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Christian von Tschilschke (Siegen)



Susan Martin-Márquez (2008): Disorientations. Spanish Colonialism in Africa and the Performance of Identity. New Haven and London: Yale University Press.



In seiner enorm einflussreichen, trotz der ursprünglichen Umstrittenheit längst zum Klassiker gewordenen Studie Orientalism Western Conceptions of the Orient (1978) geht Edward W. Said bekanntlich auf den Beitrag Spaniens (und Portugals) zu der von ihm als "Orientalismus" bezeichneten Diskursformation nicht näher ein. Obwohl bereits Said selbst diesen Beitrag in der Einleitung zu seinem Buch als durchaus bedeutend einschätzt (Said 1995: 17), ist es nicht übertrieben zu sagen, dass erst mit der hier vorgestellten, ebenso umfangreichen wie brillanten kulturwissenschaftlichen Untersuchung von Susan Martin-Márquez, also exakt dreißig Jahre nach dem Erscheinen von Saids Epoche machendem Buch, der kolonialistische Afrikadiskurs Spaniens endlich eine seiner kulturellen Bedeutung, Vielfalt, Komplexität und Widersprüchlichkeit adäquate Gesamtdarstellung gefunden hat. Im Vergleich zu den führenden mitteleuropäischen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien, die bei Said im Zentrum stehen, weist der spanische kolonialistische Afrikadiskurs nämlich eine Reihe von Besonderheiten auf, die ihm eine einmalige Sonderstellung in Europa verleihen und daher – unter anderem – zu einer Ergänzung, Überprüfung und Korrektur der Thesen Saids einladen.

Das besondere Profil des spanischen Afrikadiskurses ist hauptsächlich durch drei Faktoren bestimmt: Erstens ist festzuhalten, dass sich, zeitlich gesehen, das neokoloniale Engagement Spaniens in Afrika in einer kompensatorischen Gegenbewegung zum sukzessiven Verlust des Kolonialreichs in Amerika vollzieht. Zweitens, und vor allem dadurch erhält es seine Besonderheit, existiert eine große historische, geographische und kulturelle Nähe zwischen Spanien und Afrika, die den Kolonisator Spanien vor dem Hintergrund einer 900 Jahre dauernden maurischen Präsenz auf der iberischen Halbinsel nicht selten selbst als Teil des 'Orients' erscheinen lässt, und zwar sowohl aus der Fremd- wie aus der Eigenperspektive.




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Drittens erweist sich der spanische Afrikadiskurs auch als wirkungsmächtige und bisher kaum angemessen beleuchtete Kehrseite des Europadiskurses, der im Mittelpunkt der für die spanische Kulturgeschichte bis ins späte 20. Jahrhundert hinein charakteristischen Metaerzählung über die eigene problematische nationale und kulturelle Identität steht (vgl. Tschilschke 2009: 54-58).

Susan Martin-Márquez, die als Professorin für Spanische und Portugiesische Literaturwissenschaft an der Rutgers University in New Jersey (USA) lehrt, zeigt in ihrer außerordentlich materialreichen, methodisch stringenten und theoretisch reflektierten Arbeit, wie diese drei Faktoren zu ständigen "disorientations", wie es im Titel ihrer Arbeit heißt, also zu Störungen, Verwirrungen und Desorientierungen des kolonialen Imaginären führen. Einer Beschreibung durch dichotomisierende und generalisierende Formeln, etwa nach dem Schema: hier christliches Europa, dort muslimisches Afrika, wie man sie häufig Said zum Vorwurf gemacht hat, ist damit von Vornherein die Grundlage entzogen. Im Fall Spaniens habe vielmehr Folgendes zu gelten, so die zentrale These: "Spain is a nation that is at once Orientalized and Orientalizing. The dynamic resembles a Möbius strip, calling into question the possibility of any location 'outside' Orientalist discourse. For Spaniards, this positioning on both 'sides' of Orientalism – as simultaneously 'self' and 'other' – may bring about a profound sense of 'disorientation'." (9)

Zeitlich setzt die Untersuchung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein und erstreckt sich bis in die unmittelbare Gegenwart des Jahres 2006. Die wichtigsten Stationen werden weitgehend chronologisch abgehandelt: die Formierung des Afrikadiskurses im 19. Jahrhundert, der erste Spanisch-Marokkanische Krieg (1859-60), die vom Desastre del 98 geprägte Situation um die Jahrhundertwende, die Niederlage im marokkanischen Barranco del Lobo im Juli 1909, der zweite Spanisch-Marokkanische Krieg (1921-26), der Spanische Bürgerkrieg (1936-39), die Franco-Diktatur und der Übergang zur Demokratie, der mit dem Eintritt in die postkoloniale Ära zusammenfällt. Dabei wird Martin-Márquez konsequent der Tatsache gerecht, dass sich die spanischen Kolonialinteressen in Afrika nicht allein auf Nordafrika und das Protektorat Spanisch-Marokko (1912-1956) erstrecken.




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Auch die 1884 Spanien zugesprochene und erst 1976, ein Jahr nach Francos Tod, in die Unabhängigkeit entlassene Westsahara sowie das Gebiet des heutigen Äquatorialguinea, Spaniens einzige Kolonie im subsaharischen Afrika, die 1778 in den Besitz der spanischen Krone gelangte und 1968 unabhängig wurde, erfahren eine gleichwertige Behandlung.

Die Vorgehensweise von Martin-Márquez ist primär diskursanalytisch. Im Hinblick auf die Afrika-Komponente spanischer Identitätsentwürfe wertet sie die unterschiedlichsten spanischen Quellen aus: von literarischen, wissenschaftlichen und politischen Texten über die bildende Kunst, Dokumentar- und Spielfilme bis hin zu aktueller Popmusik. Neben bekannten Persönlichkeiten wie Pedro Antonio de Alarcón, Marià Fortuny, Benito Pérez Galdós, Joaquín Costa, Cánovas del Castillo, Ángel Ganivet, Carmen Burgos oder Francisco Franco werden auch zahlreiche kaum noch oder nur wenig bekannte Namen herangezogen. Außerdem kommen, und das ist ein besonderer Vorzug der Arbeit, verschiedene kulturelle Phänomene eingehend zur Sprache, etwa die Ausstellungspraxis des 1867 in Madrid gegründeten Museo Arqueológico Nacional oder der im Herbst 2000 in der katalanischen Stadt Banyoles ausgebrochene Streit um die Zurschaustellung des als "El Negro" bekannten konservierten Körpers eines afrikanischen Stammeshäuptlings im dortigen Naturkundemuseum.

Der kolonialistische Afrikadiskurs in Spanien speist sich, wie Martin-Márquez stichhaltig belegt, aus einem im Kern begrenzten Repertoire stereotyper Ideologeme. Dazu gehört etwa die Vorstellung, dass die Pyrenäen im Norden und das marokkanische Atlasgebirge im Süden die 'natürlichen' Grenzen Spaniens bildeten und die Straße von Gibraltar die Grenze sei, an der sich die beiden Teile spiegelten. Auch die Idee einer engen kulturellen Verwandtschaft, ja sogar einer 'Blutsbrüderschaft' zwischen Spaniern und (Nord-)Afrikanern ist fester Bestandteil dieses Repertoires, auf das immer dann zurückgegriffen wurde, wenn es galt, die eigenen hegemonialen Ansprüche und die mit ihnen legitimatorisch verknüpfte 'zivilisatorische Mission' gegenüber den konkurrierenden Ambitionen der übrigen europäischen Kolonialmächte aufzuwerten. Die historische, geographische, kulturelle und selbst 'rassische' (Martin-Márquez zieht diese Bezeichnung durchgehend der Alternative 'ethnisch' vor [vgl. 13]) Lage Spaniens zwischen Afrika und Europa, ermöglichte grundsätzlich ein komplexes Stellungsspiel, das je nach Situation höchst unterschiedliche Instrumentalisierungen der entsprechenden Topoi erlaubte.




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Wie vielschichtig sich die afrikanistische Rhetorik zum Teil gestaltete, erläutert Martin-Márquez unter anderem am Beispiel des Einsatzes maurischer Truppen auf Seiten Francos im Spanischen Bürgerkrieg eindrücklich – mehr als 100.000 Marokkaner sollen es gewesen sein. Um die strategische Allianz zwischen Spaniern und Marokkanern zu festigen, stellte die franquistische Propaganda die republikanischen Feinde im Vergleich mit den marokkanischen Verbündeten als rassisch minderwertiger und als die wahren Ungläubigen der Neuzeit dar, die in einer glorreichen Wiederauflage der reconquista vernichtet werden müssten. Um sich der Loyalität der marokkanischen Hilfstruppen zu versichern, ging man sogar so weit, das Gerücht auszustreuen, dass Franco selbst heimlich nach Mekka gepilgert und zum Islam übergetreten sei (vgl. 205). Die Marokkaner, der 'äußere Kolonisierte', wurden durch dieses Manöver an die Seite des spanischen Kolonisators gehoben, während den feindlichen Republikanern als den 'inneren Kolonisierten' in dieser Konstellation die Rolle der 'Afrikaner' zugeschrieben wurde.

Dass die afrikanistische Rhetorik aber erhebliche Ambivalenzen birgt, offenbart sich dagegen vor allem unter historischen Bedingungen, die eher nach Abgrenzung gegen den afrikanischen Anderen und nach Bekräftigung der Zugehörigkeit Spaniens zu Europa zu verlangen. Wie sehr die traditionelle Sorge um die europäische Identität Spaniens bis heute im Diskurs spanischer Intellektueller unterschwellig fortwirkt, verdeutlicht Martin-Márquez in einer ausführlichen und gut nachvollziehbaren Kritik an dem ansonsten als sehr verdienstvoll anerkannten, von Eloy Martín Corrales zusammengestellten und kommentierten Bildband La imagen del magrebí en España. Una perspectiva histórica siglos XVI-XX (Eloy Martín Corrales 2002). Martin-Márquez wirft dem katalanischen Historiker vor, die historische Alterität Spaniens kategorisch auszublenden: "[…] the author’s project is clear: to demonstrate that Spaniards are unquestionably European, since they have also produced predominantly derogatory representations of Maroccan others." (62)

Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet der zu seiner Zeit viel gelesene Reisebericht Viajes por Marruecos (1814) des Katalanen Domingo Badía y Leblich alias Alí Bey, in dem Martin-Márquez die simultane Emergenz zweier Hauptentwicklungslinien des spanischen Afrikadiskurses im 19. Jahrhundert abgebildet sieht.




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Die eine ist das neoimperialistische Bestreben, den afrikanischen Kontinent zu erobern, und die andere ist die Wiederentdeckung des kulturellen Erbes von Al-Andalus, die sich in der Romantik vor allem in der nostalgischen Mythisierung der Alhambra niederschlägt. Als drittes diskurskonstitutives Element kommt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der in Europa immer mehr Anhänger findende 'wissenschaftliche Rassismus' hinzu, wobei Martin-Márquez betont, dass in Spanien in Gestalt der Mitte des 15. Jahrhunderts aufgekommenen Ideologie der limpieza de sangre bereits sehr früh 'biologische' Faktoren in die Konstruktion nationaler Identität einbezogen wurden.

Dass Rassen-Argumente auch noch bei der Herausbildung der peripheren Nationalismen in Katalonien, im Baskenland, in Galicien und später auf den Kanarischen Inseln und in Andalusien jeweils in engem Zusammenhang mit der 'afrikanischen Frage' eine entscheidende Rolle spielten (vgl. 43-49), ist eine der vielen erhellenden Einsichten, die man bei der Lektüre von Disorientations gewinnen kann. Insbesondere in dem nie von Muslimen eroberten Baskenland trieb die Überlagerung von kolonialistischem und nationalistischem Denken skurrile Blüten. Während man einerseits stolz auf die 'Reinheit' des eigenen Blutes war, die alle übrigen Spanier zu potenziellen 'Afrikanern' stempelte, führte das erwachende Bewusstsein der Unterdrückung durch den Madrider Zentralstaat zur Identifikation mit den afrikanischen Kolonien, denen man sich darüber hinaus andererseits durch vermeintliche Sprachähnlichkeiten und die angebliche direkte Verwandtschaft der Basken mit dem steinzeitlichen Cro-Magnon-Menschen besonders verbunden fühlte.

Besonders aufschlussreich sind vor allem auch jene Passagen, in denen Martin-Márquez detailliert auf die Entstehung des gelehrten spanischen Arabismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeht. Martin-Márquez wirft darin ein neues Licht auf das gerade in Deutschland in der letzten Zeit wieder verstärkt diskutierte Werk Américo Castros (vgl. Baumeister/Teuber 2010). Insbesondere im Gedankengut des einflussreichen liberalen Gelehrten Francisco Fernández y González sieht Martin-Márquez zentrale Thesen Américo Castros vorweggenommen.




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Dasselbe gilt für die Auseinandersetzung zwischen Fernández y González und seinem konservativen Opponenten Francisco Javier Simonet, die bereits in wesentlichen Punkten der berühmten Kontroverse zwischen Américo Castro und Claudio Sánchez Albornoz über Ursprung und Identität der Spanier in den 1950er Jahren gleicht. Auch die ideologische Position von Benito Pérez Galdós, die häufig als luzide Präfiguration der Ideen Américo Castros eingeschätzt wurde, ist wohl in Wahrheit auf Fernández y González zurückzuführen (148f.). Martin-Márquez gibt daher grundsätzlich zu bedenken: "[…] critics may have allowed the monumental figure of Castro to obscure the many illustrious Spanish Arabists who preceded him." (148, vgl. auch 303f.)

Zu welchen bedeutsamen Erkenntnissen eine stringent durchgeführte postkolonialistische Analyse künstlerischer Artefakte gelangen kann, führt der Abschnitt zum ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg (1859-60) eindrucksvoll vor Augen. Dieses Urteil gilt bereits für die Formulierung der These, dass Pedro Antonio de Alarcóns Abkehr vom imperialistischen Projekt einer Kolonisierung Nordafrikas, die sich in seinem berühmten Diario de un testigo de la Guerra de África (1859) dokumentiert, wohl durch seine Einsicht in die mangelnde Konversionsbereitschaft der Marokkaner inspiriert ist. Vor allem trifft diese Einschätzung aber auf die ingeniöse transmediale Anwendung des Konzepts der Perspektive auf Benito Pérez Galdós’ historischen Roman Aita Tettauen (1905) und die Behandlung der marokkanischen Thematik in den Gemälden des katalanischen Malers Marià Fortuny zu. Hier zeigt Martin-Márquez eindringlich, wie sich die Erosion patriotischer Überzeugungen in einer sich subtil verändernden Weltwahrnehmung niederschlägt. Nicht weniger hellsichtig ist ihr Kommentar zu dem genialen Kunstgriff von Galdós, der dem Leser im dritten Teil seines Romans zunächst den Eindruck vermittelt, das Geschehen werde durch den Erzähler El Nasiry aus der marokkanischen Fremdperspektive berichtet, nur um ihm dann umso wirkungsvoller klarzumachen, dass er einem zynischen Täuschungsmanöver aufgesessen ist: "This is a strategy that may force any of us as readers to confront our own complicity with racist thought, as we are first lulled into a comfortable, self-satisfied respect for El Nasiry’s 'other' perspective, only to discover the base distortions underlying that perspective in the end." (129)




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Für die Abschnitte, die dem zweiten Spanisch-Marokkanischen Krieg (1921-26) und seiner Vorgeschichte, dem Spanischen Bürgerkrieg (1936-39) sowie den ersten drei Jahrzehnten der Franco-Diktatur gewidmet sind, wählt Martin-Márquez einen gendertheoretischen Ansatz. Das ist einleuchtend, weil das Kolonialgeschehen in dieser Zeit nicht nur gleichermaßen zur Erschütterung wie zur Stabilisierung der herkömmlichen Geschlechterordnung beiträgt, sondern auch intensiv als Bühne genutzt wird, auf der die spanische Gesellschaft die Krise und Reaffirmation traditioneller Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte inszeniert. Dabei wird deutlich, dass der kulturelle Kontakt in den Kriegssituationen eher Phantasien und Praktiken der Transgression begünstigt, was sich vor allem in einer größeren Permissivität insbesondere gegenüber Formen männlichen homoerotischen Begehrens äußert. Zu dem reichhaltigen Material, das Martin-Márquez für ihre Analysen heranzieht, gehören auch Francos Memoiren aus seiner Zeit bei der Fremdenlegion Diario de una bandera (1922). Im Kolonialkino der Franco-Zeit rückt dagegen zur Bekräftigung konservativer katholischer Wertvorstellungen das Bild der patriarchalischen Familie in den Vordergrund. Auf je eigene Weise ideologisch instrumentalisiert werden auch die sich auf die Kolonien Spanisch-Sahara und Spanisch-Guinea beziehenden Spielfilme, denen jeweils ausführliche und facettenreiche Kommentare gewidmet sind.

Im letzten Abschnitt ihrer Studie entfaltet Martin-Márquez ein differenziertes Panorama der postkolonialen Situation im demokratischen Spanien und in den ehemaligen Kolonien. In Spanien haben das bis heute spannungsvolle Verhältnis zwischen den Autonomen Gemeinschaften und der spanischen Nation und die sich gegen Ende der 1990er Jahre zuspitzende Migrationsproblematik zur erneuten Konjunktur des an der mittelalterlichen Vergangenheit von Al-Andalus orientierten Modells der convivencia und der 'drei Kulturen' geführt. Was den einen weiterhin als zukunftsweisende Utopie gilt, stellt sich den Vertretern eines dem Nationengedanken verpflichteten europäisch-christlichen Spanien als gefährliche Fiktion dar. Der Debatte um das Für und Wider einer abstrakten convivencia setzt Martin-Márquez am Ende eine konkrete, subjektive Erfahrung der convivencia entgegen, die sie vor allem in der Literatur von Immigranten wie Donato Ndongo-Bidyogo und Francisco Zamora Loboch aus Äquatorialguinea oder Najat El Hachmi aus Marokko zum Ausdruck gebracht sieht.




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In deren subversiver Praxis des "border thinking" (346), wie sie es in Anlehnung an Walter Mignolo charakterisiert, erkennt Martin-Márquez die aktuell bei weitem produktivste Form der 'Desorientierung'.

In Susan Martin-Márquez’ exzellenter, überaus lesenswerter Studie zum spanischen Kolonialismus in Afrika präsentieren sich so in der Tat die "cultural studies at its best", wie der Klappentext mit den Worten Jo Labanyis verheißt. Die US-amerikanische Hispanistik, die den postcolonial turn schon früh vollzogen hat und sich generell durch eine besondere Sensibilität für das Race-Class-Gender-Paradigma, für Minoritätenprobleme und hybride Identitäten sowie für nicht-literarische und visuelle Diskurse auszeichnet, zeigt sich hier von ihrer produktivsten und innovativsten Seite. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass das Buch bereits kurz nach seinem Erscheinen ins Spanische übersetzt wurde (Martin-Márquez 2011). Der Hispanistik in Deutschland wird mit Martin-Márquez’ methodisch wegweisender Hinwendung zum spanischen Kolonialismus in Afrika ein weitläufiges, bisher kaum beachtetes Forschungsfeld eröffnet, denn die in diesem Zusammenhang von deutscher Seite vor allem in Betracht kommenden Veröffentlichungen André Stolls (z.B. Stoll 1995) oder Norbert Rehrmanns (z.B. Rehrmann 2002) zum Umgang der spanischen mit der arabisch-islamischen und jüdischen Kultur sind doch thematisch und methodisch wesentlich anders gelagert. Dass der 'andere Kolonialismus' Spaniens in Afrika indessen auch hierzulande verstärkt auf Interesse zu stoßen beginnt, belegen die gerade fertig gestellten, noch unveröffentlichten Dissertationen von Stephanie Fleischmann (Fleischmann 2010) und Elmar Schmidt (Schmidt 2011) zur literarischen Darstellung und erinnerungskulturellen Aufarbeitung des Spanisch-Marokkanischen Kriegs von 1921-1926. Damit sind gute Bedingungen dafür geschaffen, dass Susan Martin-Márquez’ hohe Maßstäbe setzende Arbeit auch in Deutschland eine angemessene Rezeption erfährt.



Bibliographie

Baumeister, Martin/Bernhard Teuber (2010): "Dossier: La obra de Américo Castro y la España de las tres culturas, sesenta años después", in: Iberoamericana 38, 91-159.




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Fleischmann, Stephanie (2010): Literatur des Desasters von Annual. Über das 'Um'-Schreiben der kolonialen Erzählung im spanischen Marokko-Krieg (1921-1927). Diss. Universität Mainz (noch unveröffentlicht).

Martín Corrales, Eloy (2002): La imagen del magrebí en España. Una perspectiva histórica siglos XVI-XX. Barcelona: Bellaterra.

Martin-Márquez, Susan (2011): Desorientaciones. El colonialismo español en África y la 'performance' de identidad. Übersetzt von Josefina Cornejo. Barcelona: Bellaterra.

Rehrmann, Norbert (2002): Das schwierige Erbe von Sefarad. Juden und Mauren in der spanischen Literatur. Von der Romantik bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Vervuert.

Said, Edward W. (1995): Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London: Penguin. [1978]

Schmidt, Elmar (2011): Die Darstellung des Rifkriegs in der spanischen und marokkanischen Literatur. Diss. Universität Bonn (noch unveröffentlicht).

Stoll, André (1995): Sepharden, Morisken, Indianerinnen und ihresgleichen. Die andere Seite der hispanischen Kulturen, Bielefeld: Aisthesis.

Tschilschke, Christian von (2009): Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität. Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Vervuert.