PhiN 72/2015: 63



Anna Rauscher (Freiburg)



Christian Moser/ Linda Simonis (Hg.) (2014): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: V&R unpiress.



Der 2014 erschienene, von Christian Moser und Linda Simonis herausgegebene Sammelband mit dem Titel Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien basiert auf Beiträgen zur XV. Jahrestagung der DGAVL im Jahr 2011 in Bonn. Dieser erste Band der Reihe "Global Poetics. Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zur Globalisierung" knüpft in seiner thematischen Ausrichtung an die gegenwärtige Konjunktur des Globalen in der Literaturwissenschaft an.1 Er systematisiert sein breit angelegtes Forschungsfeld in zehn nach thematischen Schwerpunkten geordneten Sektionen, die jeweils drei bis sieben Beiträge umfassen. Hilfreich ist das daran anschließende Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, das in prägnanter Form deren weitere Forschungsschwerpunkte präsentiert.

Einleitend konstatieren die Herausgeber eine institutionelle und immanente Globalisierung der Literatur, die anhand von globalen Verbreitungsmöglichkeiten, aber auch der Wahl von Sprachen, Themen und formalen Strukturen augenfällig wird. Positionen, die eine Kontrastierung von fiktiver und realer Welt annehmen und kritisieren, begegnet der Band mit der These, dass die Literatur gerade in ihrer Fähigkeit, fiktive Welten zu entwerfen, für Globalisierungsprozesse bedeutsam werde: "Das Ganze der Welt ist der Wahrnehmung nicht zugänglich – es bedarf imaginärer […] Weltentwürfe, um dieses zu veranschaulichen" (12). Zum Erfassen dieser Funktion von Literatur und Kunst schlagen Moser und Simonis in Analogie zu bestehenden Modellen zum kulturellen und politischen Imaginären das Konzept des "'globalen Imaginären'" vor (13). Damit bezeichnen sie den Vorrat an Bildern, Narrativen, Tropen und Figuren, die den Menschen eine Vorstellung von der Einheit der Welt vermitteln. Der Weltbezug der Literatur verschiedenster Epochen sei daher "ein Medium der globalen Integration, der den Globalisierungsprozess aktiv befördert" (ebd.). Dementsprechend macht es sich der Sammelband zur Aufgabe, die Bestandteile des globalen Imaginären und verschiedene Modi der literarischen Weltdarstellung und Weltherstellung in ihrer historischen Bandbreite zu untersuchen, wobei den Wechselwirkungen zwischen literarisch-künstlerischen Weltkonstruktionen und den sozialen, politischen und ökonomischen Globalisierungsprozessen besondere Aufmerksamkeit zukommt. Diese "Poetik des Globalen" identifizieren die Autoren als ein bislang nur in Ansätzen erforschtes, wichtiges Arbeitsfeld der Komparatistik. Der verbleibende Teil der Einleitung liefert einen Überblick über die einzelnen Sektionen und bietet dem Leser, ebenso wie das übersichtlich strukturierte Inhaltsverzeichnis, die Möglichkeit zur raschen Orientierung.




PhiN 72/2015: 64


Der Sammelband vereint theoretische, begriffliche und historische Reflexionen, vergleichende Betrachtungen und detaillierte Analysen einzelner Werke. Aufgrund der Fülle an Beiträgen erfolgt die Vorstellung der einzelnen Sektionen exemplarisch an je einem Artikel.

Die Eingangssektion liefert durch theoretische Überlegungen zu grundlegenden Denkfiguren des Globalen und damit verbundenen Wahrnehmungsschemata zahlreiche Anregungen für weitere Forschungsarbeiten zum Thema. Unter dem Titel "Figuren des Globalen, Narrative der Totalisierung" widmet sich die Sektion der begrifflichen Konkurrenz von Welt und Erde (Robert Stockhammer), der Semantik des Planetarischen in den Texten von Ernst Jünger und Gayatri Spivak (Michael Auer), dem Prinzip der Totalität (Achim Hölter) und konkreter dem Weltbezug in der französischen Kulturanthropologie und der spanischen Erzählliteratur (Kirsten Kramer) sowie dem globalen Narrativ des Klimawandels (Dominik Schreiber). Christian Moser nimmt in seinem Beitrag den Globus als "master trope" (25) in den Blick. Der Autor identifiziert am Beispiel des UN-Emblems den Globus zunächst als archaisches und imaginäres Konstrukt mit handlungsleitender Funktion im Sinne einer Anleitung zur Welterschließung. Darauf folgt eine historische Betrachtung kosmopolitischen Denkens, die den antiken Kosmopolitismus mit Kants imaginärer Geographie vergleicht. Der Autor stellt dabei eine Entwicklung hin zu einem In-Eins-Fallen von Erde und Welt und einem Abbau der natürlichen Grenzen auf der Erde fest und konstatiert eine Homogenisierung des Erdraums und der Rhetorik des Globalen. Aktuelle Globalisierungstheorien schließlich seien durch ein horizontalisierendes Denken geprägt, doch bleibe auch hier das Modell des Globus präsent, da Reflexionsfiguren zum Tragen kämen, die ihrer zirkulären Struktur wegen an den Globus erinnerten.

In der zweiten Sektion, überschrieben mit "Rekonzeptualisierungen von Weltliteratur", wird das Konzept der 'Weltliteratur' aus verschiedenen Perspektiven in den Blick genommen. Erhard Schüttpelz diskutiert Weltliteratur als Phänomen der longue durée. Dieter Lamping verdeutlicht die Konnotationen von 'Welt' im Begriff der 'Weltliteratur' und Joseph O'Neil fragt, ob in geopolitischer Hinsicht 'Welt' als Nomos oder Medium zu verstehen sei. An Michel Le Bris Manifest "Pour une littérature-monde en français" (2007) diskutiert Bernd Blaschke den Versuch, die Differenz von frankophoner und französischer Literatur zu überwinden. An die damit geschaffenen Problemfelder schließen Überlegungen zu den gegenwärtigen Aufgaben der Komparatistik an. David Damrosch geht in seinem Aufsatz auf Kritik an der paradigmatischen Öffnung der Komparatistik zum Globalen ein, um die These zu vertreten, dass das wiederauflebende Interesse an Weltliteratur kein Gegenentwurf, sondern vielmehr eine sinnvolle Fortschreibung der Geschichte der Komparatistik sei. Vorteile dieser Öffnung sieht er unter anderem darin, dass nun Sprachen und Literaturen kleinerer Diffusion verstärkte Aufmerksamkeit zuteil werde und dass das Englische als lingua franca des globalen Wissenschaftsbetriebs dem Eurozentrismus entgegenwirke. Die Konfrontation mit im Zuge dieser Öffnung und Erweiterung auftretenden sprachlichen und disziplinären Grenzen liefert für Damrosch den Anstoß zu einer disziplin- und nationenübergreifenden Kooperation im Bereich der Komparatistik, die er zur Weiterentwicklung der Disziplin für unabdingbar hält.




PhiN 72/2015: 65


Die dritte Sektion nimmt "Poetiken des Globalen" unterschiedlicher epochaler und geographisch-kulturräumlicher Provenienz in den Blick. Untersucht werden neben Werken des 19. bis 21. Jahrhunderts Texte der Antike und des Mittelalters und kulturelle Einflüsse mehrerer Kontinente: Frederike Felcht liest Hans Christian Andersens Det nye Aarhundredes Musa (1861) als globale Hymne; Ulrich Ernst unternimmt eine Relektüre von Eugen Gomringers Manifest vom vers zur konstellation und David Damroschs zweiter Beitrag für den Band entwirft Weltliteratur als transmediales Panorama. In ihren Überlegungen zur visuellen und akustischen Konkreten Poesie brasilianischer und französischer Provenienz indiziert Beatrice Nickel Möglichkeiten für eine Internationalisierung der Literatur. Diese bestünden in Bezug auf die Konkrete Poesie zum einen in einer radikalen Reduktion nationalsprachlich codierter Zeichen und zum anderen in einem Verzicht auf das sprachliche Zeichen als solches. Auf einen Überblick zu theoretischen Positionen der in dem klar gegliederten Aufsatz in den Blick genommenen Vertreter der brasilianischen Gruppe Noigrandes und des französischen Dichters Pierre Garnier folgen detaillierte, gut nachvollziehbare Analysen einzelner Gedichte, die auch intermediale Komponenten berücksichtigen. Hier verweist die Autorin neben der nahezu universalen Rezipierbarkeit der Gedichte auch auf kulturspezifische Inhalte, so etwa auf ein Fortschreiben der christlichen und speziell französischen Tradition des Liliensymbols bei Garnier oder das Verarbeiten sozialer Missstände in Brasilien in Avelino de Araújos Apartheid Soneto (1988). Es gelingt der Autorin anhand ihrer Analysen aufzuzeigen, dass der globale Charakter der Konkreten Poesie nach 1945 nicht nur an der nationalen Herkunft ihrer Vertreter augenfällig wird, sondern vor allem – gemäß der genannten Strategien zur Internationalisierung – polysemantische Deutungen befördert und damit an den Gedichten selbst zutage tritt.

Die gattungspoetologisch orientierte vierte Sektion konzentriert sich auf "Weltgenres" verschiedenster Epochen: Dantes Divina Commedia versteht Karl Maurer als Weltgedicht, das barocke Welttheater untersucht im deutsch-spanischen Vergleich Joachim Harst. Kristina Mendicino analysiert einheitsstiftende Funktionen des epischen und republikanischen Tanzes bei Homer, Rousseau und Goethe, und Martin Götze diskutiert die Frage nach der Welthaltigkeit von Lyrik. Alexander Nebrig nimmt eine weltliterarische Deutung der von Herder begründeten Gattung des Volksliedes vor. Der Umstand, dass die Gattung auf Rezipientenseite zur Abgrenzung der Nationen instrumentalisiert wurde, stellt nach Nebrig eine Verkehrung des ursprünglich universalen Anspruchs Herders dar. Nebrig kontextualisiert zunächst Herders Rolle als Fürsprecher des Universalen und des Nationalen. Er verweist auf die geistesgeschichtliche Konstellation der Aufklärung, die neben neuen Freiräumen für nationales Denken auch einen neuen Universalismus ermöglicht habe, indem sie die Anthropologie als neue Verbindungsgröße setzte. Im Anschluss daran legt der Autor stichhaltig dar, welche Strategien Herder anwendet, um eine globale Perspektive auf die Poesie zu gewinnen und inwiefern das Volkslied bei ihm zum Medium der Raumaneignung und Welteroberung wird. Dass Herder die prinzipielle Egalität der Kulturen auf dem Feld der Poesie betont und im Lied alle Kulturen als Menschen und Brüder dargestellt findet, deutet Nebrig als progressiv und integrativ. Durch den Vergleich mit der erstmals von Dante praktizierten Suche nach einer neuen Einheitssprache zeigt Nebrig, dass Herder, anders als Dante, dafür eine literarische Gattung heranzieht und als Träger des Volkslieds nicht einen spezifischen politischen Raum, sondern vielmehr die ganze Menschheit und damit die ganze Welt versteht. Die angenommene universale Sprechsituation der Volkslieder, deren Überwindung des Musikalischen und Herders synthetisierende Übersetzungen wertet Nebrig als Indizien für eine Entzeitlichung der Gattung, die dazu diene, einen kohärenten Textraum zu schaffen, um die Welt der gesamten Menschheit lesbar zu machen.




PhiN 72/2015: 66


Er liest Herders Projekt als "Vorschlag, wie eine Poesie aussehen kann, die von der ganzen Menschheit ohne Rücksicht auf literarische Tradition und Bildung verstanden werden kann" (323), verweist aber auch auf dessen Konstruktionsmechanismen und utopischen Charakter.

Die fünfte Sektion des Bandes ist "Fiktionen des Globalen zwischen Weltbezug und Welterzeugung" gewidmet. Christine Ivanovic erschließt das Hannah Arendts Literaturanalysen zugrunde liegende Welt-Konzept. Der Weltbezug von sowohl moderner als auch postmoderner fiktionaler Prosa wird an Werken von Marcel Proust und Jorge Luis Borges (Barbara Ventarola), Hermann Broch, Georges Perec und Michal Ajvaz (Alice Stašková), Marlene Streeruwitz (Christiane Solte-Gresser) und Thomas Pynchon (Christian Sinn) mit unterschiedlichen Akzentsetzungen problematisiert. Eine Grundfigur von Welt- und Textschöpfung in der Lyrik illustriert Evi Zemanek in ihrer Lektüre der elemente. sonette des österreichischen Gegenwartslyrikers Franz Josef Czernin. Sie verweist zunächst auf die zweifache Globalität des Elemente-Modells, das der Konstruktion einer imaginären Totalität diene und als Weltschöpfungsmythos global verbreitet sei. Als literarischer Gegenstand seien die Elemente, deren Darstellung das Verhältnis des Menschen zur Natur erschließe, geeignet, die Natur als Ganzes zu veranschaulichen. Zudem fielen in literarischen Kosmogonien Welt- und Textschöpfung zusammen, da Text und Kosmos traditionell assoziiert würden. Auf eine detailliert recherchierte Darstellung antiker und mittelalterlicher elementarer Kosmogonien folgt eine Analyse der Sonette Czernins. Diese Gedichte stehen, so Zemaneks Lesart, in ihrer Gesamtheit für das Naturganze. Die Elemente befänden sich im Text in stetem Wandel und seien ästhetisch stark verfremdet. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass aufgrund der Inkonsistenz der Sprechsituation die Elemente teils selbst sprechen oder aber Mensch und Element verschmelzen. Dieses und andere Verfahren der Sprachschöpfung deutet die Autorin als eng mit poetischer Weltschöpfung verbunden, da es hier so scheine, als ob sich die Sprache selbst generiere und, wie die Natur, kontinuierlich erneuere. Die Wahl der romanischen Sonettform für dieses poetische Unterfangen wertet Zemanek nicht zuletzt aufgrund seiner zahlenkompositorischen und geometrischen Bauform, seiner traditionellen Funktion zur Vermittlung von Weltwissen und seiner globalen Verbreitung als gelungen. Berührungspunkte zwischen Elemente-Lehre und Sonettform sieht die Autorin in deren charakteristischen Zahlenverhältnissen und in einem kombinatorischen Moment, das sich bei Czernin in der Korrelation der vier Urstoffe mit Lexemen und Phonemen zeige, die in seinen Sonetten immer neue Verbindungen eingingen. Diese schlüssige Analyse eines höchst hermetischen Werkes zeigt interessante Analogien zwischen nur scheinbar gänzlich unterschiedlichen Diskursen und liefert Einblick in eine ungewöhnliche und eindrucksvolle Strategie der poetischen Welterzeugung.

Im Rahmen der sechsten Sektion stehen 'literarische Repräsentationen von Globalität und Globalisierung' im Zentrum. Dabei ist die Dialektik der Globalisierung, die Dolf Oehler in seinem Beitrag analysiert, vielen Texten eingeschrieben; reflektiert werden auch die literarischen Bedingungen, Globalität zu denken, so am Beispiel von David Mitchells Ghostwritten (Nina Peter), sowie die ethische Verantwortung von Schriftstellern, die wie Hans Christoph Buch und Nick McDonell Globalisierungsphänomene kritisch erfassen (Anne-Rose Meyer). Mit episodenhaftem Erzählen in Literatur und Film der Gegenwart setzt sich Claudia Schmitt auseinander. Ihr Beitrag konzentriert sich insbesondere auf die Frage, ob diese Art des Erzählens Ausdruck einer Weltsicht sei, die nur in Momentaufnahmen eine Möglichkeit der Realitätserfahrung sieht und fragt zudem nach Sinnerzeugungsstrategien und dem Moment des Zufalls in den betrachteten Texten und Filmen.




PhiN 72/2015: 67


Aus einem internationalen Vergleich episodenhaft angelegter literarischer Werke geht hervor, dass diese Texte dadurch, dass sie erst in der Summe ihrer Teile ihre volle Bedeutungsfülle entfalten, keine ausschnitthafte Weltwahrnehmung artikulieren, sondern vielmehr dem Leser Anreize bieten, den Zusammenhang zwischen Ereignissen wiederherzustellen. Anhand dreier Filme aus den 1990er und 2000er Jahren werden zudem verschiedene Ausprägungen episodenhaften filmischen Erzählens identifiziert. Die Autorin folgert aus der Betrachtung der verschiedenen Beispiele, dass episodenhafte Filme und Texte der Gegenwart das Bedürfnis nach Sinn und Kohärenz nur zum Teil befriedigen und den Rezipienten dazu anhalten, eigenständig abstraktere Zusammenhänge herauszuarbeiten.

Die siebte Sektion des Bandes befasst sich mit verschiedenen Arten und Weisen, in denen die Literatur die mediale Verfasstheit und Vermitteltheit der Erfahrung von Globalität und Globalisierung reflektiert. Beispielhaft zeigt dies Monika Schmitz-Emans in ihrer Betrachtung der literarischen Beschreibung hybridkultureller Bildwelten in drei Texten von Orhan Pamuk auf. Text und Bild stehen auch im Zentrum des Beitrags von Frauke Bolln, der das Verhältnis von Welt und Provinz in Werken der Autorin Dorothee Elmiger und des Malers Stefan Ettlinger untersucht. Kirsten von Hagen analysiert am Beispiel zweier Romane von Daniel Kehlmann und Giulio Minghini Weltwahrnehmung und -konstruktion im Zuge der zunehmenden Medialisierung des Alltags. Arndt Niebisch untersucht in seinem Beitrag Medienzusammenbrüche und posthumanes Erzählen in Jules Vernes Michel Strogoff. Der Autor betrachtet auch weitere Romane Vernes und versteht deren Narrative als posthuman, da sie seiner Lesart nach nicht von Individuen, sondern von technischen Systemen erzählen. Einen kommunikationstheoretischen Ansatz anlegend, sieht der Aufsatz im Telegrafensignal als Weltverkehr den eigentlichen Helden, dessen Anonymität sich der menschliche Protagonist in seiner Rolle als Bote annähere. Der Autor begründet dies unter anderem damit, dass die menschlichen Charaktere meist keine Entwicklung durchliefen, sondern sich der Struktur von Nachrichten anpassten, die durch die Kommunikationskanäle der Moderne zirkulieren. Sie würden, so die These, erst dann zu Helden, wenn die medialen Infrastrukturen zusammenbrechen, wobei die Figuren permanent darum bemüht seien, in der technischen Infrastruktur zu verschwinden: "Was aus den Narrativen verschwindet, ist der Mensch und was in den Blick gerückt wird, ist die Welt als ein Netzwerk von Konnektivitäten und Routen" (493).

Routen und Karten spielen auch in der Sektion "Geographie – Kartographie – Geopoetik" eine tragende Rolle. Angela Osters Beitrag fokussiert den Zusammenhang von Globalität und Globus und konzentriert sich dabei auf Technikfaszination und Kunsthandwerk der Globographie in der Frühen Neuzeit. Simon Harveys Aufsatz präsentiert Überlegungen zu einer topologischen Kartographie und zu deren Vorläufern in den Künsten. Der inhaltlich dichte und anregende Aufsatz von Dana Bönisch widmet sich ebenfalls dem Phänomen des mapping und untersucht es hinsichtlich seiner möglichen Anschlussfähigkeit an künstlerische Praktiken, namentlich Videokunst und Literatur. Unter mapping versteht die Autorin im Anschluss an Frederic Jamesons Konzept des cognitive mapping eine im Gegensatz zur starren Repräsentation stehende prozessuale Praxis, die auch Strukturen, welche sich der Abbildung entziehen, sichtbar zu machen sucht.




PhiN 72/2015: 68


Anhand zweier Beispiele, die sich auf Inhalte konzentrieren, die die klassische Kartographie der Welt ausschließt, zeigt Bönisch, dass derartige Karten eine Agenda des Sichtbarmachens, nicht aber durchgängige Lesbarkeit anstreben: "Wenn die geographische Karte traditionell das Unbekannte benennt, arbeitet die künstlerische Praxis des mappings […] [an] der Wiederherstellung von Uneindeutigkeiten, dem Sichtbarmachen widersprüchlicher Subjektivitäten und Prozesse" (559). Diese angestrebte Spannung zwischen Totalität und Positionalität zeigt die Autorin in schlüssiger Interpretation am Projekt B-Zone der Videokünstlerin Ursula Biemann. Sie legt dar, dass es derartigen Videoarbeiten um eine 're-complication', eine Darstellung von Beziehungsgeflechten, die sich aufgrund ihrer Komplexität einfachen Darstellungsmodi entziehen, gehe und dass die Arbeiten diese Praxis auf Bilder und Räume des Globalen anwendeten. In Bezug auf Biemanns Arbeiten versteht Bönisch unter 'Rekomplizierung' des Räumlichen das erneute Befassen mit dem Raum, eine Reflexion der Gemachtheit der Bilder und eine Absage an einfache Markierungen von Identität, da hier Migrationsprozesse als Mikrogeopolitik dargestellt würden. Videogeographien, so folgert Bönisch, arbeiten "gegen totalisierende Narrative 'der (einen) Welt' und gegen solche Positionen, die Globalisierung vereinfachend mit der Figur der freien Zirkulation beschreiben" (562). Abschließend definiert Bönisch das Konzept der Geopoetik als rekomplizierendes und situierendes Schreiben des Globalen und befragt es auf seine Anwendbarkeit im Bereich der Literaturwissenschaft. Literarische Geopoetik funktioniert für Bönisch in Analogie zum mapping – sie verbinde Bewegung, Raumproduktion und situiertes Wissen und lese die nicht kartierbare Komplexität des Raumes mit.

Im Rahmen des Themenbereichs "Weltwissen, Weltdiskurse, globale Zirkulation" stellt Ulrike Kruse Modi der Weltdarstellung und Welterklärung in der frühneuzeitlichen Ökonomikliteratur vor. Möglichkeiten literarischer Reaktionen auf Phänomene globaler Zirkulation zeigen Beiträge zum Welthandel in einem Märchen von Musäus (Andreas Beck), zur Rolle der technischen Fortbewegung im transnationalen Literaturdenken des frühen 19. Jahrhunderts (Peter Goßens) sowie zur Thematisierung der globalisierten Warenwelt und Konsumkultur bei Flaubert (Uwe Lindemann). Das Verhältnis von Weltbezug, Welterzeugung und 'Welthaltigkeit' im Spannungsfeld von Fiktion und historischer Realität, von Welt und Archiv, steht im Zentrum von Keyvan Sarkhoshs Überlegungen zu Kubricks Napoleon-Projekt. Das Phänomen der Weltausstellung schließlich wird aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet: Simone Sauer-Kretschmer liest dessen Thematisierung im ersten Teil von Ödön von Horváths dreiteiligem Roman Der ewige Spießer hinsichtlich seiner Inszenierung von Welt und ihren Grenzen. Nicole Pöppel analysiert auf fruchtbare Weise publizistische und literarische Diskurse zu den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts und deutet die Exposition als Schreibstätte des Globalen. Anhand eines Vergleichs eines Märchens von Andersen mit Reportagen des französischen Schriftstellers Jean Lorrain zeigt Pöppel auf, dass die Expo-Besuche eine spezifische Bildlichkeit und Darstellungsweisen befördern, die zwar auf eine globale Realität verweisen, zugleich aber auf phantastische Kategorien und Genres oder aber fiktionale Reisereportagen Bezug nehmen. Im Zuge des Weltausstellungsdiskurses werde zudem deutlich, dass die Expositionen einen raumzeitlich verdichteten Wahrnehmungsraum generierten, innerhalb dessen die divergenten Aspekte globaler Erfahrungen zu einem synästhetischen Gesamteindruck vereint würden. Neben idealisierenden Positionen verliehen andere Schriften, so etwa ein kritisch-humoristischer Essay von Gaston Bergeret, einer zur Jahrhundertwende hin zunehmenden Expo-kritischen Skepsis Ausdruck, die die Kluft zwischen Ideal und weltpolitischer Realität aufzeige und in der Repräsentation der Weltkulturen auf den Ausstellungen vielmehr den Anschein reiner Konsumkultur erblicke.




PhiN 72/2015: 69


Dieser Befund lässt die Autorin folgern, dass die Expos des 19. Jahrhunderts nicht nur Bilder des 'Anderen' formten, sondern auch einen globalen Kommunikationsraum schufen, wobei ihre Verfahren zur Weltmodellierung selbst zum Gegenstand des Diskurses wurden.

Im Rahmen der zehnten Sektion, die der Verhandlung kultureller Differenz im Spannungsfeld von Globalität und Lokalität gewidmet ist, befasst sich Elke Brüggen mit der Narrativierung von Kulturkontakten in Wolframs von Eschenbach Parzival. Michael Bernsen interpretiert Gérard de Nervals Begegnung mit dem Orient als Globalisierungsschub der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Das Verhältnis von Globaliltät und Lokalität untersuchen sowohl Christian Luckscheiters Ausführungen zu Peter Handkes Topographien als auch Marc Mauforts Untersuchungen zu Canadian and Australasian Performances of Indigeneity in an Age of Globalization . Maufort bezieht sich in seiner vergleichenden Studie dreier Dramen, die sich thematisch an Aspekten der Geschichte und Gegenwart indigener Gesellschaftsteile in Kanada, Australien und Neuseeland orientieren, auf David Damroschs Konzept der "refraction". Damrosch zufolge entspringt Weltliteratur einer doppelten Brechung, da sie neben ihrer Herkunftskultur auch von der der Rezipienten beeinflusst sei (Damrosch 2003: 283). Maufort konstatiert für die Texte eine Brechung westlicher dramatischer Traditionen durch indigene Sprachen und Stoffe, die zu einer hybriden Ästhetik beitrage, innerhalb derer Elemente einer westlichen postmodernen Ästhetik, wie Intertextualität und historiographisches Metadrama, mit indigenen Mythen und kulturellen Praktiken kombiniert würden. In Kevin Lorings Where the Blood Mixes (2007), einem Drama über die Unterdrückung der indigenen Kultur, fokussiert Maufort Elemente des magischen Realismus und einen strategischen Einsatz der indigenen Sprache. Er liest die Gestaltungsweisen dieses historiographischen Metadramas als Brechung westlicher dramatischer Linearität. Ein ebenfalls strategischer Einsatz von Intertextualität entdeckt er in Wesley Enochs Black Medea (2000), das den Medea-Stoff überschreibt, indem es ihn im postkolonialen Australien ansiedelt. Elemente des magischen Realismus liest Maufort auch hier als Infragestellung westlicher Realitätswahrnehmungen. Das Drama Urban Hymns (2009) der Maori-Autorin Miria George kombiniert den neuseeländischen Schöpfungsmythos mit den Ereignissen der Wirtschaftskrise, was Maufort folgern lässt, dass das Stück zwischen Globalität und Lokalität verhandle. Mauforts Studie stellt eine differenzierte und schlüssige Untersuchung ästhetischer Strategien indigener Dramatiker dar und arbeitet präzise heraus, inwiefern die genannten Gestaltungsstrategien einem Gefühl des Zwischen-den-Fronten-Stehens vermittels hybrider Ästhetik Ausdruck verleihen und sich einer westlichen kulturellen Hegemonie entgegenstellen.

Wie die hier präsentierten Schlaglichter zeigen, wird der Band durch die reichhaltige Auswahl an Aufsätzen seinem eingangs erläuterten, hohen selbstgestellten Anspruch durchaus gerecht. Positiv ist zur Auswahl der analysierten Artefakte insbesondere zu vermerken, dass neben vergleichsweise kanonischen literarischen Texten auch weniger intensiv erforschte Werke, Gattungen und Genres, traditionelle und neue Medien sowie Produkte der Populärkultur in den Fokus rücken. Die hier vorgenommenen Re-Analysen kanonischer Texte und das Heranziehen vergleichsweise peripherer Kulturprodukte, die dem Spektrum der Forschungsgegenstände nicht-westliche Akzente hinzufügen, lösen das Versprechen ein, die Komparatistik in der Auswahl ihrer Forschungsgebiete zum Globalen hin zu öffnen.




PhiN 72/2015: 70



Bibliographie

Kochanowska-Nieborak, Anna / Płomińska-Krawiec, Ewa (Hg.) (2012): Literatur und Literaturwissenschaft im Zeichen der Globalisierung. Themen – Methoden – Herausforderungen. Frankfurt a.M.: Peter Lang.

Damrosch, David (2003): What is World Literature?. Princeton: Princeton University Press.


Anmerkungen

1 Vgl. hierzu beispielsweise das in der Einleitung erwähnte Graduiertenkolleg zu "Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung" an der Ludwig-Maximilians-Universität München (vgl. 15, Anm. 11), eine vom Deutschen Literaturarchiv Marbach für 2015 geplante internationale Doktoranden-Sommerschule zum Thema "World Literature, Global Archives" (vgl. [http://www.dla-marbach.de/service/stipendienprogramm/internationale-sommerschule-2015/, 27.2.2015]) oder den von Anna Kochanowska-Nieborak und Ewa Płomińska-Krawiec (2012) herausgegebenen Sammelband Literatur und Literaturwissenschaft im Zeichen der Globalisierung. Themen – Methoden – Herausforderungen (Kochanowska-Nieborak 2012). Dieser Band fokussiert insbesondere den Menschen und die Dimensionen der Globalisierung in der zeitgenössischen Literatur, Aspekte der Interkulturalität und die Literaturvermittlung im Zeitalter der Intermedialität. Parallelen sind in Teilen zu vermerken, doch deckt der hier besprochene Sammelband ein breiteres thematisches Spektrum ab.