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Zouheir Soukah (Düsseldorf)



Hillenbrand, Rainer (Hg.) (2015): Erinnerungskultur. Poetische, kulturelle und politische Erinnerungsphänomene in der deutschen Literatur. Wien: Praesens Verlag. (= Pécser Studien zur Germanistik 7)


Zweifelsohne erleben wir zurzeit einen markanten Boom der kollektiven Erinnerungskultur und ihrer wissenschaftlichen Behandlung nicht nur im kulturwissenschaftlichen, sondern auch im literaturwissenschaftlichen Bereich. Dabei steht im Zentrum der Erinnerungsforschung meist das wechselhafte Verhältnis zwischen Erinnerungen, Geschichte und Literatur, das seit den letzten Jahren auch zu den häufig wiederkehrenden Themen der germanistischen Literaturwissenschaft geworden ist. Allein die große Anzahl der Monographien und Sammelbände belegt diese intensive Beschäftigung mit der Gedächtnis-Thematik. In diesem Kontext ist der 2015 erschienene Band: Erinnerungskultur. Poetische, kulturelle und politische Erinnerungsphänomene in der deutschen Literatur von Bedeutung, der Beiträge der internationalen Tagung des Germanistischen Instituts der Universität Pécs enthält, die in Pécs (in Ungarn) vom 22. und 23. Mai 2014 stattfand. Dieser Band versucht, anhand des breiten Spektrums seiner Beiträge zahlreiche Gedächtnisphänomene in der deutschsprachigen Literatur seit dem späten Mittelalter bis hin zur Gegenwart primär literaturwissenschaftlich zu beleuchten. Dabei stehen im Zentrum der Arbeiten nicht nur die klassischen Erinnerungsgattungen (wie Reiseliteratur, Leichenpredigt, Autobiographien und Romane), sondern vor allem weitere literarische Gattungen mit ihrer potenziellen Erinnerungshaftigkeit. Dazu gehören, unter anderem, Lyrik, Drama und sogar Festrede. Somit stellen sich die folgenden drei Fragen: Inwieweit eignen sich literarische Texte als Erinnerungstexte? Welche konkreten identitätsstiftenden Rollen spielen die literarischen Gattungen in der Erinnerungskultur? Können lyrische und dramaturgische Texte sowie Essays auch als Medien der Erinnerung agieren?




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Diesen und weiteren Fragestellungen geht dieser Sammelband nach, der aus dreiunddreißig Beiträgen von, so der Herausgeber, Wissenschaftlern aus acht Ländern besteht. Der Herausgeber gliedert diesen Band in drei Hauptteile, die sich jeweils einem bestimmten Schwerpunkt widmen. Zudem ist eine theoretische Einführung des Herausgebers vorangestellt. Während der erste Teil (Erinnerungsgattungen), der zehn Arbeiten beinhaltet, sich mit den nicht-fiktiven Erinnerungsgattungen (wie Reiseberichte, Tagebücher und nicht-fiktive Autobiographien) befasst, stehen im zweiten Hauptteil (Erinnerungsbilder) im Zentrum der Beobachtung der zehn Beiträge die Inszenierungen der kulturellen sowie politischen Erinnerungen in fiktiven literarischen Texten wie Romanen und Erzählungen. Hingegen beschäftigen sich die zwölf Arbeiten des dritten Hauptteiles (Erinnerungspoetiken) mit der Inszenierung der Erinnerungen in überwiegend lyrischen und dramaturgischen Texten.

In der theoretisch gefärbten Einführung des Bandes diskutiert der Herausgeber, Rainer Hillenbrand, wie Erinnerungen die Identität des Individuums beeinflussen können: "Die Identität des Einzelnen" ist ihm zufolge nicht anders als "ein Erinnerungsakt" (11). Zudem stiften überindividuelle Erinnerungen kollektive und kulturelle Identitäten. In diesem Sinne sei "jede Kultur […] eine Erinnerungskultur" (11). Auf dieser Basis behandeln die meisten Beiträge des ersten Teiles überwiegend die Gattung Reisebericht, die "eine wichtige Informationsquelle für die literarische Öffentlichkeit" (22) darstellt, als ein bedeutendes Gedächtnismedium, das erinnerte Selbst- und Fremdwahrnehmungen nicht nur speichert, sondern vor allem auch zirkuliert und somit Identitäten formt. Dies versuchen L. Coșan und A. Horváth in ihren Arbeiten über ältere sowie neuere Reisetexte von Georg von Ungarn Tractatus de morbus (1480) und Juli Zehs Die Stille ist ein Geräusch (2013) zu zeigen.

In diesem Zusammenhang setzt sich S. János seinerseits mit sechs ausgewählten Reiseberichten über Ungarn und Siebenbürgen aus dem 18. Jahrhundert auseinander. Dabei geht er davon aus, dass das 18. Jahrhundert den Höhenpunkt der europäischen Reiseliteratur darstellt. In seiner Analyse kommt er dann zu der Feststellung, dass "das negative Ungaren-Bild […] in der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts ein immer wiederkehrendes Motiv ist" (63). Weiterhin in Bezug auf Ungarn befassen sich E. Szabó und G. Wanner in ihren Beiträgen mit Reisefeuilletons über Ungarn, die in deutschsprachigen Zeitungen erschienen sind. In den beiden Beiträgen wird diese spezifische Gattung auch als Erinnerungsmedium verstanden, das mithilfe der "Auseinandersetzung mit dem Anderen" (81) Selbstbehauptung sowie -kritik erzeugen kann.




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In Anlehnung daran diskutieren weitere Beiträge dieses Bandteiles andere textuelle Gedächtnismedien wie Leichenpredigt, Autobiographie und Archiv vor allem auch anhand konkreter Fallbeispiele. Es sind die folgenden Beiträge von T. Katona, N. Kordics und H. Drechsler-Meel. In diesen Arbeiten wird jeweils versucht zu zeigen, inwieweit diese Gattungen in der betreffenden Erinnerungskultur wirken. Außerdem stellt W. Frey in seinem Beitrag Martin Luther als Erinnerungsfigur dar, indem er sich mit Christian Junkers Schrift Das goldene und silberne Ehrengedächtnis Martini Lutheri (1706) analytisch befasst.

Hingegen widmet sich der zweite Hauptteil dieses Bandes überwiegend der Analyse einiger gegenwärtiger deutschsprachiger Autoren. Das Augenmerk der meisten Beiträge richtet sich dabei auf die einflussreichen Funktionen der literarischen Texte zur Erinnerungskultur in den Zeiten der Moderne und des Postkolonialismus. So beschäftigen sich die Beiträge von M. Orosz und E. Pabis mit ausgewählten literarischen von u.a. Leo Perutz und Martin R. Deans. Hier werden sowohl die Erinnerung als auch das Vergessen im Sinne von gleichrangigen "Polen des Prozesses von Ich-Konstruktion als Selbstfindung oder Selbstverlust" (166) dargestellt. R. Crisan ihrerseits stellt in ihrer Arbeit Schlattners Roman Der geköpfte Hahn (2001) und seine Verfilmung (2007) als Medium der kollektiven und kulturellen Erinnerung dar, denn, so Crisan selbst, "ohne die grundlegende Rolle der Medien kann man über das überindividuelle Gedächtnis kaum sinnvoll sprechen" (215). Diese Feststellung teilt auch J. Banachowicz in ihrem Beitrag über die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Österreich im Beispiel von Doron Rabinovicis Prosa und setzt fort, dass "das dank der Erinnerung vermittelte Bild der historischen Ereignisse […] einem Volk seine Identität zu bewahren" (204) erlaube.

Darüber hinaus gerät die Gattung Drama ins Visier weiterer Beiträge dieses Hauptteiles. Dazu gehören die Arbeiten von A. Öztürk über Körners Drama als literarisches Erinnerungsmedium und Material für den interkulturellen Unterricht zugleich; und H.C. Stillmarks Beitrag über den deutschen Dramatiker Heiner Müller; sowie D. Takács, die die Rolle der inszenierten Familiengedächtnisse in Theaterstücken von Elfriede Jelineks Winterreise (2011) und von Peter Handkes Immer noch Sturm (2010) diskutiert. Dabei stellt sich heraus, dass Dramentexte als wichtige Medien nicht nur der nationalen, sondern vielmehr der interkulturellen Erinnerungen gelten können.

In Anlehnung daran analysieren zwei weitere Beiträge die Gattung Lyrik ebenfalls als Medium des interkulturellen Gedächtnisses. Folglich interpretiert A. Sevim Agnes Miegels Lyrik (1879–1964) über die Vertreibung aus Ostpreußen als "ein hervorragendes Zeitdokument" (178) für die Erinnerungskultur über Vertreibung und Flucht vieler Deutscher im Jahr 1945. Hingegen beschäftigt sich Z. Szendi mit der Identitätsstiftenden Funktion der modernen Lyrik innerhalb der ungarndeutschen Minderheit und kommt zu der Annahme, dass diese Gattung "wesentlich zur Kontinuität der ungarndeutschen Präsenz nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft" (235) beitrage.




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Im dritten und letzten Hauptteil dieses Sammelbandes findet man auch analytische Auseinandersetzungen mit literarischen Texten und ihren Autoren bezüglich ihrer potenziellen Rolle in der Erinnerungsarbeit. So behandeln C. Mihály und folglich L. Sata die Phänomene des Erinnerns und Vergessen in Kafkas Werken, die, so C. Mihály, "meist miteinander verknüpft sind" (304). Außerdem beschäftigen sich einige Beiträge auch in diesem Teil weiter mit der Gattung Lyrik als Medium der Erinnerung. Mit dieser poetischen Verknüpfung zwischen den beiden Polen, Erinnerung und Vergessen, befasst sich auch R. Hillenbrand in seiner Arbeit über Josef Weinhebers Gedicht, das "dem Leser den Wunsch nach Vergessen seiner Vergänglichkeit poetisch in Erinnerung" (336) rufe. Zudem setzt sich H.G. Schwarz überwiegend theoretisch mit poetischen Erinnerungen als mögliche und somit erfundene Erinnerung auseinander, die "der Dichter in seiner Darstellung von Handlungen" (276) voraussetzt. Hingegen betrachtet Z. Bognár Christoph Ransmayrs Festrede Die dritte Luft kulturwissenschaftlich als Essay mit identitätsstiftender Funktion. Zudem befasst sich A. Bánffi-Benedek ihrerseits neben dem "erinnernde[n] Medium des Gedichts" auch mit der "Musik als Erinnerung im literarischen Medium" (337).

In diesem Hauptteil bietet I. Cankorels Beitrag eine ausführliche Auseinandersetzung mit einer im deutschsprachigen Raum neu entstandenen Gattung, nämlich der KZ-Literatur, die Cankorel zufolge auf den drei folgenden Elementen basiert: "erstens auf einer Erfahrung, zweitens auf der Erinnerung daran und drittens auf der Geschichtswissenschaft" (369). Als Ausgangspunkt ihrer Behandlung nimmt sie Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän.

Schließlich verwenden weitere Beiträge dieses Bandes einige gegenwärtige Romane sowie Erzählungen und deren Schriftsteller als Gegenstand ihrer Analysen. Damit unterscheiden diese sich kaum von den Beiträgen des zweiten Teiles. Dazu gehören V. Szabó, N. Pelletier und H. Schauer, die sich jeweils mit folgenden Texten befassen: Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse, Wolfgang Hilbigs "Ich", und W. G. Sebalds Erzählungen Paul Bereyter und Ambros Adelwarth. In diesem Kontext beschäftigt sich R. Duhamel seinerseits mit einigen literarischen Erinnerungswerken von Christa Wolf und Arthur Schnitzler, die ihm zufolge autobiographische Erinnerungen literarisch inszenieren.

Resümierend lässt sich sagen, dass dieser Band in vielerlei Hinsicht einen interessanten Beitrag innerhalb der interkulturellen germanistischen Gedächtnisforschung leistet, da er durch seine unterschiedlichen Beiträge, die, obwohl sie keine einheitliche Herangehensweise an die Thematik Erinnerung und Gedächtnis darstellen, dennoch die Lektüre jedes aufmerksamen Lesers bereichern.




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Allerdings mangelt es in der theoretischen Einführung des Bandes bei der Darstellung der identitätsstiftenden Funktionen der individuellen sowie kollektiven Erinnerung an einer eindeutigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den klassischen Gedächtnistheorien und Erinnerungskonzepten. Dazu gehören ganz gewiss Maurice Halbwachs 'kollektives Gedächtnis', Pierre Noras 'Erinnerungsorte' und nicht zuletzt Jan und Aleida Assmanns 'kulturelles Gedächtnis'. Diese Nachbemerkung betrifft mit wenigen Ausnahmen die meisten Beiträge dieses Bandes, die sich kaum mit diesen kanonisch gewordenen Gedächtnistheorien befasst haben. Konkrete Belege über die wichtige Rolle der älteren sowie der neueren literarischen Texte innerhalb der Erinnerungskultur liefert dieser Band durch seine umfangreichen und ausführlichen Beiträge jedoch definitiv.