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Dagmar Stöferle (München)



Mary Orr (2008): Flaubert's Tentation. Remapping Nineteenth-Century French Histories of Religion and Science. Oxford: Oxford University Press.



Nicht ohne Grund ist Flauberts Tentation de saint Antoine ein selten und fast ausschließlich von Spezialisten gelesenes Buch. Der Text, der in mehreren Fassungen vorliegt (1849, 1856, 1874), sperrt sich in jeder Hinsicht der Lesbarkeit. Die Beschreibung von Form, Inhalt oder gar Thema dieser modernen Heiligenvita in sieben Versuchungskapiteln ist eine große Herausforderung. Mary Orr stellt sich ihr in doppelter Hinsicht: Ihr Buch wendet sich sowohl an den interessierten Leser, der einen schwierigen Text erklärt bekommen möchte, als auch an die spezialisierte Kritik, die um eine selten gewagte Gesamtinterpretation des Textes ergänzt werden soll. Damit schließt sie eine große Forschungslücke.

Die Metapher des Mapping, die der Titel verwendet, dient einerseits dazu, einen unzugänglichen Text begehbar, also lesbar zu machen, andererseits steckt in ihr die kulturgeschichtliche Hauptthese des Buches: Es geht um eine Neuvermessung von Religion und Wissenschaft im französischen 19. Jahrhundert. Orr begreift Flauberts Tentation als ein "modern mystère" (209), in dem die Religion mit wissenschaftlichen Mitteln und die Wissenschaft auf religiöse Weise in jeweiliger Absetzung von institutionalisierten Autoritäten und Doktrinen ausgelotet werden. Flauberts Antoine widersteht konsequent allen Formen institutionalisierter Religion und Wissenschaft, von seinem spezifischen Standpunkt aus bleibt er ein Super-Orthodoxer, nämlich schlicht ein Gläubiger. Orr wendet sich gegen Sichtweisen vor allem französischer Provenienz, die dem Text eine atheistische, ambivalente und/oder synkretistische Haltung in Glaubensdingen attribuieren wollen.1 Antoines Haltung im Laufe der verschiedenen Versuchungen (Kardinalsünden, Theologie, Charismatiker, Götter, Pantheismus, Monismus) ist von Anfang an und bleibt die der Widerstandsfähigkeit ("resilience"); sein (halluzinatorisches) Verschmelzen mit der Materie am Ende des Textes liest Orr weder pantheistisch noch fideistisch, sondern "pan-creational", wobei es darum gehe, "the wonders of natural science and the ecstatic experience of mystics into one work, a modern mystère" (228) zu bringen. Indem Flauberts Antoine Religion als mystische Wissenschaft betreibt, verbindet er auf verblüffende Weise Glauben und Vernunft.




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Wenn die Studie in die beiden großen Teile "Thinking Religion(s)" und "Sciences of the Gods: Gods of the Sciences" eingeteilt wird, so kommt dies nicht nur der These entgegen, dass Flaubert mit der Tentation Religions- und Wissenschaftsgeschichte schreibt, sondern auch dem Anspruch, den Text anschaulich zu machen. So werden in den beiden Teilen nacheinander die sieben Kapitel der Tentation präsentiert: Der erste Teil ist den Kapiteln 1 bis 4 gewidmet, der zweite den restlichen drei Kapiteln. In dieser methodischen Entscheidung liegt zugleich die Stärke und die Schwäche der Studie.

Orr nimmt Foucaults Befund der "bibliothèque fantastique" beim Wort und belässt es im Gegensatz zu jenem nicht dabei, in der Tentation einen kuriosen Diskurseffekt der Episteme des 19. Jahrhunderts zu sehen, sondern entfaltet die von Flaubert verwendeten Bibliotheken, ja das Wissen seiner Zeit wirklich. Sie historisiert den Text und befreit ihn wie nebenbei von seinem metaphysischen Ballast. Aber wie kann ein Text mit einem Protagonisten aus dem 3./4. nachchristlichen Jahrhundert französische Religions- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts schreiben und sogar noch kritisch reflektieren? Dies funktioniert mit der scheinbar einfachen und in der Interpretationsperspektive konsequent umgesetzten Behauptung, dass man es bei der Tentation mit einem historisch genauen Text zu tun hat, der keine Anachronismen zulässt. Bei Flauberts Antoine handelt es sich um einen Ägypter des 4. Jahrhunderts, d.h. um einen koptischen Christen. Orr rekurriert auf die Etymologie von 'koptisch', das auf das griechische Wort für 'ägyptisch' zurückgehe und im 5. nachchristlichen Jahrhundert insbesondere auf Multikulturalität verweise, auf ein synkretistisches Christentum, das altägyptische, hellenistische, arabische und römische Traditionen vereinte. Antoine ist ein orientalischer Insider und in Bezug auf das mit dem Nicäanum institutionalisierte Christentum wie auch auf die alexandrinischen Schulen ein "insider-outsider", dessen Hauptmerkmal ein "anchoritic and quintessential religious nonconformism" (45) ist. Das aber macht ihn zu einem perfekten Meditationsmedium für Glaubenslehren. Dieser mit dem religiösen und wissenschaftlichen Wissen seiner Zeit informierte Asket nun reflektiert als Visionär Religion und Wissenschaft des französischen 19. Jahrhunderts.




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Den Einzeldarstellungen der sieben Kapitel in den beiden Teilen 'Religion' und 'Wissenschaft' schickt Orr deshalb historiographische Prospekte voraus, welche die Parallelisierung und Überlagerung der beiden Epochen, Spätantike und französische Moderne, plausibilisieren. Napoleons Ägyptenfeldzug von 1798–1801 stellt hierfür das strategische Verbindungsglied dar. Das Hegemonialstreben des französischen Kaisers spiegelt sich in der konstantinischen Herrschaft, deren historische Signifikanz in der Einführung des Christentums als Staatskirche liegt. Die moderne Entsprechung des Konzils von Nicäa wird dann das erste Vatikanische Konzil 1879–80 unter Pius IX. Wie das Ägypten des 4. Jahrhunderts von christlichen und nicht-christlichen Splittergruppen, Sekten und Häresien geprägt war, war auch das Frankreich des 19. Jahrhunderts konfessionell-ideologisch zersplittert (Reformierte Kirchen, Saint-Simonismus, Gallikanismus, Ultramontanismus etc.).2 Im Bereich der Wissenschaft liegt die Parallele in einer gezielten Förderung und Zentralisierung von Wissenseinrichtungen: Napoleon ließ seinen Ägyptenfeldzug von 167 Wissenschaftlern und Gelehrten begleiten, die vor Ort geographische, geologische, archäologische und volkskundliche Forschungen betreiben sollten. Schon die Umbenennung des vorrevolutionären Jardin du Roi in das Muséum National d'Histoire Naturelle 1793 muss man vor dem Hintergrund des alexandrinischen Museion (Tempel der Musen) sehen, welchem die Einrichtung schließlich ihren Namen verdankt. Die alexandrinische Philosophen-Schule schließlich wurde von Autoren wie É. Vacherot, J. Matter historisch aufgearbeitet und zu einer (gnostischen) Synthese von Metaphysik und Naturwissenschaft stilisiert.

Mary Orrs Lektüreperspektive, nach der die Spätantike Antoines zu nichts anderem dient als zur Spiegelung der zeitgenössischen Wirklichkeit Flauberts, führt in der Textanalyse zu Einzelbeobachtungen, die in der Forschungsliteratur zur Tentation absolut originell sind und die allesamt darauf hinweisen, wie ironisch-kritisch Flaubert die Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit seiner Zeit gesehen hat. So zeigt Orr etwa, wie in der Darstellung der lichtdurchfluteten, schillernden Basilika, in der die Häresiarchen mit ihren Anhängern ihre Kulte praktizieren, nicht nur auf die Hagia Sophia angespielt wird, sondern auch auf den imposanten Kristallpalast der ersten Weltausstellung in London 1851 (119ff.). Den legendären Flug Antoines mit dem Teufel in die Weiten des Alls schließt sie mit der Faszination kurz, die die Flugversuche im 19. Jahrhundert ausgelöst haben. In einem Brief an Louise Colet schildert Flaubert, wie sehr ihn die "ascension aérostatique de Poitevin", der er im Juli 1852 in Rouen beigewohnt hat, beeindruckt habe (194).




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Die monströsen Mischwesen wiederum, die die Tentation allenthalben (aber vor allem im letzten Kapitel) bevölkern, mögen zwar auch die theologische Frage nach der Natur des Menschlichen und/oder Göttlichen (und der Natur Christi) behandeln, aber mehr noch verweist die an Plinius' Naturgeschichte geschulte Serie von Monstertieren und -menschen auf eine zwar wissenschaftlich aufgeklärte, aber deshalb nicht weniger fabelhafte Realität; etwa dann, wenn man an die Formierung moderner Wissenschaften wie Zoologie, Paläontologie, Anatomie, Ethnographie denkt, deren 'entdeckte' oder fingierte Objekte zwischen wissenschaftlicher und populärer Schaulust changierten. So erinnert Mary Orr an die Afrikanerin Sarah Baartman, die, als 'Hottentotten-Venus' bekannt geworden, aufgrund ihres Genitals öffentlich zur Schau gestellt wurde, und an den großen Bluff des Schaustellers P.T. Barnum, die Fidschi-Meerjungfrau, die aus dem Oberkörper eines Affen und einem Fischleib montiert war (150). Rätselhafte Versteinerungen, Mumifizierungen erlangten mit dem Beginn der vergleichenden Anatomie und Evolutionstheorie neue Virulenz. Vor diesem Hintergrund erscheinen jene merkwürdigen Allegorien wie La Mort, Luxure, der Sphinx und die Chimère, die auch in der letzten Fassung der Tentation noch eine eminente Rolle spielen, in einem ganz neuen, weniger mythologisch-allegorischen als 'wissenschaftlichen' Licht.

In der Ausfaltung und Erklärung des intertextuellen und wissensgeschichtlichen Panoramas liegt zweifelsohne die Hauptstärke des Buches. Die makrostrukturelle Zweiteilung der Analyse in die Bereiche Religion und Wissenschaft kann zeigen, dass beide als Überzeugungssysteme den gleichen Geltungsbedingungen unterliegen, dass sie wissenschaftlich fundiert sein, aber auch geglaubt werden müssen. Wenn Religion und Wissenschaft aber austauschbare Glaubenssysteme sind und der Text als 'modernes Mysterium' dieses entlarvt, dann stellt sich in Bezug auf Antoines Haltung alsbald die nicht weniger intrikate Frage nach Glaube und Vernunft. Was glaubt dieser moderne Heilige, Mystiker, Seher überhaupt?




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Einige Diskrepanzen tun sich auf, wenn man die Einzelergebnisse zum 'Glauben' Antoines der beiden Teile ('Religion': Kapitel 1–4; 'Wissenschaft': Kapitel 5–73) vergleicht. Im zweiten Kapitel widersteht Antoine den christlichen Kardinalsünden, die nach Orr allesamt für irdische superbia (Macht und Herrschaft) stehen. Im Parcours durch die Basilika der Häresien (im 4. Kapitel) kommt Orr zu dem Ergebnis, dass Antoine sich ex negativo als standfester Trinitarier erweise. Die Gemeinsamkeit der so genannten Häretiker bestehe in einer gnostischen Weisheitssuche, die sich insgesamt als anti-trinitarisch und insofern unchristlich charakterisieren lasse. "The many anti-trinities only better show [...] the 'mysteries' of the Trinity." (136) Dieser Befund des Gläubigen bzw. 'Heiligen' korrespondiert nur teilweise mit dem Ergebnis des theologischen Disputs, den Antoine im 3. Kapitel mit dem rationalistischen Hilarion führt: Flaubert rette hier seinen Antoine als Anhänger eines 'puren Glaubens' gegen die 'pure Wissenschaft' eines Hilarion-Ernest Renan. Er bleibt ein Heiliger, indem er ihn nicht aussprechen lasse, was/woran er glaubt (110). Glaube wird hier als Unaussprechliches definiert, ein Kapitel später aber als trinitarisch bezeichnet.In den Kapiteln, in denen nach Orr Paradigmen der Wissenschaft im Vordergrund stehen, erscheint Glaube einmal als das Tabu der Magie für Religion und Wissenschaft gleichermaßen (Kapitel 5 mit Maurys Magie et astrologie als Schlüsseltext), als mathematische Unberechenbarkeit (Kapitel 6 mit dem Laplace'schen Dämon als Hauptinterpretament), als "faith exercised in science patterned on the model of the Stromata" (Kapitel 7).

In diesen Facettierungen von Antoines Haltung der 'resilience' entstehen einige Fragen: Was ist spezifisch christlich an Flauberts Antoine? Wie verhält sich ein trinitarischer Glaube zu einem, der unaussprechbar ist? Wie ist ein Glaube, der sich in Wissenschaft übt, beschreibbar? Im Schlusskapitel gibt Orr einige Hinweise, die die Tentation in den Kontext von Flauberts Ästhetik stellen, wobei sie insbesondere auf Briefe an Louise Colet in den 1850er Jahren, also aus der Zeit nach dem Scheitern der ersten Textfassung, rekurriert. Louise kann nach Orr als entzogener Körper/verdrängte Muse gesehen werden, die im Text in den deformierten und monströsen Frauenfiguren (Ammonaria, Königin von Saba, La Mort, La Luxure) wieder auftaucht.4




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Die genannten Fragen gehen gleichzeitig über diejenigen hinaus, die Orr sich in ihrer weniger literarästhetischen als vielmehr dezidiert historisch-kulturgeschichtlichen Untersuchung stellt (vgl. 214). Das ist zwar zu bedauern, weil so die notorischen Fragen hinsichtlich der Tentation außer Acht bleiben. Für Orr scheint es zum Beispiel ausgemacht, dass Antoine alle Versuchungen erfolgreich abwehrt, obwohl eine der Hauptstrategien des Textes darin besteht, gerade diesen Standpunkt zu verunmöglichen.5 Keine Rolle spielen außerdem die komplexen Abschreibe- und Umschreibetechniken, die Flauberts transgressive Intertextualität gerade in der Tentation auszeichnet. Aber nur indem sie sich auf diese ästhetischen und medialen Paradoxierungsstrategien des Textes gar nicht erst einlässt, kann Mary Orr die Tentation de saint Antoine ausnahmsweise einmal als instruktive, spannende und hochinteressante Wissenschafts- und Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts erzählen.


Bibliographie

Neefs, Jacques (1983): "L'Exposition littéraire des religions. La Tentation de saint Antoine de 1874", in: Gérard Genette, Tzvetan Todorov (Hgg.), Travail de Flaubert, Paris: Seuil, 123–134.

Stöferle, Dagmar (2010): "L'hallucination de la connaissance: La Tentation de saint Antoine de Flaubert", Flaubert. Revue critique et génétique. "Flaubert et l'histoire des religions" 4. [http://flaubert.revues.org/index1209.html, 15.12.2010].

Vinken, Barbara (2009): Durchkreuzte Moderne. Frankfurt am Main: Fischer.




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Anmerkungen

1 Stellvertretend für die Synkretismus-These kann Jacques Neefs (1983) genannt werden. In einer Fußnote ergänzt Orr, dass man es in der Sache mit nationalphilologischen Barrieren und also auch konfessionellen Differenzen zu tun habe (276).

2 Mary Orr macht hier auf die Bedeutung des Konkordats von 1801 aufmerksam, das u.a. die Wiederetablierung nicht-römisch-katholischer christlicher Kirchen in Frankreich erlaubte (35).

3 Kapitel 5 der Tentation schildert das Sterben der Götter. – Wenn Mary Orr es dem Teil über die Wissenschaft(en) zuschlägt, so geht das nur, weil sie hier Flauberts Kritik an der vergleichenden Religionswissenschaft eines Friedrich Creuzer beispielsweise am Werke sieht.

4 Vgl. auch die Namenlosigkeit der Allegorie, die aus La Mort und La Luxure hervorgeht, die dann in Verbindung zu einem Glauben, der unaussprechbar ist, gebracht werden kann. Zum Zusammenhang von Psychoanalyse und Religion bei Flaubert siehe Barbara Vinken (2009).

5 Flaubert stellt Antoine als Halluzinierenden vor und bringt ihn damit in einen Zwischenbereich von Normalität und Devianz. Vgl. hierzu Dagmar Stöferle (2010).