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Julia Brühne (Mainz)



Isabell Lammel (2015): Der Toussaint-Louverture-Mythos. Transformationen in der französischen Literatur, 1791–2012. Bielefeld: transcript. (Mainzer Historische Kulturwissenschaften)



Sklavenführer, 'schwarzer Napoleon', Verräter, Nationalheld: François Dominique Toussaint Louverture hat viele Namen. Die Karriere des einstigen Sklaven, der für die Freiheit Saint-Domingues kämpfte und zum mächtigsten Mann der Kolonie aufstieg, ist so einzigartig, dass sie eine Fülle von Interpretationen hervorgebracht hat. Von der Dämonisierung Toussaints bis hin zu seiner Glorifizierung als Gegenpart Napoleons, von seiner Unterschlagung in der (französischen) Historiographie bis zur Wiederentdeckung als Romanfigur, als Film- oder Kinderbuchheld im 21. Jahrhundert: Der Vater der Haitianischen Unabhängigkeit hat Kulturgeschichte geschrieben – selbst dann noch, als er mit aller Macht vergessen werden sollte.

Isabell Lammel hat sich in einer 'Zeitreise' durch mehr als 200 Jahre den verschiedenen Transformationen des Toussaint-Louverture-Mythos angenommen. Sie geht dabei der Frage nach, inwieweit die Rezeption Toussaints in der französischen und später frankophonen Literatur Rückschlüsse auf Frankreichs Umgang mit der eigenen Geschichte und Kolonialpolitik zulässt. Maßgeblich für die Arbeit sind die Mythostheorien von Roland Barthes und Claude Lévi-Strauss und deren Erweiterung durch Stephanie Wodianka sowie die Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs, Pierre Nora und Jan und Aleida Assmann. Ein weiteres Theoriekapitel widmet sich frühen Antikolonialismustexten (Césaire, Fanon, Glissant) und deren Auseinandersetzung mit Toussaint bzw. mit antikolonialen Identitätskonzepten (négritude, antillanité), sowie Schlüsseltexten der Postcolonial Studies (Edward Said, Homi Bhabha) und deren für die Analyse des Toussaint-Mythos notwendiger Verknüpfung mit den genannten Gedächtnistheorien.




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Die Textanalysen beginnen mit von Zeit- und Augenzeugen verfassten Texten über Toussaint, die "den Auftakt der Mythologisierung des haitianischen Anführers in Frankreich" (121) darstellen. Auf die zunächst positive Bewertung des Sklavenführers folgt nach dem Staatsstreich Napoleons 1799 und dem Erlass einer Verfassung für Saint Domingue durch Toussaint 1801 seine zunehmende Dämonisierung, die Lammel zufolge als bonapartistische Propaganda zu betrachten ist. Unter anderem stellt sie zwei zentrale Texte von René Périn und Augustin Régis einander gegenüber und zeigt, wie einzelne Mytheme (Lévi-Strauss), die sich um Toussaint ranken, hier in je entgegengesetzter Weise aktualisiert und funktionialisiert werden: So werden etwa die Mytheme der Bildung (War Toussaint Analphabet oder sprach er gar Latein?), der Nationalität (War er Afrikaner und damit Subjekt radikaler Alterität oder war er Franzose?) oder der Verfassung (ein Täuschungsmanöver, das die Franzosen glauben machen sollte, Toussaint verfechte die gleichen Prinzipien wie das Mutterland, oder ein Geniestreich zum Wohle Frankreichs und der Kolonie?) in ihren jeweils gegensätzlichen Ausdeutungen beleuchtet. Weitere Mytheme, die auch in der Folgezeit immer wieder reaktualisiert und epochenspezifisch ausgelegt werden, sind der Streit um die angebliche Religiosität Toussaints (Voodoo oder Katholizismus?), seine Virilität und Tugendhaftigkeit (Schürzenjäger oder treuer Ehemann und Vater?), Toussaints Stilisierung als der von Raynal vorausgesagte 'schwarze Spartakus', der die Schwarzen rächen werde, sowie die ambivalente Rolle der Franzosen. Auch die selbst im 21. Jahrhundert noch stets aufs Neue formulierte Gegensätzlichkeit zwischen Toussaint und Napoleon, die – je nach Verfasser – zur Dämonisierung des einen und zur Glorifizierung des anderen dient, nahm in dieser Epoche ihren Anfang.

Die anschließend behandelte Romantik war diejenige Epoche, in der Toussaint in seiner Eigenschaft als schwarzer Held vermehrt idealisiert wurde, während Napoleon im Gegenzug eine radikale Dämonisierung erfuhr. So entstanden in Anlehnung an die littérature négrophile romantisierende Darstellungen des Toussaint-Mythos, wie etwa (wenn auch nur indirekt) in Victor Hugos Roman Bug-Jargal. Lammel spricht sich dafür aus, dass die Toussaint-Mytheme in Bug-Jargal der Herabwürdigung Napoleons dienen, während die positive Darstellung Bug-Jargals die utopische Darstellung einer gewaltlosen, auf Erziehung und Aufklärung der Schwarzen gegründeten Revolution darstellt, wie sie sich auf Haiti idealerweise hätte ereignen sollen. Die positive Überhöhung Toussaints zu Ungunsten Napoleons, die sich bei Hugo bereits abzeichnet, nimmt im anonym publizierten Roman Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue (1826) und in Lamartines Theaterstück Toussaint Louverture (verf. 1839–1840), wo die Titelfigur als "ein zwischen Vaterliebe und politischer Pflicht zerrissener Held" (214) inszeniert wird, schließlich unmissverständliche Züge an. Auch bei Madame de Staël (Dix années d'exil [1818]), Balzac (Z. Marcas [1840]) und Chateaubriand ("De Buonaparte et des Bourbons" [1814] und Mémoires d'outre-tombe [1848]) wird Toussaint thematisiert, um ihn als Gegenpart zu Napoleon in Szene zu setzen. Die Figur Toussaints wird hier nicht glorifiziert, dient aber als Folie, um Napoleons Verbrechen und sein Regime, unter dem die Autoren – wie die immer wieder zwangsexilierte Madame de Staël – ihrerseits zu leiden hatten, zu kritisieren. Die Solidarisierung mit Toussaint (wenn auch nicht unbedingt mit der haitianischen Revolution an sich) und die entsprechende Funktionalisierung der unterschiedlichen Mytheme dienten so der Demontage des Mythos um Bonaparte selbst, so Lammel.




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Das nächste Kapitel befasst sich mit dem gezielten Verschweigen des Phänomens 'Toussaint Louverture' in Frankreich ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Napoleon III., der sich im Glanze seines Onkels sonnte, hatte ein Interesse daran, die Ereignisse um Haiti in Vergessenheit geraten zu lassen und Literatur über Toussaint mittels Zensur gänzlich zu unterdrücken. Nach der Niederlage im Preußisch-Französischen Krieg und der Absetzung Napoleons blieb es auch in der Dritten Republik weiterhin ruhig um Toussaint und die haitianische Revolution: Die mit der Eroberung Algiers 1830 begonnene Kolonialexpansion wurde schließlich erfolgreich fortgesetzt und die französische Niederlage in Haiti wäre in jener Phase des Hochimperialismus ein unliebsames Negativbeispiel gewesen (vgl. 224–225). Dennoch erschienen während der Dritten Republik, die immerhin die Pressefreiheit garantierte, einzelne Bücher zu Toussaint. Lammel widmet sich in ihrer Analyse Pierre Laffitte, Thomas Prosper Gragnon-Lacoste und Victor Schoelcher. Bei dem Text Laffittes handelt es sich um einen im Rahmen einer Vorlesung gehaltenen Vortrag, bei den anderen beiden um Toussaint-Biographien. Gemein ist allen dreien, dass sie Toussaint – vor dem Hintergrund eines vermeintlich naturwissenschaftlich untermauerten Diskurses von der Minderwertigkeit der Schwarzen – als Symbol für die Gleichheit aller Menschen funktionalisieren. So gewendet dienen die entsprechend angepassten Mytheme dazu, ein Zeichen gegen das weiße Überlegenheitsgefühl zu setzen, das im Zuge der Kolonialpropaganda neuerlich aufgeflammt war. Bezeichnenderweise bleiben auch die Autoren der Dritten Republik bei der dichotomen Darstellung von Toussaint und Napoleon, obwohl Gragnon-Lacostes Napoleon-Darstellung zumindest von Ambivalenz geprägt ist. Nicht weniger bedeutsam für die Funktionalisierung des Mythos im Kontext der zeitgenössischen politischen Situation ist der Umgang mit dem Mythem der Nationalität: War Toussaint während der Romantik mitunter als Haitianer bezeichnet worden, so wird er bei Gragnon-Lacoste und Schoelcher wieder zum Franzosen – ein haitianischer Toussaint wäre für den pro-kolonialen Diskurs, der keine Unabhängigkeitsbestrebungen tolerieren kann, kontraproduktiv gewesen. Auch wenn sich Laffitte, Gragnon-Lacoste und Schoelcher nicht grundsätzlich gegen die Kolonialisierung aussprechen, so können sie für Lammel doch als Vorläufer der kritischeren Schriften von Césaire, Dadié und Glissant gelten, da sie mithilfe des Toussaint-Mythos explizit gegen Rassismus und Sklaverei Stellung beziehen.

Das 20. Jahrhundert schließlich markiert einen bedeutsamen Bruch in der literarischen Toussaint-Rezeption. Nicht nur dass die Beschäftigung mit Toussaint nach jahrelangem 'Vergessen' wieder aufgenommen wurde – erstmals setzen sich ab den 60er Jahren vermehrt schwarze Autoren mit ihm auseinander. Im Rahmen der von Aimé Césaire mitbegründeten négritude-Bewegung entstand sein Essay Toussaint Louverture. La Révolution française et le problème colonial. Der Sklavenführer wird hier zur Symbolfigur der négritude und eines neuen postkolonialen Selbstbewusstseins; die meisten Mytheme werden positiv verwendet und von jeder potentiellen Ambivalenz reingewaschen. Er wird so "nicht nur als Gründer von Haiti, sondern auch als Visionär instrumentalisiert, der als Erster für die Universalität der Menschenrechte kämpfte" (271). Die Theaterstücke Monsieur Toussaint (1961) von Édouard Glissant und Iles de tempête (1973) von Bernard Binlin Dadié sind hier kritischer. So wird Toussaint – teils vermittels der Hinzufügung neuer Mytheme – die Nachahmung der Weißen und eine pro-weiße Politik vorgeworfen. Die hiermit einhergehende Nähe und Verbundenheit zu Frankreich und auch zu Napoleon führt zu seiner Darstellung als ambivalente Figur, die zwischen Volksverrat, Loyalität und naivem Assimilierungswunsch schwankt. Gemein ist allen drei Texten jedoch, dass sie die westliche Geschichtsschreibung dafür anprangern, Toussaint so lange verschwiegen zu haben – durch die explizite Auseinandersetzung mit ihm gelangt Toussaint dank Césaire, Glissant und Dadié nun langsam wieder ins kollektive Gedächtnis der Franzosen.




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Im letzten Analysekapitel widmet sich Lammel dem künstlerischen Umgang mit Toussaint zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Comics, (Dokumentar-)Filme, Romane, Theaterstücke, Biographien oder Kinderbücher sind Ausdruck der vielfältigen Beschäftigung mit dem Toussaint-Mythos, die längst nicht mehr nur von Autoren aus den Départements d'Outre-Mer betrieben wird – Toussaint, so scheint es, kann inzwischen als postkoloniale Identifikationsfigur für ganz Frankreich dienen. So verortet Lammel dieses Phänomen denn auch als Ausdruck der immer bedeutsamer werdenden Aufarbeitung der eigenen Kolonialvergangenheit. Unter dem Titel "Die allmähliche Rückkehr Toussaint Louvertures ins kollektive Gedächtnis Frankreichs" betrachtet sie die Toussaint-Romane von Fabienne Pasquet und Claude Ribbe, ein Theaterstück von Éric Sauray, den Fernsehfilm Toussaint Louverture (2012) von Philippe Niang und das gleichnamige Kinderbuch von Jacques Vénuleth (2011). Bei Pasquet und Sauray betont sie vor allem die "metamythische Herangehensweise", mit der die "eurozentristische Perspektive" auf den Mythos dekonstruiert werden soll (357). So ist bei beiden Autoren das Mythem der Nationalität und Toussaints Rückbesinnung auf seine kreolische – und eben nicht französische – Identität von besonderer Bedeutung. Bei Ribbe steht erneut die Zerstörung des (positiven) Napoleon-Mythos im Vordergrund: Toussaint wird als Opfer Napoleons und seiner Politik dargestellt (in Ribbes Pamphlet Le crime de Napoléon [2005] wird Napoleon sogar als "erste[r] rassistische[r] Diktator der Geschichte" [325] bezeichnet). Auch im Film und besonders im Kinderbuch erfolgt, zusätzlich zur grundsätzlich vereinfachenden, dichotomischen Darstellung von 'Gut' (Toussaint) und 'Böse' (seine Widersacher), eine Dämonisierung Napoleons. Parallel dazu wird Toussaint als 'Vollender' der Französischen Revolution gefeiert und solchermaßen als Symbolfigur für das republikanische Frankreich instrumentalisiert. Unabhängig von der Funktionalisierung der jeweiligen Mytheme des Toussaint-Mythos in der Gegenwart, so hält Lammel in ihrer Schlussbetrachtung fest, lässt sich die allmähliche Manifestation Toussaints im kollektiven Gedächtnis Frankreichs feststellen: Toussaint ist auf dem besten Wege, Karriere als gesamtgesellschaftliche Identifikationsfigur zu machen.

Der Toussaint-Louverture-Mythos ist eine informative, sehr sorgfältig aufgearbeitete Studie der zahlreichen Texte zu Toussaint. Durch die vergleichend-diachrone Analyse erhält der Leser einen ausgezeichneten Überblick über die literarische (und später filmische) Rezeption der Figur. Über die mythenkritische Herangehensweise gelingt es der Verfasserin, die einzelnen Mytheme herauszuschälen und in ihrer je unterschiedlichen Funktionalisierung, abhängig vom sozio-politischen Kontext, deutlich zu machen. Vielleicht könnte man die Möglichkeiten, die die Barthes'sche Mythostheorie bietet, mitunter noch umfänglicher nutzen, um die (fiktionalen) Texte (oder den Film) stärker auf ihre konkrete ideologische Naturalisierung hin zu befragen: Welche ideologische Funktion könnten neue mythische Signifikanten wie die Vereinnahmung Toussaints für das republikanische Frankreich, die Darstellung Napoleons als 'Rassist', Toussaints Rückbesinnung auf seine 'wahre' Identität oder die Auslegung, Toussaint habe von Anfang das Ziel gehabt, die Sklaverei abzuschaffen, für den gesellschaftlichen Status quo zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben? Davon abgesehen hat man es hier jedoch mit einer ebenso umfang- wie lehrreichen Aufarbeitung der vielfältigen künstlerischen Rezeption Toussaint Louvertures zu tun, die einen wertvollen Beitrag zur Analyse der (post-)kolonialen Erinnerungskultur leistet und diverse Anknüpfungsmöglichkeiten für weitere Studien aus unterschiedlichen Forschungsbereichen bietet.