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Katerina Karakassi (Athen)



Notizen zum metonymischen Porträt und zur Sprache der Liebe
in Goethes Wahlverwandtschaften



Notes Concerning the Metonymic Portrait and the Language of Love in Goethe's Elective Affinities
The article examines the role of a small piece of jewelry, a miniature portrait, in the novel Elective Affinities by Johann Wolfgang von Goethe. It attempts to show that the portrait, in the way that is employed in the text, reflects the fictional discourse about love and the blindness of desire. Oscillating between the likeness and the idealization and being outside the frame of time, this portrait embodies that which love seeks: eternity. That this is but a desire that cannot be fulfilled is demonstrated not only by the adventures of the miniature but also by the tragic ending of the story that Goethe tells.


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"Verliebt ist man in das, was einem außer Sichtweite liegenden, aber in der Erinnerung anwesenden Ideal gleicht", notiert Julia Kristeva in Sprache der Liebe (Kristeva 1989: 258), indem sie auf die grundlegende Metaphorizität hinweist, die dem Liebesdiskurs zugrunde liegt. Zum genuin metaphorischen Feld wird nämlich die Liebe – so Kristeva – wegen ihres narzisstischen Fundamentes, auf dessen "Aura der Leere, des Scheins und des Unmöglichen"1 sich die Idealisierung des Liebesobjektes fußt. Die Ähnlichkeit oder die Analogie des Liebesobjektes mit dem Ideal dient dabei als Motivation und Berechtigung der Liebe, die sich somit als ein metaphorischer Akt entpuppt: die Sprache der Liebe gedeiht auf der behaupteten Homologie zwischen Liebesobjekt und Idealobjekt, um somit den der Liebe immanenten narzisstischen Solipsismus zu verschleiern und zu verdrängen.




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Indem aber der Liebesdiskurs die Differenzen zwischen Liebesobjekt und Idealobjekt systematisch übersieht und somit die Differenz durch Gleichheit ersetzt, operiert er zugleich metonymisch.2 Mit der Bezeichnung metonymisch, sei hier, die kontingente und transitorische Verbindung zwischen Objekt und Ideal gemeint. Die Willkür der Metonymie entspricht nämlich am ehesten dem Akt der Verkennung, der Blindheit, der den Anspruch auf Identität zwischen Liebesobjekt und Idealobjekt stets begleitet: Das Subjekt blendet die Diskrepanz zwischen Objekt und Ideal aus und missdeutet sie sogar als Gleichheit, indem es auf die gemeinsamen Attribute zwischen Objekt und Ideal konzentriert und somit die Identität zwischen Objekt und Ideal behauptet. Dabei wird im Rahmen des Liebesdiskurses der anfängliche metonymische Akt zwar mitgetragen, doch stets geleugnet. Dies hängt mit der fast metaphysisch anmutenden Sehnsucht der Liebe nach Kongruenz zwischen Objekt und Ideal zusammen und konstituiert letztendlich die Spannungen, die der Liebeseloquenz zugrunde liegen.

In den Wahlverwandtschaften wird dieses Modell der Verkennung, der Blindheit des metonymischen Liebesdiskurses besonders drastisch in einem Porträt veranschaulicht.3 Dies liegt – so meine These – in der Funktion des Porträts: das Porträt als bildliche Darstellung eines menschlichen Gesichts optiert mit der Ähnlichkeit zwischen Original bzw. Urbild und Abbild, während es gleichzeitig aus dem Spannungsfeld zwischen Idealisierung und Gleichheit hervorgeht. Insofern scheint das Porträt diejenige komplexe Problematik, die dem im Spannungsfeld zwischen Ideal und Objekt befangenen Liebesdiskurs eigen ist, exemplarisch zu widerspiegeln. Hinzu kommt ein entscheidender Faktor: indem das Porträt außerhalb der Zeit steht, also in einem ewigen Moment angesiedelt ist, scheint gerade das zu rekapitulieren, was der Liebesdiskurs zu sichern sucht: die Kongruenz, die Identität, die Ewigkeit. Dass dies letztlich nur ein Irrtum ist, davon wird u.a. in den Wahlverwandtschaften erzählt.





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Im Roman Die Wahlverwandtschaften kommt drei Mal ein Miniaturbild vor. Es handelt sich um das Porträt des verstorbenen Vaters von Ottilie. Nirgendwo wird das Bild näher beschrieben, oder gar mit dem toten Vater verglichen. Es markiert dafür den Auftakt der Beziehung zwischen Ottilie und Eduard und fungiert somit als Zeichen des verbotenen Begehrens.

Schon beim ersten Mal schreibt der Text dem Bild eine erotisch beladene Bedeutung zu. Eduard, Ottilie, Charlotte und der Hauptmann machen einen Spaziergang. Eduard und Ottilie nehmen einen anderen Weg als die anderen zwei und sind bald allein. Eduard, dessen Liebe für Ottilie immer noch keinen Ausdruck gefunden hat, fühlt sich von ihrer Präsenz überwältigt: "[er] glaubte... ein himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte." (Goethe 2000: 291). Er weiß nicht, wie er ihr seine Liebe gestehen soll, ohne sie zu beleidigen:

Fast hätte er gewünscht, sie möchte straucheln, gleiten, daß er sie in seine Arme auffangen, sie an sein Herz drücken könnte. Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer Ursache: er fürchtete sie zu beleidigen, sie zu beschädigen.
Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich. Denn als er nun herabgelangt, ihr unter den hohen Bäumen am ländlichen Tische gegenübersaß, die freundliche Müllerin nach Milch, der bewillkommende Müller Charlotten und dem Hauptmann entgegen gesandt war, fing Eduard mit einigem Zaudern zu sprechen an:
"Ich habe eine Bitte, liebe Ottilie; verzeihen Sie mir die; wenn Sie mir sie auch versagen! Sie machen kein Geheimnis daraus, und es braucht es auch nicht, daß Sie unter Ihrem Gewand, auf Ihrer Brust ein Miniaturbild tragen. Es ist das Bild Ihres Vaters, des braven Mannes, den Sie kaum gekannt und der in jedem Sinne eine Stelle an Ihrem Herzen verdient. Aber vergeben Sie mir: das Bild ist ungeschickt groß, und dieses Metall, dieses Glas macht mir tausend Ängste, wenn Sie ein Kind in die Höhe heben, etwas vor sich hintragen, wenn die Kutsche schwankt, wenn wir durchs Gebüsch dringen, eben jetzt, wie wir vom Felsen herabstiegen. Mir ist die Möglichkeit schrecklich, daß irgendein unvorgesehener Stoß, ein Fall, eine Berührung Ihnen schädlich und verderblich sein könnte. Tun Sie es mir zuliebe, entfernen Sie das Bild, nicht aus Ihrem Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer; ja geben Sie ihm den schönsten, den heiligsten Ort Ihrer Wohnung; nur von Ihrer Brust entfernen Sie etwas, dessen Nähe mir, vielleicht aus übertriebener Ängstlichkeit, so gefährlich scheint!"




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Ottilie schwieg und hatte, während er sprach, vor sich hingesehen; dann, ohne Übereilung und ohne Zaudern, mit einem Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet, löste sie die Kette, zog das Bild hervor, drückte es gegen ihre Stirn und reichte es dem Freunde hin mit den Worten: "Heben Sie mir es auf, bis wir nach Hause kommen! Ich vermag Ihnen nicht besser zu bezeugen, wie sehr ich Ihre freundliche Sorgfalt zu schätzen weiß."
Der Freund wagte nicht, das Bild an seine Lippen zu drücken, aber er faßte ihre Hand und drückte sie an seine Augen. Es waren vielleicht die zwei schönsten Hände, die sich jemals zusammenschlossen. Ihm war, als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, als wenn sich eine Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt hätte. (Goethe 2000: 292-293)

Das Miniaturbild, das Ottilie an der Brust trägt, scheint für Eduard die perfekte Ausrede anzubieten, um ihr näher zu kommen. Der ironische - so scheint mir - Kommentar des Textes (Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich) lässt diese empfindsame Szene in einem Zwielicht erscheinen. Diese niedergelegte Scheidewand, die im Miniaturbild symbolisch verdichtet wird, erschafft den Raum, in dem eine verbotene (und letztlich auch unglückbringende) Liebe gedeihen wird. Das Entfernen des Kleinodes bedeutet weiter das Entkräften der väterlichen Autorität, indem von nun an die (Leer)-Stelle (des von der Brust der Tochter abgestoßenen Vaters) der Liebhaber herantreten wird. Eduard bleibt, da er die Entblößung des bis dahin verschwiegenen Begehrens mit dem Hinweis auf das gefährliche Miniaturbild initiiert hat, mit dem Bild des Vaters verbunden. Er teilt mit ihm dasselbe Schicksal: er ist im Herzen des jungen Mädchens, aber er kann sie nicht umarmen.4

Die Scheidewand hat sich nämlich nicht niedergelegt: der Text drückt dies in der Hinsicht ziemlich genau aus: es war, als ob sie sich niedergelegt hätte. Die Schranke zwischen Eduard und Ottilie wird im Laufe des Romans durch die gesellschaftlichen Konventionen, durch das dumpfe Festhalten an tradierten Moral- und Tugendkonzepten, durch Charlotte und den Hauptmann, ja auch durch den schicksalhaften Tod des von Phantomen erzeugten Kindes nur befestigt.




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Es gibt nur kurze Momente eines rauschhaften Glücks, das als Hybris inszeniert wird und entsprechend bestraft wird. Das Miniaturbild spielt dabei eine entscheidende Rolle. Indem es auf den Auftakt des willkürlichen und transitorischen, des metonymischen Bundes zwischen dem Liebhaber und dem Vater, zwischen also dem Liebesobjekt und dem Idealobjekt, hinweist, wird zwar bis kurz vor dem Tod Ottilies nicht mehr erwähnt. Dafür bildet es den verborgenen, ja verdrängten und deshalb umso wirksamen Rahmen des Liebesdiskurses.


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Eduard hat die Kontrolle verloren: er muss seiner Liebe einen graziösen Ausdruck verleihen. Der Geburtstag Ottilies soll mit einem großen Fest gefeiert werden. Davor soll auch der Bau eines Häuschens anfangen, das als ein weiteres Geschenk an die Geliebte gedacht wird. An dem Tag soll der Grundstein gelegt werden. Ein Maurer hält eine Rede und schlägt vor, alles was man will unter den Grundstein begraben zu lassen, als "Zeugnis für eine entfernte Nachwelt".

Die Frauenzimmer säumten nicht, von ihren kleinen Haarkämmen hineinzulegen; Riechfläschchen und andre Zierden wurden nicht geschont; nur Ottilie zauderte, bis Eduard sie durch ein freundliches Wort aus der Betrachtung aller der beigesteuerten und eingelegten Dinge herausriß. Sie löste darauf die goldne Kette vom Halse, an der das Bild ihres Vaters gehangen hatte, und legte sie mit leiser Hand über die anderen Kleinode hin, worauf Eduard mit einiger Hast veranstaltete, daß der wohlgefugte Deckel sogleich aufgestürzt und eingekittet wurde.
Der junge Gesell, der sich dabei am tätigsten erwiesen, nahm seine Rednermiene wieder an und fuhr fort: "Wir gründen diesen Stein für ewig, zur Sicherung des längsten Genusses der gegenwärtigen und künftigen Besitzer dieses Hauses. Allein indem wir hier gleichsam einen Schatz vergraben, so denken wir zugleich, bei dem gründlichsten aller Geschäfte, an die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge; [...] (Goethe 2000: 301-302)




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Ottilie zaudert und legt mit leiser Hand die Goldkette, Eduard ist aufgeregt und beeilt sich die Kette zu begraben: eigentlich ein gewaltiger Gegensatz, der in allen weiteren Handlungen der zwei Liebenden widerspiegeln wird. Während sich Ottilie der Heftigkeit ihrer Gefühle bewusst wird und sie deshalb sublimiert, kann Eduard seine Leidenschaft nicht zügeln; er will nicht warten, er kann keinen Moment verlieren: Seine Ungeduld ist das, was auch letztlich Ottilie zum (Hunger)Tod treibt. Das rasende Begehren, das einen uneingeschränkten Anspruch auf Befriedigung erhebt, wird einer verklärten, empfindsamen Liebe entgegengesetzt, die sich mit symbolischen Gesten zufrieden stellt.

Die Kette, die Ottilie von der Brust entfernt, ist die Schnur, die sie unwiderrufbar, mit Eduard, mit dem Haus und dem Traum von einer fernen Nachwelt, in der sie vielleicht zusammen sein können, verbindet. Eduard hofft dabei, dass Ottilie dadurch ihre Hingabe signalisiert, dass sie also das Entfernen der Kette als Verkettung mit ihm versteht. Doch er will sich schnell von den Symbolen verabschieden, zugunsten einer Realität, die diese Symbole zu versprechen scheinen. Deshalb die Hastigkeit. Er will Ottilie "besitzen"; die Möglichkeit sie zu verlieren, kann er nicht einmal als Gedanke ertragen: "Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles; er ist ganz in ihr versunken, keine andre Betrachtung steigt vor ihm auf, kein Gewissen spricht ihm zu; alles, was in seiner Natur gebändigt war, bricht los, sein ganzes Wesen strömt gegen Ottilien." (Goethe 2000: 320) Aber die Unbändigkeit seiner Begierde kontrahiert mit dem Zaudern Ottiliens. Und so wie der kontingente Rahmen, in dem die Liebenden einst einander begegnet sind, im Text systematisch abgeschworen wird, so wird auch diese Asymmetrie5 letztendlich geleugnet und hat deshalb schwerwiegende Folgen.


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Die anfängliche Konstellation wiederholt sich. Eduard, der Hauptmann, Charlotte und Ottilie sind im Schloss. Das Kind ist tot, die Flucht Ottiliens ist wegen einer geschlossenen Tür misslungen. Das Drama hat seinen Lauf genommen. Ottilie hat aufgehört zu sprechen (und zu essen). Sie steht kurz vor ihrem Tod. Und jetzt entscheidet sie zum ersten Mal, ein Geschenk Eduards auszupacken; sie näht aber eigentlich ihr Todeskleid.




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Das Bedeutendste jedoch, was die Freunde mit stiller Aufmerksamkeit beobachteten, war, daß Ottilie den Koffer zum erstenmal ausgepackt und daraus verschiedenes gewählt und abgeschnitten hatte, was zu einem einzigen, aber ganzen und vollen Anzug hinreichte. Als sie das übrige mit Beihülfe Nannys wieder einpacken wollte, konnte sie kaum damit zustande kommen; der Raum war übervoll, obgleich schon ein Teil herausgenommen war. […]
Zuletzt gelang es Ottilien, alles sorgfältig wieder einzuschichten; sie öffnete hierauf ein verborgenes Fach, das im Deckel angebracht war. Dort hatte sie kleine Zettelchen und Briefe Eduards, mancherlei aufgetrocknete Blumenerinnerungen früherer Spaziergänge, eine Locke ihres Geliebten und was sonst noch verborgen. Noch eins fügte sie hinzu - es war das Porträt ihres Vaters - und verschloß das Ganze, worauf sie den zarten Schlüssel an dem goldnen Kettchen wieder um den Hals an ihre Brust hing. (Goethe 2000: 289-290)

Das Porträt des Vaters wird kurz vor ihrem Tod endgültig allem, was an Eduards Liebe symbolisch haftet, hinzugefügt. Die paradigmatische Beziehung zwischen Eduard und dem Vater wird somit noch einmal betont und angesichts des Jenseits befestigt. Im verborgenen Fach, in dem sie alle ihre Erinnerungsstücke zusammen bewahrt, wird Eduard alles finden können, was er ihr als Zeichen seiner Liebe gegeben hat. Darunter auch (s)ein Porträt. Der Schlüssel dazu hängt ja an ihrer Brust, dort, wo das Bild des Vaters und später die Kette gehangen haben, dort, wo ihre Liebe zu Eduard ihren Sitz hat.


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Hinzu kommen im Roman ein paar Reflexionen über das Porträt allgemein. Was ihre Funktion betrifft, so scheint das Ganze zunächst nur als ein Vorgriff auf die Bestattung Ottilies neben Eduard zu sein.6 Doch genau in dieser Passage wird die Annahme, dass das Porträt des Vaters das metonymische Porträt Eduards, bestätigt. Ottilie sieht nämlich ein, dass die durch metonymische Gesten überspielten Differenzen zwischen etwa dem Liebesobjekt und dem Idealobjekt, oder im Fall von Porträt zwischen Abgebildeten und Abbild, die prinzipielle Unhaltbarkeit von Identitätsannahmen nicht restlos maskieren können. So kann die raumzeitliche Kontingenz als Rahmen dieser angeblich aufgrund von Analogie und Ähnlichkeit miteinander verketteten Polen, dem Miniaturbild erlauben, sowohl den verstorbenen Vater von Ottilie als auch Eduard abzubilden bzw. in ihrer Abwesenheit sie zu repräsentieren und sie sogar zu ersetzen.




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Aus Ottiliens Tagebuche
Neben denen dereinst zu ruhen, die man liebt, ist die angenehmste Vorstellung, welche der Mensch haben kann, wenn er einmal über das Leben hinausdenkt. "Zu den Seinigen versammelt werden" ist ein so herzlicher Ausdruck.
[...]
Man unterhält sich manchmal mit einem gegenwärtigen Menschen als mit einem Bilde. Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht anzusehen, sich nicht mit uns zu beschäftigen; wir sehen ihn, wir fühlen unser Verhältnis zu ihm, ja sogar unsere Verhältnisse zu ihm können wachsen, ohne daß er etwas dazu tut, ohne daß er etwas davon empfindet, daß er sich eben bloß zu uns wie ein Bild verhält.
Man ist niemals mit einem Porträt zufrieden von Personen, die man kennt. Deswegen habe ich die Porträtmaler immer bedauert. Man verlangt so selten von den Leuten das Unmögliche, und gerade von diesen fordert mans. Sie sollen einem jeden sein Verhältnis zu den Personen, seine Neigung und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen; sie sollen nicht bloß darstellen, wie sie einen Menschen fassen, sondern wie jeder ihn fassen würde. Es nimmt mich nicht wunder, wenn solche Künstler nach und nach verstockt, gleichgültig und eigensinnig werden. Daraus möchte denn entstehen, was wollte, wenn man nur nicht gerade darüber die Abbildungen so mancher lieben und teuren Menschen entbehren müßte. (Goethe 2000: 369)

Die hier beschriebene gewaltsame und zugleich als etwas Selbstverständliches empfundene Eigenmacht, mit der der Betrachter seine Beziehung zum Bild und metaphorisch (bzw. metonymisch) zum Abgebildeten erlebt, nämlich völlig unabhängig von der "eigentlichen" Beziehung zum Abgebildeten7, suggeriert nicht nur, dass die Verkennung, die Blindheit als Modus der Liebe im Porträt ein Pendant findet. Der Passus betont gerade, dass das Porträt eine Unmöglichkeit darstellt. Dem Porträt wird nämlich nicht nur die Möglichkeit einer Identitätsstiftung abgesprochen. Als Projektionsfläche erscheint es als ein fluktuierendes Zeichen vor den Augen des Betrachters und ist insofern stets deutungsbedürftig. Der Betrachter scheint aber zu erahnen, dass der Bund zwischen Abbild und Abgebildeten, zwischen Liebesobjekt und Idealobjekt willkürlich und deshalb jenseits einer transzendentalen Ordnung bedeutungslos ist. Die metaphysische Wehmut von Ottilie kann dadurch erklärt werden. Sie weiß nämlich, dass das Porträt den Menschen zwar ersetzt, aber ihm zugleich niemals ähnlich sein kann. Vielleicht weil es stets das Porträt eines Anderen ist:




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Warum soll man es aber so streng nehmen? Ist denn alles, was wir tun, für die Ewigkeit getan? Ziehen wir uns nicht morgens an, um uns abends wieder auszuziehen? Verreisen wir nicht, um wiederzukehren? Und warum sollten wir nicht wünschen, neben den Unsrigen zu ruhen, und wenn es auch nur für ein Jahrhundert wäre?
Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgänger abgetretenen Grabsteine, die über ihren Grabmälern selbst zusammengestürzten Kirchen erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Überschrift eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben. Aber auch dieses Bild, dieses zweite Dasein verlischt früher oder später. Wie über die Menschen, so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen. (Goethe 2000: 370)

Man könnte annehmen, der tote Vater zog sich zurück, um Eduard Platz zu machen, und somit im Bild ein zweites Leben nach dem Tod zu führen. Ohne jemals völlig zu verschwinden, hinterlässt er seine Spuren im Miniaturbild, das Eduard nach dem Tod Ottilies wieder bekommen wird. Wer darauf abgebildet ist, ist jedoch nicht klar. Die Frage, ob es die Züge des Vaters oder die von Eduard sind, die Ottilie im Bild erkennt, kann deshalb nicht beantwortet werden. Hauptsache ist, dass man mit einem Porträt, wie Ottilie bemerkt, niemals zufrieden sein kann. Vielleicht auch deswegen weil man nicht sicher sein kann mit wem man sich gerade unterhält, wenn man sich mit dem Bild unterhält. Die Liebe aber, die im Roman als eine zeitlose Kongruenz zwischen zwei Seelen präsentiert wird, erfährt im Porträt ihre wahre Natur: die Unähnlichkeit zwischen Vorbild und Abbild ist das Modell der Verkennung, die Ottilie und Eduard zugrunde richtet. Der morbide Rahmen, in dem sich die Reflexionen über das Porträt entfalten, spiegelt den Moment des tödlichen Irrtums, des gefährlichen Schwankens zwischen Zaudern und Begierde wider, kurz bevor die Zeit ihr Recht nimmt und das Bild verlöschen lässt.




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Bibliographie

Belting, Hans (2001): Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Fink.

Blessin, Stefan (1979): Die Romane Goethes, Königstein: Athenäum Verlag.

De Man, Paul (1988): Allegorien des Lesens, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Koschorke, Albrecht (2003): Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, 2. Aufl. , München: Fink.

Kristeva, Julia (1989): Geschichten von der Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Goethe, Johann Wolfgang (2000): Die Wahlverwandtschaften. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 6 Romane und Novellen I, Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. Kommentiert von Erich Trunz und Benno von Wiese, München: DTV.

Schneider, Manfred (2002): "Kontingenz und Asymmetrie: Grundzüge einer Kritik der erotischen Vernunft", in Kraß, Anderas; Tischel, Alexandra (Hg.): Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe, Berlin: E. Schmidt.

Stix, Bettina (1997): Rhetorische Aufmerksamkeit. Formalistische Vorgaben in Paul de Mans Methode der Literaturwissenschaft, München: Fink.

Stöcklein, Paul (1977): "Einführung", in: Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. 3. Auflage, Zürich: Artemis Verlag.





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Anmerkungen

1 Kristeva (1989: 256) untersucht die Liebesmetaphorik als wesentliches Teil der abendländischen Metaphysik und kommt zu dem Schluss, dass es letztendlich die Sprache ist, die die Liebe erst als Metapher bzw. – wie ich vermute – als Metonymie konstituiert.

2 Ich beziehe mich hier auf Paul de Mans These, dass jede Metapher eine getarnte Metonymie sei. Während die Metapher Stabilität und Kohärenz verspricht, stellt die Metonymie, weil sie bloß auf der zufälligen Begegnung zweier Entitäten beruht, die sehr wohl für sich und in Abwesenheit der jeweils anderen existieren können, ein Modell der Willkür dar, das für die metaphorische Diktion bezeichnend ist. (De Man 1988: 96). Dazu siehe auch Bettina Stix: "Während Genette im Zusammenwirken zwischen Metapher und Metonymie zwei unabhängige Mechanismen entdeckte, macht de Man daraus ein alternierendes Prinzip: die Metapher ist ein Täuschungsmanöver, um metonymische Vorgänge aufzuwerten." (Stix 1997:158).

3 Dieses Porträt hat stets die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. So wird es oft als ein Argument für die latent inzestuöse Beziehung zwischen Eduard und Ottilie hervorgebracht. Dabei wird jedoch das Wesen des Porträts selbst nicht weiter untersucht. Vgl. z.B. Stefan Blessin: "Ottilie scheint auf der Suche nach dem Vater. In dieser vorgeprägten Bahn entwickelt sich die Beziehung zu dem um viele Jahre älteren Eduard. Als sie ihm auf dem Spaziergang das Medaillon mit dem Bildnis ihres verstorbenen Vaters überlässt, glaubt sie einen wirklichen gefunden zu haben. Hier kündigt sich das folgenschwere Mißverstädnis an. Denn Eduard, dessen Wunsch Ottilie entgegenzukommen meint, verfolgt mit der Entfernung des Bildes gerade das Gegenteil. Er will die Figur des Vaters nicht nur selbst verkörpern, sondern aus seinem Verhältnis zu dem geliebten Mädchen überhaupt getilgt wissen. Ohne dieses gegenseitigen Irrtums gewahr zu werden, fühlen sich beide in dem Glauben, eines Sinnes zu sein, nur umso stärker zueinander hingezogen." (Blessin 1979: 86).

4 Paul Stöcklein bemerkt dazu: "Der Antlitz des Vaters steht zwischen den beiden: die Bindung des Mädchens an Familie und Religion. Der Aufblick "mehr gen Himmel als auf Eduard", bekundet die erlebte große Entscheidung, die Umkehrung ihres Kindvertrauens vom Vater auf Eduard, der ihr jetzt nahezu Vater wird." (Stöcklein 1977: 681-719, 694)

5 Siehe dazu die These von Manfred Schneider: "Kontingenz und Asymmetrie bilden die transzendentalen Bedingungen der inchoativen Aktion Liebe oder Verlieben. Aber diese Bedingungen sind lediglich einer Erkenntnis zugänglich, die keine Ereignisse und keine Phänomene analysiert. Denn es ist nun gerade das Bestreben des Diskursduett Liebe, daß Zufall und Asymmetrie geleugnet werden." (Schneider 2002: 63-84, 76).




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6 Auf die enge Beziehung zwischen Porträt und Tod hat Hans Belting hingewiesen: "Es ist kein Zufall, daß der Totenschädel als Bildmotiv gleichzeitig mit dem neuzeitlichen Porträt auftritt, dessen wahres Pendant er bildet. In manchen Fällen tritt er in einem radikalen Bekenntnis zur Sterblichkeit sogar an die Porträts." (Belting: 135). Als Bekenntnisse zur Sterblichkeit kann man auch die Aufzeichnungen von Ottilie über das Porträt lesen.

7 Vgl. dazu Albrecht Koschorkes Bemerkung über die Einbildungskraft im 18. Jahrhundert: "Die Phantasie supplementiert Sinneseindrücke; aber sie verändert, was sie supplementiert. Wie bei allen derartigen Vorgängen handelt es sich nicht um eine bloße Transposition des Originals." (Koschorke 2003: 279). In der Hinsicht scheint die Aufgabe des Porträts trotz der behaupteten Möglichkeit einer Abbildung des Originals darin zu bestehen, das abgebildete Objekt aufzulösen, damit es von Grund auf in der Imagination des Betrachters erneut rekonstruiert wird. Die Leistung der Einbildungskraft ist dabei eher die Kreation, als die Re-Komposition oder Konfiguration von Bildelementen: was dann dank der Vorstellungskraft des Betrachters entsteht, kann nur eine kontingente bzw. metonymische Beziehung zum Original haben.