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Nadine Feßler (Heidelberg)



Reinhard Babel (2015): Translationsfiktionen. Zur Hermeneutik, Poetik und Ethik des Übersetzens. Bielefeld: transcript. 417 S.


Reinhard Babels Arbeit geht von der Hypothese aus, dass die Fiktionalisierungen von Übersetzungen nicht nur Aussagen über die Natur und das Wesen von Übersetzung treffen, sondern auch Schlüsse über Literatur und Literaturtheorie selbst ermöglichen. Die Monografie behandelt Übersetzung jedoch nicht allein als metaliterarisches Moment, sondern verfolgt auch kulturwissenschaftliche Fragen und analysiert anhand ihrer Beispieltexte das Verständnis von eigener und fremder Sprache sowie eigener und fremder Kultur. An der Übersetzung zeige sich paradigmatisch, wie mit dem Fremden umgegangen, wie es verstanden und wie nach diesem Verständnis gehandelt werde. Die Verknüpfung von literaturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Fragen ergibt gerade im Falle der literarischen Übersetzung Sinn, da sie sich immer zwischen den Stühlen bewegt – zwischen Weitergabe von Information und dem Einfangen der fremden Autorstimme (und seines kulturellen Kontexts). Somit behandelt die Arbeit zwar eine große Anzahl von Fragestellungen, schafft es aber, diese kohärent darzustellen, und illustriert zudem, inwiefern die Übersetzung ein Teppichwerk ist, das sich aus literarischen, sprachlichen, kulturellen, ethischen, politischen und poetischen Bestandteilen zusammensetzt.




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Dabei schlägt der Autor eine entschieden andere Route ein als die bisherigen Forschungsarbeiten in diesem Bereich. Obwohl das Interesse an der fiktionalisierten Übersetzung groß ist und gerade auch im Zuge der Globalisierung Aufmerksamkeit erregt, so sind die bisherigen Arbeiten etwas enger angelegt als die von Babel. Christine Wilhelm konzentriert sich zum Beispiel in Traduttore traditore – Vermittler durch Verrat (Wilhelm 2010) ausschließlich auf Übersetzerfiguren, Hans Christian Hagedorn in La traducción narrada: el recurso narrativo de la traducción ficitica (Hagedorn 2006) auf Übersetzerfiktionen. Andere interessiert allein der Übersetzungsprozess, und sie streben eher sprachtheoretische Untersuchungen an, wie dies George Steiner in Nach Babel (Steiner 2004 [zuerst 1975]) tut. Auch Gudrun Raths Arbeit Zwischenzonen. Theorien und Fiktionen des Übersetzens (Rath 2013) begrenzt sich selbst, in dem sie sich nur auf einen Kulturbereich bezieht – Lateinamerika –, jedoch gibt es hier aber Anschluss zu der Arbeit von Babel, denn die Autorin behandelt ebenfalls die argentinischen Autoren Borges und Cortázar und beschäftigt sich zudem eingehender mit dem Umstand, dass sich in der argentinischen Literatur die Theorien des Übersetzens aus den literarischen Darstellungen des Übersetzens entwickeln, was im Einklang mit Babels Überlegungen zu einer Poetik der Übersetzung steht. Als eine Art Ergänzung nicht hinsichtlich des literarischen Korpus, sondern der theoretischen Reflexionen zur Übersetzung kann auch Eva Matts Figuren der Übersetzung. Dolmetscher in Erzähltexten des 20. Jahrhunderts (Matt 2013) gesehen werden.

In seiner Einleitung stellt Babel die drei Aspekte von Übersetzung vor, die im Zentrum der Untersuchung stehen – Hermeneutik, Poetik und Ethik der Übersetzung –, und macht dies anhand von drei Beispieltexten begreiflich. An Johann Wolfgang Goethes Faust, Miguel de Cervantes' Don Quichotte und Heliodors Aithiopika werden überzeugend die Bedeutungs- und Wirkungsdimensionen von Übersetzung sowie die Mechanismen erläutert, wie diese ineinandergreifen. Diese abwechslungsreichen Lektüren sorgen für einen gelungenen Einstieg in die Materie. Auf einen ausgegliederten Theorieapparat verzichtet Babel und entscheidet sich dafür, theoretische Überlegungen aus Literatur- und Kulturgeschichte bei den jeweiligen Analysen selbst einzuführen, was sich meist auch mühelos in die Lektüren einbetten lässt. Einzig das Konzept von Glotta-Literatur führt er schon in der Einleitung ein, um vorher ein Instrument anzubieten, mit dem sich der Umgang mit Mehrsprachigkeit in den Romanen analysieren lässt.




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Herauszuheben ist der performative Anspruch der Arbeit. Genau wie die Übersetzung, die Babel als von Natur aus unabgeschlossen betrachtet, stellt sich auch seine Arbeit gegen jede von Form von Abschließbarkeit. Die performative Offenheit der Arbeit, auf die Babel pocht, ist ungemein produktiv für die Lektüren, denn so ist es ihm möglich, auf vergangene Lektüren zurückzugreifen und diese mit späterem Wissen nochmals zu überdenken.

Die drei Lektürekapitel sind jeweils literarischen Strömungen und Epochen zugeordnet: der deutschen Romantik (Hermeneutik), der lateinamerikanischen Moderne/Postmoderne (Poetik) und einer im weitesten Sinne verstandenen internationalen 'Gegenwartsliteratur' (Ethik). 

Das erste Kapitel behandelt die Hermeneutik der Übersetzung anhand von Texten der deutschen Romantik. Hermeneutik sei der grundlegende Aspekt jeder Übersetzung, denn jene vermittle Wissen, setze aber auch Wissen der anderen, fremden Sprache voraus. In der Romantik gelten das Übersetzen und das Dichten als sehr eng verwandte Vorgänge, weswegen die Übersetzung als "verstehende Neuschöpfung" betrachtet werde (64). Babel wählt deswegen Texte aus, die sich mit der Genese des Dichters beschäftigen, denn sie veranschaulichten, dass die Übersetzung zur Übung für den jungen Dichter wird, der über diese Arbeit zu seiner eigenen Autorenstimme findet. Anhand von Novalis' Heinrich von Ofterdingen (postum 1802) arbeitet Babel all die Stichwörter heraus, die in späteren Lektürekapiteln wieder aufgegriffen werden: das stetige Werden und der transformative Charakter der Übersetzung – die im Kapitel zur Poetik als poetische Leitlinie der Moderne und Postmoderne gedeutet werden –, und die Aufwertung des Fremden – das bei der ethischen Dimension von Übersetzung von Relevanz sein wird. Babel markiert an späterer Stelle diese Offenheit gegenüber dem Fremden als klar idealistisch, denn das Fremde kann nicht vollständig verstanden werden, sondern muss auch "übersetzend imaginiert" werden (130).

Dies bietet eine ideale Vorlage für das nächste Kapitel. Hier stehen das Erschaffen und Imaginieren als die Poetik der Übersetzung im Mittelpunkt. Das Kapitel konzentriert sich auf das 20. Jahrhundert und arbeitet geschickt mit den Erkenntnissen, die in dieser Zeit in der Literaturtheorie entstanden sind. Zunächst stellt Babel fest, dass das eindeutige Verstehen des Anderen zu einem sensiblen Thema geworden sei und grundsätzlich in Zweifel gezogen werde (132). Der Andere bleibe nun im gewissen Maße fremd und könne nicht vollständig begriffen werden, denn dies impliziere eine Vereinnahmung. So scheitern auch viele Texte dieser Zeit bewusst und willentlich an dieser Aufgabe.




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Babel untersucht in diesem Kapitel zwei lateinamerikanische Autoren, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar. Für zwei lateinamerikanische Autoren ist das Thema der Übersetzung von besonders hoher Relevanz, denn nur durch die Übersetzung schaffen sie sich Zugang zu einem internationalen Publikum.

An Borges zeige sich eine radikale Meinung; er geht davon aus, dass die Übersetzung nicht Behelfsmittel, sondern dem Original sogar überlegen ist. Der ästhetische Mehrwert werde gerade durch die Übersetzung generiert (131), was Babel anhand von Pierre Menard, autor del Quijote (1939) erläutert. Das Kapitel geht teilweise etwas zu ausführlich auf Borges Verhältnis zur deutschen Romantik und zum Denker Walter Benjamin ein, kann am Ende jedoch einige wertvolle Überlegungen zu Borges' Stellung als postkolonialer Autor aufstellen, was im Verlauf der Arbeit noch wichtig werden wird.

Eine andere Position zur Übersetzung legt Babel anhand von Cortázar dar, der in seinen Texten versuche, die Übersetzung vor einem rein ästhetischen Anliegen zu bewahren. Übersetzung bei Cortázar sei nicht mehr nur eine ästhetische Herausforderung und könne nun auch nicht mehr allein als solche verstanden werden, denn das, so argumentiert Babel schlüssig, sei gerade bei Texten wie Diario para un cuento (1982) fahrlässig. Texte wie diese müssten auch in ihrer politisch-ethischen Problematik erfasst werden. Hier wird auch die Möglichkeit eines "unschuldigen Erzählens" in Frage gestellt (187–188). Überdeutlich wird dies, als es um die Vergewaltigung der Protagonistin geht. Das Geschehen kann nicht vom Opfer selbst geschildert werden, was auf einen problematischen Aspekt von Übersetzung aufmerksam macht: Bei der Übersetzung spricht immer jemand für jemand anderen; ein Fakt, der gerade im postkolonialen Zusammenhang kritisch zu sehen ist. Das Fazit des Kapitels zielt auf das notwendige Scheitern des Übersetzungsaktes: Nur durch die Entmächtigung des souveränen Erzählers (231) werde die Übersetzung ethisch, denn sie dokumentiere die Grenzen des Sprechens für jemand anderen und mache gleichzeitig dessen Singularität und Uneinnehmbarkeit deutlich.

Im dritten und letzten Lektürekapitel beschäftigt sich Babel mit der ethischen Verpflichtung des Übersetzens. Babel kann hier nahtlos an die Fragestellungen anknüpfen, die sich gleichsam organisch aus der Cortázar-Lektüre ergeben haben. Die ausgewählten Werke sind Chinua Achebes Arrow of God (1964) und David Mitchells The Thousand Autumns of Jacob de Zoet (2010) und behandeln damit internationale Gegenwartsliteratur mit einem thematischen Fokus auf Kolonial- und Postkolonialgeschichte. Theoretisch orientiert sich Babel verstärkt an Derridas Texten zur Gastfreundschaft, an Levinas Konzept der Verantwortung (237) sowie an Kants Zum Ewigen Frieden (1795). Nachdem die ethischen Belange schon überzeugend im Cortazar-Kapitel herausgearbeitet wurden, erscheint es an dieser Stelle überflüssig, nochmals rein theoretische Erkenntnisse widerzugeben, doch durch dieses Vorgehen kann das Kapitel auch einzeln gelesen werden.




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Bei der Erläuterung, wie Achebe sich im postkolonialen Diskurs positioniert, kommt das Glotta-Vokabular wirkungsvoll zum Einsatz. Wie Babel präzisiert, ist Mehrsprachigkeit komplex rekonstruiert, und zwar trotz der Verwendung der englischen Sprache. Somit gelinge dem Roman das Meisterstück, mehrsprachig zu sein, ohne jedoch nur einer bestimmten Gruppe von Leuten zugänglich zu sein. Anhand von gut gewählten Einzelszenen aus dem Roman gelingt es Babel, die Machtstrukturen des Übersetzens bzw. des Dolmetschens offen zu legen. Besonders eindrucksvoll geschieht das, wenn Fehlübersetzungen bzw. scheiternde Dolmetscherfiguren gezeigt werden, die gerade gegen all das, was Babel in den letzten Kapiteln als grundlegend für die Vermittlungsarbeit konstituiert hat, 'verstoßen' und so nochmal an den Beginn der Arbeit zurückführen und bisherige Ergebnisse auf ihre Wirksamkeit 'testen'. Problematisch wird zuweilen jedoch, dass Babel eine Art Kulturanalyse der Igbo-Kultur durchführt, die er als der englischen Kolonialkultur überlegen ansieht. Die implizierte Wertung von Kultur scheint manchmal etwas vom Thema wegzuführen. Äußerst gelungen ist jedoch die Deutung des Romanendes, die (zu Recht) Anstoß am Ausgang des Roman nimmt. Dem wahnsinnig gewordenen Protagonisten wird letztendlich die Stimme entzogen. Babel weist jedoch berechtigterweise auf die Problematik der Erzählsituation hin: Die autoritäre Erzählstimme bleibt weiterhin stabil. Der Logik des Romans folgend und in Anbetracht der Sensibilität gegenüber Stimmrecht und Sprechrecht, müsse eigentlich dieser 'Stimme' das alleinige Sprechrecht entzogen werden (305).  

In der abschließenden Lektüre, die David Mitchells The Thousand Autumns of Jacob de Zoet behandelt, geht es um einen Spezialfall. Was passiert, wenn man sich der Übersetzung wissentlich und kalkuliert verweigert? Babel erörtert, welche Autorität hinter dieser Verweigerung steht und spricht von einer "Macht der Unverständlichkeit." (363) Der Roman spielt im 18. Jahrhundert, als Japan sich darum bemühte, eine radikale Politik der Abschließung mit seinem Interesse am europäischen Handel zu vereinbaren. Die historisch unterfütterte Kulturanalyse Japans belegt jedoch, dass es gerade auf Ebene der Wissenschaft immer wieder Öffnungen und sogar Adaptionen von fremden Konzepten gab, die in die Sprachkultur Japans eindrangen (329 ff.). Babel kann seine Anfangsthese wirksam mit einem historischen Beispiel unterstreichen: Es gibt keine vollkommen abgeriegelte Sprache (371). In einer ausführlichen Analyse des Romans geht Babel auf die drei Protagonisten ein und skizziert ihre recht unterschiedliche Haltung im Kontext von Übersetzung und Kulturöffnung. Anhand der drei Figuren werden symmetrisch nun alle drei Dimensionen von Übersetzung erläutert, was es erlaubt, die vorherigen Thesen nochmals aufzuwerfen, zu hinterfragen und zu ergänzen.




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Reinhard Babel veranschaulicht in seiner gut lesbaren und strukturierten Studie die Komplexität der literarischen Übersetzung und schlüsselt diese anhand seiner Lektüren erhellend auf. Der souveräne Umgang mit Motiven und Themenfeldern zeigt die innere Verwobenheit der drei Dimensionen von Übersetzung und verbindet auch die Lektüren meisterhaft über ihre Grenzen von Zeit und Kontext miteinander.



Bibliographie

Hagedorn, Hans Christian (2006): La traducción narrada: el recurso narrativo de la traducción ficitica. Cuenca: Ediciones de la Universidad de Castilla-La Mancha.

Matt, Eva (2013): Figuren der Übersetzung. Dolmetscher in Erzähltexten des 20. Jahrhunderts. Diss. München.

Steiner, George (2004): Nach Babel. Deutsch von Monika Plessner unter Mitwirkung von Henriette Beese. [Übers. des Vorwortes sowie der überarb. und neuen Textpassagen durch Peter Sillem]. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rath, Gudrun (2013): Zwischenzonen. Theorien und Fiktionen des Übersetzens. Wien und Berlin: Turia und Kant.

Wilhelm, Christine (2010): Traduttore traditore – Vermittler durch Verrat. Eine Analyse literarischer Translatorfiguren in Texten von Jorge Luis Borges, Italo Calvino und Leonardo Sciascia. Trier: WVT.