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Guido Rings (Cambridge)



Yasmin Temelli (2009): Schreiben statt Schweigen ‒ Weibliche Stimmen im Porfiriat. Eine Analyse sechs mexikanischer Frauenzeitschriften (1883‒1910). München: Martin Meidenbauer Verlag.



Im weiteren Kontext der Hundert-Jahre-Feiern zur mexikanischen Revolution erscheint die mit "summa cum laude" bewertete und mit dem drupa-Preis sowie einem ADLAF-Preis ausgezeichnete Promotionsarbeit von Yasmin Temelli zu einem passenden Zeitpunkt. Ziel ist die Erforschung weiblicher Perspektiven im vorrevolutionären Mexiko über eine detaillierte Analyse sechs mexikanischer Frauenzeitschriften von den 1880er Jahren bis zum Revolutionsausbruch von 1910. Hierbei handelt es sich um El Correo de las Señoras, El Album de la Mujer, Violetas del Anáhuac, El Periódico de las Señoras, La Mujer Mexicana und Vésper, die allesamt "in entscheidendem Maße von Frauen herausgegeben beziehungsweise (mit-) gestaltet wurden" (Temelli 2009: 51) und auch zu den wenigen Zeitschriften gehören, die noch in nennenswertem Umfang verfügbar sind. Die Arbeit basiert auf längeren Aufenthalten in mexikanischen und US-amerikanischen Archiven, insbesondere im Fondo Reservado der Hemeroteca Nacional in Mexiko-Stadt und in der University of Texas in Austin.

Berücksichtigt man, dass ein größerer Teil der mexikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts über Zeitschriften veröffentlicht wurde und dass gerade Frauenperspektiven dieser Zeit nur sehr begrenzt in monographischer Form zugänglich sind, so ist das geringe Interesse der akademischen Forschung an den mit Gedichten, Kurzerzählungen, Essayistik und anderer Literatur gefüllten Ausgaben kaum verständlich. Umso größer ist das Verdienst der Autorin, diese Forschungslücke über ihre äußerst lesenswerte Studie signifikant reduziert zu haben. Bei der Erforschung zwischengeschlechtlicher Machtbeziehungen stellen sich für sie insbesondere folgende Fragen: 1.) "Entsprechen die Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit dem offiziellen Diskurs im Porfiriat, oder wird eine Revision zeitgenössischer gender-Zuweisungen angestrebt?" 2.)"Sind oppositionelle Texte zu finden, in denen die traditionell als natürlich angenommene Kausalität zwischen biologischem und sozialem Geschlecht aufgebrochen und damit das zwischengeschlechtliche Dominanzverhältnis neutralisiert wird?" (S. 33).

Die sprachlich durchweg brillant verfasste Arbeit erschließt diesen Fragenkomplex in insgesamt acht Kapiteln: Nach einer gelungenen Einleitung (1) werden zunächst die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen im Porfiriat behandelt (2), bevor die Autorin das vorrevolutionäre Pressewesen (3) und zentrale Frauenbilder der Zeit (4) erarbeitet. Hierbei handelt es sich um einführende Kapitel, die allerdings für die Analyse der ausgewählten Frauenzeitschriften allesamt von essentieller Bedeutung sind, denn hier werden äußerst souverän die soziopolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen für die Publikation von Frauenzeitschriften untersucht, wobei den im vierten Teil behandelten extrem konservativen Frauenbildern in der katholischen Presse besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Das fünfte Kapitel widmet sich dann den Akteueren, Konzeptionen und Intentionen der sorgfältig recherchierten sechs Frauenzeitschriften, und die eigentliche Textinterpretation folgt in knapp 150 Seiten im sechsten Kapitel, bevor das Schlusswort (7) und eine umfassende aktuelle Bibliographie (8) das Werk abrunden.




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Unter Titeln wie "Frauen und Politik", "Ein Kreuz mit der katholischen Kirche?", "Repräsentationen des Indigenen" und "Emanzipation a la mexicana" findet der Leser im Hauptkapitel (6) eine klar nach Themenkomplexen unterteilte Detailanalyse, die in jeder Hinsicht überzeugt. Dies wird schon in der Sektion "Frauen und Politik" deutlich, die es bei aller Problematik der letztlich weitgehend an die porfirianische "orden y progreso"-Rhetorik anknüpfenden Beiträge der Frauenzeitschriften doch nicht versäumt, den politischen Kommentar als solches, die Herausgebertätigkeit und dann vor allem auch die gelegentlich vom Regierungsdiskurs abweichenden feministischen Positionen in ihrem soziokulturellen Kontext angemessen herauszustellen. Dies gilt insbesondere für die Herausgeberinnen von Vésper, die schon lange vor der Revolution die "monarquía absurda" des Generals Díaz kritisieren (S. 215f.) und im Revolutionsjahr explizit dessen Zensur anklagen: "Protestamos enérgicamente contra el encarcelamiento injusto y criminal que sufren muchos periodistas" (S. 207).

Die unter "Ein Kreuz mit der katholischen Kirche?" behandelte Emanzipation vom katholischen Diskurs erweist sich als ungleich heterogener: Während der Correo de las Señoras das konservative Frauenbild der katholischen Presse über belehrende Artikel, religiöse Mariengedichte und moralisierende Heiligenlegenden pflegt, tendiert der Periódico de las Señoras durchaus zu einer Verurteilung solcher Legenden. Die meisten Frauenzeitschriften vermeiden hingegen eine explizite Stellungnahme, und auch in der genannten kritischen Presse kommt es gelegentlich zur Publikation  pro-katholischer Artikel (S. 232). Den Ausführungen der Autorin könnte hier hinzugefügt werden, dass eine solche Ambivalenz durchaus in Einklang mit der porfirianischen Politik steht, denn hier werden ja einerseits positivistische Leitlinien gezogen, die in Verbindung mit der Verfassung von 1856 die Glaubwürdigkeit und Macht der Kirche deutlich beschränken, andererseits wird aber eine Politik der Toleranz implementiert, in deren Rahmen sogar die Wiedereinführung katholischer Schulen möglich wird.

Ungleich eindeutiger fällt die Zeitschriftenanalyse hinsichtlich der Behandlung bzw. besser Ignoranz indigener Positionen aus, die Temelli wie folgt resümiert: "‘Indígenas‘ [sind] den Autorinnen überwiegend nicht der gedruckten Rede wert. Sie erscheinen im race-bedingten Machtverhältnis zumeist als das ignorierte Andere" (S. 337). Auch in dieser Hinsicht knüpfen die Zeitschriften an den Regierungsdiskurs an, der bei aller Hochachtung der vorkolumbianischen Hochkulturen doch kaum Verständnis für deren Nachkommen im zeitgenössischen Mexiko aufzubringen vermag. Vielmehr wird hier im Rahmen eines radikalen Industrialisierungsprogramms auch auf kultureller Ebene eine "emblanquecimiento"-Politik betrieben, die für die indigenen Kleinbauern schwere sozioökonomische Konsequenzen hat. Es ist besonders bedauerlich, dass die Emanzipation der Herausgeberinnen und der zahlreichen Autorinnen gerade in diesem Bereich weitestgehend scheitert, denn sie bestätigen sich hiermit als Vertreter einer eher geringen elitären Schicht überwiegend gut gebildeter, finanziell abgesicherter bis wohlhabender und vor allem weißer (bzw. wie Díaz an einem "emblanquecimiento" aus der Puderdose arbeitender) bürgerlicher Frauen, die an den etablierten Rassengrenzen festzuhalten gedenken.




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Unter dem bezeichnenden Titel "Emanzipation a la mexicana" kommt die Autorin dann auch in der abschließenden Sektion zu einem nur begrenzt optimistischen Resümee. Während im Correo de las Señoras Emanzipation ganz in positivistischer Tradition als "Befreiung der Frau von außerhäuslichen Tätigkeiten" definiert wird, wagt der Álbum de la Mujer ein bescheidenes Plädoyer für einen intellektuelle und wirtschaftliche aber keineswegs politische Freiheiten reklamierenden "feminismo conservador". Nur Vésper geht mit seiner Verbindung von Emanzipation, Feminismus und politischem Widerstand einen deutlichen Schritt weiter.

So bleibt ein insgesamt eher heterogenes Bild der Frauenzeitschriften im vorrevolutionären Mexiko. Einerseits setzen sie durchaus Impulse für Projekte unter dem Einparteiensystem des Partido Revolucionario Institucional, der unter der Präsidentschaft von Enrique Peña Nieto nunmehr erneut an seine 71jährige postrevolutionäre Herrschaft anknüpfen kann. Andererseits sind diese Impulse in vieler Hinsicht problematisch, insbesondere etwa wenn sie der Pflege und Festigung von Bildern der mexikanischen Frau als Personalunion von "esposa virtuosa, ángel del hogar, madre-educadora und mujer instruida" dienen (S. 360). In einem solchen keineswegs spannungsfreien Identitätskonstrukt halten sich konservative Leitideen, die es zu überwinden gilt. Die Autorin selber hat durch ihre äußerst differenzierte Darstellung der begrenzten Emanzipationsansätze in vorrevolutionären Frauenzeitschriften hierzu einen entscheidenden Beitrag geleistet.