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Berit Callsen (Berlin)



Nanette Rißler-Pipka (2015): Picassos schriftstellerisches Werk. Passagen zwischen Bild und Text. Bielefeld: transcript.



Nanette Rißler-Pipka legt mit ihrer Studie die erste umfangreiche Analyse des schriftstellerischen Werkes von Pablo Picasso vor. Auf 433 Seiten unterzieht sie die Schriften des Malers einer umfassenden literatur- und kulturwissenschaftlichen Untersuchung. Insgesamt 149 Abbildungen sind der Studie beigefügt. Sie illustrieren auf eingängige Weise die "Passagen zwischen Bild und Text" in Picassos Werk, die im Zentrum der Studie stehen.

In fünf Kapiteln entwickelt Rißler-Pipka ein differenziertes Panorama der schriftstellerischen Tätigkeit des Künstlers, die sich im Zeitraum von 1933 bis 1959 entwickelte und mehr als 350 Schriftstücke hervorbrachte. Sie beleuchtet dabei sowohl eine Auswahl der Prosagedichte als auch zwei Theaterstücke von Picasso im Zugriff des close reading.

In der Einleitung stellt Rißler-Pipka dar, dass die Schriften Picassos bisher nur selten und wenn, dann aus kunsthistorischer Perspektive untersucht worden sind; hier zeige sich eine Forschungslücke für literatur- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Analysen. (19) Ein weiteres Desiderat bestehe zudem darin, nachzuweisen, dass der Künstler in seinen Schriften eine eigene, der Malerei ebenbürtige Ausdrucksform gefunden hat. Ausgehend vom aktuellen Forschungsstand legt die Autorin den doppelten, methodisch-historischen Fokus ihrer Studie dar und formuliert die Hauptthesen und Fragestellungen ihrer Analysen. (12ff.) So konzentriert sich die Untersuchung einerseits auf die Einordnung von Picassos Schriften in die spanische Literaturgeschichte und bestimmt andererseits das Verhältnis zum Surrealismus, wobei vor allem Unterschiede und eigenständige (Weiter-)Entwicklungen von Picasso betrachtet werden sollen (vgl. 32). Im Fokus der beiden genannten Untersuchungsschwerpunkte stehen die jeweiligen Bild-Text-Beziehungen. Ausgehend von der These, dass Picassos Texte sich in ihrem assoziativen und fragmentarischen Charakter einem verstehenden Lektüreprozess verweigern und stattdessen verstärkt auf wahrnehmungsästhetischer Ebene funktionieren, widmet sich die Untersuchung jenen "Passagen" zwischen Bild und Text, die Picasso – so die Weiterführung der These – in einem Raum des Übergangs lokalisiert. (32) Die leitende Forschungsfrage lautet entsprechend, mit welchen sprachlichen Mitteln Picasso diesen transitorischen Raum kreiert. (13)




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Den intermedialen Bewegungen in Picassos Werk trägt die Studie mit einem ausdifferenzierten theoretischen Rahmen Rechnung. Neben dem Begriff der "Passage", den sie bei Walter Benjamin entlehnt und der vor allem die räumlichen Bewegungsaspekte in Picassos Schriften nachvollziehbar und beschreibbar macht, stützt die Autorin sich auf den Intermedialitätsbegriff von Volker Roloff. (60) Auf diese Weise betont sie den Aspekt der Wechselwirkung zwischen den Medien und geht weniger von einem Mischungsverhältnis aus. Ein solcherart gelagertes Verständnis von Intermedialität eignet sich insbesondere zur Erfassung des bereits erwähnten transitorischen Raums, in dem die Medien Bild und Text zwar interagieren, jedoch nicht ineinander aufgehen. Vielmehr, so argumentiert auch Tholen, auf den Rißler-Pipka mehrfach verweist (vgl. etwa 13), lässt dieser Raum des Übergangs etwas aufscheinen, das weder in dem einen noch in dem anderen Medium allein vorhanden oder herzustellen wäre. (45) In dieser theoretischen Perspektivierung kristallisiert sich nicht zuletzt ein spezifischer Bildbegriff heraus. So unterstreicht sie wiederum in Anlehnung an Benjamin, dass dessen Konzepte "Nähe", "Dialektik des Stillstands" und "Innervation" (Bild-)Objekte mit einer Eigenaktivität belegen können. (35)

Insgesamt identifiziert die Autorin neun Präsentationsformen der Interaktion von Bild und Text bei Picasso. (48ff.) Dies sind im Einzelnen:

  1. Bild-Text-Kombinationen
  2. visuelle Gedichte
  3. Redaktion und Mitarbeit in Zeitschriften
  4. Illustrationen eigener Texte im Zusammenhang mit den Theaterstücken
  5. Illustrationen zu literarischen Werken anderer Autoren
  6. einmaliger Fall eines Comics (Sueño y mentira de Franco)
  7. intermediale Zitate und Verweise auf andere Maler
  8. intermediale Zitate eigener Werke
  9. lyrisches und sprachliches Bild, das ein geistiges ist und vom Text generiert wird

Es ist das Verdienst dieser Studie, dass sie sich allen genannten Formen von Bild-Text-Beziehungen in detaillierten Analysen widmet.

Im Kapitel "Picassos Schriften und der Surrealismus" zeigt Rißler-Pipka die Picasso-Rezeption bei Breton auf. In Rückbindung an die Argumentation von Glozer attestiert sie Breton eine instrumentalisierende Vereinnahmung des Werkes von Picasso, die den Maler zum Pionier der surrealistischen Bewegung stilisiert. (146)

Darüber hinaus beleuchtet die Autorin die von Picasso entfalteten Bild-Text-Beziehungen insbesondere anhand der Zeitschrift Minotaure und stellt in einer detaillierten Analyse des Theaterstücks Le désir attrapé par la queue (1941) die Verbindung von surrealistischen und existentialistischen Themen heraus. (171) Rißler-Pipka kann insgesamt nachweisen, dass das dramatische Werk Picassos einerseits in engem semantischen und ästhetischen Bezug zu seiner Malerei steht; andererseits bilden die Dramen und Theaterbilder den Raum für ein mediales Triptychon, in dem Malerei, Theater und Skulptur zusammenkommen. Damit ermöglicht insbesondere Picassos dramatisches Werk eine In-Bezug-Setzung von Raum und Subjekt ebenso wie von Realität und Surrealität sowie eine Reflexion dieser Verhältnisbestimmungen. (169)

Das Kapitel "Spanische Traditionen in Picassos Schriften: Vom Barock bis zur horchata" zeigt in einer Reihe von Einzelanalysen Verbindungen zwischen Picasso, Lorca, Góngora, Velázquez und El Greco auf. Ausgehend von der Hypothese, dass stilistische Eigenheiten in Picassos Lyrik insbesondere auch durch seine spanischen Wurzeln begründet sind, nimmt Rißler-Pipka eine umfangreiche literarhistorische Einordnung seiner Schriften vor. (196) Insbesondere die stilistische Nähe zu Góngora und Lorca, die sich bei Picasso jeweils durch motivische und mythologische Anleihen zeige, analysiert Rißler-Pipka eingehend. (242–243) Die regionalen Einwirkungen werden bei Picasso jedoch häufig durch surrealistische Stilelemente durchbrochen, sodass sich eine eigenständige Schreibweise herausbildet.




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In welchem Maße diese Poetik auch eine Poetik der Bewegung ist, stellt die Autorin in ihrem abschließenden Kapitel unter dem Titel "Die Poetik der Metamorphose" dar. Hier überführt Rißler-Pipka den benjaminschen Begriff der "Passage" und die darin enthaltenen Aspekte von Räumlichkeit und Bewegung in ein weiteres Konzept, das auch den Raum des "Zwischen" noch einmal neu ausloten kann: Es ist die Poetik der Metamorphose, die ihr Verwandlungspotential sowohl im Bild als auch im Text zur Ausgestaltung bringt. (386)

Insgesamt besticht die Studie von Rißler-Pipka durch breit gefächerte Detailinformationen zu Picassos schriftstellerischem Werk, die in eingängigen und plausiblen Analyseschritten zusammengetragen werden. Sowohl der Vergleich mit ästhetischen Prinzipien des Surrealismus als auch die literarhistorische Einordnung – die beiden analytischen Hauptachsen der Untersuchung – zeugen von großem Kenntnisreichtum und genauer literatur- und kulturwissenschaftlicher Recherchearbeit.

Bisweilen drängt sich jedoch im Zuge der literarhistorischen Einordnung von Picassos Schriften der Eindruck einer biografistischen Ausrichtung auf, die den Analysen der Primärtexte ein wenig an Tiefe zu rauben droht. Auch hätte eine noch stärkere Rückbindung des theoretischen Rahmens an aktuelle bildtheoretische Diskussionen gewinnbringend sein können. Insbesondere Ansätze aus den Bildwissenschaften (vgl. etwa Horst Bredekamp) vermögen etwa in der Herausstellung eines bildaktiven Potentials neben den verwendeten bildanthropologischen Positionen noch zusätzliche Argumente zu liefern, um die Beobachtung einer medialen Eigenaktivität in Picassos Werk zu stärken und analytisch darzulegen.

Insgesamt kommen die Einzelanalysen jedoch zu wichtigen und vor allem die bisherigen kunsthistorischen Betrachtungen ergänzenden und überschreitenden Ergebnissen, die das schriftstellerische Werk Picassos erstmals ausführlich und grundlegend aus einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektive würdigen.