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Ulrich Schmitzer (Erlangen)



E.A. Schmidt (1997): Sabinum. Horaz und sein Landgut im Licenzatal. Heidelberg: Winter (Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Schriften der Philosophisch-historischen Klasse 1997, 1).



In Zeiten, in denen die Tendenz auch in der Klassischen Philologie dahin geht, den Realitätsgehalt antiker Literatur gegenüber den intertextuellen Beziehungen als von weitgehend marginaler Bedeutung zu betrachten (vgl. meine Besprechung von N. Holzberg, Ovid, 1997, Gymnasium 105, 1998, 358-361), wirkt ein Titel wie Sabinum. Horaz und sein Landgut im Licenzatal fast altmodisch. Doch E.A. Schmidts Buch ist keineswegs ein Aufguß wissenschaftsgeschichtlich überholten antiquarischen Fleißes, sondern ein mit großem intellektuellen Vergnügen und nicht minderem Gewinn zu lesender, wichtiger Beitrag zu Horaz und zum Verständnis antiker Literatur überhaupt.
Im ersten der drei Hauptabschnitte (Horazens Landgut in den Sabinerbergen, 13-52) stellt Schmidt zunächst das höchst anschauliche, differenzierte Bild vor, das sich aus den Angaben des Dichters gewinnen läßt, und ordnet es in die zeitgenössische Villenkultur ein: "... das Sabinum [wäre] danach ein Begriff genau mittlerer Größe" (22). Es schließt sich die "Geschichte der Lokalisierung und Identifikation" an, wo Schmidt die seit dem Humanismus ventilierten Hypothesen über die Lage der Villa sowie der von Horaz beschriebenen Örtlichkeiten in ihrer Nähe, insbesondere des fons Bandusiae, Revue passieren läßt. Ein besonderes Juwel ist die Besprechung und auch der Abdruck der zehn Veduten Philipp Hackerts von 1780, ein hochrangiges Zeugnis der Wirkungsgeschichte der horazischen Landschaft, das allein schon die Lektüre des Buches lohnt. Der erste Hauptteil wird abgerundet durch eine knappe Würdigung der Ausgrabungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und des sich daraus ergebenden Befundes.
Es folgt mit II. Horazens Sabinumdichtung (53-175) der ausführlichste Teil, in dem die einschlägigen Gedichte einer themenzentrierten Interpretation unterworfen werden: die "Krone der Satirendichtung" sat. 2,6; der "Zyklus der Sabinumoden" carm. 1,17; 1,22; 2,13; 2,18; 3,13; 3,18 und die "Sabinumdichtung im Buch der Briefe" epist. 1,7; 1,10; 1,14; 1,16. S. stellt seine Besprechung unter die Maxime: "Das zentrale Prinzip der horazischen Lebensführung in seinen Dichtungen ist das Maß [...] Diese grundlegende Maßethik wird in den verschiedenen Gedichtsammlungen und Dichtungsformen je verschieden akzentuiert" (53). Es ist angesichts der Vielgestaltigkeit von Horazens Œuvre nicht ungefährlich, sich zu solch allgemeinen Aussagen vorzuwagen, zumal wenn damit der Eindruck verbunden sein könnte, damit den ganzen Horaz erfaßt zu haben, denn der politische, der literarkritische, aber auch der erotische Horaz bleiben natürlich ausgespart.




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Doch dafür entsteht in den streckenweise überaus detaillierten Interpretationen ein Gesamteindruck davon, wie Horaz sein Sabinum nicht nur als reale Entität, sondern auch als "symbolische Lebensform" in sein Werk integriert. Die Stärke von Schmidts Vorgehensweise liegt in der Verzahnung von allgemeinen Aussagen über Horazens Dichtung und der Beachtung des konkreten Textbefundes.
Ein Musterbeispiel ist die Behandlung von sat. 2,6 (56-73). Auf eine allgemeine Bestimmung des "unsatirischen" Charakters der horazischen Satire werden die dem Sabinum gewidmeten Verse besprochen. Auf den lateinischen Text und die Voßsche Übersetzung folgt die Interpretation. In der viel traktierten Fabel von der Stadt- und der Landmaus lehnt Schmidt die Ansicht (von Seeck und Holzberg) ab, Horaz wolle damit sein Verhältnis zu Maecenas charakterisieren. Vielmehr schließt er sich D. West an: Die "Fabel gilt der Stadtmaus in uns, in Cervius, in Maecenas, in Philologen und anderen Lesern". Insgesamt werde in sat. 2,6 das Sabinum zum Symbol der Zufriedenheit, das "seinen Sinn und Lebenswert als Ort und Gelegenheit lebensphilosophischer Reflexion" erweist. Diese Zufriedenheit und die zugehörige Selbstbescheidung stimmen auch zur sozialen Realität, zur Größe von Horazens Landgut.
Oder die Interpretation der Sabinumoden (77-125): Die sechs Gedichte sind gleichmäßig auf die drei Bücher der ersten Odensammlung verteilt, ja sie bilden durch ihre gemeinsame Thematik "Friedlichkeit und Gewaltlosigkeit der lyrischen Sabinumverarbeitung" (80) einen eigenen Zyklus innerhalb des Werks. Nach dieser allgemeinen Bestimmung werden die einzelnen Oden in werkchronologischer Reihe vorgestellt, nach Text und Übersetzung von Fall zu Fall entweder in kommentarartiger Einzelerklärung oder in zusammenhängender Darstellung, bisweilen auch beides zusammen, so bei der Ode 2,18 (non ebur neque aureum): S. stellt zunächst im allgemeinen heraus, wie Horaz das in der Antike verbreitete Thema der Kritik am Bauluxus (als dessen positiver Gegenpol das Sabinum erscheint) mit der Todesthematik (individuell akzentuiert durch das Prometheus-exemplum) verknüpft. Dann unterzieht er einzelne Verse und Begriffe einer genaueren Inspektion, woraus sich am Ende (gegen Nisbet-Hubbard) für ihn das harmonische Einverständnis des Armen und Leidenden selbst mit dem Tod ergibt, während der Reiche und Mächtige gewaltsam aus dem Leben gerissen wird.
Es fällt weiter auf, daß das Sabinum offenbar erst in der letzten Lebens- und Schaffensperiode des Horaz – im 2. Buch der Briefe und im 4. Odenbuch – keine Rolle mehr spielt. Ob das darauf zurückzuführen ist, daß das Thema nun "poetisch verbraucht" war (54) oder nicht doch eher, daß sich bei Horaz mit fortschreitendem Alter auch die äußeren Lebensumstände änderten, darüber läßt sich mangels external evidence nur spekulieren.
Der letzte große Abschnitt III. Hermeneutische Reflexionen (176-187) ist der kürzeste, zugleich aber der grundsätzlich wichtigste, denn dort geht es um die Frage, wie die Kenntnis von Horazens Landgut das Verständnis seiner Gedichte prägt, oder anders ausgedrückt: wie es möglich ist, aus archäologisch erfaßten Realien nicht nur ornamentale Illustrationen eines schon verstandenen Textes, sondern ein Medium interpretatorischer Erkenntnis zu gewinnen. Das Wissen um den archäologischen Befund erst zeigt, daß sich aus Horazens Dichtung tatsächlich ein zutreffendes Bild seines Landgutes gewinnen läßt. Damit wird in die traditionell weitgehend von der Frage nach den griechischen Vorbildern und der Fiktion bestimmten Diskussion ein realistisches, römisches (oder vielleicht eher: italisches) Korrektiv eingeführt. Doch gerät Horaz das (anders als bei Cicero oder Plinius) nicht zu einer detaillierten Architekturbeschreibung, sondern es bleibt eine "idyllische Ideallandschaft". Mit Recht betont Schmidt, daß die Gewißheit über den Realitätsgehalt für das Verständnis von Horazens Dichtung ähnlich entscheidend ist wie etwa bei Ovids Exilpoesie, daß die Entdeckung des Sabinums die Wahrnehmung in ähnlicher Weise verändert hat wie die Entdeckung Troias durch Schliemann das Verständnis der Ilias.




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Aber auch die Landschaft gewinnt durch Horazens Dichtung in den Augen des kundigen Besuchers, wie Schmidt in Applikation von Cic. fin. 5,1ff. entwickelt. Die "hermeneutische Lust an der Lesbarkeit von Orten" (182) hat zur Konsequenz:

Im Sabiner Tal erleben wir Horazens Verwandlung der Landschaft und beleben unsere eigenen Erfahrungen mit ihm, weil unsere von ihm geleiteten und geprägten Sinne seine Dichtungslandschaft aufnehmen. Wir, nur wir, machen das Tal wieder horazisch, weil die Dichtung des Horaz sie zu einem System gewinnender Zeichen gemacht und sie auf diese Weise mit horazischer Bedeutung gefüllt hatte, die für uns allein aus seiner Dichtung zu gewinnen ist.

Und es wäre zu wünschen, daß möglichst viele Leser diese hermeneutische Lust mit der Lektüre von Schmidts Buch in Horazens Sabinum selbst erleben können.
 

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