gemacht. Die Interferenzen von Kultur- und Wissenschaftsgeschichte werden immer wieder herausgearbeitet und erhellend dargelegt, wobei die Wissenschaftsgeschichte Vorrang genießt (so stellt Manfred Engel fest: "Trotz aller Unterschiede ist jedoch die unbewusst symbolisierende Traumphantasie die markanteste Konstante im Traumdiskurs des ganzen 19. Jahrhunderts, die romantische Traum-Naturpoesie, szientistische Nervenreizverbildlichung und Freuds zensierende Traumverschlüsselung verbindet" [51f.]; vgl. außerdem den Beitrag von Jacqueline Carroy, die eine versierte Analyse Maurys in dieser Perspektive von Kultur- und Wissenschaftsgeschichte vorlegt; Michaela Schrage-Früh und Alessandra Violi legen in ihren Artikeln mitunter dar, ob und inwieweit der Okkultismus und das wissenschaftliche Traumwissen miteinander zu betrachten sind).

In diesem Sinne wird der Sammelband seiner Ausrichtung zunächst gerecht, büßt jedoch im Mittelteil, welcher gezielt nach Darstellungsproblematiken fragt, diese modellhafte Verflechtung von Kultur- und Wissenschaftsgeschichte (und infolgedessen theoretische Wirkmächtigkeit) ein. Die im Titel angekündigte und in diesem Teil zu erwartende Darstellung der 'Traumkunst' ist gegenüber der Wissenschaftsgeschichte des Traumwissens, die im ersten Teil elaboriert wurde, weniger kohärent. Wie im ersten Teil stehen auch hier insbesondere Künstler im Vordergrund, die für das Paradigma des Traums in besonderer Weise prägend waren (neben Maury und Hervey de Saint-Denys untersuchen die Verfasserinnen und Verfasser insbesondere Baudelaire, Bertrand, Corot, Gauguin, Grandville, Huysmans, Hugo, Keller, Klinger, Puvis de Chavannes, Redon und Wagner), doch geht eine verknüpfende und komparatistische Annäherung zugunsten umfassender Einzelanalysen verloren. Während die einzelnen Beiträge stets durch eine gründliche Auseinandersetzung überzeugen, wird der Brückenschlag vom ersten zum zweiten Teil nicht ganz klar. Die Beschreibung des Traums im Horizont seiner Darstellbarkeit ist gegenüber der im vorhergehenden Kapitel so konzise und stringent dargelegten Wissenschafts- und Kulturgeschichte weniger überzeugend. Zwar handelt es sich hier wiederum um überaus kluge, bereichernde Analysen, doch werden sie nur in Ansätzen als Kristallisationspunkte des vorhergehenden Kapitels erkennbar und stehen daher eher für sich allein. Sollte der erste Teil als erste theoretische Fundierung gelten, so stößt man hier auf ästhetische Spielarten, die einen ästhetischen Traumbegriff im Einzelnen anreichern, doch nicht mit den "psychologischen Erklärungsansätze[n]" (9) vermittelt sind (auf die nunmehr übrigens als gesetzte und kohärente Bezug genommen wird, wodurch die Differenzierung des ersten Teils zu verwässern droht). Selbstverständlich ist dies aufgrund der Form eines Sammelbandes nur eingeschränkt zu leisten, doch wäre zu überlegen, wie gerade in diesem Unterkapitel die komparatistische Breite und analytische Dichte fruchtbarer gemacht werden kann, um dem eingangs formulierten Anliegen stärker nachzugehen.




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Außerdem könnte im Sinne der einleitenden Forderung nach einer erstmaligen "interdisziplinäre[n] und länderübergreifende[n] Perspektive" (11) der deutliche Schwerpunkt auf Frankreich (das auch den ersten Teil dominiert) besser genutzt werden, um davon ausgehend die anderen Beiträge so zu positionieren, dass eine transnationale Kulturgeschichte der 'Traumkunst' expliziert wird, die in der Einleitung angekündigt wird (vgl. 8, 10, 19). Anders als im ersten Teil führt diese Perspektivierung im zweiten Kapitel zu einer Verengung auf das Einzelne, wodurch der Traum als ästhetisches und poetologisches Phänomen aus komparatistischer Perspektive in den Hintergrund tritt. Abseits einer wünschenswerten Einbettung in den übergeordneten Forschungszusammenhang der länderübergreifenden Wissenschafts- und Kulturgeschichte des Traums sind die dargelegten Traumästhetiken der einzelnen Autoren, Künstler und Musiker in sich ausgezeichnet herausgearbeitet, zeugen von Innovationspotential und weisen neue Lesarten und Verstehensansätze aus (Susanne Goumegou bettet Baudelaire in einen sinnstiftenden Zusammenhang zu den Traumtheorien der Avantgarden ein [vgl. 197f.]; Fanny Déchanet-Platz hingegen bleibt dabei im 19. Jahrhundert und wirft einen Blick auf Baudelaire zusammen mit Bertrand und Huysmans, indem sie den Sehsinn in der Traumtheorie stark macht; Sandra Janssen zeigt, wie die von Alfred Maury und Hervey de Saint-Denys formulierten Assoziationsprinzipien im Grünen Heinrich angelegt sind; die 'hieroglyphische Eigenschaft' des Traums, die eine "andersartige künstlerische Darstellung" [283] forderte, legt Sara Damiani umfassend dar; schließlich entwickelt der Herausgeber Hans-Walter Schmidt-Hannisa Wagners Traumtheorie, die in einer "Analogie von Traum und Musik" gründet, da "beide Regungen des Inneren für das Bewusstsein wahrnehmbar machen" [321] und so eine "Selbstdeutung des Künstlers" [315] ermöglichen).

Unklar ist auch, worin genau die Zielsetzung in der Untersuchung der Traumkunst liegt. Einleitend formulieren die Herausgeber, dass der "Problematik [der Darstellung von Träumen] in den Künsten" nachgegangen wird, gleichzeitig ginge es weniger um die Darstellung als vielmehr um "Erlebnismodalitäten des Traums" (18). Beides findet in unterschiedlicher Ausprägung besonders im zweiten Teil Erwähnung, doch kommt es bisweilen zu einer undurchsichtigen Gemengelage, die beide Argumentationslinien verfolgt. Es wäre wünschenswert gewesen, dass die "Allianzen und Berührungspunkte zwischen beiden kulturellen Bereichen [hier: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte] in ihrer Geschichtlichkeit" (ebd.) klarer zum Ausdruck gebracht worden wären, um davon ausgehend Darstellung und Erlebnis zueinander ins Verhältnis zu setzen.

Es ist insbesondere die Frage nach dem träumenden Subjekt, die den Band in gelungener Weise durchzieht und ihm immer wieder die gewünschte Stringenz seiner Argumentationslinien verleiht (beispielhaft seien genannt: Barbara Chitussi, die ausgehend vom Phänomen der Verdopplung im Traum verschiedene Ausgestaltungen des 'träumenden' und 'wachen Ich' in ihrer Dialogizität aufzeigt; Kerstin Thomas erläutert Subjektkonstitution über 'Traumbilder als Produkte des Ich' und Mai Wegener befragt das Freud'sche Subjekt daraufhin, ob es, "so ließe sich die Frage nah am Traum aufnehmen, jenes [ist], das den Wunsch hat" [342]; die Herausgeberin Marie Guthmüller legt die Relevanz des Traumverhaltens im Rahmen der Subjekttheorie von Sante de Sanctis dar, [vgl. 369]; Paul Bishop rundet dies schließlich durch einen Beitrag ab, der anhand von Klage ein "Konzept von Subjektivität" analysiert, "das das Wirklichkeitsverständnis der Jahrhundertwende radikal in Frage stellt" [374f.]).




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In dieser Perspektive gelingt der Brückenschlag zwischen Wissenschafts- und Kulturgeschichte am besten, wie besonders im ersten und dritten Teil deutlich wird: Während zu Beginn verstärkt eine empirisch-psychologische Subjektkonstitution elaboriert wird, in der das Traum-Ich ein alternatives Subjekt darstellt (vgl. 101; 121), das aber zunehmend für "Selbstkonzeptionen von zentraler Bedeutung war" (169), werden im letzten Teil – Positionen des Übergangs – alle Formen der binären Spaltung oder pluralen Fragmentierung zueinander ins Verhältnis gesetzt und schließlich derart zusammengeführt, dass sich die Theorie eines Subjekts zeigt, das mit dem Traum verflochten ist: "Die Verbindung des Traums zu seinem Ursprung – [...] zu dem Wunsch des Subjekts in seiner ursprünglichsten Form – hat genau an dieser Stelle eine Markierung hinterlassen" (349).

Im zweiten Teil wird deutlich aufgezeigt, dass der Traum für das künstlerische Subjektverständnis zu einer Kategorie wird (vgl. bspw. 207, 226, 252, 290) und wie dieser zunehmend konzeptualisiert wird, doch hätte der träumende Künstler als Subjekt oder Gestalt noch konturierter ausfallen können. Dennoch findet eine kontinuierliche "Auseinandersetzung mit dem nächtlichen Selbst" (12) aus den jeweiligen Kapitelperspektiven statt, so dass die Anordnung der Beiträge sowie die Einteilung des Bandes ihre jeweilige Berechtigung erhält. Die dazu parallelgeführte Ausdifferenzierung der Wissenschaften, welche die Herausgeber in der Einleitung als "Paradigmenwechsel in der Traumforschung" (21) bezeichnen und die im Horizont des gesamten Bandes steht, wird zudem überzeugend dargestellt.

So gelingt es dem Sammelband, das ausgewiesene Forschungsdesiderat in umfassender Weise adäquat zu begründen und zu erschließen. Die Beiträge liefern einen überaus sachkundigen sowie fundierten Einblick in das skizzierte Forschungsfeld. Es erstaunt bisweilen lediglich, dass der ausgewiesenen Internationalität zum Trotz die Referenzwerke im Fußnotenapparat sowie die Autorenschaft häufig derart aufeinander verweisen, dass der Eindruck einer einhelligen Forschungslinie entsteht, die wenig Raum für Inkohärenzen und Brüche lässt. Vielleicht ist das der Form des Forschungsnetzwerkes geschuldet oder auch dem Anspruch, sich eines verflochtenen, mehrschichtigen kultur- wie wissenschaftsgeschichtlichen Komplexes anzunehmen. Dennoch vermag der Band es, eine beeindruckende thematische Kohärenz zu stiften, die darüber hinaus durch einen hohen Grad an Informationsdichte und Kenntnisreichtum in dem abgesteckten Bereich besticht.