PhiN 64/2013: 68



Yvonne Stork (Freiburg)



Stefan Barme (2012): Gesprochenes Französisch. Berlin / Boston: De Gruyter. (= Romanistische Arbeitshefte, 58)

Dass 2012 bei De Gruyter in der Reihe "Romanistische Arbeitshefte" ein Band zum Thema Gesprochenes Französisch veröffentlicht wird, ist insofern erstaunlich, als nur ein Jahr zuvor in der selben Reihe die zweite, erweiterte Auflage des Klassikers Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch von Peter Koch und Wulf Oesterreicher erschienen ist (Koch / Oesterreicher 22011). Inhaltliche Überschneidungen sind dementsprechend unvermeidlich; ein Vergleich der Inhaltsverzeichnisse zeigt aber, dass es durchaus auch Unterschiede in Bezug auf die behandelten Themen gibt.

Stefan Barme, der sich bereits in früheren Arbeiten mit nähesprachlichen Besonderheiten des Französischen wie des europäischen und brasilianischen Portugiesisch beschäftigt hat (vgl. Barme 2001, Barme 2011), möchte in seinem Buch in erster Linie die systematischen Unterschiede und die Frequenzunterschiede zwischen dem gesprochenen Französisch und der Schriftsprache darstellen. Zudem ist es sein Anliegen, zentrale Etappen der Forschungsgeschichte zum gesprochenen Französisch zu skizzieren und neue Ansätze in der Erforschung und Beschreibung gesprochener Sprache zu präsentieren. Sein Buch umfasst acht Kapitel sehr unterschiedlicher Länge, die jeweils mit Arbeitsaufgaben enden, und ein Abschlusskapitel, in dem die verwendete Literatur aufgeführt wird.

Im ersten Kapitel "Zum gesprochenen Französisch" (1–11) äußert sich der Verfasser zunächst "Zum Konzept des gesprochenen Französisch" (1–9). Barme versteht unter gesprochenem Französisch "die phonisch realisierte spontane Alltagssprache (...), die als prototypische Form der Sprechsprache gelten darf und zudem sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht die stärksten Abweichungen gegenüber der konzeptionell geschriebenen Sprache offenbart" (8). Hier liegt eine leichte Asymmetrie in seiner Argumentation vor, da er bei der Definition von "gesprochenem Französisch" die mediale und konzeptionelle Ebene berücksichtigt, während er die geschriebene Sprache nur über die konzeptionelle Ebene bestimmt. Was "Die Frage der Eigenständigkeit des gesprochenen Französisch" (9–11) betrifft, so zeigt Barme überzeugend auf, dass ihre Beantwortung davon abhängt, wie "gesprochenes Französisch" konzipiert wird. Autoren, die "gesprochenes Französisch" konzeptionell begreifen, betonen seine Eigenständigkeit. Koch etwa spricht von diglossischen Tendenzen zwischen français parlé und français écrit, was Autoren, die einen medialen Ansatz vertreten, wie Claire Blanche-Benveniste, zu weit gehen würde.




PhiN 64/2013: 69


Es folgt im zweiten Kapitel ein "Überblick über die Forschungsgeschichte und Diskussionsschwerpunkte" (13–23). Dieser beginnt mit einem kurzen Abschnitt "Zur Erforschung der historischen Dimension des gesprochenen Französisch" (13–14). Dann präsentiert der Verfasser "Das Konzept des français avancé und die 'controverse allemande'" (14–17). Diese Debatte dreht sich um die Frage, ob Normabweichungen des gesprochenen Gegenwartsfranzösisch Neuerungen sind – wie z.B. Peter Koch annimmt –, das gesprochene Französisch demzufolge eventuell gar als français avancé gelten kann, oder ob diese Abweichungen im Gegenteil als Konservatismen anzusehen sind, eine u.a. von Klaus Hunnius und auch von Barme selbst vertretene Position. Den Abschluss des zweiten Kapitels bildet der Abschnitt "Gesprochenes Französisch und Sprachtypologie" (17–23), in dem Barme darauf hinweist, dass das Französische in Bezug auf die sprachtypologische Einstufung eine Sonderstellung innerhalb der romanischen Sprachen innehat. Der Verfasser schließt sich der These an, dass gerade das gesprochene Französisch in besonderem Maße zur Prädetermination neigt, verschweigt aber nicht, dass es auch gegenläufige Entwicklungen gibt, wie die Neigung zu postdeterminierenden Strukturen bei der verbalen Negation (je sais pas).

In Kapitel 3 präsentiert Barme kurz und bündig "Neue Wege in der Erforschung und Beschreibung gesprochener Sprache: Interaktionale Linguistik und Konstruktionsgrammatik" (25–32). Er erwähnt Vor- und Nachteile beider Richtungen und schließt sich Günthners Auffassung an, dass Grammatik zwar während der Kommunikation erzeugt wird, aber ihrerseits über Regeln verfügt, die von der Sprechergemeinschaft geteilt werden und ihr gewisse Vorgaben machen (26). In dem nur drei Seiten kurzen Kapitel 4 äußert sich Barme "Zur internen und externen Geschichte des français parlé" (33–35). Es folgen die beiden zentralen Kapitel des Bandes. Im fünften, mit Abstand längsten Kapitel werden "Allgemeine (kommunikationsbedingte) Merkmale des gesprochenen Französisch" (37–67) behandelt. "Mit allgemeinen Merkmalen sind Phänomene gemeint, die aus den spezifischen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien resultieren, die die phonische Nähesprache auszeichnen" (37). Barme führt hier nicht nur Merkmale auf, die exklusiv in der Nähesprache vorkommen, sondern auch einige Charakteristika, die zwar "eine besonders stark ausgeprägte Affinität zur mündlichen Nähesprache zeigen" (37), aber auch in der geschriebenen Sprache vorkommen können. Vergleichsweise ausführlich geht Barme auf den Bereich "Textpragmatik (I): Gesprächswörter und äquivalente Verfahren" (37–48) ein. Es folgt ein kurzer Abschnitt "Textpragmatik (II): Makrostrukturen" (48–51). Recht umfassend sind die Ausführungen zum Thema "Syntax" (51–61), an die sich das Unterkapitel "Semantisch-lexikalischer Bereich" (62–66) sowie sehr knappe Ausführungen zur "Lautung" (66 f.) anschließen.




PhiN 64/2013: 70


In Kapitel 6 geht es um "Historisch-kontingente Merkmale des gesprochenen Französisch" (69–92), d.h. um Merkmale, die "das Ergebnis der historischen Entwicklung des (gesprochenen) Französischen repräsentieren" (37), wobei Barme zunächst "Diasystematisch unmarkierte Merkmale des français parlé" (69–84) behandelt und dann "Diastratisch und / oder diaphasisch markierte Merkmale des français parlé" (84–92). Es folgt in Kapitel 7 ein kurzer Exkurs zu den sprachlichen Besonderheiten des Französischen in Québec ("Zur Diatopik des français parlé: das québécois", 93–97), bevor sich der Verfasser im achten Kapitel dem Thema "Korpora und Korpuslinguistik" (99–117) widmet. Er stellt kurz die drei für seine Arbeit verwendeten nähesprachlichen Korpora vor und präsentiert dann über sechzehn Seiten einen Auszug aus einem dieser Korpora, dem Crédif-Korpus. Diese beträchtliche Länge begründet der Verfasser damit, dass er in verschiedenen Arbeitsaufgaben auf den Auszug zurückgreift. Das 9. Kapitel beinhaltet die Bibliographie ("Literatur", 119–125). Sie ist zwar relativ knapp, aber gut zusammengestellt. Es werden auch Arbeiten – etwa von Peter Auer und Arnulf Deppermann – berücksichtigt, die sich für andere Sprachen als das Französische mit Spezifika der Nähesprache befassen.

Während die sechs kurzen Kapitel 1–4, 7 und 8 ein eigenständiges Herangehen an das Thema widerspiegeln und einiges Wissenswertes enthalten, was man bei Koch / Oesterreicher 22011 nicht findet, weisen insbesondere Kapitel 5, aber auch Kapitel 6, d.h. ausgerechnet die beiden mit Abstand längsten Kapitel, die zusammen die Hälfte des Gesamtumfangs ausmachen, umfangreiche Parallelen zu Koch / Oesterreicher 22011 auf. Barme wählt zwar für die einzelnen Kapitel andere Überschriften als die beiden: statt wie diese zwischen universalen und einzelsprachlichen Merkmalen des gesprochenen Französisch zu differenzieren, teilt er die Merkmale, wie gesehen, ein in allgemeine und historisch-kontingente. Der Unterschied ist allerdings nicht von großer Tragweite. Koch / Oesterreicher relativieren, wie Barme (5) einräumt, ihren Gebrauch von universal1 . Und bei Barmes historisch-kontingent handelt es sich im Prinzip nur um ein anderes Etikett für das Koch / Oesterreichersche einzelsprachlich, wie man an der Aussage von Koch / Oesterreicher, dass einzelsprachliche Phänomene des gesprochenen Französisch / Italienisch / Spanisch als "historisch wandelbar, also als kontingent betrachtet werden [müssen]"2, sehen kann. Zwar geht es Barme, wie bereits erwähnt, um "die phonisch realisierte spontane Alltagssprache" (8), wohingegen bei Koch / Oesterreicher konzeptionelle Aspekte von Mündlichkeit im Zentrum stehen (cf. 22011: 4), doch trotz dieser unterschiedlichen Akzentuierung weist vor allem Kapitel 5 enorme Überschneidungen mit dem entsprechenden Kapitel in Koch / Oesterreicher 22011 auf. Das Unterkapitel "5.1 Textpragmatik (I): Gesprächswörter und äquivalente Verfahren" ist mit seiner Unterteilung in "5.1.1 Gliederungssignale", "5.1.2 Turn-taking-Signale", "5.1.3 Kontaktsignale", "5.1.4 Überbrückungsphänomene", "5.1.5 Korrektursignale", "5.1.6 Interjektionen" genauso aufgebaut wie das entsprechende Kapitel 4.1 bei Koch / Oesterreicher 22011.




PhiN 64/2013: 71


Deren Spuren verlässt der Verfasser nur in Abschnitt "5.1.7 Abtönungsformen", in dem er sich an Richard Waltereits Monographie Abtönung (Waltereit 2006) orientiert. "5.2 Textpragmatik (II): Makrostrukturen", "5.3 Syntax", "5.4 Semantisch-lexikalischer Bereich" und "5.5 Lautung" weisen mit Ausnahme von 5.3.3, wo es um Segmentierungsphänomene mit Thema-Rhema-Abfolge geht und Barme sich in Bezug auf die Argumentation wie auch hinsichtlich der Beispiele eng an Elisabeth Stark (vgl. Stark 1997, Stark 22008) anlehnt (57–60), nur minimale Abweichungen zu den entsprechenden Kapiteln in Gesprochene Sprache in der Romania auf3. Barme rekurriert im gesamten Kapitel immer wieder – sowohl was den Argumentationsgang als auch was die Beispiele betrifft (wenngleich er zum Teil auch eigene Beispiele aus seinen Korpora einflicht) – auf die Referenzinstanz Koch / Oesterreicher 22011.

Weniger extrem – nicht zuletzt, weil Barme hier wesentlich mehr Belege aus den von ihm konsultierten Korpora anführt –, aber dennoch ausgeprägt sind die Überschneidungen von Kap. 6 mit dem entsprechenden Kapitel aus Koch / Oesterreicher. Unter "6.1 Diasystematisch unmarkierte Merkmale des français parlé" (69–84) handelt Barme die Inhalte ab, die sich bei Koch / Oesterreicher 22011 unter "5.3.3 Französische Nähesprache im engeren Sinne: Merkmale der Varietät 'gesprochen'" finden. Nur in seltenen Fällen decken sich seine Befunde nicht mit denen von Koch / Oesterreicher. Während bspw. diesen beiden zufolge "im geschriebenen (graphischen wie phonischen) Französisch keinerlei Belege (= 0%!) für das Fehlen von ne" existieren (Koch / Oesterreicher 22011: 172), weist Barme nach, dass es vereinzelt sehr wohl Belege gibt (79). Während nach Koch / Oesterreicher Konstruktionen vom Typ de bons vins im gesprochenen Französisch sehr selten sind, kommt Barme aufgrund seiner Korpora zu dem Schluss, dass solche Konstruktionen im français parlé gar nicht so selten sind. In 6.2 "Diastratisch und / oder diaphasisch markierte Merkmale des français parlé" orientiert sich Barme sehr nah am Kapitel "5.3.2 Französische Nähesprache im weiteren Sinne: diastratische und diaphasische Merkmale" aus Koch / Oesterreicher 22011. Die einzigen Unterschiede betreffen die Einordnung der Auslassung des e caduc – für Barme ist diese diaphasisch und diastratisch bedingt und nicht wie für Koch / Oesterreicher diasystematisch unmarkiert, also der Varietät "gesprochen" zuzuordnen – und den Abschnitt über die Lexik (6.2.3), in dem Barme im Vergleich zu Koch / Oesterreicher einige zusätzliche aufschlussreiche Informationen zu den Bereichen Kurzwortbildung (wie z.B. dégueu für dégueulasse) und Resuffigierung (z.B. bachot für baccalauréat) liefert.

So ist der Gesamteindruck von Barmes Werk ambivalent. Gelungen sind der konzise Überblick über zentrale Etappen der Forschungsgeschichte zum gesprochenen Französisch sowie die prägnante Präsentation neuer Ansätze in Erforschung und Beschreibung gesprochener Sprache. In den Kapiteln, in denen er die systematischen und die Frequenzunterschiede zwischen dem gesprochenen Französisch und der Schriftsprache darstellt, besonders in dem zentralen Kapitel 5, verhindern dagegen die großen Überschneidungen mit Koch / Oesterreicher 22011, dass Barmes Werk stärkere eigene Konturen gewinnt.




PhiN 64/2013: 72


Bibliographie

Barme, Stefan (2001): Der Subjektausdruck beim Verb in phonisch-nähesprachlichen Varietäten des europäischen Portugiesisch und Brasilianischen. Frankfurt / Main: Lang.

Barme, Stefan (2011): "Petit déj sympa à huit heures du mat: zur Wortkürzung im Französischen und Deutschen", in: Romanistik in Geschichte und Gegenwart 17,1: 35–55.

Barme, Stefan (in Vorbereitung): "Quoi de neuf? Zu einigen vermeintlichen Innovationen des Gegenwartsfranzösischen".

Koch, Peter und Wulf Oesterreicher (1990/22011): Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch. Tübingen: Niemeyer / De Gruyter. (= Romanistische Arbeitshefte, 31)

Stark, Elisabeth (1997): Voranstellungsstrukturen und topic-Markierung im Französischen. Mit einem Ausblick auf das Italienische. Tübingen: Narr.

Stark, Elisabeth (2002/22008): "Einzelaspekt: Wortstellung und Informationsstruktur", in: Ingo Kolboom, Thomas Kotschi und Edward Reichel (Hg.): Handbuch Französisch: Sprache, Literatur, Kultur, Gesellschaft. Berlin: Schmidt: 311–318.

Waltereit, Richard (2006): Abtönung. Tübingen: Niemeyer.



Anmerkungen

1 "Wenn hier von 'universalen' Merkmalen der Nähesprache die Rede ist, so darf dies nicht missverstanden werden. Die im Verlauf dieses Kapitels zu behandelnden Erscheinungen, z.B. 'Abtönung' (...), 'mündliches Erzählen im Präsens' (...) oder bestimmte 'Segmentierungsphänomene' (...) sind nämlich streng genommen nur in dem Sinne universal, dass sie sich von den universalen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien her begründen lassen, die das Nähesprechen fundieren, und nicht von historisch-kontingenten einzelsprachlichen Regeln. Damit ist erstens nicht ausgeschlossen, dass der entsprechende Phänomenbereich einzelsprachlich unterschiedlich realisiert und strukturiert ist (...). Zweitens gilt sogar, dass die Möglichkeit des Vorliegens eines universal begründbaren Phänomens von der Existenz bestimmter einzelsprachlicher Kategorien abhängt (so gibt es das 'mündliche Erzählen im Präsens' natürlich nur in Sprachen mit einem Tempussystem)." (Koch / Oesterreicher 22011: 41)




PhiN 64/2013: 73


2 "(...) in Kapitel 5 geht es uns allein um die einzelsprachlichen Phänomene des gesprochenen Französisch / Italienisch / Spanisch i.w.S., die ausschließlich der historischen Ebene zuzuweisen sind (...) und die nicht direkt aus den Fakten der universalen Ebene des Sprechens (...) ableitbar sind. Sie müssen vielmehr als historisch wandelbar, also als kontingent betrachtet werden (...)" (Koch / Oesterreicher 22011: 135, Hervorhebung im Original).

3 Im Teilkapitel zur Syntax erwähnt Barme zusätzlich zu den bei Koch / Oesterreicher verzeichneten Phänomenen eingeschobene Frage-Antwort-Sequenzen, und im Abschnitt 5.5 zur Lautung nennt er bei Prestoformen eine Erscheinung, die bei Koch / Oesterreicher 22011 nicht aufgeführt wird, nämlich die Elision von Silben im Wortinnern, bspw. [vla] statt [vwala] (voilà) (67).