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XUAN Jing (München)



Ergebung/Erneuerung. Zur Anerkennungsdialektik in Michel Houellebecqs Soumission



Submission as Renewal. The Dialectics of Recognition in Michel Houellebecq's Soumission. Published on the day of the Charlie Hebdo Attack in Paris, Soumission has often been read as a reactionary satire against islamisation. However, as the Anglo-American reviews have mostly pointed out, Houellebecq's novel deals less with the so-called Muslim problem than it does with the crisis of French culture. From a similar angle, this paper proposes a historico-philosophical reading of Soumission. Focusing on the double plot of regime change and conversion, it shows how the narrative structure of the novel follows the Hegelian dialectics of recognition and exposes thereby the historical logic of the multiculturalism: for the sake of its self-fulfillment as a multicultural model community, France has to give up its old cultural identities and thus undergoes a self abnegation which nonetheless does not mean the end, but the beginning of a radical renewal.


Soumission erschien bekanntlich unter außerordentlichen Umständen: Am Tag seiner Erstveröffentlichung wurde der Anschlag auf das Satire-Wochenblatt Charlie Hebdo verübt. Selten läßt der Zufall die Fiktion so realitätsnah wirken wie diesmal in Houellebecqs Roman, der von einer muslimischen Machtergreifung im Jahre 2022 erzählt und damit jenen Kampf imaginär zu Ende zu führen scheint, den die fundamentalistischen Attentäter von Charlie Hebdo dem liberalen Frankreich angesagt haben. Erwartungsgemäß fielen die Reaktionen auf den Roman in Frankreich wie auch hierzulande unversöhnlich auseinander. Während das Buch im Kreis nationalgesinnter Multikulturalismus-Skeptiker als überfällige Zeitsatire von nachgerade prophetischer Qualität gefeiert wird, gehen die tonangebenden Medienstimmen mit dem Autor des in einem FAZ-Artikel sogenannten "Islamisierungs-Horrorwerk[s]" (Altwegg 2015) hart ins Gericht. So hat stellvertretend der Radiojournalist Ali Baddou in seiner Sendung bei Canal+ Soumission als "clairement islamophobe" (Baddou 2015) verurteilt. Die Begründungen dafür liefert u.a. die Kulturseite von Stern.de, wo der Roman als eine "verzerrende und klischeehafte Islam-Karikatur" vorgestellt und derart mit dem Charlie Hebdo Attentat zusammengebracht wird, daß der Roman "so viele unterschwellige Frustrationen, Komplexe, Ängste" aufkochen lasse und daher "für alles, was jetzt [d.h. nach Charlie Hebdo] noch kommt, Teilverantwortung" (Maus 2015) trage. Über weitere, kulturgeschichtliche Hintergründe klärt Laurent Joffrin, der Chefredakteur von Libération auf, wenn er Soumission rechtsextremistisches Gedankengut attestiert und Houellebecq daher als Platzwärmer für Marine Le Pen im Café de Flore verhöhnt (Joffrin 2015). Die Anspielung zielt hier auf den rechtskatholischen Schriftsteller und Dritten-Reich-Kollaborateur Charles Maurras, der über dem berühmten Kaffeehaus gewohnt hat. In Anbetracht solcher ideologischer Zuordnungen nimmt es dann auch nicht Wunder, wenn der französische Premierminister Manuel Valls ein gleichsam offizielles Verdikt gegen den Autor ausspricht. Einen Tag nach dem Attentat sagt Valls in einem RTL-Interview: "La France, ce n'est pas la soumission, ce n'est pas Michel Houellebecq. Ce n'est pas l'intolérance, la haine."1




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Die Aussage von Valls ist gewiß nicht als Literaturkritik gemeint. Vielmehr kommt darin ein Anerkennungsproblem zum Vorschein – versucht doch der Premierminister sein Land zu verteidigen, das nach dem Pariser Blutbad unter dem Verdacht anti-muslimischer Stimmung und folglich in Gefahr steht, die Anerkennung als multikulturelle Toleranzgesellschaft zu verlieren. Stellt Houellebecq dabei ein negatives Beispiel der Intoleranz dar, so hat dies nur insofern mit Soumission zu tun, als er darin die Toleranzbereitschaft des Lesers an die Schmerzgrenze führt. Dies gilt weniger für die Erfindung eines ersten französischen Präsidenten muslimischer Herkunft, der, gleichsam eine französische Version des Barack Obama, vorderhand die Leistungsfähigkeit einer offenen Gesellschaft beglaubigt. Die ethnische Neuordnung der Politik wird vielmehr dahingehend bedenklich, daß der fiktive Präsident Mohammed Ben Abbes – im Gegensatz zu Obama – nicht die Wertvorstellung des Landes verkörpert, sondern der kulturelle Andere bleibt. So erweist sich der Regierungsauftrag an Ben Abbes als eine muslimische Machtergreifung, deren Folgen besonders drastisch an den Frauen sichtbar werden. Der Minirock verschwindet aus dem Pariser Straßenbild, weil die Frauen nur noch Hosen und Schleier tragen. Gesittet kehren sie zu ihrem traditionellen Ort am Heim und Herd zurück, um dort ihrem nunmehr polygamen Mann zu dienen. Diese oft als Islam-Klischee kritisierten Bilder tun dem toleranzverpflichteten Leser wohl deshalb besonders weh, weil sie im Grunde den Erfolg der multikulturellen Integrationspolitik illustrieren, deren Kernprogramm gegenwärtig lautet, die Alterität als Norm anzuerkennen.

Soumission ist eine pure Provokation, sofern man in der fiktiven muslimischen Herrschaft die parodistische Inversion des liberalen Frankreichs sieht. Doch jenseits der Satire enthält der Roman eine in der Gegenwartsliteratur seltene geschichtsphilosophische Reflexion über den Kulturzustand Europas. Europa – so ließe sich Houellebecqs Roman als eine Geschichtsparabel lesen – befindet sich in einer Wandelphase zwischen Selbstaufgabe und Selbsterneuerung. Liegt einerseits der Zukunftsvision eines islamischen Frankreichs die Geschichtslogik zugrunde, daß die westliche Kulturgemeinschaft ihrer Selbstverwirklichung als multikultureller Mustergesellschaft zum Opfer fällt, so bedeutet dieses Opfer anderseits – dafür spricht das Leitmotiv des Romans, die Konversion – keinen Untergang, sondern stellt vielmehr ein dialektisches Moment dar, bei dem die Unterwerfung im Sinne einer absoluten Anerkennung des Anderen zu einem neuen Selbstbewußtsein führt. Eine solche Dialektik der Anerkennung läßt sich an der doppelten Handlung des Romans nachzeichnen, bei der die politische Neugründung Frankreichs als islamische Republik2 mit der Trauerarbeit des Helden an der kulturellen Vergangenheit einhergeht. Was die politische Handlung anbelangt, so wird hier die Präsidentschaftswahl von 2022 als eine Schicksalswahl fiktiv vorausgeschrieben. Signifikant ist vor allem die Krisensituation nach dem ersten Wahlgang: Marine Le Pen gelingt mit 34,1% der Stimmen der Einzug in die Stichwahl und sie würde dort gegen den Zweitplazierten Ben Abbes, den Führer der Muslimbruderschaft antreten. Die beiden Kandidaten verkörpern zwei gegensätzliche Zukunftsperspektiven, deren eine in der Restauration der Grande Nation und deren andere in der totalen Muslim-Herrschaft besteht. Die harte Entscheidung "französisch oder muslimisch" bringt das Land an den Rand des Bürgerkriegs. Der Wahlgang wird schließlich unterbrochen, nachdem viele Wahllokale von bewaffneten Banden überfallen und die Urnen geplündert worden sind. Der Ausnahmezustand kommt dadurch zum Ende, daß die bürgerlichen Parteien sich mit der Muslimbruderschaft verbünden und eine im französischen System der direkten Wahl nicht vorgesehene Mehrheitsregierung bilden. Mit der neuen Regierungsform gewissermaßen nach deutschem Vorbild entscheidet sich Frankreich souverän im Sinne Carl Schmitts (2009) nicht nur gegen den Nationalismus, sondern auch für eine echte Anerkennung des Anderen. So erweist sich die Wahl nun doch als jener Ort, wo die muslimische Bevölkerung ihre politische Anerkennung erfährt; und wenn in Folge der Koalitionsverhandlung ein Muslim das Präsidentenamt annimmt, so bekennt sich Frankreich gerade damit unwiderruflich zu seinem Multikulturalismus- und Toleranzprinzip.




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Die politisch korrekte Entscheidung bestätigt sich im weiteren Handlungsverlauf als der Anfang einer nationalen Erneuerung. Sie beginnt im sozialen Bereich, als der "gouvernement d'union nationale" (Houellebecq 2015: 198) von Ben Abbes schnell die Kriminalität unter Kontrolle bringt. Die Arbeitslosenquote befindet sich im freien Fall – maßgeblich begünstigt durch den massenhaften Rückzug der Frauen aus dem Arbeitsmarkt. Der Präsident tritt zudem als sozialwirtschaftlicher Reformdenker auf, der im Distributismus den Ausweg aus dem ewiggestrigen Kapitalismus/Kommunismus-Widerstreit sieht und dafür vorrangig den Familienbetrieb fördert. Überhaupt steht die Familie wieder im Zentrum des Soziallebens, während sich die ähnlich restaurative Außenpolitik darum bemüht, die traditionelle Schlüsselrolle Frankreichs als strategischem Brückenkopf zwischen Europa und Orient wiederzubeleben. La France, so stellt der Ich-Erzähler fest, erfreut sich eines Optimismus, den sie seit dem Ende der Trente Glorieuses – gewissermaßen dem französischen Äquivalent des deutschen Wirtschaftswunders – vor einem halben Jahrhundert nicht mehr gekannt hat.

Führt also der Multikulturalismus-Grundsatz im politischen Handeln Frankreich erfolgreich aus der Krise, so verläuft parallel dazu die private Geschichte des Helden im Zeichen des Verfalls. Ähnlich wie das krisenhafte Frankreich steht auch François – so lautet der sprechende Name des Literaturprofessors – am Anfang des Romans in der Midlife crisis. Er hat sein erfülltes Forscherleben längst hinter sich und begnügt sich im Lehrbetrieb nur noch damit, seine Lebenslust mit Hilfe wechselnder Studentinnen-Affären im Semesterzyklus aufrechtzuerhalten. Diese völlig anspruchslose Existenzroutine wird jedoch durch die Präsidentschaftswahl zerstört, in deren Folge François zunächst seine jüdische Geliebte, die mit ihrer Familie nach Israel auswandert, und dann seine Arbeit verliert, als er nämlich von der nunmehr Muslimischen Universität Paris-Sorbonne in den Frühruhestand versetzt wird. Trotz der luxuriösen Pension wird das Leben für François unerträglich – nicht zuletzt deshalb, weil er mit der Professur des einst sicheren studentischen Nachschubs für den erotischen Alltagsbedarf verlustig geht. Weder verschafft ihm das professionelle Angebot auf diesem Gebiet die nötige Befriedigung, noch vermag ein Klosteraufenthalt ihm spirituellen Rückhalt zu verleihen. Neue Erfahrungen macht er lediglich mit der Dyshidrosis, bevor ihn an deren Stelle ein Hämorrhoidenleiden im tiefen Winter peinigt. So kommt es, daß am Neujahrsanfang nach der Wahl National- und Privatgeschichte diametral auseinandergehen. Während sich Frankreich unter dem neuen Regime langsam revitalisiert, befindet sich François am Rande des Selbstmords.

Die antithetische Doppelbewegung von kollektivem Aufstieg und persönlichem Verfall scheint auf den ersten Blick jene berühmte These zu exemplifizieren, die Samuel Huntington in seinem 1996 erschienen Beststeller Clash of Civilizations. The Remaking of World Order (Huntington 1997) formuliert hat. Demnach wird der ideologische Kampf, der die Weltpolitik bis zum Ende des Kalten Kriegs bestimmt hat, durch einen Kampf der Kulturen abgelöst, den der westliche Kulturraum einerseits mit dem chinesischen, anderseits mit dem islamischen Kulturraum auszutragen hat. Ein solcher Kulturkampf scheint nun in Soumission für den Westen katastrophal auszugehen, sofern man die raumsemantische Neubesetzung von Paris nach dem Regimewechsel in den Blick nimmt: Während ein Muslim den Élysée-Palast okkupiert und sein Konvertiten-Kollaborateur ein Hôtel Particulier an den einst römischen Arènes de Lutèce bewohnt, findet der entlassene französische Professor in seinem Appartement an der Place d'Italie, näherhin in der dahinter liegenden China-Town die letzte Zuflucht. Eine Zivilisation ohne Raum – so könnte man das solchermaßen versinnbildlichte Schicksal des einst imperialen Westens resümieren, dem sein kultureller Ursprungsort abhanden gekommen ist. Explizit kommt der Raumverlust in der Figurenrede zum Ausdruck, mit der sich François von seiner jüdischen Freundin verabschiedet. Angesichts ihrer bevorstehenden Emigration nach Israel stellt François mit Bedauern fest: "Il n'y a pas d'Israël pour moi." (Houellebecq 2015: 112)




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Wenngleich topographisch vergleichbar, so unterscheidet sich Houellebecqs Kulturprognose an einem Punkt doch wesentlich von Huntingtons politischer Theorie. Anders als nach deren Kollisionsthese ist es in Soumission nicht die kulturelle Konfrontation – metonymisch angedeutet durch die abgebrochene Stichwahl zwischen den Kandidaten des Front National und der Muslimbruderschaft –, die den Western zum Verlierer macht. Der Verlust hängt vielmehr mit einer Verdrängung zusammen, die sich in der politischen Handlung dadurch äußert, daß der muslimische Regimewechsel letztlich von einer Bündnisstrategie der bürgerlichen Parteien herrührt, deren primäres Ziel darin besteht, den Front National zu verhindern. Diese politische Verdrängung erweist sich selbst als der Ausdruck einer weiteren Verdrängung, die sich in der Privatgeschichte auf die nationale Identität bezieht. Die zentrale Textstelle hierfür ist jener Ausflug, der den Helden aus dem vom Bürgerkrieg bedrohten Paris über Rambouillet durch Martel und schließlich nach Rocamadour führt. Die Route ist keineswegs zufällig gewählt, denn sie liegt nicht nur auf der mittleren Achse, also gewissermaßen der geographischen Wirbelsäule des Landes, sondern weist mit der Ortschaft Martel, die den ehedem als 'Retter des Abendlandes' gerühmten Karl Martell namentlich aufruft, und der Wallfahrtsstätte Rocamadour zwei christlich markierte Stationen auf. Was in touristischer Hinsicht wie eine kulturelle Spurensuche anmutet, erweist sich allerdings alsbald als eine im Wortsinne gespenstische Reise. Bereits die Ausfahrt erlebt François wie in einer alptraumhaften Filmsequenz: menschenleere Stadttore von Paris, die ausgestorbene Autobahn, eine verlassene Tankstelle, deren Kassierer tot am Boden liegt, ein Hotel ohne Personal, in dem alle Kommunikationskanäle – Fernsehen, Internet usw. – blockiert sind. Der Ausnahmezustand erklärt sich auf der Handlungsebene durch den unterbrochenen Wahlgang; doch die seltsame Stimmung bleibt auch nach der angekündigten Regierungsbildung, als François am selben Abend bei seiner Kollegin zum Abend ißt. Daß dabei französisch gekocht und getrunken wird, ist für François, der sich wie alle Houellebecq-Helden zumeist von orientalischem Fastfood ernährt, eine seltene Freude. Die Heimatküche erhält zudem eine tagespolitische Note, wenn der Name der Gastgeberin – Marie-Françoise – an Marine Le Pen erinnert, die soeben um ihre Wahlchance für die Präsidentschaft gebracht worden ist. Wofür die andere Hälfte des Namens steht, versteht man spätestens nach dem Dessert, als der angetrunkene Ehemann der Gastgeberin, dem gerade nach langjähriger Geheimdiensttätigkeit gekündigt wurde, den katholisch-patriotischen Dichter Charles Péguy rezitiert: Zitiert wird eine Stelle aus dem Langdicht Ève (1913), wo La France – hier das offene Spiel mit dem Namen Françoise – das Glück des Heldentodes verheißen wird. Der sentimentale Privatvortrag findet wenig später seine Fortsetzung in einer öffentlichen Abendlesung, der François in Rocamadour, der letzten Station seiner Reise, beiwohnt. Ein, wie François zu erkennen glaubt, polnischer Schauspieler von der Comédie Française trägt wiederum das Gedicht von Péguy vor, diesmal jedoch eine andere Stelle. Sinnfällig ist hier zunächst die Schauspielmetapher, die sich auf François' makabre Kulturreise insgesamt übertragen läßt: Das christliche Frankreich erscheint als eine gespenstische Kulisse, hinter der Schattenfiguren die Nationalkultur noch vorspielen, während die Vorderbühne bereits neu besetzt wird.




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Trotz allerhand plakativer Anspielungen ist François' Reise mehr als ein nationalistischer Trauermarsch. François entdeckt vielmehr ein Land im Zeichen des Untoten – ein Frankreich näherhin, das topographisch noch seine alte Lebenserscheinung bewahrt hat, symbolisch jedoch bereits tot ist.3 Zeichentheoretisch läßt sich ein solcher Zustand des Untoten derart auffassen, daß Frankreich mit seinen mittelalterlichen Städten und christlichen Sakralbauten eine historische Referenz aufweist, die keine Repräsentation im neuen Zeichensystem und mithin keine Bedeutung mehr hat. Geisterhaft wirken daher auch solche Signifikanten wie der Name Marie-Françoise oder auch die patriotische Dichtung von Péguy, deren Verweisfunktion in Ermangelung jedweden nationalgeschichtlichen Signifikats ins Leere läuft. Der semiotische Repräsentationsmangel erklärt schließlich jenes Moment der Verdrängung, das in der politischen Handlung durch die bürgerliche Allianz gegen den Front National zum Vorschein kommt. Marine Le Pen ist also deshalb in einem Freudschen Sinne unheimlich (Freud 1999b), weil sie jenes untote, aus der multikulturellen Zeichenordnung verdrängte Frankreich vertritt. Das Nicht-Repräsentierbare und das Untote werden in Houellebecqs Text ferner durch eine signifikante Ellipse zum Ausdruck gebracht. Diese betrifft die bereits erwähnten Rezitationen, bei denen jeweils eine Textstelle aus Péguys Gedicht Ève vorgetragen wird. Zwischen diesen beiden im Roman wortwörtlich zitierten Textstellen befinden sich nun in Péguys Originaltext weitere 16 Strophen, von den 12 mit dem Refrain "Heureux ceux qui sont morts, car ils sont retournés" beginnen. Gemeint sind die gefallenen Helden, deren glorreiche Entrückung in Houellebecqs Text allerdings nicht mehr zur Sprache kommt. Daß im Zeitintervall zwischen den beiden Péguy-Rezitationen die neue Regierung eingesetzt wird, scheint in Anbetracht einer solch gewichtigen Auslassung kein belangloses Detail. Ganz im Gegenteil findet das elliptische Zitat im politischen Ausschluß des Front National eine durchaus sinnfällige Entsprechung. Demnach korrespondiert die Figur der Gefallenen aus den getilgten Passagen von Péguys Gedicht mit der Figur von Marine Le Pen, die gewissermaßen den Revenant eines Frankreichs verkörpert, das – in Houellebecqs Zukunftsfiktion – symbolisch nicht mehr repräsentiert wird, also von dem politischen Zeichensystem endgültig entrückt ist.

Über diese politische Bedeutung hinaus wird das untote Frankreich durch die Figur des François zugleich mit der Melancholie verbunden. So gilt der Zustand des Untoten auch für François als einen von Anbeginn melancholischen Helden, der – wiederum im Sinne Freuds – sein verlorenes Liebesobjekt, also die französische Literatur, in deren universitären Scheinexistenz supplementär aufrechterhält. Seine pädagogische Rolle ist in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll, denn dadurch kommt seiner Melancholie eine besondere Herrschaftssemantik zu. Aufschlußreich hierfür ist François' Bekundung, daß er seinen 8-Uhr-Kurs zur französischen Literatur des 19. Jahrhunderts vor einer Gruppe schweigsamer Chinesinnen abhält, während im Parallelkurs – wie er von seinem Kollegen weiß – eine Gruppe verschleierter Maghrebinerinnen sitzt. Hinsichtlich vor allem der nordafrikanischen Studentinnen eignet dem Literaturunterricht eine kolonialgeschichtliche Reminiszenz, die auf einen – mit Hegel gesprochen – vergangenen kulturellen Kampf um Anerkennung zurückverweist. Das Konzept bezieht sich in Phänomenologie des Geistes bekanntlich auf eine Entwicklung des Selbstbewußtseins, bei der dieses – bestimmt durch sein Wesen als ein Anerkanntes – "außer sich" (Hegel 1970: 146) kommt und seinem daraus entstandenen anderen Selbst in einem Kampf gegenübertritt, in dessen Folge sich ein selbstständiges und ein unselbstständiges Bewußtsein ausdifferenzieren. Das Resultat illustriert Hegel mit seinem berühmten Gleichnis von Herr und Knecht: Während der Besiegte seine Abhängigkeit vom Leben erkennt und sich dem Gegner unterwirft, erfährt der Sieger die Anerkennung als ein vom Leben unabhängiges, für sich seiendes Selbstbewußtsein.




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Überträgt man das Herr/Knecht-Verhältnis auf die Unterrichtssituation in Soumission, so stellt François dabei – durch die metonymische Relation zu seinem Kollegen – denjenigen dar, der die Position des einstigen Kolonialherren in einer ethnisch wie auch gendermäßig überkodierten didaktischen Hierarchie, also französischer Professor vs. nordafrikanische Studentinnen, vertritt. Die so angedeutete Herrschaftsrolle trägt insofern zum Verständnis von François' Melancholie bei, als sich darin das Symptom des Herrn erkennen läßt.4 Ein melancholischer Charakter wohnt nämlich der Figur des Hegelianischen Herrn inne und zwar deshalb, weil er bei seinem Kampfsieg die dadurch gewonnene Anerkennung gleichzeitig verliert. Denn für das Selbstbewußtsein, das "seine Befriedigung nur durch ein anderes Selbstbewußtsein [erreicht]" (Hegel 1970: 144), ist die Anerkennung durch den Knecht, d.h. ein unselbstständiges Bewußtsein, wertlos. Die so verlorene Anerkennung wird durch die Dinge substituiert, die der Herr nunmehr als Konsument "rein genießt" und womit es ihm gelingt, "im Genusse sich zu befriedigen" (ebd.: 151). Eine ähnliche Ersetzungsstruktur findet sich auch bei der Figur von François, der seine philologische Frustration bislang durch den sexuellen Konsum (französischer) Studentinnen kompensierte. Die pädagogische Hierarchie zeigt sich hier in der Variante einer erotischen Herrschaft, bei der François, gleichsam die vulgäre Version des Hegelianischen Herrn, anstelle der Anerkennung der Studentinnen deren Körper als erotisches Ding genießt.

Liest man die François-Figur nun metonymisch, so eignet dem untoten Frankreich gleichermaßen die Melancholie des Siegers. Siegreich ist das von François bereiste Frankreich weniger hinsichtlich der Kolonialeroberung als vielmehr in Bezug auf seine eigene Geschichte. An diese Geschichte erinnern die Orte, die François aufsucht: etwa Martel, das namentlich den Großvater Karls des Großen aufruft, oder die Chapelle de Notre-Dame von Rocamadour, wo die Statue der wundertätigen Jungfrau das Zeitalter des Glaubens in Erinnerung hält. Die demonstrativ karolingisch-christliche Rundfahrt hat ihre eigentliche Erzählfunktion ganz offensichtlich darin, Frankreich metonymisch als einen lieu de mémoire vorzuführen. Daß es dazu kam, rührt zumindest auf der Textebene nicht von der arabischen Invasion her; denn diese wurde – daran erinnert der Ehemann von Marie-Françoise – von Karl Martel vor mehr als tausend Jahren in der Schlacht von Poitiers zurückgeschlagen (Houellebecq 2015: 148). Der Grund liegt vielmehr darin, daß das Frankreich des 21. Jahrhunderts seine Nationalgeschichte erfolgreich überwunden hat. Aus dieser Perspektive betrachtet, tragen die Erinnerungsorte, die François besucht, denn auch eine besondere Melancholie in sich. Es ist jene Melancholie der Selbstnegation, die Hegel im Sieg der Aufklärung gegen den Glauben erkannt hat. Der Glaube, sofern es dabei um das Bewußtsein des Bezugs des Endlichen auf das Absolute geht, ist nach Hegel die unbefriedigte Kehrseite der befriedigten Aufklärung (Hegel 1970: 423f.). Deren Angriff kommt daher auch nicht von außen, sondern wirkt wie eine Ansteckung (ebd.: 402), die den Glauben von innen zersetzt. Das Resultat schildert Hegel in einem berühmten Passus aus der Phänomenologie des Geistes: "An einem schönen Morgen gibt sie [die reine Einsicht] mit dem Ellbogen dem Kameraden [dem Glauben] einen Schub, und Bautz! Baradautz! der Götze liegt am Boden" (ebd.: 403, kursiv im Original). Was dadurch geschieht, führt Hegel metaphorisch als einen Hautwechsel des Geistes aus: "Nur das Gedächtnis bewahrt dann noch als eine, man weiß nicht wie, vergangene Geschichte die tote Weise der vorigen Gestalt des Geistes auf, und die neue, für die Anbetung erhöhte Schlange der Weisheit hat auf diese Weise nur eine welke Haut schmerzlos abgestreift." (ebd.: 403f.) Hegels Schlangen-Bild ließe sich dann mit Soumission zusammenlesen, wenn man sich ein weiteres Mal Péguys Langgedicht vergegenwärtigt, dessen im Roman nicht genannter Titel Ève die Schlange des Alten Testaments aufruft. Ähnlich wie Hegels metaphorische Schlange markiert das in der Romanmitte zitierte Gedicht eine epochale Wende. Péguy steht demnach für das alte, katholische Frankreich, dessen nationale Identität solange de-konstruiert worden ist, bis es "an einem schönen Morgen" eine neue, bei Houellebecq muslimische Gestalt annimmt. Dabei geht die Nation an einer melancholischen Selbstnegation zugrunde, an deren Ende – ähnlich wie nach dem Sieg der Aufklärung über den Glauben – nur noch das Gedächtnis die "man weiß nicht wie" vergangene Geschichte festhält. In diesem Sinne ist auch François' Reise melancholisch: Die kulturhistorischen Orte, die er besucht, sind Schauplätze des Gedächtnisses, an denen die – mit Hegels gesprochen – welke Haut noch ausgestellt wird, die das postnationale Frankreich bereits "schmerzlos abgestreift hat".




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François' melancholische Reise befindet sich nicht umsonst in der Mitte des Romans. Denn sie bildet dort einen Wendepunkt, der das Ende mit dem Neubeginn verbindet. Indikator hierfür ist jener Kirchenbesuch, mit dem François seine Reise abschließt. Zum zweiten Mal kommt er in die bereits erwähnte Chapelle Notre-Dame von Rocamadour und muß dort angesichts der eindrucksvollen Gestalt der schwarzen Madonna bedauernd feststellen: "je perdais le contact" (Houellebecq 2015: 170). Dieses Eingeständnis des Verlustes bedeutet nun dahingehend einen Gewinn, daß es gerade das Wissen um den Verlust ist, das François zum neuen Bewußtsein führt. Darin unterscheidet er sich auch fortan von der Figur des Hegelianischen Herrn. Dieser ist nämlich im Unwissen über die eigentliche Dialektik, die dem Kampf um Anerkennung innewohnt und wonach der Knecht derjenige sein wird, der durch seine Arbeit an den Dingen zur Befreiung gelangt, während ihm – dem Herrn – in Wahrheit nur "das unwesentliche Bewußtsein und das unwesentliche Tun desselben" (Hegel 1970: 52) bleibt. Das Herrenbewußtsein zeichnet sich folglich durch einen Entwicklungsstillstand aus, von dem sich François jedoch in dem Moment befreit, als er vor der Jungfrauenstatue seinen Kontaktverlust erkennt. Damit kommt er zu jener Stufe, die Hegel deshalb unglückliches Bewußtsein genannt hat, weil darin die Einheit des Subjekts mit dem Unwandelbaren und dem Absoluten als Verlust empfunden wird (ebd.: 164ff.). Gerade das unglückliche Bewußtsein wird jedoch François zur Heilung führen; denn erst nachdem ihm der Verlust bewußt geworden ist, kann er die Trauerarbeit beginnen, um sich dadurch von dem bisher melancholisch festgehaltenen Liebesobjekt zu lösen.5 Im Sinne der Trauerarbeit versteht sich denn auch die Verlustserie, die den zweiten Teil des Romans initiiert und im Zuge deren François neben der bereits erwähnten Geliebten und der Professur auch seine Eltern verliert. Die Verbindung zwischen dem privaten und dem historischen Verlust stellt die Figur der Mutter dar, deren einzig mit einer französischen Bulldogge verbrachter Lebensabend bereits den Zustand eines sozialen living dead veranschaulicht. Daß sie kurz vor der Regierungsbildung (31. Mai) verstarb, läßt sie umso mehr als eine Symbolfigur für das untote Frankreich erscheinen, als dieses kurz zuvor in der letzten Péguy-Lesung mit dem Refrain "Mère voici vos fils" wiederholt angerufen wird. Wenn François nach seiner Rückkehr durch eine amtliche Mitteilung die Todesnachricht erreicht, so bringt ihm der offizielle Leichenschauschein für die leibliche Mutter eine Erkenntnis, die rückwirkend gleichfalls für die symbolische Mutternation gilt: daß sie nämlich nicht mehr untot, sondern nunmehr wirklich tot ist.

Um diese Erkenntnis geht es auch bei der weiteren Trauerarbeit, die im Zeichen der Wiederholung verläuft und François in die Abtei Saint-Martin von Ligugé führt. Auf diesem zweiten Kursus bereist François das christliche Frankreich, das diesmal durch die Figur des Joris-Karl Huysmans allerdings mit einer besonderen geistesgeschichtlichen Tradition des Landes verbunden wird. Gemeint ist der Renouveau catholique, die katholische Erneuerungsbewegung, die sich nach der französischen Kriegsniederlage von 1871 formierte und deren Akteure danach strebten, durch ihre religiöse Wende sowohl im Leben auch in der Kunst eine nationale Neugeburt ins Werk zu setzen. Auf ihrem Höhepunkt im Jahr 1886 verzeichnete die Bewegung eine Massenkonversion namhafter Intellektueller (Neumann 2007: 103), zu denen eben auch Huysmans gehörte, der dann im Gnadenjahr 1899 in der Abtei von Ligugé seine Einkleidung als Laienbruder vollzog. Vor diesem Hintergrund unternimmt Houellebecqs Held eine mehrfach nostalgische Reise, wenn er am Tiefpunkt seiner Depression zum Schauplatz von Huysmans Ordination aufbricht. Damit wiederholt er nicht nur eine Reise, die ihn bereits als junger Wissenschaftler auf die Spuren jenes Autors führte, dem er eine vielbeachtete Dissertation widmen sollte. Die Suche gilt diesmal einem verlorenen Idealobjekt, an dem der desillusionierte und neuerlich auch arbeitslose Professor nichtsdestoweniger festhält. Zudem spielt François den Konvertiten Huysmans nach, der als dekadenter Naturalist im Katholizismus das Heil gefunden hat und dergestalt eine Versöhnung mit dem Absoluten verkörpert, die dem unglücklichen Bewußtsein von François hoffnungslos fehlt. Die Huysmans-Imitation dient ihm der Versöhnung mit einer Vergangenheit, zu der er – man erinnere an seine Feststellung vor der Jungfrauenstatue – den Kontakt verloren hat. Versucht François mit seinem ganzen Unterfangen letztlich, seiner existentiellen Krise zu entkommen, so muß ein solches Selbsthilfeprogramm nachgerade wie eine individuelle Neuauflage des Renouveau catholique erscheinen, dessen Leitidee eben darin besteht, daß die Versöhnung des postaufklärerischen mit dem christlichen Frankreich dessen Selbsterneuerung herbeiführt.




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François' Klosteraufenthalt erweist sich jedoch schnell als ein Fehlschlag. Weder die rauchfreie Zelle noch der Anblick der um den Park führenden TGV-Trasse dienen der entspannten Abgeschiedenheit. Die Litanei läßt François darüber hinaus völlig kalt; ja, die süßlichen Stimmen des Mönchschors verführen ihn sogar zu Nietzsches verächtlichem Gedanken, wonach das Christentum eine weibliche Religion sei. So muß sich François bereits am dritten Tag seine spirituelle Eskapade als einen Mißerfolg eingestehen; doch wenn er noch am gleichen Abend entnervt abreist, so offenbart sich gerade in dieser Abkehrbewegung der eigentliche Sinn seiner Reise. Dieser besteht darin, daß François durch die Wiederholung deren Unmöglichkeit erkennt. Damit schließt sich dann auch die Trauerarbeit, die sich durch die Todesnachricht der Mutter angekündigt hat: Die anfängliche Erkenntnis, daß die Mutter wirklich tot ist, entwickelt sich am Ende zu der Einsicht, daß das Verlorene schlechthin verloren ist. Das Verlorene bezieht sich dabei auch auf das alte Selbst, wofür die Figur von Huysmans als philologisches Alter Ego des jungen François steht. Von diesem alten Selbst ist eine verworrene Ich-Imago geblieben, mit der sich der nun abgenutzte François vermittels seiner Huysmans-Nachahmung erneut zu identifizieren versucht. Seine Abkehr von Huysmans' Kloster bedeutet so betrachtet eine Negation seines alten Selbst – eine Selbstnegation gleichwohl, die mit der Einsicht über den Verlust verbunden ist. Sie wirkt daher auch nicht mehr melancholisch, sondern deshalb heilsam, weil François dadurch sein verlorenes Selbst endgültig aufgibt.

François' Selbstaufgabe führt im fünften und letzten Teil von Soumission zu einem spektakulären Happy-End. Kurz nach seiner Heimkehr erreicht ihn das Angebot des Gallimard-Verlages, die Pléiade-Ausgabe von Huysmans zu betreuen. Der eben noch zutiefst verzweifelte François erlebt nunmehr einen unerwarteten Aufschwung. Allmählich in den Kreis der Kulturprominenz des neuen Regimes aufgenommen lernt er nicht nur avancierte Ideen bezüglich des Islams, sondern auch den verjüngenden Effekt der Polygamie kennen. Als ihm auch die Rückkehr zur Sorbonne in Aussicht gestellt wird, zögert er nicht länger. An einem Frühlingstag – damit endet der Roman – tritt François in der Großmoschee von Paris feierlich zum Islam über. François' Konversion verdankt sich dabei allerdings nicht nur einer wundersamen Wendung der Handlung – des Angebotes von Gallimard –, sondern folgt auch der Dialektik der Anerkennung. Darauf deutet der letzte Satz des Romans hin, mit dem der Ich-Erzähler seine Tat lakonisch kommentiert: "Je n'aurais rien à regretter." (Houellebecq 2015: 300) Man mag dieses konditional relativierte "rien" als ein ironisches Warnsignal gegen die kulturelle Selbstabschaffung des Abendlandes lesen. Im Rahmen der rituellen Binnenpragmatik verweist das "rien" aber auf ein Selbst, das für die absolute Anerkennung des Anderen geopfert werden muß. Diese Anerkennung ist insofern dialektisch, als das Selbst – analog zur Figur des Knechts in Hegels Parabel – gerade durch die Unterwerfung unter den Anderen die Möglichkeit der Selbsterneuerung gewinnt. Eine solche Dialektik zeigt sich im Fall von François' Konversion an der Umkehrung der Kolonialhierarchie – darin also, daß sich der Franzose dem Gott der einst kolonisierten muslimischen Länder unterwirft. Damit schreibt Houellebecq Hegels Kampf um Anerkennung gewissermaßen in einer zweiten Runde fort: Der kolonial unterworfene Islam erkennt seinen republikanischen Herrn an und arbeitet derart erfolgreich an seiner Demokratisierung, daß der Herr selbst zum Bewußtsein über seine eigentliche Unwesentlichkeit kommt und den einstigen Knecht als den neuen Herrn anerkennt. Für den einstigen Herrn fällt die Anerkennung des Anderen mit der Aufgabe seiner Herrschaftsposition zusammen – mit einer Selbstunterwerfung fernerhin, die nach der narrativen Strukturlogik von Soumission die Versöhnung bewirkt. Es ist nämlich François' Bekehrung, die den Roman zu einem versöhnlichen Ende führt: Die bis dahin dissoziierte Privat- und Kollektivgeschichte kommen zusammen, so daß der soziale Wiederaufstieg von François im Einklang mit dem sich regenerierenden Frankreich den Sinn der Selbsterneuerung erhält.




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Diese doppelte Selbsterneuerung trägt bei Houellebecq freilich parodistische Züge. So wird etwa die kollektive Islam-Konversion der Intellektuellen, der sich François anschließt, als eine karnevaleske Inversion des Renouveau catholique erzählt. Die historische Massenbekehrung der Geisteselite erfährt dadurch eine perverse Wiederholung, daß die Intellektuellen, die sich reihenweise dem Glauben des neuen Herrschers anschließen, neben den hohen Amtsposten vornehmlich vom erotischen Erfrischungspotential ihrer sämtlich minderjährigen (Neben-)Frauen profitieren. Unter der karikaturesken Textoberfläche zeichnet sich indes auf der Ebene der narrativen Struktur eine andere, ernstere Selbsterneuerung ab. Sie bezieht sich auf die Literatur selbst, auf eine besondere Entwicklung des französischen Romans näherhin, die Houellebecq mit Soumission programmatisch fortschreibt. Programmatisch ist hier vor allem das literarische Bezugssystem, das neben den offen zitierten katholischen Autoren Huysmans und Péguy auch Flaubert und den rechtsextremen poète maudit Drieu la Rochelle umfaßt. Was Flaubert betrifft, so hat die zentrale Frankreich-Reise in Soumission ihre literarische Vorlage in einer Episode, der eine Schlüsselstellung in der Éducation sentimentale zukommt und die davon erzählt, wie Frédéric Moreau, vom Bürgerkrieg aus Paris fliehend, einen Ausflug mit der Kurtisane Rosanette nach Fontainebleau, also zur alten Residenz der französischen Könige, unternimmt. Im Vergleich zu Flaubert ist Pierre Drieu la Rochelle weniger bekannt, zumal er ja als NS-Kollaborateur nach dem Kriegsende den Freitod dem Exil vorzog und erst 2012 den literarischen Ehrenplatz in der Edition de la Pléiade bekam. Auf seinen berühmtesten Roman Gilles (1939) rekurriert Houellebecq mit dem Namen der jüdischen Freundin von François: Myriam heißt nämlich auch die jüdische Frau in Gilles, die der Titelheld trotz der Verachtung für deren Unterwürfigkeit aus Geldgründen heiratet und die symbolisch die alte Zeit verkörpert, die Gilles hinter sich lassen wird, um nach mehreren ideologischen Irrfahrten endlich im Faschismus die neue Zeit für Frankreich zu finden. Diese beiden strukturell maßgeblichen Intertexte von Soumission verweisen nun insofern metapoetisch aufeinander, als sich zwischen der Éducation sentimentale und Gilles ein Wandel vom realistischen zum faschistischen Bildungsroman vollzieht. Dieser Wandel ist im Hinblick auf das teleologische Narrativ zu begreifen, von dem sich Flaubert systematisch abkehrt (Warning 2001) und das bei Drieu la Rochelle eine politische Neubesetzung erfährt. Inmitten dieser Entwicklung bilden die chronologisch dazwischen liegenden Autoren des Renouveau catholique den entscheidenden Wendepunkt: Sie verkörpern eine geistesgeschichtliche Umkehrbewegung, die es dem zum fin de siècle hin bereits dekadenten Helden – wie er exemplarisch bei Huysmans auftritt – ermöglicht, durch das Konversionsnarrativ wieder den Anschluß an das kollektive Heilstelos zu finden.




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Wenn Houellebecq in Soumission also eine Bekehrungsgeschichte schreibt, so setzt er damit nicht nur eine Romantradition der französischen Moderne fort, sondern nimmt zugleich das teleologische Narrativ wieder auf, das als Strukturprinzip von den Erzählformen der Postmoderne gemeinhin ausgeschlossen ist. In diesem Rückgriff stellt Houellebecq eine Ausnahmeerscheinung der Gegenwartsliteratur dar, deren Resistenz gegen das teleologische Narrativ nicht zuletzt vom Selbstverständnis einer Epoche herrührt, die sich als das Ende der Geschichte begreift.6 Houellebecq hingegen gibt der westlichen Gesellschaft ihre Geschichtlichkeit gerade dadurch zurück, daß er ihr das Telos einer radikalen Umwandlung zuschreibt. In dieser Hinsicht fügt sich Soumission nach Les Particules élémentaires (1998), La Possibilité d'une île (2005) und La Carte et le Territoire (2010) in eine gewissermaßen futuristische Romanserie, die sich durch eine konsequente Gattungsmischung von Realismus und Zukunftsroman kennzeichnet. Paradigmatisch wiederholt sich dabei eine progressive Zeitstruktur, vermittels deren die Gegenwart und die Zukunft in einer dialektischen Entwicklung von der Selbstabschaffung zum Neubeginn verbunden werden. Ein solche Bewegung zeichnet sich bereits am Ende von Les Particules élémentaires ab: Dort wird eine neue, geschlechtslose und unsterbliche Spezies geschaffen, durch die sich der Mensch als körperliches und zeitlich begrenztes Wesen abschafft,7 so daß sich ein posthumanes Paradies ergibt, in dem das aufgrund des Sündenfalls verlorene Unwissen über Geschlechtlichkeit und Tod wiederhergestellt wird. Eine ähnliche Dialektik eignet auch der Zukunftsvision in La Carte et le Territoire, diesmal allerdings mit einem deutlich ironischen Nebenton: Demnach wird sich Frankreich bereits im Jahre 2018 als Industrienation abgeschafft haben, um sich in eine agrartouristische ecotopia zu verwandeln. Neben Agrarprodukten hat das Land zwar nicht viel mehr zu verkaufen als Sex und andere dem französischen art de vivre zugeschlagene Dienstleistungen; doch gerade diese vor-industrielle Ökonomie wird Frankreich gegen die periodisch wiederkehrende Wirtschaftskrise resistent machen.

Die von Houellebecq entworfenen Zukunftsszenarien sind in einem spezifisch postmodernen Sinne utopisch. Sie weisen nämlich jene "prospektive Hermeneutik" auf, wie sie Fredric Jameson als die wesentliche Operation des utopischen Denkens im Zeitalter der Globalisierung beschrieben hat. Dabei werden Phänomene, die in der Lebenswirklichkeit beunruhigend bzw. negativ wirken (können), derart affirmativ ausgelegt, daß sich die Dystopie der Gegenwart als die Formation einer utopischen Zukunft erweist (Jameson 2010: 434). Exemplarisch hierfür steht etwa der postmoderne Nomaden-Diskurs, bei dem der Mobilitätszwang im Arbeitsmarkt als die Befreiung des Individuums von der bürgerlichen Ordnung zelebriert wird (ebd.: 424).8 Eine ähnliche Umwertung findet man bei Antonio Negri, der im digital capitalism den status nascendi des Kommunismus erkennt (Negri 2010). Houellebecq setzt nun die prospektive Hermeneutik der postmodernen Utopie-Konstruktion ironisch um. Während die gentechnische Manipulation in Les Particules élémentaires eine neue Welt schafft, in der sich der überwundene Körper dadurch endlich von der sexuellen Abhängigkeit und der Konsumdiktatur befreit, stellt die De-Industrialisierung in La Carte et le Territoire die Lösung dafür dar, Frankreich gegen die schon von Karl Marx vorausgesagte zyklische Krise des Kapitalismus zu immunisieren.




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Gleichermaßen ironisch ist nun schließlich auch die utopische Umwertung in Soumission. Die prospektive Hermeneutik schreibt hier Houellebecq dahingehend aus, daß die gerade von den Kulturkonservativen befürchtete Islamisierung als Chance für die nationale Selbsterneuerung imaginiert wird. Über das postmoderne Gedankenspiel hinaus kommt dabei wiederum die Anerkennungsdialektik zum Tragen – ließe sich doch nach dem Sieg des muslimischen Herrn ein erneuter Aufstieg des geknechteten traditionellen Frankreichs erwarten. Daß die muslimische Herrschaft folglich bloß die negative Phase der französischen Geschichte bedeutet, deren eigentliches Telos in der Wiedergeburt der Grande Nation liegt, darauf deutet die figurale Analogie zwischen Ben Abbes und De Gaulle an. Diese kommt in einer Figurenrede zum Ausdruck, in der Marie-Françoises Ehemann die beiden Politiker vergleicht: Ben Abbes habe demnach dieselbe Ambition wie einst De Gaulle, nämlich eine "grande politique arabe de la France" (Houellebecq 2015: 158) zu realisieren. Auch im Hinblick auf seine Ablehnung jedweder Art von "abandon de souveraineté" (ebd.) ähnelt Ben Abbes De Gaulle, der – und das braucht im Text nicht eigens erwähnt zu werden – die "indépendance nationale" zum höchsten Gebot machte und sich nicht vor der Entscheidung scheute, die französischen Streitkräfte 1966 aus der Nato zurückzuziehen. Der De Gaulle-Vergleich ist allerdings – sofern man sich die Charakterisierung des fiktiven Sprechers vor Augen führt – die Projektion eines alten Geheimdienstlers und Péguy-Anhängers. Umso ironischer wirkt es, wenn sich seine Prognose in der weiteren Romanhandlung bewahrheitet. Der Wechsel hin zu einem islamischen Regime muß damit nachgerade als eine nationalistische Wunscherfüllung erscheinen. Gleichwohl wirkt der Entwurf Ben Abbes' als eines zweiten De Gaulles dem teleologischen Narrativ des Romans insofern entgegen, als die Anerkennung des Anderen bei einer solchen Figurencharakterisierung mit der nostalgischen und d.h. strukturell regressiven Selbstverherrlichung zusammenfällt. Die Anerkennungsdialektik motiviert weniger die utopische Selbsterneuerung als vielmehr ein melancholisches Narrativ, das gewissermaßen nach dem Motto enjoy your symptom dazu dient, den bereits unwiederbringlichen Verlust des französischen Selbst vermittels einer Fiktion der Selbsterneuerung zu kaschieren. Da Houellebecq eine solche Selbstdemontage wohl einkalkuliert, kann man Soumission durchaus auch als einen komischen Roman lesen.


Literaturverzeichnis

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Baddou, Ali (2015): "Le livre de Michel Houellebecq est clairement islamophobe", in: lefigaro.fr, 07.01.2015. [http://tvmag.lefigaro.fr/le-scan-tele/polemiques/2015/01/07/28003-20150107ARTFIG00147-ali-baddou-le-livre-de-michel-houellebecq-est-clairement-islamophobe.php, 08.05.2015]




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Anmerkungen

1 Http://lelab.europe1.fr/Attentat-a-Charlie-Hebdo-pour-Manuel-Valls-la-France-ce-n-est-pas-Michel-Houellebecq-20078 [abgerufen am 08.05.2015].

2 Der bei Houellebecq implizite Gedanke einer politischen Neugründung hat in Frankreich Tradition. Die Republik wurde bekanntlich bisher insgesamt fünfmal aufgerufen. Seit 2001 besteht die Convention pour la Sixième République, eine Gruppe aus zumeist links gerichteten Politikern und Intellektuellen, die sich für eine neuerliche Verfassungsänderung einsetzen. Sie präsentiert sich in ihrer offiziellen Seite als "une machine à transformer la République". [http://www.c6r.org, abgerufen am 08.05.2015].

3 Die Semantik des Untoten wird bei Houellebecq explizit aufgerufen im Bezug auf den Glaubensverlust Europas: "sans la chrétienté, les nations européennes n'étaient plus que des corps sans âmes – des zombies." (Houellebecq 2015: 255) Die Figur des undead hat vor allem Slavoj Žižek theoretisiert; sie repräsentiert ihm zufolge einen Zwischenraum, der zwischen dem symbolischen und dem physischen Tod, dem sozialen Bedeutungsverlust und dem körperlich-materiellen Verschwinden steht. Žižek befaßt sich mit zwei Typen von undead: zum einen dem des vom Tod Wiederkehrenden, wie etwa dem Geist von Hamlets Vater (Žižek 1991: 23); zum anderen dem des "living dead", also des lebendigen Toten (ebd.: 21f.). Statt einer anthropologischen Beschreibung wie der Žižeks – das undead als die Negation des Humanen (ebd.: 22) – wird hier eine semiotische Lesart des Untoten vorgeschlagen.

4 Die folgenden Überlegungen zur Melancholie des Herrn bzw. der Selbstnegation wurden angeregt durch die Arbeit von Comay (2011), die den melancholischen Aspekt von Hegels Philosophie im Zusammenhang mit Aufklärung und Terror aufgearbeitet hat.

5 Nach Freud unterscheidet sich die Trauerarbeit dadurch von der Melancholie, daß sich die Melancholie in der Fixierung des Subjekts am verlorenen Liebesobjekt äußert, wohingegen die Trauerarbeit das Ziel hat, das Subjekt vom verlorenen Liebesobjekt durch dessen Ersetzung abzulösen. Vgl. Freud 1999a.

6 Das ursprünglich Hegelianische Konzept vom "Ende der Geschichte" hat bekanntlich Francis Fukuyama für die Epoche nach dem Kalten Krieg neuformuliert. Demnach stelle die formale Demokratie die höchste Stufe der menschlichen Geschichte und daher auch das Ende deren Entwicklung dar (vgl. Fukuyama 1992). Für eine Diskussion zu Fukuyamas These im Zusammenhang mit der anti-teleologischen Struktur im narrativen Verfahren im Roman des 19. Jahrhunderts und insbesondere der naturalistischen Romane Zolas vgl. Xuan 2014: 138f.

7 Die am Ende von Les Particules élémentaires projizierte gentechnische Neuschöpfung wird zum Hauptthema des darauffolgenden Romans La Possibilité d'une île (2005).

8 Jameson unternimmt seine Fallanalyse am Beispiel von Paolo Virnos A Grammar of the Multitude.