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Vanessa Schlüter (Mainz)



Unn Falkeid / Aileen A. Feng (Hg.) (2015): Rethinking Gaspara Stampa in the Canon of Renaissance Poetry. Farnham [u.a.]: Asghate.



Gaspara Stampa ist 'in' und das internationale Interesse an der venezianischen Dichterin des Cinquecento groß. Der von Unn Falkeid und Aileen A. Feng herausgegebene Sammelband ist der erste, der sich allein Gaspara Stampa widmet und sowohl in Bezug auf Produktion als auch Rezeption ihrer Gedichtsammlung Rime zahlreiche neue Erkenntnisse versammelt. Die Beiträge stammen von ForscherInnen, die entweder bereits einschlägige Publikationen vorgelegt haben oder aktuelle Projekte zu Stampa und der weiblichen Dichtung der italienischen Renaissance verfolgen (ix–xii). Man darf gespannt sein auf die Dissertation Veronica Andreanis, die als Kommentar zu den Rime und "interpretative guide to the reading of the collection" (ix) angekündigt wird. Damit wird womöglich dem Desiderat einer kommentierten italienischen Ausgabe der Gedichtsammlung Rechnung getragen. Bereits die 2010 herausgegebene englische Übersetzung von Troy Tower und Jane Tylus, die sich wieder an der Gedichtreihenfolge der editio princeps von 1554 orientiert (Tower / Tylus 2010), hat maßgeblich zur Wiederbelebung des internationalen Interesses beigetragen.1 Der vorliegende Sammelband bündelt nun aktuelle Beiträge und kann aufgrund des einleitenden Überblicks über die Publikations- und Rezeptionsgeschichte der Rime einerseits und die bisherige Forschungslage andererseits als zentrale Referenz der Stampa-Forschung betrachtet werden.


Inhalt

Ein kurzer Überblick: die Beiträge sind den drei thematischen Blöcken "The Sublime", "Real, Virtual and Imagined Communities" und "Personae" zugeordnet. Im ersten Teil zeichnen Jane Tylus, Unn Falkeid und Federico Schneider Merkmale des Sublimen nach. Tylus rekonstruiert die Wiederentdeckung und Rezeption Sapphos, in deren Nachfolge Stampa auch von Zeitgenossen explizit verortet wurde (15–38). Falkeid nuanciert die (vor allem spätantiken) neuplatonischen Einflüsse und führt christliche Traditionen des Mittelalters sowie die franziskanische Spiritualität als Quellen für Stampas 'sublimen Realismus' an (39–54). F. Schneider nimmt den Faden der Sakralisierung auf und sieht in der sublimen Darstellung der Liebesqualen eine Stilisierung der Liebenden als figura Christi (55–72).




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Im zweiten Teil rekonstruieren Aileen A. Feng, Ann Rosalind Jones, Angela Capodivacca und William J. Kennedy das Beziehungsgeflecht, in dem Gaspara Stampa sich poetologisch in der männlichen Dichtungstradition des Petrarkismus und historisch in der Gesellschaft der accademie und ridotti im Venedig des 16. Jahrhunderts verortet. Feng spricht von einer imagined community aus Rivalität und Gemeinschaft, die Stampa im Sinne weiblicher Homosozialität als Reaktion auf den misogynen Vorwurf einer natürlich-pathologischen, weiblichen invidia in ihren Texten konstruiere (75–94). Jones Beitrag legt den Fokus auf die Eifersucht als Distinktionsmerkmal, das Stampas Sonderstatus zum einen als zugleich Subjekt und Objekt der fredda gelosia und zum anderen aufgrund der Transgression des petrarkistischen Dichtungssystems markiere (93–116). Capodivacca untersucht die spätere Rezeption und etwaige nachträgliche Konstruktion der Verbindung von Stampa und Mirtilla, die trotz einer gewissen Liebesthematik die weibliche Dichtungsgenealogie in den Vordergrund stelle (117–136). Kennedy richtet den Blick auf ihre männlichen Zeitgenossen, die entweder als Adressaten oder Freunde Teil der onorata schiera sind und grenzt Stampa aufgrund ihrer 'professionellen' Dichtungsabsichten von ihnen ab (137–154).

Im dritten Teil widmen sich Ulrike Schneider, Veronica Andreani und Troy Tower den textinternen Verfahren der Figuren- und Rollenkonstruktion. U. Schneider argumentiert, dass die Multiplikation der personae Stampa Spielräume in Bezug auf Authentizität und Ambiguität eröffne, die eine Distanzierung und damit indirekt eine theoretische Reflektion des dichterischen Sprechens begründeten (157–170). Die konkreten tierischen oder mythischen Figuren, derer Stampa sich bedient, dienen laut Andreani der Ablösung von der Tradition klagender, verlassener Frauen in den Heroides, da Stampa sich im Gegensatz zu diesen einer zweiten Liebe öffne (172–184). Tower untersucht in der Perspektive des Ecocriticism mit Anassilla das zentrale Fluss-Pseudonym der Rime und setzt die ökologische parallel zur sozialen Umwelt (185–197).


Gaspara Stampa als Strategin

Die Herausgeberinnen formulieren in ihrer Einleitung folgendes Ziel: "this volume aims to present a more comprehensive portrait of Gaspara Stampa, one that places her art before the love story that has come to define her" (9). Stampa soll eher als dichtende Frau, als Künstlerin betrachtet werden denn als liebende Frau. Diese Absicht liegt fast allen Publikationen jüngeren Datums zu Grunde, die sich von der biographistischen Lesart, die lange durch die Arbeiten Abdelkader Salzas (1913, 1917) geprägt wurde, abgrenzen wollen (vgl. 5). Das hier postulierte Vorhaben, Stampas intellektuelle Biographie breit und gebündelt nachzuzeichnen, erweist sich als gewinnbringend. Ihre Dichtung steht im Zeichen einer intellektuellen Positionserschreibung, die die Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, wobei fast alle davon ausgehen, dass Stampa dieses Projekt erstens bewusst und strategisch sowie zweitens erfolgreich verfolgt. An der veränderten Beschreibung Stampas, von der Taktikerin (vgl. Leopold 2009: 238) zur Strategin, lässt sich womöglich ein Paradigmenwechsel in der Forschung ablesen, die vermehrt den poetologischen Eigenwert der Rime und den Austritt aus dem 'Windschatten Petrarcas' betont. Während sich diejenigen der Taktik bedienen müssen, die aus einer Position der Schwäche agieren, ist die Strategie, verkürzt gesagt, das Mittel der Macht (vgl. Certeau 2007: 57–63). Gaspara Stampas Dichtung und deren Wahrnehmung scheint in diesem Zwischenraum angesiedelt. Der vorliegende Sammelband tendiert zum zweiten Pol, Stampas 'publizistische' und dichterische Verfahren gelten hier stets als Strategie. Ihr werden "agenda" (62), "agency" (65) und "control of discourse" (113) attestiert, die zur Konstruktion einer "triumphant identity" (97) führen und sie damit als "Pro" (137) mit "masterly fashion" (170) und als "winner" (113) ausweisen.




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Um strategisch agieren zu können, bedarf es einer stabilen, legitimierten Position. Diese erschreibt sich Stampa laut F. Schneider mit dem absichtsvollen Einsatz ihrer Liebesqualen (vgl. 66) und dem aus deren Sublimität abgeleiteten und an Petrarca angelehnten ethos. Der Fokus auf die Behauptung der eigenen Position und damit die Konsolidierung einer Art Autorität ist in den Beiträgen Fengs und Kennedys auszumachen. Feng interpretiert die indirekte Adressierung einer anderen, imaginierten Frau ("qualch'una", 81) zunächst als Wiederaufnahme des invidia-Vorwurfs, der sowohl in der höfischen Tradition von männlichen Autoren als auch von Humanistinnen des Quattrocento (vgl. 76–78) geäußert wurde. Stampa konstruiere sodann eine rivalisierende Gemeinschaft von Frauen, deren Konkurrenz sowohl zur Sublimierung der Affekte als auch zu Optimierung der Dichtung führe. Dadurch, dass sie sich als Objekt der Bewunderung und des Neides stilisiere, erhöhe sie in diesem Kontext ihre Position, trotz der bestehenden Unterordnung in Bezug auf Collalto, ihren sozial und dichtungslogisch über ihr stehenden Geliebten.

In Bezug auf die Gemeinschaft mit den männlichen Dichterfreunden schreibt ihr Kennedy ebenfalls Absichten zu, die auf Selbstautorisierung (vgl. Nelting 2011) hindeuten. Stampa habe bewusst versucht, von Biographischem und Persönlichem abzulenken, um eine "dramatic persona" (138) zu kreieren – ein Verfahren der alternierenden Ver- und Enthüllung der "real life basis" ihrer Rime, das U. Schneider im Kontext des personae-Spiels als "authentication and ambiguation" (161) bezeichnet. Diese bewusste Konstruktion einer (multiplen) dramatic persona kennzeichne Stampas Professionalität, die sie sich schrittweise erarbeite – anders als ihre männlichen Dichterfreunde, die zumeist im Stadium des Amateurs verblieben. Die Kriterien des professionellen und damit eindeutig strategischen Handelns – nach Kennedy: "membership in a salon", "entrepreneurship", "focus", "commitment" und "metaliterary reflection" (139), seien in dieser Kombination ein Alleinstellungsmerkmal Stampas. In seinem Beitrag bespricht Kennedy unter anderem die Korrespondenzgedichte und zeichnet die Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen innerhalb der venezianischen Salonkultur nach, sodass die Adressaten und erwähnten Zeitgenossen mit ihren je eigenen Werken und Absichten hier eingehend analysiert werden.

Textintern kommen weitere Strategien zum Einsatz. Jones interpretiert die Eifersucht in den Rime als ein Mittel der Selbststilisierung, das flankiert werde von "compensatory strategies" (97). Zu kompensieren sind zum einen der sozial prekäre Status der ledigen und nicht adligen Frau (vgl. 3) und zum anderen die unstete und teils unerwiderte Liebe. Die zuvor keusche Liebe zu einem einzigen, stets unerreichbaren Objekt ist aufgrund der Pluralisierung der Liebesdiskurse variantenreicher geworden: So kann das Objekt ersetzt werden oder die Ehe als Ursache brennender Eifersucht des oder der verlassenen Liebenden auftreten. Jones führt Stampas heroische Form der Eifersucht beziehungsweise das Ausharren an, das in der Transformation ihrer selbst in ein begehrtes Dichtungsobjekt (vgl. 114) münde. Die bereits erwähnte Multiplikation der Rollen und Figuren in den Rime theoretisiert U. Schneider unter Rückgriff auf die bereits bei Petrarca verdoppelte Sprechinstanz, die Sebastiano Minturno in poeta und amante unterscheidet. Zum spielerischen Umgang mit diesen Instanzen, wie U. Schneider ihn postuliert, bedarf es ebenfalls der Hoheit über die Diskurse und das eigene Wort. Stampa fügt nämlich zahlreiche weitere Rollen hinzu, die, wie Andreanis Beitrag zeigt, aus unterschiedlichen Bereichen stammen und damit erneut ihre Souveränität in dieser Hinsicht unterstreichen und das "poetic self-portrait" (174) bereichern. Andreani untersucht ausgehend von den bekannten Verweisen auf die liebenden Frauen in den Heroides und in antiken Mythen diejenigen personae, die Stampas innovative Ablösung vom petrarkistischen Liebeskonzept veranschaulichen. Dies manifestiere sich vor allem in der Integration eines zweiten Geliebten, einer zweiten Flamme, für die die Sprecherin entbrennt. Salamander und Phoenix dienten ihr als Bilder des Überlebens und der Wiedergeburt, deren Einsatz stets mit intentionalem Handeln und einer gezielten agency verknüpft sei (vgl. 184). Der persona-Begriff wird von Andreani selbst jedoch nicht explizit aufgenommen, sie verwendet alternierend die Begriffe Symbol, Emblem, Figur und Bild (vgl. 180–183).




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Ein zweites Anwendungsbeispiel liefert Tower, der sich dem viel kommentierten Pseudonym Anassilla aus Sicht des Ecocriticism nähert. Der Fokus liegt hier auf der Verbindung von Natur und Sprache, insbesondere auf Stampas Verwendung des Flussnamens Anaxum. Dass der Fluss mit Dichtung und Inspiration verknüpft ist, leuchtet ebenso ein wie der Hinweis auf die zahlreichen aquatischen Elemente in den Rime. Unstrittig ist ebenfalls der besondere Status des Pseudonyms als eine Art Kristallisation ihres poetischen Projekts, da es sich aus der Verbindung von Dichtungsreflexion und realer Verwendung in den zeitgenössischen ridotti ergibt. Wie genau jedoch die Gleichsetzung von "community" und "ecology" (194) als Begründung für diese Selbststilisierung herzuleiten ist, bleibt etwas unklar insbesondere bezogen auf den zeitgenössischen Naturbegriff.

Das Ziel dieses strategischen Handelns sehen die meisten Beiträger in der Verortung in einer "genealogy of women poets" (10). Diese gilt es zunächst aufzugreifen, wie Tylus anhand der Sappho-Bezüge im Kontext einer Wiederbelebung des Sublimen belegt und Falkeid an den Bezügen zu Mystikerinnen wie Birgitta von Schweden zeigt, und sodann im Sinne der imagined community zu konsolidieren. Auf die Bedeutung dieser weiblichen Gemeinschaft weist auch Capodivacca hin, die ihrerseits auf die in den Rime knapp angedeutete Freund- oder Liebschaft der Sprecherin mit einer Frau namens Mirtilla eingeht. Erneut sei hier weniger die Option einer homoerotischen Verbindung als das Bedürfnis nach einer weiblichen Genealogie in der Dichtung bedeutsam und Mirtilla stehe insbesondere für die Möglichkeit des Austauschs zwischen Dichterinnen. Dass trotz aller strategischen Maßnahmen nicht immer der beabsichtigte Effekt, in diesem Fall die gewünschte Rezeption, erzielt werden kann, zeigt Capodivacca deutlich an der Faszination späterer Leser für diese Verbindung: Zunächst belebt Luisa Bergalli sie in ihrer Ausgabe von 1738 wieder, indem sie der Sammlung ein Sonett voranstellt, das sie Mirtilla zuschreibt, bei dem es sich jedoch um ein Plagiat eines deutlich älteren Textes handelt (vgl. 117). Im 19. Jahrhundert veröffentlicht dann Luigi Carrer den angeblich authentischen Briefwechsel der beiden Frauen unter dem Titel Amore Infelice di Gaspara Stampa und befeuert so das romantische Bild einer unglücklich Verliebten.

Der vorliegende Sammelband bestätigt eindrücklich, dass der aktuellen Forschung zu Gaspara Stampa nicht mehr daran gelegen ist, ihre Rime rein biographisch zu lesen oder stets die Frage ihres sozialen Status als potentielle cortigiana aufzuwerfen. Aufgezeigt wird ein komplexes Netz an intertextuellen Verweisen und sozialen Vernetzungen, die ein differenzierteres Bild von Gaspara Stampa als Person und persona ermöglichen.




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Bibliographie

Certeau, Michel de (2007): L'invention du quotidien. Paris: Gallimard.

Leopold, Stephan (2009): Die Erotik der Petrarkisten. Poetik, Körperlichkeit und Subjektivität in romanischer Lyrik früher Neuzeit. Paderborn: Fink.

Nelting, David (2011): "Frühneuzeitliche Selbstautorisierung zwischen Singularisierung und Sodalisierung (Francesco Petrarca, Pietro Bembo, Joachim Du Bellay)", in: Romanistisches Jahrbuch 62, 188–214.

Salza, Abdelkader (1913): "Madonna Gasparina Stampa secondo nuove indagini", in: Giornale Storico della Letteratura Italiana 62, 1–101.

Salza, Abdelkader (1917): "Madonna Gasparina Stampa e la società veneziana del suo tempo. Nuove discussioni", in: Giornale Storico della Letteratura Italiana 69, 217–306.

Schneider, Ulrike (2003): "Die Rime Gaspara Stampas als Makrotext. Ein Plädoyer für die Rückkehr zur Erstausgabe von 1554", in: Romanistisches Jahrbuch 54, 114–145.

Tower, Troy / Tylus, Jane (Hg.) (2010): Gaspara Stampa. The Complete Poems. The 1554 Edition of the 'Rime', a Bilingual Edition. Chicago: U. of Chicago P.


Anmerkung

1 Auf die Problematik der vorher üblichen geänderten Reihenfolge hat zuvor unter anderem Schneider (2003) hingewiesen.