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Christina Schröder (Bochum)



Mareike Böth (2015): Erzählweisen des Selbst. Körperpraktiken in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722). Köln/Weimar/Wien: Böhlau.



Aufgrund der Vielzahl der von ihr überlieferten außergewöhnlichen Briefe ist Elisabeth Charlotte (16521722), Tochter des Pfälzischen Kurfürsten und spätere Schwägerin Ludwigs XIV., ein äußerst beliebter Forschungsgegenstand für die historische Beschäftigung mit Selbstzeugnissen. In einer Forschungstradition, die lange vor allem von biographischen Studien dominiert wurde und dabei ihre Höhepunkte zum einen zwischen 1830–1910 und zum anderen zu Beginn der 1990er Jahre, ausgelöst durch die Biographie Dirk Van der Cruysses (1990), verzeichnete, macht Mareike Böth mit ihrer 2015 erschienenen Studie den wichtigen und längst überfälligen Versuch einer wissenschaftlichen Neuausrichtung in der Beschäftigung mit der Herzogin von Orléans. Indem sie ihrer Untersuchung – eine leicht überarbeitete Version ihrer 2013 an der Universität Kassel verteidigten Dissertation – einen dezidiert körperhistorischen und intersektionalen Ansatz zugrunde legt, nimmt sie Abstand von der, wie sie es selbst nennt, "hochgradig untheorisierte[n] historiographische[n] Auseinandersetzung" (51) mit der Pfälzischen Prinzessin. Sichtbar ist Böths Abgrenzung von der bisherigen Forschungstradition und Neuausrichtung schon daran, dass sie innerhalb ihrer Studie auf die in der historischen Forschung gebräuchlich gewordene Bezeichnung Elisabeth Charlottes als Liselotte von der Pfalz verzichtet. Einzig im Titel taucht dieser Name noch auf – Recherche- und Vermarktungsstrategien mögen hierfür verantwortlich gewesen sein – ansonsten fungiert 'Liselotte von der Pfalz' als reiner Quellenbegriff.

Die wesentliche Quellengrundlage ihrer Untersuchung bilden das sogenannte Harling-Korpus (1661–1722), das aus Briefen Elisabeth Charlottes an ihre frühere Hofmeisterin Anna Katharina von Harling und deren Ehemann besteht, das Raugräfliche Korpus (1676–1722) mit Briefen an ihre Halbgeschwister sowie das Korpus Sophie von Hannover (1672–1714), Tante der Verfasserin. Der Auswahl dieser drei Hauptkorpora liegt die Vermutung zugrunde, dass die jeweiligen Briefe von der persönlichen Nähe zwischen der Verfasserin und den Adressaten geprägt seien und diese wiederum das Schreiben über körperliche Wahrnehmungen begünstigt habe (53). Eben dieses Schreiben über die Wahrnehmung des eigenen Körpers ist zentral für das analytische Vorgehen Böths.




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Bei der Analyse der Briefe des Harling- und des Raugräflichen Korpus hat Böth auf eine Sichtung der Originale verzichtet und die Inhalte über vollständig vorliegende Editionen erschlossen. Das Korpus Sophie von Hannover liegt bis heute nur in einer 1891 von Eduard Bodemann herausgegebenen Teiledition vor. Hier hat Böth einen Abgleich mit den Originalen vorgenommen, jedoch nur die bereits edierten Briefe in ihre Studie einbezogen. Das ist zwar schade, in Anbetracht der Größe des Korpus' – Schätzungen sprechen von 34.000 Manuskriptseiten – allerdings verständlich, auch wenn ihr hier Erkenntnisse entgangen sein mögen. Ergänzt werden die drei Hauptkorpora zudem durch vier Nebenkorpora – Briefe an Caroline von Wales (1715–1722), an Johanna Sophie von Schaumburg-Lippe (1717–1722), an Étienne Polier de Bottens (1675–1711) und an den kurfürstlich braunschweig-lüneburgischen Kammerpräsidenten Friedrich Wilhelm von Schlitz (1719–1722) –, die ebenfalls jeweils ediert vorliegen. Weitere Briefe aus Elisabeth Charlottes verwandtschaftlichem Umfeld, die Memoiren Sophies von Hannover sowie zeitgenössische Chroniken des französischen Hoflebens vervollständigen das Material. Somit liegt Böths Studie ein überaus beachtliches Quellenkorpus zugrunde, das sie verständlich, nachvollziehbar und detailreich analysiert, ohne sich in seiner Fülle zu verlieren.

Böths zentrale Intention ist es, sich von der bisherigen, überwiegend biographischen Lesart der Briefe Elisabeth Charlottes zu distanzieren, was sich insbesondere in ihrer äußerst kritischen Bewertung des bisherigen Forschungsstandes und der Hervorhebung des innovativen Charakters des von ihr gewählten analytischen Zugriffs auf das Material zeigt. Die von Böth in ihrer Einleitung (9–73) formulierten Forschungsziele fragen nach den Prozessen der Selbstkonstitution der Verfasserin, sowohl im Schreiben als auch im Alltag, und legen hierbei einen besonderen Schwerpunkt auf die Tradierung und Generierung von Körperpraktiken. Dabei versteht Böth unter Körperpraktiken neben konkreten Handlungen an und mit dem Körper auch die Kommunikation und das Wissen über denselben. Sie limitiert den von ihr gewählten Praxisbegriff dabei in dem Sinne, dass er sich nur auf "gedanklich und schriftlich reflektiert[e] Äußerungen zum Körpergebrauch in den Briefen der Schreiberin" (24) bezieht. Dies geschieht vor dem Hintergrund der sich durch die 1671 geschlossene Ehe mit Herzog Philipp I. von Orléans immens wandelnden Lebensumstände Elisabeth Charlottes sowie dem mehr als fünfzigjährigen Zeitraum, in dem sie Briefe schrieb. Auf diese Weise will die Untersuchung Ansätze aus der Selbstzeugnisforschung mit solchen aus der Körper-, Medizin- und Geschlechtergeschichte in Einklang bringen, um so zu neuen Erkenntnissen über die Schreibpraxis, die Körperwahrnehmung und das Selbstbild Elisabeth Charlottes zu gelangen – eine große Herausforderung, der Böth jedoch weitgehend gerecht wird.

Indem sie das Verfassen von Selbstzeugnissen selbst auch als soziale Praxis auffasst, gelingt ihr eine sinnvolle Überleitung zur Frage nach der Bedeutung von Praktiken und in ihrem speziellen Fall von Körperpraktiken für die Prozesse der Selbstkonstitution. In diesem Zusammenhang macht Böth deutlich, dass sie ihre Studie als "Beitrag zur Erforschung des historisch-spezifischen Zusammenhangs von Subjekt und Praxis in der Ständegesellschaft des frühneuzeitlichen Europas" (11) verstanden wissen will. Dabei ist sie sich der Außergewöhnlichkeit ihres Quellenkorpus' bewusst, welches sich, wie oben bereits angedeutet, durch seine immense Überlieferungsdichte – vermutlich insgesamt 60.000 Briefe, von denen 6.000 momentan bekannt sind – seine thematische Breite und eine Vielzahl von selbstreflexiven Passagen der Verfasserin auszeichnet. Böth legitimiert ihren mikrogeschichtlichen Ansatz, indem sie schlüssig darlegt, dass sich die Briefe Elisabeth Charlottes für komparatistisch angelegte Studien aufgrund ihres Umfanges kaum eignen (33).




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Die praxis- und subjekttheoretische Lesart, die Böth den ausgewählten Briefen dann zugrunde legt, beschäftigt sich explizit mit verschriftlichten Selbstaussagen der Herzogin über ihren eigenen Körper sowie über die Körper in ihrer Umgebung am französischen Hof. Hinter diesem Ansatz verbirgt sich ein Verständnis des Körpers als Vermittler zwischen Individuum und Gesellschaft und als Trägermedium kultureller und gesellschaftlicher Repräsentationen. Die Untersuchung fragt nach den Konstruktionen des Selbst der Verfasserin sowie den Praktiken, die diesen Konstruktionen zugrunde liegen und die in den Briefen am und mit dem Körper entwickelt, verhandelt und neu konzipiert werden (16). Indem sie aus dem Wissen über den Körper in der Frühen Neuzeit generierte Praktiken analysiert und kontextualisiert, erschließt Böth die Entstehungs- und Wandlungsprozesse der Selbstkonstitution Elisabeth Charlottes. Der gewählte intersektionale Untersuchungsansatz hilft hierbei zudem, alle für die Erschließung einer Selbstpositionierung relevanten Kategorien in den Blick zu nehmen. Der praxeologische Zugang soll darüber hinaus Rückschlüsse auf die Beeinflussung von Körperpraktiken durch Gesellschaft und Kultur zulassen.

Die Studie gliedert sich in drei umfassende Analysekapitel. In jedem der drei Kapitel werden aus vorhandenem Wissen generierte Körperpraktiken und das leibliche Empfinden Elisabeth Charlottes in Auseinandersetzung mit der bisher vorhandenen Forschungsliteratur diskutiert. Das erste Kapitel "Das genealogische Selbst erzählen" (74–191) thematisiert die Bedeutung sozialer Beziehungen und Netzwerke für Körperkonzepte und hinterfragt vor dem Kontext von Elisabeth Charlottes Verheiratung und Übersiedelung an den französischen Hof das Festhalten an körperbezogenen Wissensbeständen in neuer Umgebung sowie die Wahrnehmung von und den Umgang mit unterschiedlichen und für sie neuen Körperpraktiken. Böths Ergebnisse, dass die familiäre Herkunft entscheidend für das Wissen über den Körper und dem Umgang mit diesem ist und Verwandtschaft das entscheidende Bezugssystem bei der Interpretation von Krankheiten darstellt, sind hierbei nicht wirklich neu. Interessant an dieser Stelle ist jedoch Böths Feststellung, dass Elisabeth Charlotte im Zusammenspiel von alten Verpflichtungen gegenüber ihrer pfälzischen Heimat und neuen Anforderungen, die das Leben am französischen Hof mit sich brachte, die Prinzipien ihrer Herkunft verteidigte und somit ihre soziale Positionierung in ungewohnter Umgebung zunächst aus ihrem Körperwissen und ihren Körperpraktiken konstituierte.

Das zweite Kapitel "Das vergeschlechtlichte Selbst erzählen" (192–300) stellt die von Elisabeth Charlotte beschriebenen Konzepte von Geschlecht in den Mittelpunkt der Analyse. Gefragt wird hier nach den Entstehungsmechanismen und Bedeutungen von geschlechtlichen Zuschreibungen für die Körperpraxis und Körperwahrnehmung und den daraus resultierenden Selbstpositionierungen der Briefschreiberin am französischen Hof. Vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Erwartungen an die adelige Frau der Zeit kommt Böth zu dem Ergebnis, dass Elisabeth Charlotte diese Idealvorstellung nur schwer verkörpert habe, was insbesondere in den Unterkapiteln zur höfischen Jagd (205–221) und zu Praktiken der Körperformung (249–265) sichtbar wird. Vielmehr habe die Pfälzische Prinzessin durch ihre Körperpraktiken vermeintlich gegebene Grenzen überschritten, die mit Um- und Neupositionierungen ihrer Rolle einhergingen. Exemplarisch sei hier auf ihre in Frankreich einsetzende Selbststilisierung als Reiterin und Jägerin verwiesen – beides Aktivitäten, die sie in ihrer Kindheit nicht erlernt hatte – oder auch auf die kritische Beobachtung und Bewertung des eigenen zunehmenden Körperumfanges.




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Durch seinen Fokus auf Geschlecht verbindet dieses zweite Analysekapitel das erste mit dem dritten Kapitel: Ging es im ersten Kapitel um das Festhalten an bekannten Körperpraktiken zur Wahrung einer bereits bestehenden Konzeption des Selbst, so werden im dritten Analysekapitel "Aneignungen des Selbst erzählen" (301–416) Momente im Leben Elisabeth Charlottes in den Blick genommen, in denen vorhandenes Körperwissen neu ausgelegt bzw. erweitert und Praktiken des Körpers angepasst, verändert oder aktualisiert wurden. Diese Strategien der Aneignung zogen dann wiederum eine Veränderung ihrer Selbstkonstitut­­­­ion nach sich. Es ist eine Stärke von Böths Studie, aufzuzeigen, dass Elisabeth Charlotte sich und ihre Körperpraktiken am französischen Hof – trotz der enormen Bedeutung von Familie und Verwandtschaft für den Prozess der Selbstpositionierung und der Konstituierung des Körpers in der Frühen Neuzeit – verändert und teilweise neu erschaffen hat. Ihre Selbstpositionierung, die in ihren Briefen deutlich wird, erwies sich als keineswegs starr und unveränderlich, sondern erfuhr im Laufe der Zeit zahlreiche Umdeutungen. Im Gegensatz zu früheren Arbeiten (z.B. Knoop 1956, Lebigre 1988) kann Böth hier zeigen, dass sich in Elisabeth Charlottes Briefen durchaus auch positive Identifikationen mit dem französischen Hof feststellen lassen.

In diesem Zusammenhang gelingt es Böth, die große Bedeutung und Funktion des Briefes als Medium der stetigen Selbstvergewisserung und der Verarbeitung von Wandlungsprozessen herauszustellen und somit wichtige, die Selbstzeugnisforschung erweiternde Ansatzpunkte hervorzubringen. Die methodische Heraushebung der Kategorie Geschlecht begünstigt zudem die Erkenntnis, dass die von Elisabeth Charlotte vorgenommene gesellschaftliche Positionierung, die immer mit ihrem Geschlecht einherging und von diesem abhängig war, den einzigen stabilen Faktor im Kontext der verschiedenen Wandlungsprozesse darstellte. Mit Hilfe ihres Körpers gelang es Elisabeth Charlotte Zeit ihres Lebens, sich zu positionieren, sich ihrer selbst zu vergewissern und sich nach außen so darzustellen, wie sie es selbst beabsichtigte. Diese Funktion und Mittlerposition des Körpers hebt Böth ausgehend von den Briefen im gesamten Verlauf der Arbeit eindrucksvoll hervor.

Mit ihrer Studie legt Böth somit nicht nur die erste Monographie zu Elisabeth Charlotte mit kultur- bzw. körpergeschichtlicher Ausrichtung vor, sondern durch ihre Ergebnisse sollte mindestens auch der erste Schritt hin zu einer Neubewertung der Herzogin von Orléans getan sein.


Bibliographie

Knoop, Mathilde (1956): Madame. Liselotte von der Pfalz. Ein Lebensbild. Stuttgart: K. F. Koehler.

Lebigre, Arlette (1988): Liselotte von der Pfalz. Eine Biographie. Düsseldorf: Claassen.

Van der Cruysse, Dirk (20028): "Madame sein ist ein ellendes Handwerck." Liselotte von der Pfalz – Eine deutsche Prinzessin am Hof des Sonnenkönigs. München: Piper. [1990]