PhiN 77/2016: 49



Timo Obergöker (Chester)



Klaus Dieter Ertler / Martin Löschnigg / Yvonne Völkl (2013) (Hg.): Europe – Canada. Transcultural Perspectives/Perspectives transculturelles. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang.



Ein Buch, das sich Kanada in seiner Gesamtheit, jenseits der two/deux solitudes widmet, hat Seltenheitswert und verdient bereits als solches Lob. Ein Buch, das sich konsequent zweisprachig Kanada zuwendet, verdient großes Lob. Der Band Europe–Canada. Transcultural Perspectives/Perspectives transculturelles widmet sich den vielfältigen kulturellen und literarischen Transferprozessen zwischen Kanada und Europa, wobei die geographische Vielfalt der Beiträgerinnen und Beiträger eine Fülle neuer Aspekte zu Tage fördert.

Stephen Harpers Regierung entschied sich im Jahr 2012, das Understanding Canada/Comprendre le Canada-Programm, das zahlreichen ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Forschungsaufenthalte in Kanada ermöglichte, einzustellen. Martin Kuester denkt in seinem Beitrag "Canadian Studies in Europe. Understanding Canada no more?" über Möglichkeiten und Grenzen einer Kanadianistik nach, der wichtige Subventionen abhandenkommen und bleibt – allem berechtigten Unmut zum Trotze – zuversichtlich, dass europäische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch weiterhin zu Kanada forschen werden.

Patrick Imbert denkt in "Migrations et rencontres culturelles" darüber nach, welche Topoi und Motive die Themen Migration und Kulturkontakt im zeitgenössischen anglo- wie frankophonen Roman repräsentieren. Anhand eines breiten Spektrums von Romanen wie Nicolas Dickners Nikolski, Yann Martels Life of Pi oder Mark Kingwells The Life we want zeigt er, wie etwa das Chamäleon oder Hotelzimmer und andere prekäre Wohnformen Menschen in Bewegung symbolisieren.

Der Beitrag von Waldemar Zacharasiewicz widmet sich Reisen von Kanadiern nach Europa, namentlich zu den Tempeln der hohen Kunst, mit denen das alte Europa hauptsächlich in Verbindung gebracht wird.




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Hans-Jürgen Lüsebrink indessen wendet sich der Rolle zu, die die Literatur außerhalb Quebecs im Quebecer kollektiven Imaginären spielt, wobei er drei große Bezugsräume identifiziert: Neben einer problematischen französischen Referenz rekurriert die Literatur Quebecs auf Texte des amerikanischen Kontinents (neben den USA auch auf Texte aus Haiti und Südamerika) sowie auf andere europäische Literaturen. Aus all diesen Quellen speist sich eine zunehmend transkulturelle Literatur Quebecs, die Transkulturalität und Intertextualität miteinander in Verbindung bringt.

In der englischsprachigen Literatur wiederum spielt Schottland wegen der massiven Einwanderungswellen im 19. Jahrhundert als Referenzraum eine wichtige Rolle. Dieser Thematik widmet sich Elisabeth Gießauf in ihrer Studie des Romans No Great Mischief von Alistair McGeod, einer in Cape Breton situierten Familiensaga.

Drei Studien widmen sich im weiteren Sinne ostjüdischen Romanen und Autoren: Natalia Kaloh Vid analysiert in ihrem Beitrag postmoderne und transkulturelle Identitäten des Montréaler anglophonen Autors David Bezmozgi, Yvonne Völkl präsentiert das Werk der polnischstämmigen Autorin Ilona Flutsztein-Gruda, während Piotr Sadkowski Topographien jüdischer Identität in Montréal aufspürt. Die Autorinnen und Autoren Malka Zipora, Myriam Beaudoin und Abla Farhoud stehen dabei besonders im Fokus seiner Überlegungen.

Ewelina Bujnowskas hervorragende Studie zum Quebecer historischen Roman erörtert zunächst die (belangreiche) Frage nach dem Postkolonialen in Kanada als ehemalige französische, später britische Kolonie, die sich wiederum dem anglo-amerikanischen Sprach- und Kulturimperialismus ausgesetzt sieht. Dieses theoretische Gerüst wendet sie auf Madeleine Ouellette-Michalskas Roman La maison Trestler ou le 8e jour d'Amérique (1984) an und gelangt zu dem Schluss, dass gerade der historische Roman es vermag, der komplexen Beziehung zwischen Quebec, dem ROC (Rest of Canada), den ehemaligen Kolonialmächten und den USA Rechnung zu tragen.

Felicia Mihali war eine bereits in ihrem Heimatland Rumänien erfolgreiche Autorin, als sie im Jahr 2000 nach Kanada auswanderte. Ihr 1999 in Bukarest erschienener Roman Tara brinzei erschien 2003 in französischer Übersetzung bei XYZ in Montréal unter dem Titel Le pays du fromage. Ileana Neli Eiben untersucht die Mechanismen, die dieser Selbstübersetzung zu Grunde liegen. Einem (nicht nur) traduktologischen Problem widmet sich auch Joanna Warmuzińska-Rogóż, indem sie aufzeigt, wie sich die polnische Neuübersetzung des emblematischen Romans Maria Chapdelaine in einen konservativen und restaurativen Diskurs in Polen einschreibt. Janos Kenyeres präsentiert, auf welche Weise die Ereignisse des Jahres 1956 und der Holocaust der ungarischen Juden in der anglophonen kanadischen Erzählliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts verhandelt werden.




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Der Frage nach der Renaissance barocker Schreibstrategien geht Ljiljana Matić anhand des Oeuvres des Autors Fulvio Caccia nach. Durch ihre Lektüre kultureller Zeitschriften der italienischstämmigen Community in Montréal zeichnet Alessandra Ferraro den Weg der Quebecer Italiener nach, ein Weg, der bestimmt ist von der sukzessiven Aufgabe des Englischen und der Integration in ein Umfeld, das sich seit der Révolution tranquille mehrheitlich als frankophon definiert.

Eine schöne Fallstudie zu den Kulturbeziehungen zwischen Frankreich und Quebec liefert Martine-Emmanuelle Lapointe, die exemplarisch an der Zeitschrift Liberté aufzeigt, wie komplex sich das Verhältnis zwischen Frankreich und Quebec gestaltet. Eine rekurrente Dichotomie ist die zwischen dem 'alten Europa' und der 'américanité' Quebecs. Hieran lässt sich Petr Kyloušeks Frage nach dem prekären Status der Literatur Quebecs zwischen Nationalliteratur und Literatur einer 'communitas' anschließen.

Zweisprachigkeit und gegenseitiges (Nicht-)Verstehen sind zentrale Aspekte in einer multikulturellen Nation wie Kanada. Martin Löschnigg stellt in seinem Beitrag die Frage, wie sich das kanadische nation-building während des Erstens Weltkriegs – einem historischen Moment, in dem die Diversität des Landes zwischen europäischer und amerikanischer Kultur in deutlicher Form zu Tage trat – gestaltete.

Die historische Gewachsenheit des Kulturkampfs zwischen progressiven und konservativen Kräften, der bis heute in Quebec ein omnipräsentes Thema in Essayistik und Medien ist (vgl. Dupuis-Déri/Ethier 2016), analysiert Klaus-Dieter Ertler auf der Grundlage frankophoner Krisendiskurse der 1930er, namentlich in der Monatszeitschrift Action Nationale.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Band aufgrund seiner gesamtkanadischen Perspektive neue Fragestellungen aufwirft. Der Fokus auf der Diversität transatlantischer Beziehungen bringt, ohne auf Stereotypen wie etwa der écriture migrante zu verharren, neue Erkenntnisse. Die Beiträge, von unterschiedlicher Länge und Qualität, bieten eine Gesamtschau, die selten ist und die Lektüre auf jeden Fall lohnt.


Bibliographie

Dupuis-Déri, Francis / Ethier, Marc André (2016): La guerre culturelle des conservateurs québécois. Saint-Joseph du Lac: M éditeur.