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Frank Jablonka (Beauvais / Amiens)



Noam Chomsky (2010): Raison & liberté. Sur la nature humaine, l'éducation & le rôle des intellectuels. Préface de Jacques Bouveresse. Paris: Éd. Agone.



Pünktlich zu seiner Livetour durch Frankreich hat Noam Chomsky ein neues Album herausgebracht. Eigentlich handelt es sich um eine "Best of"-Kompilation, denn das Gros der Beiträge war bereits anderweitig auf den intellektuellen Markt gebracht worden. Thierry Discepolo als Verleger und Jean-Jacques Rosat vom Collège de France haben lediglich den Remix besorgt. Ebendort wurde im Rahmen eines Symposiums Ende Mai die Publikation im großen Stil lanciert.1

Chomsky und seine Promotoren haben sich offenbar die – insbesondere von Calvet2 vorgetragene – Kritik, in Chomskys Publikationspolitik seien die beiden Hauptstränge seines Denkens, nämlich der als Professor für Linguistik am MIT und seine engagierte politische Autorenschaft, zu stark getrennt. Damit von vornherein der Eindruck vermieden wird, es handle sich bei den beiden öffentlichen, eingestandener Maßen (XXXII, 299) leicht "schizophrenen" Identitäten Chomskys um eine allzu unorganische Verdopplung, sind nun sprachwissenschaftliche und politische Beiträge in ein und demselben Band versammelt.

Es ist daher den Herausgebern zu danken, dass nun in kompakter Form deutlich wird, worin eigentlich genau die Komplementarität dieser beiden Persönlichkeitshälften Chomskys besteht: Ist in der von Chomsky begründeten Generativen Transformationsgrammatik ein von der empirischen Basis abgekoppelter Theorieüberhang erkennbar, so leidet die politische Publikationstätigkeit Chomskys an einer Theorieabstinenz, die eine konzeptuelle Bündelung und Strukturierung der angeprangerten Faktenflut kaum erlaubt.

Diese sozialwissenschaftliche Theorieabstinenz hat jedoch Methode. In der Tat: Wenn in systematischer Weise "eine gebildete Person unfähig ist, elementare Sachverhalte zu verstehen, die einem zwölfjährigen Jungen zugänglich sind" (350), dann besteht kein ersichtlicher Anlass, sich mit intellektuellem Ballast die Aufgabe zu komplizieren. Die Abwesenheit von theoretisch-methodologischer Reflexion in Chomskys politischer Publikationstätigkeit fügt sich harmonisch in eine von Russell überkommene Common-sense-Philosophie ein. Politisches Engagement gründet sich auf objektive de-facto-Wahrheiten. Dies abzustreiten, wie es im postmodernen Diskurs im Anschluss an Nietzsche insbesondere Foucault vorgeworfen wird, hieße, die Unterdrückten des autonomen Gebrauchs ihres eigenen Verstandes zu berauben, was deren Heteronomie auch intellektuell verewige. Es ist nicht erstaunlich, dass der Hauptgegner dieses militanten Evidentialismus die French Theory ist, und diese herzliche Feindschaft ist durchaus gegenseitig.3 Nach Chomskys repräsentationalistischer Grundüberzeugung gibt es eine objektive Wahrheit bzw. Wirklichkeit, die "hinter" der Sprache liegt und auf die sprachunabhängig zurückzugreifen ist. Dieser Ansatz, der weit hinter pragmatischen Orientierungen zurückgeblieben ist, ist in der Tat von seiner szientifischen Anlage her ökonomisch und epistemologisch höchst elegant. Er erlaubt, sämtliche Elemente von kritischer Theorie ebenso herauszukürzen wie auf der Psychoanalyse gegründetes Hinterfragen und Ideologiekritik. Mit Marcuse möchte man kommentieren: Das eindimensionale Denken perpetuiert sich auch in seiner Kritik.






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Dies verdeckt die eigentliche Grundproblematik des politisch engagierten kognitiven Linguisten Noam Chomsky: Für Gesellschaftstheorie besteht in seinem wissenschaftlichen Weltbild kein Raum. Er arbeitet rein deskriptiv an der phänomenal-symptomatischen Oberflächenstruktur, ergeht sich in trivial-moralisierenden Diskursen und operiert mit einer politisch berechtigten, aber sozialwissenschaftlich nicht explizierten Begrifflichkeit (Machthunger, Egoismus ...). Hierzu streut er eklektizistisch hie und da Philosophen-Zitate ein: hier ein Dewey, da ein Humboldt, dann mal wieder Marx ... ohne sich gleichwohl nach den grundlegenden Funktionsweisen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu fragen. Seine Vision, "dass das intensive Studium eines einzigartigen Aspekts der menschlichen Psychologie – der menschlichen Sprache – vielleicht zu einer humanistischen Sozialwissenschaft beitragen wird, die auch als Instrument für politisches und gesellschaftliches Handeln dient" (30), bleibt vor diesem Hintergrund wenig überzeugend.

Tatsächlich ist Chomsky "zufällig" zur Linguistik gekommen (50) – im Nachhinein eine glückliche, wenngleich kontingente Wahl. Das erklärt wohl, warum er bereits im ersten Teil des Buches von Linguistik spricht, jedoch im Wesentlichen nur, um die zentralen rationalistischen Ideen zu wiederholen, die wir seit seiner Cartesianischen Linguistik bereits kennen. Im Gegensatz etwa zu Gramsci oder Pêcheux hat sich Chomsky die Perspektive auf eine kritische Linguistik, um seine gesellschaftspolitischen Überzeugungen und Engagements fruchtbar zu machen und als Instrument des politischen Kampfes anzuerkennen und zu analysieren, durch das von ihm selbst begründete szientistisch-formalistische Paradigma gründlich verbaut. Sprachwissenschaft als Instrument der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wäre ja ebenfalls ein plausibler, und keineswegs kontingenter Grund, sich für die Laufbahn des Linguisten zu entscheiden. Chomskys wissenschaftliche Karriere und sein Habituserwerb passen zu dem, was er selbst zu dem im Universitätsbetrieb herrschenden Sozialisationsstil zu sagen hat: "Sie lernen [...], wie man sich benimmt, [...] die Art von Fragen, die gestellt werden können, wie man 'in' bleibt [...] Wenn Sie zu viel Unabhängigkeit zeigen, wenn Sie zu oft den Code Ihrer Disziplin in Frage stellen, laufen Sie Gefahr, aus dem System der Privilegien ausgeschlossen zu werden. So lernt man sehr früh, dass der Erfolg die Dienstbarkeit gegenüber dem doktrinalen System voraussetzt." (162) Vor diesem Hintergrund drängt sich die Überlegung auf, ob Chomsky, der wie kein zweiter im 20. Jahrhundert seine Disziplin mit großem Aufwand und zahlreichen Gefolgsleuten weltweit geprägt hat, sich derlei Fragen nicht bereits während seiner strukturalistischen Lehrzeit bei Zellig Harris gestellt hat, und wie er mit diesem Problem in seiner Eigenschaft als linguistischer Maître-Penseur gegenüber seinen eigenen generativistischen Schutzbefohlenen umgeht.

Demgegenüber sind seine theoretisch anspruchslosen Aufdeckungen von politischen und wirtschaftlichen Machenschaften der internationalen und amerikanischen Eliten für das praktische politische Engagement überaus nützlich und höchst lesenswert. Als kritischer Linguist möchte man Chomsky wünschen, dass er sich in Zukunft ganz auf dieses Feld verlegt, das er virtuos beherrscht.



Anmerkungen

1 http://www.college-de-france.fr/default/EN/all/ phi_lan/Conference_du_31_mai_2010_N__3.jsp

2 Calvet, Louis-Jean (2003): "Approche (socio)linguistique de l'œuvre de Noam Chomsky", Cahiers de Sociolinguistique 8 (2003), 11–35, insb. 27.

3 Vgl. Cusset, François (2005): French Theory. Foucault, Derrida, Deleuze et Cie et les mutations de la vie intellectuelle aux États-Unis. Paris: Éd. La Découverte, 139, 204.