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Eric Baudner / Giulia Ghionzoli / Julia Vomhof (Düsseldorf)



Charlotte Krauss / Urs Urban (Hg.) (2013): Das wiedergefundene Epos. Inhalte, Formen und Funktionen epischen Erzählens vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. L'épopée retrouvée. Motifs, formes et fonctions de la narration épique du début du XXe siècle à l'époque contemporaine. Berlin: LIT Verlag.



Das Epos – ein wiedergefundener Schatz: Überblick

Denkt man an die klassische Tradition des Epos, mag es zunächst verblüffen, dass 2013 ein zweisprachiger, nämlich deutsch-französischer, Sammelband mit dem Titel Das wiedergefundene Epos erscheint, zumal der Untertitel Inhalte, Formen und Funktionen epischen Erzählens vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute den Fokus explizit auf zeitgenössische Werke legt. Denn Aktualität und Epos zusammen zu denken, scheint aufgrund ihrer zunächst widersprüchlich erscheinenden Konnotationen nicht ohne weiteres möglich. Dessen ist sich auch das vorliegende Werk, herausgegeben von Charlotte Krauss und Urs Urban, bewusst, und stellt demgegenüber die These auf, dass ebendiese Termini "Aktualität" und "Epos" zusammen zu denken sind.

In der Auseinandersetzung mit Inhalten, Formen und Funktionen epischen Erzählens des 19. und 20. Jahrhunderts zeige sich, so die Herausgeber, dass in der ästhetischen Theorie ebenso wie im kollektiven Diskurs dieser Zeit die europäische Tradition des Epos eine unumgängliche und populäre Bezugsgröße bleibt. Es lässt sich nun eine Öffnung dieses Genres hin zu neuen ästhetischen, politischen und anthropologischen Zusammenhängen feststellen. Im 20. Jahrhundert prägen gesellschaftspolitische Gewalterfahrungen eine Neukonzeption epischen Erzählens und spielen eine relevante Rolle für die Persistenz, aber auch die Entwicklung und Wandlung der Gattung. Die historischen Krisenerfahrungen machen neue Formen des Erzählens erforderlich, die von der ungebrochenen Faszinationskraft des Epischen berührt werden (vgl. 10). Das Epos macht sich im 20. Jahrhundert außerdem das neue Medium des Films zu eigen: Als totalisierende Erzählstrategie vermag es, eine Darstellungsweise zu entwickeln, die auf die Wirklichkeit einer und die Bedürfnisse in einer globalisierten Welt reagiert (vgl. 11). Diese Art von "Episierung" entspricht der Einschreibung des Epos in die Gesellschaft bzw. in die Geschichte. Zu diesem Zweck versammelt der vorliegende Band vornehmlich induktive Analysen, die von literarischer, filmischer oder theatraler Produktion ausgehend neue Lesarten und Rezeptionsmöglichkeiten des Epischen anbieten.




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Schon bei einem ersten Überblick über die versammelten Aufsätze ist bemerkenswert, wie der Eposbegriff frei von starren Genredefinitionen gehandhabt und dadurch äußerst produktiv gemacht wird. Das Anliegen der Beiträge ist es, "nach den Bedingungen zu fragen, unter denen seit Beginn des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen kulturellen Kontexten als Epos konzipierte Texte erarbeitet werden, und andererseits die Persistenz der formalen und funktionalen Besonderheit des Epos bzw. des Epischen zu beleuchten" (11f.). Dem werden die Autoren in der Vielfalt der angebotenen Antworten durchaus gerecht, wenn sich der Leser auch mitunter eine Begründung für die gewählte Anordnung der Beiträge wünschen würde. So wechseln sich literarische Analysen mit solchen von Filmen und theatralen Produktionen ab, ohne dass eine zwingende Struktur des Bandes ersichtlich würde.

Zu den einzelnen Beiträgen

Aufgrund der Fülle von Beiträgen sollen im Folgenden einige Aufsätze ausführlicher beleuchtet werden, die sich 1) durch eine gemeinsame Fragestellung auszeichnen, und 2) einen exemplarischen Einblick in das breite Themenspektrum des Sammelbandes ermöglichen.

So setzen sich Solveig Kristina Malatrait und Saulo Neiva auf je eigene Weise mit der Frage auseinander, wie ein anderes als das epische Genre, nämlich die moderne Dichtung, oder gar ein anderes Medium, nämlich der Film, mit dem literarischen Epos umgehen.

Der Frage nach der Rolle des Epos in der modernen Dichtung geht Saulo Neiva in seinem Aufsatz mit dem Titel "Das rehabilitierte Epos? Die Einordnung eines 'toten' Genres in das Spannungsfeld der Dichtung des 20. Jahrhunderts" nach, in dem er die Versdichtung von Derek Walcott und deren zwiespältiges Verhältnis zur literarischen Tradition untersucht. Er diagnostiziert zum einen die Notwendigkeit eines dynamischen Epos-Begriffs, der den Transformationen der Gattung durch die Jahrhunderte hinweg gerecht wird. Zum anderen betont er, dass jeder Einordnung moderner Literatur in die epische Tradition eine gewisse Spannung inhärent ist – der Tatsache geschuldet, dass das Epos nicht nur ein veraltetes, sondern ein totgesagtes Genre ist. Mit diesen beiden Aspekten öffnet der Autor die zentrale Diskussion über das Verhältnis zwischen Epos und Moderne, die neben Walcotts Omeros ebenso Dichtungen etwa von Pound, Neruda und Pessua behandelt. Neiva wagt sich auf unwegsames Terrain vor, wenn er einerseits eine Konzeption von epischer Dichtung fordert, die sich durch Dynamik, Flexibilität und damit Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse der Moderne auszeichnet. Andererseits betont er, dies dürfe keinesfalls eine weniger präzise Definition des Epos, die dem Verdacht der Beliebigkeit ausgesetzt wäre, zur Konsequenz haben. Um zu vermeiden, dass jede Heldendichtung leichtfertig als dem Epos zugehörig klassifiziert werden könne, sei eine "gehörige Dosis konzeptioneller Strenge" (58) vonnöten. So stellt er das Nebeneinander von der für das Epos charakteristischen Länge und das Fragmenthafte des Erzählens, wie Neiva es für die Moderne als paradigmatisch erachtet, heraus.




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Neiva kommt zu dem Schluss, in modernen epischen Texten sei eine Aktualisierung einiger traditioneller Charakteristika des epischen Genres erkennbar, etwa die homerischen Hexameter, das Überlagern von mehreren Mikrogeschichten, das Aufgreifen klassischer Motive oder ganz vordergründig die Namen – Achilles oder Hektor – der Protagonisten in Walcotts Werk Omeros, die dem Rezipienten gleichermaßen ein Wiedererkennen epischer Elemente ermöglichen wie auch eine Modifikation ihrer Funktionen sichtbar machen. Über die Betonung dieser Doppelbewegung von Überlieferung bei gleichzeitiger Veränderung der epischen Merkmale versucht Neiva die Rehabilitierung des totgesagten Genres. Einerseits zeichnet sich in modernen epischen Texten wie denen von Neruda, Pound oder Césaire die Weitergabe der epischen Tradition durch die Vermittlung zwischen epischem Repertoire und zeitgenössischen Tendenzen ab; andererseits vermögen sie, die Vorstellung vom Epos als Genre zu modifizieren und zu erneuern. Genrecharakteristika werden beibehalten und ermöglichen eine Identifizierung von Seiten des Lesers, wenn sie auch gleichzeitig aktualisiert werden im Sinne einer Reaktivierung. Dies impliziert eine Modifikation ihrer Bedeutung und Funktion. Erst, wenn man diese berücksichtigt, könne man der dichterischen Produktion des 20. Jahrhunderts gerecht werden.

Insgesamt stellt Neiva überzeugend fest, die Rehabilitierung der epischen Gattung könne allein im Sinne eines prozesshaften Dialogs mit dem traditionellen Genrecode sein, der sowohl seine Bewahrung als auch seine Veränderung mit sich bringen kann, an Stelle des Versuchs einer bloßen, unhaltbaren oder auch nur vermeintlichen Rückkehr zum antiken Epos als starrem Konstrukt. Man hätte sich allerdings eine dichte Lektüre des Untersuchungskorpus sowie konkrete Textbeispiele für das Auftreten epischer Elemente gewünscht, die die luzide Auseinandersetzung des Autors mit der für die moderne Dichtung relevanten Frage nach dem Verhältnis von Epos und Moderne mit Textpassagen untermauert hätte, vor allem aber anhand deren der Leser die in der Literatur des 20. Jahrhunderts präsente und virulente – so Neiva – Wiederaneignung bei gleichzeitiger Transformation von typischen epischen Elementen in kurzen Werkpassagen durch Wiedererkennen tatsächlich hätte beobachten können.

Noch einen Schritt weiter in ein anderes Medium hinein, nämlich den Film, wagt sich Solveig Kristina Malatrait. In ihrem Aufsatz mit dem Titel "L'epopée à l'encre de lumière. Héros, collectif et violence dans l'epopée cinématographique" untersucht sie, ob im aktuellen Film klassische Epen zu sehen sind, genauer gesagt: wie das Medium Film epische Stoffe umzusetzen vermag, die einerseits auf einer antiken Vorlage basieren und gleichzeitig Zeichen ihres Produktionszeitpunkts tragen. Hierbei geht Malatrait von einem Epos-Begriff aus, der sich u.a. über die folgenden Genrecharakteristika definiert: Zentralstellung eines Helden oder Heldenkollektivs, das die Rolle des Protagonisten einnimmt; eine schier unlösbare Aufgabe, die es zu bewältigen gilt sowie ein Erzählstil, der sich nicht nur durch eine totalisierenden Perspektive auszeichnet, sondern den Akt der Narration selbst inszeniert.




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Ausgehend von der Frage, ob epischer Film und epischer Text in verschwisterter oder konkurrierender Beziehung stehen, ob ersterer Erbe, Nutznießer, ja Thronräuber der Literatur sei, untersucht Malatrait Filme wie Troja von Regisseur Wolfgang Petersen und verschiedene Produktionen von Jason und die Argonauten, die ihren Stoff den antiken Epen entnehmen. Um dem Verhältnis, in dem Film und Text zueinander stehen, auf die Spur zu kommen, betrachtet Malatrait den Helden in seiner Relation zum Kollektiv sowie dem Publikum – seien dies Zuschauer oder Leser –; sodann untersucht sie das Setting des Films daraufhin, ob sich ein Aufgreifen des epischen Genrecodes feststellen lässt. Schließlich wird das Motiv des Krieges als paradigmatisch für epische Werke beleuchtet.

In Betrachtung zweier Adaptionen des Argonautenstoffes untersucht Malatrait die filmische Aktualisierung des antiken Helden unter der Frage, ob es im zeitgenössischen Film einen "authentischen antiken" (199) Helden geben kann. Wenn der Anspruch auf Authentizität nicht erfüllt wird, so liege das daran, dass sich das Ideal eines Helden entsprechend der jeweiligen Episteme verändere, die möglichst getreue Wiederzeichnung eines antiken Helden heutzutage also nicht mehr authentisch wirke. Vielmehr habe eine "Modernisierung" desselben die Funktion, eine Identifikation des Publikums zu ermöglichen, ist doch der Held – wenn auch in einer antiken Welt verortet – so doch im weitesten Sinne ein Altersgenosse der Zuschauer. Er vermag es also, den Zuschauer in die erzählte Zeit hinein zu versetzen und in seiner Person, die Antike (als Figur, die er verkörpert) und Zeitgenossenschaft (als potentielle reale Person) vereint, eine Brücke zu schlagen.

Das Epos zeichnet sich durch Fiktionalität aus, deren historische Situierung der Handlung, etwa durch Kostüme, Requisite oder Kulissen, eine so realistische Inszenierung erfährt, dass der Zuschauer das intendierte Erzählgerüst samt historischer und topographischer Einordnung begreift. Ein Übriges tut der Erzählstil, der die narratio selbst in Szene setzt, etwa wenn in Wolfgang Petersens Troja Achilles sagt: "They'll be talking about this war for a thousand years" (201). Des Weiteren wird dies erreicht durch Originalzitate, mündlichen Erzählstil oder einen metadiegetischen Bericht aus dem Off an Stelle einer bildlichen Umsetzung.

Das häufig auftretende Motiv des Kriegs, meist artikuliert in Kampf- oder Schlachtszenen, wird nicht nachträglich in die moderne filmische Fassung des Epos eingeschrieben, sondern finde sich, so Malatrait, per definitionem bereits im antiken Stoff, etwa der Ilias. Gewalt ist in der semantischen Struktur des kinematographischen Epos fest verankert und entbehrt auch nicht einer offensichtlichen Aktualität. So betont der Filmemacher Petersen, dass der in der Antike virulente Machthunger absolut zeitgemäß, gegenwärtig und real ist (205).




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Aus ihrer differenzierten Auseinandersetzung mit den Eigenheiten des epischen Genres, nämlich der Heldenfigur, der besonderen narratio und dem prominenten Motiv des Krieges, zieht Malatrait das plausible Fazit, der Film zeige das Bestreben, sich in die epische Tradition einzuschreiben. Ihre Schlussfolgerung allerdings, das kinematographische Epos erweise sich dank seiner besprochenen Merkmale als autoreferentiell, muss man nicht unbedingt ziehen.

In einem weiteren Themenkomplex betrachten die Aufsätze von Florence Goyet und Marta Boni die epische Produktion als politisches sowie soziales Phänomen, das sich aus der aktiven Rezeption des Publikums nährt.

In "Über die Bedingungen der Möglichkeit eines 'Neugründungsepos'" geht Florence Goyet der Frage nach, inwieweit epische Texte zu einer "neuen […] politischen Wirklichkeit" (32) beitragen und auf Lebenskonflikte sowie gesellschaftliche Krisen Antworten finden. Denn das Epos sei nicht als ein "Endprodukt" oder "Ausdruck bereits vorhandener, stabiler Werte" (31) zu betrachten, sondern "aufgrund der Konfrontation unterschiedlicher Standpunkte" (32) vielmehr als intellektuelles Werkzeug", das "epische Arbeit verrichtet" (ebd.). Ausgehend von den Merkmalen klassischer Texte, die auf eine gewisse Kontinuität mit einigen Werken aus der Moderne verweisen, skizziert Florence Goyet die Bedingungen für die Möglichkeit eines Neugründungsepos bzw. für eine (Re-)Aktualisierung dieses Genres. Nicht viel anders als der "aurale" Text (33) der Klassik, der aufgrund des ständigen Ausfüllens erzählerischer Leerstellen durch den Rezipienten immer aktuell war, hat auch die Populärliteratur der Moderne Aktualität, indem sie es ermöglicht, "das Reale zu problematisieren und seine einzelnen Elemente zur Darstellung zu bringen und in Bewegung zu versetzen, um eine andere Weltsicht auszuarbeiten" (37). Denn wie es Werke aus dem 19. und 20. Jahrhundert von Tolstoi, Sartre, Camus oder Tolkien deutlich zeigen, repräsentieren filmische sowie literarische Kult-Werke dieser Zeit, so Florence Goyet, den Ort, an dem sich die Rezipienten wiederfinden und an dem sie ihre Weltwahrnehmung verändern, sodass sie als solche zu Gesellschaftsphänomenen werden. Allerdings wäre nach Florence Goyet außer der Popularität auch der politische Charakter eine wichtige Bedingung für die Neugründung des Epos, die die Einschreibung dieses Genres in die Gesellschaft sowie seine Annährung an die Aktualität gewährleistet. Bereits klassische Epen wie z.B. das Rolandslied würden "Wahlmöglichkeiten, die den Umriss einer neuen politischen Welt vorzeichnen", aufzeigen (40). "Hinter dem Wettstreit der Figuren steht der Wettstreit, der agon, möglicher Welt" so Florence Goyet (ebd.). Die Darstellung politischer und ethischer Optionen, die zugleich eine Reflexion über aktuelle Problematiken ermöglicht, scheint für sie auch in Texten der Moderne präsent zu sein. Das Epos wäre somit – durch seine "Einschreibung in die Aktualität" – als politisches Phänomen zu betrachten, was Goyet am Beispiel von Tolstois Krieg und Frieden sowie von Tolkiens Herr der Ringe zeigt.




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Florence Goyet stellt fest, dass nicht nur die Behandlung politischer Themen, sondern vielmehr die Vielstimmigkeit der Texte eine wichtige Bedingung für die Re-Aktualisierung des Epos sei. Diese würden nämlich auf eine epische Arbeit hinweisen, die "aus einer Polyphonie erwächst, die alle Optionen einander gegenüber und in diesem Aufeinanderverwiesensein vor den Zuhörer hin stellt" (45). Nicht weniger als das Rolandslied und die Ilias öffnen Texte der Moderne eine politische Reflexion durch die Darstellung verschiedener politischer Möglichkeiten. Dies würde nun zur Negierung "a priori feststehende[r] Wertungen" (46) sowie zur Ablehnung der bestehenden Ordnung führen, die eine neue Art "des In-der-Welt-Seins und des Herangehens an das gesellschaftliche Leben" (49) führen würde, was Florence Goyet am Beispiel der Hobbits in Der Herr der Ringe verdeutlicht. Das Potential des Epos, auf die Bedürfnisse des Publikums zu reagieren, das Reale in mehrstimmigen Erzählungen zu problematisieren und zugleich eine politische Reflexion zu ermöglichen, gewährleistet eine unumstrittene Einschreibung dieses Genres in die Gesellschaft und ermöglicht zugleich die Negierung konstituierten Wissens zugunsten einer Neu-Gründung der (Wissens-)Ordnung durch das Erzählen selbst.

Der Frage nach dem Potential des Epos geht auch Marta Boni in "Cinéma italien contemporain et discours épique(s)" nach. Am Beispiel der populären italienischen Film- und Fernsehproduktion der letzten zehn Jahre stellt sie die Behauptung auf, dass das Epos eine gewisse Transmedialität auszeichne und dadurch zu einem sozialen Phänomen werde.

Anhand von Buongiorno, notte (M. Bellocchio 2003), L'affaire des cinq lunes (R. Martinelli 2003), Nos meilleures années (M. T. Giordana, 2003) u.a., die einen Blick auf die gesellschaftlichen und historischen Ereignisse von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart werfen, stellt Marta Boni fest, dass die filmische Produktion epische Momente zeigt, die zu einer kulturellen Gründungsfigur werden. Indem sie eine aktive Beteiligung der Zuschauer an der audiovisuellen Produktion voraussetzen, gelten die inszenierten geschichtspolitischen Geschehnisse auch aufgrund ihres performativen Charakters als epochemachende Ereignisse. Auf das Konzept "epischer Arbeit" von Florence Goyet zurückgreifend setzt die Autorin den Akzent auf eine Art von Rezeption "entendue comme une instance active, ayant une influence sur la composition du produit" (163). Marta Boni verweist also auf eine epische Erfahrung, die auf einer Doppeldynamik basiert: Zum einen werden die Rezipienten an die Vergangenheit und die Geschichte ihres Landes herangeführt. Zum anderen füllen sie diskursiv die Leerstellen aus, die die Filme hinterlassen. So zeigt etwa Romanzo Criminale (M. Placido 2005), dass das Epos als "forme en transition" zwischen verschiedenen Medien bzw. als eine Produktion gelten kann, in der mehrere kulturelle Prozesse entstehen, wenn sich die Zuschauer vor einem audiovisuellen Werk befinden. Diese Galaxie "où les films, les discours et les opérations que les spectateurs mettent en œuvre à partir des films, planètes et satellites à tour de rôle, gravitent les uns autour des autres, s'enrichissant d'apports réciproques" (164), sei als Prozess kultureller Gründung zu verstehen. Hierin liege die Begründung für die Auslegung des Epos als heuristisches Instrument, die es – nah am Konzept "epischer Arbeit" – ermöglicht, Film und Zuschauer zusammenbringen und somit dem Publikum eine wichtige Rolle in der epischen Produktion zu verleihen. Diese Doppeldimension des Epos, die interne (filmische) und die externe (anthropologische und soziale Hintergründe sowie Diskurse), ermöglicht also eine Aktualisierung und Wiederholung des "Alten" innerhalb neuer Orte. So wird das Epos ständig (re-)aktualisiert und zum "transmedialen" bzw. kulturellen Phänomen.




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Mit der Funktion des Epos als einer Art Realitätsflucht und Traumabewältigung beschäftigen sich schließlich unter anderem die Aufsätze von Marguerite Mouton und Urs Urban.

Die Frage nach der Genrezugehörigkeit von J.R.R. Tolkiens Le Seigneur des Anneaux (Der Herr der Ringe) befand sich lange Zeit im Zentrum zahlreicher Debatten. Marguerite Mouton stellt in ihrem Aufsatz "L'épopée tolkienienne, enjeux idéologiques et stylistiques" fest, dass abseits der bisherigen Einstufungen als Märchen für Erwachsene, Wiederauferstehung des mittelalterlichen Liebesromans oder als Fantasy bisher überraschend wenig Interesse daran bestand, Le Seigneur des Anneaux dem Genre des Epos zuzuordnen. Den etwas zu sorglos aus dem Englischen übernommen Terminus epic hält sie dabei für wenig fruchtbar (vgl. 79f.). Der Aufsatz schlägt einen überraschenden Weg ein, da Mouton die Autorintention nachzuzeichnen versucht: "[I]l s'agit de considérer ce que Tolkien dit du Seigneur des Anneaux lorsqu'il le désigne comme une épopée, pour pouvoir examiner ensuite en pleine connaissance de cause ce qu'il fait effectivement de son œuvre” (80f.). Mouton zeigt dann anhand einer Korrespondenz zwischen Tolkien und seinem Verleger, dass der Autor selbst unschlüssig über ein übergeordnetes Genre für seine Erzählung war.

Dass Tolkiens Werk diverse zeitgeschichtliche Allegorien unterstellt wurden, ist nichts Neues. So wurde unter anderem der Ring in der Erzählung als Verweis auf die Atombombe gesehen, während das Königreich des Antagonisten Sauron – Mordor – mit Nazi-Deutschland während des zweiten Weltkriegs in Verbindung gebracht wurde. Diese Verbindungen, die sämtlich von Tolkien zurückgewiesen wurden, lässt auch Mouton nicht gelten (vgl. 83). Stattdessen stellt sie über den Bezug sowohl zum Beowulf-Epos als auch zur biblischen und homerischen Tradition fest: "Certains ont pu voir dans ces souvenirs littéraires, dans lesquels puise Tolkien, une lutte de sa part pour s'arracher à la réalité: l'auteur préfère s'inspirer de batailles anciennes et éloignées que des combats tranchées ou de la guerre atomique" (85). Le Seigneur des Anneaux zeigt sich so als Epos zweiter Ordnung, das über den Umweg über seine Bezüge zu früheren Epen zeitgeschichtliche Bezüge aktiviere. So erscheint Le Seigneur des Anneaux für Marguerite Mouton als ein Refugium des Imaginären (vgl. 86), wenngleich diese Einordnung komplexer ist, als es zunächst den Anschein hat. Denn Le Seigneur des Anneaux biete dem Leser die Faszination des Mythischen, ohne ihn zu einer kompletten Realitätsflucht zu zwingen (vgl. 88). So bleibt letztlich nur die Frage offen, warum sich Marguerite Mouton zur Feststellung dieser Ergebnisse bereitwillig auf das Feld der Autorintention begibt. Dies wirkt in einer Zeit, in der die Literaturwissenschaft darauf konditioniert ist, den Autor mit äußerster Skepsis zu beäugen, nicht nur arglos, sondern lässt auch die Frage unbeantwortet, ob das Werk selbst nicht ebenso Auskunft hätte geben können.




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Urs Urban, der in seinem Aufsatz "Die Renaissance des Epic-Films nach dem 11. September 2001" untersucht, stellt die These auf, dass sich ein enger Zusammenhang zwischen den für die USA traumatischen Ereignissen und neuen Modalitäten des Erzählens beobachten lasse. So diagnostiziert er zunächst, dass das eigentliche Trauma nicht im Angriff auf das World Trade Center bestand, sondern darin, dass der Feind "nicht länger eindeutig zu verorten [sei] – und gerade aus dieser Uneindeutigkeit erwächst die Permanenz der Bedrohung" (177). Seine politische Analyse setzt er wie folgt fort: "Die politischen Akteure auf US-amerikanischer Seite aktivieren eine komplexitätsreduzierte Rhetorik, die suggeriert, der sogenannte postmoderne Relativismus habe nun ausgespielt; man habe gewissermaßen das Ende vom Ende der Geschichte erreicht und müsse, als das alte und neue Subjekt der Weltgeschichte, diese mehr denn je aktiv und im Sinne eigener Interessen gestalten" (177).

Vor diesem Hintergrund verweist Urban nun auf eine neue Konjunktur des Epic-Films, der 2004 mit Stones Alexander, Mel Gibsons The Passion of the Christ und Wolfgang Petersens Troy seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Im Folgenden steht so die Frage zur Beantwortung, was das spezifisch Neuartige an dieser Art des Epic-Films sei. Hierbei sieht Urs Urban davon ab, in seiner Analyse lediglich die Zugehörigkeit der von ihm untersuchten Werke zur Gattung des Epos anhand formaler Kriterien nachzuweisen (vgl. 183). Stattdessen stellt er die Vermutung auf, dass sich der Epic-Film des 21. Jahrhunderts als politische Allegorie lesbar machen lasse, und dass durch die Zuordnung zum Genre des Epic-Films eine "bestimmte politische Funktionalisierbarkeit der Filmerzählung zum Ausdruck komm[e]" (183).

Dies wird schließlich unter Zuhilfenahme von Zack Snyders Film 300 (2007) untersucht. Das auf einem Graphic Novel basierende und hochgradig ästhetisierte Werk über die heldenhafte Schlacht von 300 Spartanern unter der Führung des Kriegers Leonidas gegen eine Übermacht von Persern dient Urban zur Beobachtung zweier Punkte. Erstens wird durch die Spartaner vermittelt: "Der soldatische Mann – das soll hier deutlich werden – hat keinen zivilen Körper – er ist Leib und lässt sich mit Haut und Haaren bereitwillig dem übergeordneten militärischen Körper, dem Corps, einverleiben" (188). Demgegenüber stehen zweitens die Perser, die ausschließlich über den Mangel definiert werden (vgl. 188f.). Vor dem ausgestellten politischen Hintergrund läuft dies freilich nur auf eines hinaus: den "Triumph des Abendlandes über das Morgenland" (190). So sehr man auch über diese Instrumentalisierbarkeit von Zack Snyders Film debattieren kann, so schwer lässt sich Urs Urbans Argumentation von der Hand weisen. Über die vermeintliche Intention des Regisseurs zu spekulieren, wäre an dieser Stelle ohnehin müßig. So hebt sich dieser Artikel wohltuend von der oft gelesenen und halbgar argumentierten Kritik am Film ab, die sich in platten Faschismusvorwürfen erschöpft.




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Neben den eingehender betrachteten bietet der Sammelband weitere deutsche und französische Beiträge, die sich mit dem Verhältnis von Epos und Moderne auf je eigene Weise beschäftigen. So stellt Heiko Christians in seinen "Anmerkungen zur Kollektivierbarkeit der Arbeit am Epos" die These auf, das Epos als "Werk der Gemeinschaft" (18) sei letztlich mehr als Literatur – Christians bezieht sich dabei auf einen durch Kritik, Geschichtsschreibung und Politik geprägten Produktionsprozess. Anhand von Edgar Reitz' Film Cardillac diskutiert er den Versuch, den Film mittels kollektiver Produktion vom epischen Text zu lösen.

Neben der Analyse westlicher Produktionen geht Elena Langlais ("L'épopée universaliste. Une réevalutation de l'épique") am Beispiel indischer Texte der Frage nach, inwieweit diese Epen eine neue und modernere Produktion dieses Genres darstellen. Durch die Verletzung des klassischen Kanons und des konstituierten Wissens würden Aurobindo und Prasad in Savtiri und Kâmâyani eine Neubewertung des Epos zeigen, indem die Inszenierung neuer Werte politischen und gesellschaftlichen Problematiken eine Lösung anbiete.

Marco Thomas Bosshard beobachtet anhand zweier moderner Epen von Bruno de La Salle eine neue Performativität des Epos. Einer eingehenden Analyse metrischer, rhythmischer und musikalischer Strukturen, die in den Aufführungen La Salles mit der Erzählung eng verwoben erscheinen, schließt sich eine Diskussion über den vermeintlichen Tod des Epos zugunsten eines Siegeszuges des Romans an. Hier schlussfolgert Bosshard, dass eben diese These vom Tod des Epos aufgrund der vielfältigen und neuartigen Ausrichtung moderner Exemplare unhaltbar sei.

Sylvie Grimm-Hamen unternimmt eine Wiederbelebung des antiken Epos in Auseinandersetzung mit zwei österreichischen Gegenwartsromanen, die als "Postmoderne Spielarten des Epischen im österreichischen Gegenwartsroman" durch die Aktualisierung geschichtlicher Ereignisse und die Problematisierung von gesellschaftlichen Mythen die epische Tradition weiterschrieben.

Charlotte Krauss beschäftigt sich mit einem Epos gänzlich anderer Natur. Jonathan Littells hitzig diskutierte Bienveillantes, die den Holocaust aus der Perspektive eines SS-Offiziers als epische Erzählung präsentieren, werden hier zum Anschauungsgegenstand für die Genrefrage des Epos. Krauss spricht Les Bienveillantes davon frei, ein historischer Roman zu sein, der fälschlicherweise der Ungenauigkeit bezichtigt wurde. Stattdessen sieht sie die Schuldfrage in einer Interaktion zwischen dem als ungeheuerlich empfundenen Erzähler und dem Leser des Werks angelegt, welches somit die kleinliche Diskussion nach der Rechtmäßigkeit der Erzählung aushebele.




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Resümee

Zusammenfassend ist die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit einer zeitgenössischen Form eines Genres, die bisher wenig beachtet wurde, positiv hervorzuheben. Insofern schließt der vorliegende Sammelband eine lange bestehende Forschungslücke. Auffallend positiv ist zudem die Fülle der angebotenen Perspektiven, die nicht in Genredefinitionen verharrt. Zwar muss man dem Band anlasten, dass die darin versammelten Artikel das selbstgesteckte Ziel, Epos und Aktualität zusammen zu denken, nur mit wechselndem Erfolg erreichen. Aber das lässt sich in einem interdisziplinären Sammelband selten vermeiden. Auch die schwierige Orientierung innerhalb des Bandes bürdet dem interessierten Leser unnötigen Arbeitsaufwand auf. Ist man aber gewillt, diesen Aufwand zu leisten, hält Das wiedergefundene Epos eine Fülle von aufschlussreichen und tatsächlich neuartigen Sichtweisen auf den aus den Augen verlorenen, jedoch kostbaren und noch längst nicht abgeschlossenen Themenkomplex des Epos bereit. Die Schatzkammer epischen Erzählens ist geöffnet.