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Gerhard Poppenberg (Heidelberg)



…une irréalisable envie d'une volupté plus haute…
Madame Bovary und die Moderne



Madame Bovary and modernity
The essay consists of three parts. The first one discusses Barbara Vinken's book-length study Flaubert. Durchkreuzte Moderne (2009), in which Vinken shows how Flaubert uses motives of the Christian tradition in his letters and throughout his novels. Vinken argues that Flaubert fiercely criticizes the Christian religion. He crosses out (durchkreuzt) the Cross and the Crucified in the sense Christian theology has given to it, because its promise of salvation has not been fulfilled within 2000 years. The second part shows by a new reading of Madame Bovary that Vinken's fundamentally new insights in Flaubert's novelistic thinking have to be accentuated in a different way. The relation between Christian tradition and modernity turns out to be more complex than what may be elucidated by Vinken's one-dimensional view. The third part offers some reflections on general aspects of a theory of modernity. It establishes certain 19th century contexts (Musset, Baudelaire, Marx, Renan) and argues with Avital Ronell and Walter Benjamin that the mental state of addiction is part of what can be called modern melancholy.



Über Flaubert haben viele vieles gesagt – so lässt sich ein Wort des heiligen Augustinus variieren. Aber wie es scheint, ist die Bedeutung seiner Schriften dadurch keineswegs erschöpft; sie werden vielmehr immer reicher. Eine groß angelegte Studie von Barbara Vinken – Flaubert. Durchkreuzte Moderne – unternimmt es, eine Dimension dieses Sinnreichtums zu erschließen, die einigermaßen unerwartet ist und jedenfalls bislang so gut wie gar nicht wahrgenommen wurde. Das ist umso erstaunlicher, als sie eine der tiefsten Schichten des Gehalts im Werk von Flaubert bildet.

Wenn die Namen Christus, Augustinus und Victor Hugo mit Abstand die meisten Einträge im Namenregister von Vinkens Buch über Flaubert aufweisen, könnte man stutzen und die Frage stellen, wer davon nicht in die Reihe passt. Christus und Augustinus, das liegt auf der Hand; Christus und Victor Hugo, das leuchtet auch noch ein – in "Crise de vers" hat Mallarmé ihn "le Vers lui-même" genannt und seinen Tod ironisch-sarkastisch mit dem Christi analogisiert. Aber Flaubert? Dieser erzmoderne Schriftsteller und sein Werk haben auf den ersten Blick kaum mehr als okkasionelle Beziehungen zur Tradition des Christentums; Religion und Theologie scheinen nicht die Hauptantriebskräfte seines Schreibens gewesen zu sein.




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Die Studie von Barbara Vinken lenkt aber – schon vom etwas verspielten Titel an, der in der durchkreuzten Moderne das christliche Kreuz anklingen lässt – die Aufmerksamkeit auf einen religiös-theologischen Subtext der Romane Flauberts, der den meisten Lesern entgangen zu sein scheint oder den sie für atmosphärisches Beiwerk zu halten geneigt waren, den Vinken aber als motivierenden Agenten von Flauberts Schreiben zu erkennen gibt.1 Soll Flaubert, einer der Stammväter einer radikalen Moderne, als ein Autor im Umfeld einer katholischen Gegenmoderne lesbar gemacht werden? Das ist schon für Baudelaire, den bekennenden Leser von de Maistre, nur schwer begreiflich zu machen. Zwar hat bereits Walter Benjamin die theologische Tiefenstruktur von Baudelaires Konzeption der Moderne erkannt; aber nicht nur die Baudelaire-Philologie, auch die Moderne-Forschung allgemein hat sich das nicht gesagt sein lassen. Und nun auch Flaubert?

Der Philosophiehistoriker Wolfgang Hübener hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Geistes- und Ideengeschichte der Neuzeit nicht zu begreifen ist, wenn man sie nur als Fortschrittsgeschichte im Geist der Emanzipation von allen möglichen, vor allem aber religiösen Gängelbändern sieht. Die Neuzeit ist in ihren wesentlichen Bewegungen, so Hübeners pointiertes Fazit, antimodern. Man wird ihre Signatur nur dann entziffern können, wenn man das intrikate Zusammenspiel von Moderne und Antimoderne zu verstehen lernt. Wenn also Flaubert einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Modernität der Moderne geleistet hat, müsste der ebenfalls in einer Entfaltung dieser Intrige von Fortschritt und Tradition bestehen.


I

 

... der Schmerz, der sich als das harte Wort ausspricht, dass Gott gestorben ist.
Hegel: Phänomenologie des Geistes

Die Grundthese von Barbara Vinkens Studie besagt, Flaubert habe die zentrale Figur des Christentums, die Kenosis, auf eine Weise ernst genommen, dass er sie nicht, wie die Kirche oder deren moderne Erben, die Sozialismen und Erlösungslehren aller Art, ins Rettende sublimiere, sondern in ihrer kruden Leidensintensität belasse: als ein Opfer, das nichts bewirke, nur leide und als solches allenfalls die Ideologie des Sündenbocks noch einmal in Gang setze, die doch durch das Christentum ein für alle Male beendet worden sein soll. Das Kreuz mitsamt dem Gekreuzigten im Sinne des Christentums wird von Flaubert antikirchlich und antitheologisch durchkreuzt, indem er Figuren bildet, deren Signatur nicht die Formel gibt, dass Jesus der Christus ist – wie Hobbes sie als Grund eines commonwealth ecclesiastical and civil prägte –, sondern der bloße Mensch in seiner nackten Ausgesetztheit; Jesus wird – mit einem Kalauer, den Agam­ben füglich vermeidet – zum homo sacer. Das Leben Jesu bleibt zwar eine Gestalt der Liebe, aber einer Liebe, die nichts ist als reine Hingabe und so Durchkreuzung des Kreuzes. Dieses absurde Kreuz, das sinnlose Leiden aus Liebe, wird aber wiederum den Figuren Flauberts aufgebürdet, die damit nicht in der Nachfolge Christi, des Gottmenschen, sondern Jesu, des bloßen Menschen stehen.




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Die Figur der Kenosis wird in einem zweiten Schritt mit der der Kastration in der Psychoanalyse konstelliert; auch sie soll die Figuration einer reinen Nichtigkeit sein, die gegen jede Form phallischer Aufgeblasenheit und fetischistischer Ersatzbildung profiliert wird. Die Denkfiguren der Psychoanalyse zieht Vinken vor allem für eine Lektüre der Briefe Flauberts zu Rate; die Denkfiguren des Christentums dienen einer Lektüre des erzählerischen Werks. Dabei ist die patristische Theologie, für die einige Werke des heiligen Augustinus einstehen, der Referenzrahmen. Diese Behandlung christlicher Theologie und Liturgie wird allerdings von einer Autorin praktiziert, die dafür erkennbar – so darf man wohl sagen – nicht ordiniert ist, die aber, das ist ein Emanzipationsgewinn der Moderne, gleichwohl und öffentlich darüber reden darf.

Dem angedeuteten Interpretament zufolge ist Geschichte "immer und überall das Gleiche", nämlich eine wilde Abfolge von Gemetzeln, von "Fleischwerdung und Kreuzigung", die vor dem Hintergrund des Christentums allerdings dessen in der Geschichte nicht eingelöstes Heilsversprechen wachhält, so dass an ihm sich "alles Irdische messen lassen muss" (Vinken 2009: 147). Andererseits hat "alles Irdische" zu lernen, dass die Heilsversprechen und Erlösungsphantasien aller Art – eingeschlossen die historischen Realisierungen in Gestalt von Kirche, Staat oder revolutionärer Umgestaltung – phallische Phantasmen und fetischistische Surrogate sind, die der elementaren Nichtigkeit ausweichen wollen.

Dagegen lässt sich jedoch geltend machen, dass die christliche Konzeption von Erlösung und Heil sowie auch die psychoanalytische von Sublimierung und Heilung nicht so umstandslos als phallische Aufgeblasenheit zu verrechnen sind – so wenig übrigens, wie hysterische Exaltation und mystische Ekstase eines sind. Letzteres war ein szientifisches Missverständnis der Psychologen des 19. Jahrhunderts, denen die heilige Teresa ironisch zur Schutzheiligen der Hysterikerinnen wurde. Aber die Psychagogie des Christentums hat große Anstrengungen unternommen, zwischen wahrhaften Mystikern und falschen Erleuchteten zu unterscheiden; und Teresa von Avila gilt so sehr als wahrhafte, dass sie als Heilige verehrt wird und durch ihre Schriften als Kirchenlehrerin fungiert, von der Entscheidendes über die innere Erfahrung des geistlichen Lebens zu lernen ist.




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Das gilt entsprechend auch für die Sublimierung und jede Form geistiger Praxis. Freud hat bis zuletzt darauf insistiert, dass die Weltgeschichte ein "Fortschritt in der Geistigkeit" sei. Psychoanalytisch ist das als ein Prozess der zunehmenden Sublimierung zu verstehen; und auch hier ließe sich wiederum zwischen einer autoritär-unterdrückenden – also falschen und kranken – und einer libertär-freien und wahrhaften Sublimierung unterscheiden. Um einen solchen Prozess der Vergeistigung – wenn denn derartige ins Große zielende geistesgeschichtlichen Zuordnungen überhaupt sinnvoll sein können – geht es auch im Christentum. Das Kreuzesopfer soll – sublimiert zum sakramentalen Opfer der Eucharistie – das Ende aller Menschenopfer und Sündenbocksrituale sowohl im öffentlichen Raum der politischen Ordnungsstrukturen als auch im privaten Feld der autoritären Alltagsverhältnisse sein. Die Fähigkeit, das – so deutet Vinken selbst gelegentlich an – zur Begründung von Gesellschaft offenbar unerlässliche Opfer zu vergeistigen, wäre ebenfalls ein Fortschritt in der Geistigkeit. So verstanden geht es um ein welt- und geistesgeschichtlich unerhörtes Projekt, das, nimmt man Lacan beim Wort, die Psychoanalyse auf eine bislang kaum verstandene Weise beerbt. Selbst wenn dieses Projekt – wie Barbara Vinken immer wieder zu insinuieren versucht – als gescheitert zu betrachten wäre, weil es in zweitausend Jahren noch immer nicht historische Wirklichkeit geworden ist, wäre das noch lange kein Argument gegen dieses Projekt, sondern – frei nach Hegel – eines gegen die Wirklichkeit, die seine Verwirklichung verhindert. Aber vielleicht sind im Angesicht des Weltgeistes zweitausend Jahre auch nur ein Tag im Prozess der Verwirklichung von Freiheit und freiem Geist.

Vor diesem Hintergrund ist dann die Frage, ob Flaubert diese moderne Tradition des Fortschritts in der Geistigkeit fortschreibt oder sie ins Pagane des wilden Opfers der Alten zurückschreibt. Für Barbara Vinken scheint ausgemacht zu sein, dass er die Moderne mit diesem Erbe der Alten konfrontiert und das angedeutete Projekt eines Zivilisationsgewinns als gescheitert diagnostiziert. Das ist der tiefere Sinn des vermeintlichen Historienschinkens Salammbô. Und das leitende Interpretament der Education sentimentale ist, in ihr werde die Lehre des heiligen Augustinus von den zwei civitates 'durchkreuzt'. Flaubert übernimmt demnach die elementare Deutung der civitas terrena als Unheilsstaat und ihrer Geschichte als Unheilsgeschichte und setzt sie absolut. Wie Augustinus seiner Konzeption des Politischen das Bürgerkriegsepos des Lukan und dessen Konzeption der im Brudermord und Bürgerkrieg gründenden römischen Geschichte einschreibt, so hat Flaubert die Education sentimentale im intertextuellen Feld der Pharsalia und der Civitas-Lehre Augustins geschrieben. Für ihn wird Geschichte zu einer unaufhörlichen Abfolge von Furor und Chaos. Die Passage, in der Vinken das intertextuelle Feld ausleuchtet, das die lune de miel Frédérics und Rosanettes in Fontainebleau mit Bezügen auf Lukans Bürgerkriegsepos konstelliert, gehört zum Erhellendsten der Studie.

Die Konsequenzen, die sie daraus zieht, sind allerdings diskutabel. Geschichte als Unheilsgeschichte zu schreiben ist ein Gemeinplatz neuerer politisierender Kulturwissenschaft geworden. Der vermeintlich schwarze Adorno dürfte dabei im Hintergrund nach wie vor als Stichwortgeber fungieren. Das Elend, die Verkommenheit und brutale Gewalt der realen Geschichte und Politik werden in einer neuen – nun politischen – Empfindsamkeit beklagt und zum bestimmenden Zentrum des Politischen gemacht. Im 18. Jahrhundert hat Rousseaus Replik auf Voltaires Klagelied über das Erdbeben von Lissabon diesen Zug ins Empfindsame aufgedeckt und ihm bedenkenswerte Argumente entgegengesetzt. Und Nietzsche hat ein Jahrhundert später die Genealogie des Gesetzes aus der Grausamkeit nachgezeichnet, die durch eben das Gesetz, das aus ihr hervorgeht, gerechtfertigt wird – zumindest aber die Frage aufwirft, ob dieser Preis des Gesetzes und der geistig-immateriellen Ordnung zu rechtfertigen ist. Gewalt und Unterdrückung zu beklagen, ist leicht; sie zu rechtfertigen, ist eine Herausforderung, die mit scheinbar kontinuierlich zunehmender Gewalt und Barbarei in der Moderne nur schwer erträglich, ja unerhört ist. Für Flaubert ist dann die Frage, ob er tatsächlich ein derart eindimensionales Geschichts- und Gesellschaftskonzept gehabt hat, dass er Geschichte schlicht als Gewaltgeschichte denunziert hätte. Dazu hätte es jedenfalls nicht der komplexen Bezüge auf die christliche Tradition bedurft. Diese ist nicht einfach das nichtige Revers der Realgeschichte, sondern als deren Differential ihr realer Überbau. Und um die Analyse von dessen Funktion unter den Bedingungen der Moderne, nicht um die leicht zu habende Polemik dagegen, ist es Flaubert zu tun.




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Vinken hingegen profiliert Flaubert durchgehend als Diagnostiker des Unheils. Die Ausführungen sündigen bisweilen durch ein etwas ausschweifiges Moralisieren. Die 'Wahrheit' der Education sentimentale ist, "dass Frédéric sich in seinen Idealen vor allen Dingen selbst liebt"; wenn er seine Liebe "zur Erhöhung seines Selbst" benutzt, ist das die Ursünde des Hochmuts (ebd.: 314). "Die Education ist keine Erziehung, sondern eine Pervertierung des Herzens" (ebd.: 316). Der Realismus Flauberts zielt nicht auf Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern einer "Welt, die keinen Sinn macht" (ebd.: 263). Das ist der Generalbass der Deutung Vinkens. "Bei Flaubert gibt es keinen Raum des Heils mehr außerhalb des Unheils. Die Opposition beider wird zerstört. Denn es ist der Raum des Unheils, der sich im Gewande des Heils ausbreitet. Im angeblichen Vorantreiben des Reiches der Liebe breitet das Reich des Hasses sich aus" (ebd.: 252). Ist es aber nicht so – wie Nietzsche begriffen hat –, dass mit der Heilsgeschichte auch die Unheilsgeschichte abgeschafft wird? Dann gibt es aber entweder den neobarbarischen wilden Kampf der Machtwillen oder eine Neukonzeption von Geschichte und Politik, bei der Heil und Unheil, Liebe und Hass auf eine nach wie vor unerhörte Weise ineinander spielen. Deshalb hat schon Augustinus die beiden Staaten nicht einfach gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander artikuliert. Deshalb ist die Figur Vinkens, das Unheil breite sich "im Gewande des Heils" aus, entscheidend; sie selbst macht immer wieder auf die Bedeutung der Metaphorik von Textur und Text bei Flaubert aufmerksam. Das Heil ist die Textur von Geschichte und Politik, der Text ihrer Wahrheit.

Die sich so andeutenden Fragen lassen sich an Barbara Vinkens Deutung von Madame Bovary etwas genauer behandeln. Flaubert stellt darin, so Vinken, eine These zur Ästhetik auf. Kunst ist nicht Säkularisierung von Religion, sondern das Mal der Versagung des Heils, also Fetisch und Droge. "Die Heilssehnsucht wird durch diese Entzugsästhetik nicht kompensiert, sondern letzten Endes zerstörerisch getäuscht" (ebd.: 76). Gleichwohl geht es in dem Roman um "geistliche Speise" im Kontext von "Essen, Lieben, Lesen". Deshalb ist Madame Bovary nicht im kruden Sinn "der realistische Roman schlechthin", sondern allegorisch zu lesen: "als allegorische Erzählung auf das Ende der Allegorie", sofern diese das formale Prinzip der geistigen Speise ist. "Ästhetische Wirkung kommt in der Avantgarde-Poetik Flauberts als Entzugsphänomen einer älteren, geistlichen Konstellation zustande, die der modernen Ästhetik Flauberts eingeschrieben ist" (ebd.: 76). Die Frage ist dann, wie diese "ältere, geistliche Konstellation" dem Roman eingeschrieben ist.

Medizin, Literatur und Religion, Medikament, Text und Liturgie sind "die Kehrseite der allen Hunger sättigenden geistlichen Speise". Diese Pervertierung hängt an einem bestimmten Konzept von Textualität, das "die Kirchenväter" ausgearbeitet haben: der Allegorese, die im Roman von Flaubert "tropenkritisch" zersetzt wird, weil sie "die Wahrheit buchstäblicher Tödlichkeit" bildet (ebd.: 81). Gemeint ist mit dieser Formulierung wohl das Paulus-Wort aus dem ersten Korintherbrief vom Buchstaben, der tötet, und vom Geist, der lebendig macht. Realismus ist dann nicht die Darstellung der nackten Wahrheit, sondern eine Perversion des "Gottesverlangens", das sich "buchstäblich – im Fleische nämlich" befriedigen will. Realismus ist "Resultat des Zusammenbruchs der Allegorese, Resultat des Ausfalls geistlicher Speisung" (ebd.: 81).




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So wird das Essen zur elementaren Figur des Romans. Einverleibung und deren Versagung – so hat Melanie Klein und ihre Schule der Psychoanalyse gezeigt – gibt das Urparadigma für alle geistigen Prozesse. Introjektion und Projektion sind die Urformen der Figuration. Barbara Vinken will dazu die "patristisch-topologische Rückseite" liefern (ebd.: 85). Die Patristik wird dabei auf Augustinus, der wiederum auf einen Satz aus dem ersten Buch der Confessiones fokussiert, demzufolge Liebe, die nicht Gottesliebe ist, zum Ehebruch wird: "non te amabam et fornicabar abs te" (Augustinus: Conf. I,13). Ehebruch ist die Formel "eines grundsätzlich falschen Weltverhältnisses, das statt zu vergeistigen alles, was ihm verfällt, verfleischlicht, verdinglicht und zum Seelentod führt" (Vinken 2009: 120).

Flaubert lässt den allegorischen Prozess der Geistigkeit ins Leere laufen. Er "verkehrt das eucharistische Modell", indem er die versagte Süße der Geistigkeit durch das bittere Gift ersetzt. So wird das Werk zu einer Verkehrung des Evangeliums (ebd.: 86). Flauberts Ironie wendet die allegorische Metaphorik ins Wörtliche, "um das falsche Weltverhältnis seiner Protagonistin zu beleuchten" (ebd.: 88). Die Struktur des Romans ist die einer "verkehrten Umkehr (conversio) ". Der Wunsch nach "übersinnlicher, verwandelnder Liebe" verwandelt sich in Ehebruch, der zum Fetisch und zur Droge wird. Das Ersatzobjekt ist die "Form des verkehrten Lebens" (ebd.: 93).

Wenn Vinken schließlich behauptet, Flaubert setze mit seinem Roman Emma und ihrem "heillosen Kreuz ein Denkmal" und "richte eine Gesellschaft", die er in Gestalt des Apothekers Homais in ihrer ganzen Erbärmlichkeit darstellt, wird Madame Bovary plötzlich wieder zu einer Art von Gesellschaftskritik, die der Gesellschaft ihr "verkehrtes Leben" vorrechnet (ebd.: 95). Das insinuiert es gäbe für Emma die Möglichkeit eines richtigen Lebens. Das ist aber mehr als fraglich. Flauberts Absicht zielt tiefer als auf Gesellschafts- oder Religionskritik. Er liefert eine Kritik der Moderne überhaupt, nicht aber als ihre Verurteilung, sondern als ihre Analyse: als Kritik der modernen Seele. Emma kommt ja nicht von irgendeinem richtigen Weg ab, sie ist je schon unfähig zu einem richtigen Leben, wie die anfänglichen Passagen über ihre Kindheit in der Klosterschule zeigen. Der Grund dafür wird von Flaubert nur vage angedeutet, nicht aber ernsthaft erkundet. Eine wahrhafte spirituelle Erfahrung ist ihr nicht möglich.




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Deshalb ist der Untertitel des Romans – mœurs de province – nicht im traditionellen Sinn eines kritisch intendierten Sittenbilds zu verstehen. Auch die Education sentimentale hat Flaubert in einem Brief an Mademoiselle Leroyer de Chantepie vom 6. 10 1864 als roman de mœurs modernes bezeichnet: "Je veux faire l'histoire morale des hommes de ma génération." Moral ist hier mehr noch als im Sinn der frühmodernen Moralistik im Sinne der mittelalterlichen moralité zu verstehen. Die Tradition allegorischer Psychologie der christlichen Spiritualität gibt das Differential für Flauberts Romane. Das ist zwar in gewisser Weise auch die Annahme der Lektüre von Barbara Vinken, aber sie versteht die christlichen Intertexte und die Konstruktion von Madame Bovary als "Gegenrede" zum Christentum. "Die Welt ist nicht erlöst. […] Christi Blut hat nichts weggewaschen." Deshalb ist die Antike nicht durch das Christentum, also die Moderne im weiteren Sinn einer querelle des anciens et des modernes, überwunden, sondern die radikale Moderne erweist die Versprechungen des Christentums als nichtig und erstrahlt stattdessen im fahlen Licht der antik-paganen Opferkulte. Emmas Tod ist dann eine Travestie von Kreuzesopfer und Eucharistie, ein pervertiertes Opfer als Rückkehr des – orientalisch konnotierten – Menschenopfers. Madame Bovary ist gegen das Evangelium geschrieben, und die antiken Prätexte, die sich im Roman finden – Arachne und Phädra werden ausführlich entfaltet –, werden nicht überwunden, sondern "in ihrer Tragik überboten" (ebd.: 133).

So erscheint Flaubert mit seinen Romanen als der Typus des Gottesleugners oder Atheisten, wie er in der Literatur des 19. Jahrhunderts topisch ist. Der Atheist, der in seiner hartnäckigen Leugnung des Christentums dieses ex negativo nur bestätigt, hat in Homais eine Gestalt gewonnen, für den zum Beispiel sein Medikamentenraum sein Allerheiligstes ist. Die Verfassung der Romane ist aber um einiges komplexer. Flaubert leugnet nicht den Fortschritt in der Geistigkeit, sondern er untersucht dessen Verlust und versucht ihn zu verstehen. Emmas spirituelle Leere, die ihr alles, was sie anrührt, zunichte werden lässt, ist keineswegs ein Rückfall ins antik-orientalisch Pagane; sie wird als diese unermessliche Leere nur verstehbar und erfahrbar in der differentiellen Artikulation mit der christlichen Spiritualität. Es ist anzunehmen, dass die christliche Seelenführung mit ihrer Praxis der inneren Erfahrung diese ungeheure Sehnsucht überhaupt erst geweckt, entwickelt und ausgebildet hat. Sie bildet das energetische Zentrum des Bildungsromans eines Christenmenschen, den Emma nicht vollzieht. Es dürfte schwer werden, antike Texte zu finden, die von unermesslicher Sehnsucht handeln. Die Liebe in der Antike ist Schicksal, Götterspruch oder Fluch, nicht Sehnsucht und unendliches Begehren. Im Spannungsfeld von Antike und Moderne steht Flaubert eindeutig auf der Seite der Moderne. Madame Bovary bildet eine Artikulation innerhalb der Moderne; die antiken Intertexte dienen dazu, die spezifische Differenz der modernen Seelenverfassung deutlich zu machen. Flaubert überbietet nicht die Antike in ihrem Feld, sondern die Moderne, indem er deren Konsequenzen weiterentwickelt. Was wird aus der unermesslichen Gottesliebe, wenn Gott tot ist? In einem Brief an Louise Colet vom 4. 9. 1852 entwirft Flaubert eine Antwort: "Si la société continue comme elle va, nous reverrons, je crois, des mystiques, comme il y en a eu à toutes les époques sombres. […] Mais la base théologique manquant, où sera maintenant le point d'appui de cet enthousiasme qui s'ignore? Les uns le chercheront dans la chair, d'autres dans les vieilles religions, d'autres dans l'art; et l'humanité, comme la tribu juive dans le desert, va adorer toutes sortes d'idoles."




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Das Artikulationszentrum des christlichen Bildungsromans ist die Konversion als Übergang vom alten zum neuen Menschen. Sie findet bei Emma in keiner Weise statt: weder beim Übergang von der Jungfrau zur Ehefrau, noch bei den Liebesräuschen der Ehebrüche. Die mystische Ekstase der Konversion in Gott ist zur Übertretung des Ehebruchs geworden, der für Emma schon bald so schal ist wie die Ehe selbst. Der Ehebruch bildet das konzeptuelle Artikulationsmoment des Romans und gibt seinen Gehalt. Barbara Vinken meint, die Lieblosigkeit der Männer führe eine Frau wie Emma Bovary in den Ehebruch. "Emma ist die Gestalt, die in ihrem individuellen Schicksal die allgemeine Struktur des Ehebruchs, der Seelentod ist, als gesellschaftliche condition humaine an den Tag bringt." Diese soziologisch-gesellschaftskritische Perspektive wird in einem zweiten Gedankenschritt um eine theologisch-spirituelle erweitert. Der Roman zeigt den "durch kein Blut abgewaschenen Makel der Erbsünde an ihrem ältesten und neuesten Fall" (Vinken 2009: 140). Diese theologisch etwas absonderliche Assoziation – die insinuiert, die Erbsünde bestände in dem "durch kein Blut" zu mildernden Hang der Frauen zum Ehebruch – erinnert daran, dass die älteste moralité überhaupt die Struktur eines Ehebruchs hat. Das Sündenfallszenario der Genesis setzt "den ältesten Fall" als den Einbruch des Dritten in die paradiesische Idylle der Zweisamkeit ins Werk. Dieser "Ehebruch" ist aber keineswegs selbst der Fall; der besteht vielmehr in der Erkenntnis von Gut und Böse, die aus dem Bruch hervorgeht. Es geht beim Ehebruch als "ältestem und neuestem Fall" also nicht um moralisierende Kritik an der Verkommenheit einer bürgerlichen Gesellschaft, sondern um die moralistische Erkundung der Verfassung des Gesetzes, das der Gesellschaft eine Ordnung gibt. Die abgründige Konstellation, in der Gesetz und Gesetzesbruch miteinander verschränkt sind, um moralische Erkenntnis und mit ihr gesellschaftliche Ordnung zu begründen, wird im Zeitalter der Revolution, in dem die gesellschaftliche Ordnung neu begründet werden soll, in den Ehebruchsromanen wieder aufgegriffen und unter den Bedingungen der Moderne neu gestaltet.

Die Beobachtungen und Reflexionen von Barbara Vinken zum spirituell-moralistischen Komplex beleuchten ein entscheidendes Moment im Werk Flauberts. Die angedeuteten Einwände sind deshalb nicht als verurteilende, sondern als entfaltende Kritik zu verstehen, die vielleicht die Gestalt einer etwas absonderlichen Trope annehmen kann. Die Ausführungen sind im Prinzip richtig und können so bleiben, wie sie sind, nur liegt, wenn wir die Hauptpunkte von Madame Bovary noch einmal betrachtet haben, alles ein kleines bisschen anders.


II

 

... un monde où l'action n'est pas la sœur du rêve
Baudelaire: Le reniement de St. Pierre

Die spirituelle Dimension von Emmas psychischer Verfassung wird in ihrer Klostererziehung bei den Ursulinen ausgebildet (Flaubert 1951: I,6,323-327). Diese Klostererziehung wird im Roman an entscheidenden Stellen als prägend für Emmas Seelen- und Gefühlsleben in Erinnerung gerufen; und kurz vor dem Ende, als sie noch einmal an dem Konvent vorbeikommt, führen die Erinnerungen daran sie zu einer Reflexion über die elementare "insuffisance" ihres Lebens, die offenbar mit dieser Erziehung in der Klosterschule zusammenhängt (ebd.: III,6,545-560). Sie wird von Anfang an auch durch Assoziationen zum Ancien Régime ergänzt. Bevor Emma als Dreizehnjährige in die Klosterschule geht, isst sie zusammen mit dem Vater in einem Restaurant in Rouen zu Abend. Die Teller zeigen Szenen aus dem Leben von Mlle de La Vallière, einer Mätresse Ludwigs XIV., die später in den Karmeliterorden eintritt, also die traditionelle Konversion vom verworfenen zum heiligmäßigen Leben durchmacht. Und während der Klosterzeit übt die alte Dame aus hohem Adel, die, weil die Familie durch die Revolution verarmt ist, im Kloster als Weißnäherin arbeitet, einen wichtigen Einfluss auf Emma aus.




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Entscheidend an dieser geistlichen Erziehung ist nun, dass Emma deren Inhalte von Anfang an als Stoff für ihre privaten Phantasien benutzt. Der Erzähler macht deutlich, dass sie aus der religiösen Unterweisung keinen spirituellen Gewinn zieht, sondern sie in Stimmungen verwandelt und vor allem auch Gefallen an der sinnlichen Seite der Religion – Weihrauchduft und Kerzenschein – findet. Sie berauscht sich an der Figur des göttlichen Bräutigams; die Vorstellung erzeugt in ihr "au fond de l'âme des douceurs inattendues". Aber sie versucht aus allem immer nur einen "profit personnel" zu ziehen und eine "consommation immédiate de son cœur" zu erlangen (ebd.: I,6,324). Statt religiöser Erfahrung sucht sie Gefühle.

Dieser Wunsch nach Gefühlen wird durch die alte Adlige aus dem Ancien Régime mit zusätzlichem Material bedient. Sie kennt galante Lieder und ebensolche Geschichten aus der alten Zeit und versorgt die Mädchen mit Liebesromanen aus Leihbibliotheken. Die Romane von Walter Scott geben Emma die Phantasien und Träumereien über historische Großzeiten ein, so dass sie sich als Schlossfräulein nebst Ritter auf einem Rappen phantasieren (ebd.: I,6,325) oder sich mit historischen Frauen – Jeanne d'Arc, Héloïse oder den Geliebten der französischen Könige – identifizieren kann. Bei dem Ball auf dem Schloss La Vaubyessard gibt der alte Vater der Marquise dem topischen Adligen des Ancien Régime eine konkrete Gestalt. Er war Liebhaber der Königin und zahlloser anderer Frauen, ein Hasardeur und Geldverschwender; Emma findet ihn "extraordinaire et auguste" (ebd.: I,8,336).

Die Trauer um den Tod der Mutter zeigt exemplarisch, wie diese psychische Disposition ihr Gefühlsleben gestaltet. Sie trauert nicht, sondern spielt die Rolle der Trauernden, die sie sich nach dem Vorbild ihrer Lektüren und Phantasien ausbildet. Dieses Verhalten gibt das Muster für Emmas emotionale Verfassung. Entsprechend erkennen die Nonnen, dass sie keine religiöse Berufung hat. Sie liebt nicht die Messe, sondern die üppige Sinnlichkeit der Liturgie; sie ist nicht gläubig, sondern begeistert und erregt, sie liebt nicht Gott, sondern ihre eigenen Gefühle. Weil diese Gefühle aber gleichwohl durch die Vorstellungen von liebender Seele und göttlichem Bräutigam einerseits, von Rittern und Schlossfräulein andererseits konfiguriert sind, haben sie eine Fallhöhe, die der Roman als katastrophisch aufzeigt. Die daraus entstehende freischweifende, in einem elementaren Sinn objektlose Sehnsucht ist in den "méandres lamartiniens" (I,6,326) und der Gefühlsverfassung der Romantik vorgebildet; auch Emmas Geschichte ist somit ein "roman de mœurs modernes" und die Katastrophe ihrer Gefühlswelt ist paradigmatisch für die Welt der Moderne.




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Das zeigt sich daran, wie diese Elemente der pubertären Phantasien im weiteren Leben Emmas wirksam sind. Die Hochzeitstorte vereint auf emblematische Weise Tempel, Burg und romantische Landschaft im Zeichen der Liebe: "A la base […] un temple […] au second étage un donjon […] entouré de menues fortifications […] et enfin, sur la plate-forme supérieure, qui était une prairie verte où il y avait des rochers avec des lacs […] et des bateaux, on voyait un petit Amour" (ebd.: I,4,317). Die Schlossphantasie und die Figur des göttlichen Bräutigams haben die Gefühlswelt Emmas dergestalt konfiguriert, dass sie beständig Interferenzen mit den Gefühlen erzeugen, die sie im realen Leben erfährt. Die Vermählung selbst und auch die Hochzeitsnacht spart der Roman aus. Wenn der Erzähler nach der ersten Nacht in der Ehe Emmas verschlossene Zurückhaltung betont und von ihrem Ehemann sagt, "il semblait un autre homme" (ebd.: I,4,318), wird mit dieser Formel aus dem Vokabular der spirituellen Konversion genau die Differenz markiert. Die hohen Erwartungen, die Emma an die Ehe hat, werden nicht erfüllt. Die Liebe verwandelt sie keineswegs. An Stelle der nicht erfahrenen Verwandlung organisiert Emma das Haus um. Solche Ersatzbildung gibt ein weiteres Muster für ihren Gefühlshaushalt. Das Gefühl, das kein wahrhaftes Objekt hat, legt sich in eine unendliche Serie von Ersatzobjekten aus; bei Emma sind das zum einen die Dinge, die sie kauft, zum anderen die wechselnden Liebhaber, die den Ehemann ersetzen sollen. Dessen Unzulänglichkeit liegt nicht so sehr in seiner Person, sondern in den Erwartungen, die Emma an ihn hat. Auch das wird an einer emblematischen Szene deutlich. Wenn Charles morgens ausreitet, um Patienten zu besuchen, verabschiedet Emma im Peignoir aus dem Fenster schauend ihren Mann, der auf seinem alten Gaul der Anti-Ritter schlechthin ist (ebd.: I,5,321). Die Szene ist die Travestie der von Emma bei ihren Walter Scott-Lektüren imaginierten Schlossfräuleinphantasie (ebd.: I,6,325).

Ihre Reflexionen über die Liebe geben dazu den Kommentar. Emma hält ihre Liebe zu Charles für einen Irrtum, denn, so schließt sie, wäre es Liebe, müsste sie mit Glück und Leidenschaft einhergehen. Der Roman zeigt, dass der Irrtum in ihrer Vorstellung von Liebe als passion und ivresse besteht. Dieser subjektive Irrtum hat einen objektiven Grund; sie verwechselt, was "im Leben" stattfindet, mit dem, was sie "in den Büchern" gelesen hat und weiter liest. "Emma cherchait à savoir ce que l'on entendait au juste dans la vie par les mots de félicité, de passion et d'ivresse, qui lui avaient paru si beaux dans les livres" (ebd.: I,5,322). In ihrer Beziehung zu Léon folgt sie zu Anfang dem gleichen Fehlschluss. Sie glaubt nicht, ihn zu lieben, da sie ja weiß, dass die Liebe stürmisch und aufwühlend ist "et emporte à l'abîme le cœur entier". Der Erzählerkommentar, der dieser Erwartung Emmas folgt, deutet an, wie die Liebe unter den Bedingungen des bürgerlichen Mittelmaßes neu zu gestalten wäre. "Elle ne savait pas que, sur la terrasse des maisons, la pluie fait des lacs quand les gouttières sont bouchées, et elle fût ainsi demeurée en sa sécurité, lorsqu'elle découvrit subitement une lézarde dans le mur" (ebd. II,4,382). Die Bildfügung ist ingeniös. Sie geht vom Sturm der Leidenschaft, den Emma aus ihren Lektüren kennt und der ihre Vorstellung formt, zum gewöhnlichen Regen in der Wirklichkeit über, dessen steter Tropfen ebenfalls Wirkung hat. Das Gefühlsbild wandelt sich durch eine Akzentverschiebung im selben Bildfeld; so deutet sich aber auch durch die Differenz der beiden Bilder an, dass die Neugestaltung der Gefühle ihren Preis hat und eine andere seelische Ökonomie erfordert. Der Preis besteht in dem, was man die spirituelle Intensität der Gefühle nennen kann. Für Emma ist sie unverzichtbar und zugleich unerreichbar. Diese Aporie gibt ein wesentliches Moment der psychischen Verfassung des modernen Menschen; die spirituelle Tiefenstruktur des Romans lässt sie erkennbar werden.




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Die Differenz von Büchern und Leben, Vorstellung und Wirklichkeit bewirkt bei ihr "un insaisissable malaise, qui change d'aspect comme les nuées, qui tourbillonne comme le vent" (ebd.: I,7,328), weil die Vorstellungen, die sie aus den Büchern hat, selbst nicht konfiguriert sind und deshalb ohne Objekt bleiben: "sa pensée, sans but d'abord, vagabondait au hasard" (ebd.: I,7,331). Die Melancholie, die sich aus diesem malaise entwickelt, hat ihren Grund in der uneinholbaren Differenz von Leben und freischweifender Vorstellung, die eine unendliche und unendlich unerfüllbare Sehnsucht erzeugt. Als mal du siècle ist sie die psychische Verfassung des Säkulums: der säkularen Moderne.

Das Fest auf dem Schloss gibt dieser Differenz eine konkrete Gestalt; die Erinnerung daran lässt die Melancholie akut werden. Die verschiedenen Gebäude und Räume, in denen Emma sich aufhält, sind immer auch Seelenräume, Projektionen und Spiegelungen ihrer Gefühlsverfassung. Der Ball und der Tanz mit dem Vicomte werden zum Inhalt dieses Seelenraums. Den Walzer erlebt sie als einen Rausch, der sie einer Ohnmacht nahe bringt; nicht sosehr der Tanz selbst – Emma erkennt im Vergleich zu einer anderen Tänzerin die Unzulänglichkeit ihrer eigenen Tanzkunst –, sondern die mit ihm verbundene rauschhafte Empfindung wird zu einem Gefühlsbild von Glück, das aber, so sieht sie bereits in der unmittelbaren Erinnerung, an die "illusion de cette vie luxueuse" (ebd.: I,8,340) gebunden ist: Wunsch- und Scheinbild ineins. Die Struktur dieser "illusion" lässt ihre Melancholie entstehen. Da sie sich mit ritueller Regelmäßigkeit an das Fest erinnert, die Erinnerung selbst aber zunehmend schwächer wird, bleibt nur die Gefühlsintensität der Erinnerung, die sich in Verdruss verwandelt: "le regret lui resta" (ebd.: I,8,343). Der Vicomte hat für einen Moment die Figur des Schlossherrn realisiert. Wunscherfüllung und Glück bleiben für Emma mit dem phantasmatischen Schlossbild verbunden: "toutes les fièvres de la chair et les langueurs de la tendresse ne se séparaient donc pas du balcon des grands châteaux qui sont pleins de loisirs, d'un boudoir à stores de soie" (ebd.: I,9,345). Die maßlose Enttäuschung, statt eines Sohnes eine Tochter geboren zu haben, versucht sie auszugleichen, indem sie ihr den Namen einer Frau gibt, den sie im Schloss gehört hat (ebd.: II,3,373).

Die Rückkehr in das Haus in Tostes und in das trostlose Leben dort ist für Emma dann der Verlust dieses 'Bräutigams', den sie betrauert und durch Ersatzbildungen auszugleichen versucht. Das ist zum einen das auf dem Rückweg gefundene Zigarrenetui, das sie dem Vicomte zuschreibt; das sind zum anderen die freischweifenden Vorstellungen von "Paris" – "Quel nom démesuré! […] il sonnait à ses oreilles comme un bourdon de cathédrale" (ebd.: I,9,343) – als dem Ort des wahren Lebens, die die Leere ihres Seelenschlosses füllen sollen. Die groteske Diskrepanz von Kathedrale und Pariser Leben markiert für Emma präzise die Fallhöhe der Seele. Der Erzähler kommentiert das mit einem Satz, der aus dem Repertoire der moralistischen Maximen stammen könnte: "Elle confondait, dans son désir, les sensualités du luxe avec les joies du cœur, l'élégance des habitudes et les délicatesses du sentiment" (ebd.: I,9,345). Aus dieser Diskrepanz von "joies du cœur" und "sensualités du luxe" entsteht die moderne Melancholie. Als die Hoffnung, im folgenden Herbst wieder auf das Schloss Vaubyessard eingeladen zu werden, sich nicht erfüllt, beginnt die Zeit des leeren Herzens und der unermesslichen Traurigkeit: "Après l'ennui de cette déception, son cœur, de nouveau, resta vide, et alors la série des mêmes journées recommença" (ebd.: I,9,348). Die Struktur dieser Traurigkeit des leeren Herzens liegt in der Diskrepanz des phantasmatischen Ereignisses, das der Ball auf dem Schloss gewesen ist, und der Serie der Wiederholungen des Alltags. Das leere Herz gründet im Verlust der Fähigkeit zum Ereignis. Deshalb bedeutet der Umzug nach Yonville keine Verwandlung, sondern ist nur eine weitere Ersatzbildung.




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Wenn im Gasthof von Yonville bei der Ankunft des Ehepaars Bovary als erstes gerade das Billardzimmer eine Rolle spielt, bildet das eine Korrespondenz zur Ankunft auf dem Schloss Vaubyessard, wo ebenfalls zunächst das Billardzimmer beschrieben wird und einen ersten Eindruck von der Pracht gibt, die auf dem Schloss herrscht. Im Gasthof zeigt das Billardzimmer gerade die Erbärmlichkeit der Verhältnisse, in die Emma nun erneut gerät. Und es wird nach der misslungenen Operation der Ort der Beinamputation sein. Entsprechend wird auch das neue Wohnhaus in eine vergleichende Beziehung zum Kloster einerseits, zum Schloss Vaubyessard andererseits gestellt (ebd.: II,2,369).

Die spontane Sympathie, die im Zuge des ersten Gesprächs zwischen Emma und Léon erwacht, führt ein weiteres Moment ein, das für die Wandlungen des spirituellen Komplexes in der Neuzeit eine wichtige Rolle gespielt hat: die Kunst und die Ästhetik des Erhabenen sowie das darin gründende Naturverhältnis. Sonnenuntergänge sind vor allem am Meer bewunderungswürdig. Die grenzenlose Weite des Meers befreit den Geist und erhebt die Seele "et donne des idées d'infini, d'idéal". Derartiges findet auch im Gebirge statt, dessen Anblick mit Begeisterung erfüllt und "à la prière, à l'extase" führt (ebd.: II,2,365). Das gilt gleichermaßen für Kunst und Literatur; "le vrai but de l'Art" ist es, Stoff für Träumereien zu geben und die Enttäuschungen des Lebens durch "des affections pures et des tableaux de bonheur" zu kompensieren (ebd.: II,2,367). Die Idee des Unendlichen und die der Kunst sind für Emma wie für Léon eine ähnlich vage und freischweifende Phantasie wie die der Liebe. Falls die Ästhetik des Erhabenen je die Kraft gehabt haben sollte, den seelischen Haushalt angemessen zu konfigurieren, sind deren Inhalte jedenfalls nach der Romantik und unter den Bedingungen der Hochmoderne zu schwärmerischen Gemeinplätzen geworden, die solch bildende Kraft nicht haben.

Die jeweilige Reaktion von Emma und Léon auf ihre Liebe zeigt die Schwierigkeiten im Prozess der Vergeistigung. Emma versucht, das Muster der tugendhaften Ehefrau mit einer "prédestination sublime" zu verwirklichen; zugleich ist sie aber "pleine de convoitises, de rage, de haine" (ebd.: II,5,388/389) und verbringt zum Ausgleich dafür die Abende in träumerischen Gedanken an Léon. Das Opfer, das sie mit dieser Entsagung zu bringen glaubt, ist tatsächlich nur ein Name für die narzisstische Kränkung, als die sie ihr Leben allgemein und ihre Ehe besonders erfährt (ebd.: II,5,389) und die dann folgerichtig zu ennui und zur Krankheit der Melancholie führt. Die seelische Verfassung, die mytho-psychologisch als Narzissmus, genauer als narzisstische Fixierung beschrieben wird, ist eine elementare Voraussetzung für diese Unmöglichkeit zu einer anspruchsvollen Vergeistigung. Sie ist ein wesentliches Merkmal der Verfassung des modernen Subjekts, seiner Selbstbehauptung und Autonomie, deren Revers die moderne Melancholie ist.




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Léons Umgang mit dem Hindernis in der Liebe folgt einem traditionellen Muster. Er entsagt dem Wunsch nach körperlicher Verwirklichung, indem er das Objekt der Liebe in eine engelhafte und deshalb unerreichbare Frau und so seinen Wunsch in ein "sentiment pur" verwandelt. "Elle se dégagea, pour lui, des qualités charnelles […]; et elle alla, dans son cœur, montant toujours et s'en détachant à la manière magnifique d'une apothéose qui s'envole." Das ist das Muster einer Vergeistigung der Liebe, die in der Lyrik der Troubadours und der Petrarkisten eine maßgebliche Gestalt angenommen hat. Das derart entstehende geistige Objekt – bemerkt der Erzähler in einer kommentierenden Anmerkung, die zeigt, dass er diese Tradition der geistigen Liebe offenbar gut kennt – ist so erhaben, dass es im Verhältnis zum Alltag Ausnahmestatus hat und ihn nicht stört; als solches ist es so real, dass sein Verlust mehr Leiden als sein Besitz Freuden bewirkt. "C'était un de ces sentiments purs qui n'embarassent pas l'exercice de la vie, que l'on cultive parce qu'ils sont rares, et dont la perte affligerait plus que la possession n'est réjouissante" (ebd.: II,5,388). Es ist denkbar, dass der prekäre Status eines schwer zu realisierenden geistigen Objekts an sich diesen Überschuss des möglichen Leidens bewirkt; jedenfalls empfindet Léon nach einiger Zeit – "las d'aimer sans résultat" – (ebd.: II,6,398) Überdruss. Die Education sentimentale macht in Gestalt von Frédéric Moreau, den Léon in vieler Hinsicht präfiguriert, diesen Typus des Liebenden zum Protagonisten und entfaltet die ihm innewohnenden Ambivalenzkonflikte, die ebenfalls in ennui und Melancholie münden.

Der Versuch Emmas, in Erinnerung an ihre Klostererziehung ihre unermessliche Sehnsucht ins Religiöse zu wenden – "elle s'achemina vers l'église, disposée à n'importe qu'elle dévotion, pourvu qu'elle y courbât son âme et que l'existence entière y disparût" (ebd.: II,6,391/392) –, ruft die spirituelle Tradition in Erinnerung und gibt so das Differential zu den Formen der Vergeistigung, die Emma und Léon praktizieren. Er scheitert auch, weil der Priester, der ihr dabei helfen soll, selbst die spirituelle Dimension der Religion nicht mehr kennt. Der unfähige Seelenführer korrespondiert der fehlenden spirituellen Dimension; beides sind Negativgestalten, deren Mangel nicht einfach nichts ist, sondern als Fehlen von etwas wirksam ist. Das gibt der Liebe, die sich gleichwohl nach einem spirituellen Muster entwirft, einen Zug ins Groteske. Wenn der Händedruck beim Abschied Léons von Emma vor seiner Abreise nach Paris in der traditionellen Figur des Seelentauschs gefasst wird – "la substance même de tout son être lui semblait descendre dans cette paume humide" (ebd.: II,6,400) –, macht der Hinweis auf das körperliche Detail der feuchten Hand diese hochpathetische Figur zunichte und verweist damit zugleich auf die hemmende Rolle des Körpers bei allen Vergeistigungsprozessen.

Die Abreise Léons ist eine weitere Zäsur im Leben Emmas. Die verzweifelte Trauer, die ihr folgt, führt aber wiederum nicht zu einer wahrhaften Verwandlung. Der neue Zyklus ihres Lebens ist ein neuer Höllenkreis in ihrem Elend. Das hat seinen Grund in einer zutiefst ambivalenten Verfassung von Emmas psychischer Ökonomie. Die immer wieder neuen und immer größeren Hoffnungen, die das Elend zunächst mildern, führen, wenn sie enttäuscht werden, zu immer tieferen Abstürzen. Diese manisch-depressive Ambivalenz des ennui und der Melancholie ist der affektive Kern ihrer seelischen Verfassung. Sofern Emma symptomatisch für die Verfassung des modernen Menschen ist, ergibt sich die Frage, was es für die Persönlichkeitsverfassung bedeutet, wenn sie durch und durch von Ambivalenzkonflikten geprägt ist und was es für die Gesellschaft bedeutet, wenn sie von solchen Persönlichkeiten gebildet wird. Wenn die Gier nach 'großen' Gefühlen, nach Leidenschaft und Überschwang ein wesentliches Moment dieser Verfassung bildet, dann ist offenbar die Figur der Passion, die sich im Zuge der Spiritualisierung des Menschen durch den christlichen Bildungsroman entwickelt hat, eine Formation dieser Verfassung, die unter den Bedingungen des modernen Bürgertums in ihrer Haltlosigkeit erkennbar wird.




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Emmas Trauer über den abwesenden Léon ist wiederum die über den Verlust des 'Bräutigams', der wie ein Toter an einer "journée funèbre" beklagt wird. Dieser Umgang mit dem Verlust wird bei Emma nicht auf einen realen und traumatischen Ur-Verlust zurückgeführt; die Trauer beim Tod der Mutter ist ebenfalls schon ambivalent verfasst. Emma selbst fragt sich nach der Lektüre eines Briefs von ihrem Vater, der sie in Kindheitserinnerungen schwelgen lässt: "Mais qui donc la rendait si malheureuse? Où était la catastrophe extraordinaire qui l'avait bouleversée?" (ebd.: II,10,449). Flaubert macht diese "catastrophe extraordinaire", die Emma die Verfassung der Trauer gibt, nicht konkret; aber der Roman als ganzer versucht, dieses Zentrum des modernen ennui zu erkunden. Das ist der Sinn der hier analysierten Artikulation mit dem spirituellen Subtext. Der wird im Vergleich der Seele Emmas mit einem verlassenen Schloss deutlich, der sich in die Figuration des Seelenschlosses der Mystik einfügt: "le chagrin s'engouffrait dans son âme avec des hurlements doux, comme fait le vent d'hiver dans les châteaux abandonnés" (ebd: II,7,403). Zugleich wird dieses Schloss mit dem Besuch auf Vaubyessard assoziiert, nach dem sie ebenfalls von einer "mélancolie morne, un désespoir engourdi" befallen war; deren Objekt war der Verlust des Vicomte. Der Besuch hat ihr, zusammen mit den Romanlektüren, die Schloss-Phantasie ausgebildet und das Seelenbild der Mystik zu einem bürgerlichen Phantasma gemacht, in dem die spirituelle zu einer sozialen Vorstellung geworden ist. Wenn der Erzähler dabei unvermittelt von Emmas Empfindung zu einer allgemeinen Feststellung übergeht, die eine ingeniöse Lenkung des Lesers ist – "c'était cette rêverie que l'on a" – und sich dann implizit an ein – kollektives – Gegenüber wendet – "la lassitude qui vous prend" –, wird Emmas Verfassung als symptomatisch für eine allgemeine erkennbar.

Das Schloss ist für Emma in einer negativen Schlossmystik die Figur der Melancholie. Es ist ein verlassenes Schloss, in dem der – göttliche – Bräutigam fehlt, für den die realen Liebhaber nur unzulängliche Ersatzbildungen sind. Diese Figur einer negativen Mystikerin hat Clarín in La Regenta aufgegriffen und weiter entfaltet. Das Schloss ist überdies zum bürgerlichen Wohnhaus geworden, in dem der abwesende Geliebte als Bild und Schatten präsent ist: "les murailles de la maison semblaient garder son ombre." Dieses Schattenbild der Erinnerung führt dann paradoxerweise zu einem körperlichen Begehren – "elle eut soif de ses lèvres" (ebd.: II,7,404) – und ruft den Körper als den Grund der seelischen Prozesse in Erinnerung.

Die Erinnerung an Léon wird zum "centre de son ennui", die in einem zweiten Schritt in einem neuen Bild figuriert wird; es entstammt dem Bildfeld der Seelenlandschaft. Emmas Seele ist eine Steppe im Winter, in der ein von Reisenden zurückgelassenes Feuer kurz vor dem Erlöschen brennt. Mit der Erinnerung an den abgereisten Léon vergeht auch die Glut der Liebe: "l'amour peu à peu s'éteignit par l'absence". Vor ihrer Abreise aus Tostes hatte sie ihren Hochzeitsstrauß ins Feuer geworfen, der "comme un buisson rouge" verbrennt (ebd.: I,9,353). Der Vergleich ist doppelt bedeutsam. Sie verabschiedet sich damit innerlich von ihrer Ehe, in der nicht sie, sondern nur der Hochzeitsstrauß brennt. Im Weiteren macht der Vergleich mit dem brennenden Busch genau den wesentlichen Mangel in Emmas Liebesleben deutlich. Er verweist auf den brennenden Dornbusch in der Steppe am Berg Horeb, in dem Moses "der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" erscheint; er verspricht, sein Volk aus dem Elend zu befreien und es in das gelobte Land zu führen (Ex 3). Dieses Emblem des mystischen Von-Angesicht-zu-Angesicht-mit-der-Gottheit ist nun nicht nur zum verlöschenden Liebesfeuer der schwindenden Erinnerung geworden; zudem wird die Glut des Begehrens nach dem Geliebten in glühenden Hass auf den Ehemann verwandelt, der seinerseits wiederum die Glut des Begehrens anfacht: "elle prit même les répugnances du mari pour des aspirations vers l'amant, les brûlures de la haine pour des réchauffements de la tendresse" (ebd.: II,7,404). Diese Ökonomie, in der Liebe und Hass auf abgründige Weise sich gegenseitig befeuern, ist der tiefste Grund der ambivalenten Trieb- und Gefühlsverfassung Emmas; sie wird bei jedem neuen Zyklus ihres Lebensganges zunehmend stärker und verheerender in der Wirkung; aus ihr entstehen ennui und Melancholie: "aucun soleil ne parut, il fut de tous côtés nuit complète". Das Schwarz der Melancholie ist das moderne Revers zur dunklen Nacht der Mystik.




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Der Liebhaber, der sie aus ihr errettet, ist als ein Provinz-Don Juan der absolute Gegentypus des 'Bräutigams'. Das halb krepierte Feuerwerk gibt dafür die Figuration erneut im Bildfeld des Feuers. Der Roman lässt keinerlei Zweifel an der Erbärmlichkeit dieses Liebhabers, der in jeder Situation kalkulierend vorgeht und Gefühle strategisch einsetzt, selbst aber keine hat. Gleichwohl hat diese in Wahrheit trügerische Liebe eine Wirkung auf Emma, die sie selbst für die Verwandlung in das ersehnte andere Leben nimmt. Der style indirect libre hält diese Wirkung zunächst in der Schwebe zwischen objektivem Faktum und subjektiver Wahrnehmung Emmas: "pour elle, cependant, quelque chose était survenu de plus considérable que si les montagnes se fussent déplacées. " Sie betrachtet sich im Spiegel und sieht: "quelque chose de subtil épandu sur sa personne la transfigurait" (ebd.: II,9,439). Die trügerischen Worte und die vorgetäuschten Gefühle Rodolphes haben bei Emma eine reale Wirkung und bewirken eine Verklärung der Person, deren ihrerseits trügerischer Charakter erst ihre nachfolgenden Gedanken zeigen. "Elle entrait dans quelque chose de merveilleux où tout serait passion, extase, délire […] Elle devenait elle-même comme une partie véritable de ces imaginations et réalisait la longue rêverie de sa jeunesse" (ebd.: II,9,439/440). Sie phantasiert sich als Teil ihrer Träume, statt den Träumen Wirklichkeit zu geben. Sie macht nicht ihre Phantasie wirklich, sondern die Wirklichkeit phantastisch. Deshalb ist auch ihre Verklärung scheinhaft; ihr Agent ist ein vages quelque chose, das seinen Gehalt aus den ebenso vagen träumerischen Wunschphantasien ihrer Lektüren erhält.

In der Beziehung zu Rodolphe wird die Frage, wie klischeehafte Sprache mit wahrhaften Gefühlen zusammengehen kann, wieder aufgegriffen. Rodolphe findet in Emma "l'éternelle monotonie de la passion, qui a toujours les mêmes formes et le même langage" wieder und verkennt dabei, so kommentiert der Erzähler, dass dieselben Worte verschiedene Gefühle ausdrücken können: "comme si la plénitude de l'âme ne débordait pas quelquefois par les métaphores les plus vides" (ebd.: II,12,466). Und wenn Emma sich später ihr Leben nach der Flucht wiederum klischeehaft in einem "pays nouveau" als Dauerferienaufenthalt in einem Fischerdorf ausmalt – "rien de particulier ne surgissait: les jours, tous magnifiques, se ressemblaient comme des flots" (ebd.: II,12,471) – stellt der Erzähler, und dieses Mal nicht als eine subjektive Wahrnehmung Emmas fest: "Jamais madame Bovary ne fut aussi belle qu'à cette époque; elle avait cette indéfinissable beauté qui résulte de la joie, de l'enthousiasme, du succès, et qui n'est que l'harmonie du tempérament avec les circonstances" (ebd.: II,12,469). Eine Dimension des Romans erkundet das Feld der Frage, wie ein Gefühl sprachlich angemessen zu konfigurieren ist. Der Erzähler scheint an diesen Stellen nahezulegen, dass Luhmanns ernüchternd gemeinter Hinweis, Passion sei nur als sprachlich kodierte überhaupt existent, zwar richtig, aber auch so eindimensional wie alle Konstruktivismen ist; wenn die "plénitude de l'âme" über die sprachliche Gestalt hinausgehen und ein gewöhnliches Gefühlsbild mit einem außergewöhnlichen Gefühl verbunden sein kann, scheint das Verhältnis zwischen Affekt und Sprache jedenfalls etwas komplexer zu sein.




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Die gescheiterte Operation am Bein Hippolytes sowie die nachfolgende Amputation des Beins bildet das konzeptuelle Artikulationszentrum des Romans und gibt eine Figuration der catastrophe extraordinaire des Verlustes. Der Brief des Vaters, der den Anlass zu Emmas Reflexion geliefert hat, bereitet die Zäsur vor: die Unterbrechung der Liebesbeziehung zu Rodolphe durch die Beinoperation. Der Fortschrittsapostel Homais macht sie in seinem Zeitungsartikel durch das Evangeliumszitat (Mt 11,5) zu einem Exempel für den Fortschritt der Wissenschaft gegenüber der Religion: "les aveugles verront, les sourds entendront et les boiteux marcheront. Mais ce que le fanatisme autrefois promettait à ses élus, la science maintenant l'accomplit pour tous les hommes" (ebd.: II,11,454). Nicht nur die Operation, sondern die Geschichte insgesamt, deren konzeptuelle Mitte sie bildet, wird so verstehbar als Erkundung dieser Artikulation von Priester und Arzt, Religion und Wissenschaft, Tradition und Moderne. Die folgende Intervention des Priesters am Krankenlager verdeutlicht das, und der Arzt Canivet betrachtet die Medizin ausdrücklich "comme un sacerdoce" (ebd.: II,11,459). Der Streit zwischen Priester und Wissenschaftler – das ist eine Pointe der Passage – zeigt beide in ihrer ganzen Erbärmlichkeit. Der allegorische Agon von Wissenschaft und Religion ist zugleich eine Parallelaktion zu Emmas Seelenkonflikt, der im Horizont der spirituellen Liebe als Ekstase der Brautmystik und als Passion des Petrarkismus stattfindet, ohne eine entsprechende moderne Form der Liebe zu finden. Baudelaires im selben Jahr erschienene Fleurs du mal erkunden die Artikulation von Tradition und Moderne in großen Teilen ebenfalls in diesem Feld der Liebe.

Die Beinamputation hat auch die Funktion eines Opfers. Emma legt ihre Entsagung immer wieder als Opfer aus. Wenn sie auf Léon verzichtet, versucht sie sich im Gedanken an das Opfer – "le sacrifice qu'elle croyait faire" (ebd.: II,5,389) – zu trösten. Der Verzicht auf die Liebe zu Rodolphe vor der Operation geschieht aus einer "velléité de sacrifice" (ebd.: II,10,450) und nach dem Scheitern sieht sie ihr ganzes Dasein als "sacrifices continuels" (ebd. II,11,460). Beim erneuten Treffen mit Léon gibt sie der Opferfrage die entscheidende Pointe: "Si nos douleurs pouvaient servir à quelqu'un, on se consolerait dans la pensée du sacrifice" (ebd. III,1,505). Ihr Opfer bringt ihr nicht Seelenheil, sondern seelische Krankheit; es wird zum Agenten von ennui und Melancholie. Auch Hippolytes Beinamputation ist ein Opfer ohne Sinn; und eine ironische Pointe des Romans besteht darin, diese vergleichsweise einfache Operation zur Figuration der catastrophe extraordinaire zu machen. Der Banalität der Moderne entspricht die ebenso banale Katastrophe.

Die Operation findet im Frühling statt und ist die nichtige Gestalt des Frühlingsopfers; der durchdringende Schrei Hippolytes – "un cri déchirant traversa l'air" (ebd.: II,11,460) – erinnert von fern an den Schrei, den Christus vor seinem Tod am Kreuz ausstößt. So wird er zum "pauvre diable" (ebd.: II,11,456); gleich zu Anfang wird er – rothaarig und hinkend (ebd.: II,2,368) – in der traditionellen Figuration des Teufels eingeführt. Der Teufel ist als Gegenspieler Christi die Gestalt des Unerlösten. Wenn Hippolyte die negative Figura Christi ist, dann ist seine Beinamputation als emblematische Figur der catastrophe extraordinaire des Verlustes in ihrer Banalität zugleich doch ungeheuerlich. Verloren ist das Rettende selbst, das Christi Opfer bedeutet hatte.




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Die einzige Wirkung der ganzen Aktion ist "l'adultère triomphant. Le souvenir de son amant revenait à elle avec des attractions vertigineuses; elle y jetait son âme, emportée vers cette image par un enthousiasme nouveau" (ebd.: II,11,461). Die Passage der Beinamputation ist auch eine Parenthese zum Ehebruch Emmas. Sie ist die metaphorische Auslegung ihrer Liebe und ihrer Geschichte überhaupt und gibt die Figur des modernen Mangels.2 Ein Aspekt dieses Mangels ist die psychische Ökonomie ihrer Liebe. In einem wahrhaften circulus vitiosus steigert ihr Hass auf den Ehemann ihre Liebe zum Geliebten, die wiederum den Hass auf den Ehemann steigert (ebd.: II,12,462). Diese negative Rekurrenz von Liebe und Hass befeuert zunächst ihre Leidenschaft. In der letzten Phase der Liebe zu Léon entfaltet sie sich am Geliebten selbst; die zunehmende Enttäuschung bei den Treffen bewirkt desto größere Hoffnung für das nächste Treffen, die ihr Begehren "plus enflammée, plus avide" macht, so dass es desto mehr enttäuscht wird (ebd.: III,6,548). Diese Trieb- und Gefühlsökonomie macht jeweils ennui und Melancholie desto stärker.

Die Reaktion auf Rodolphes Flucht – "des ricanements de colère", "des battements de cœur" – wird vom Erzähler in einer ingeniösen Wendung mit der Schlossphantasie assoziiert: "les battements de cœur, qui la frappaient sous la poitrine comme à grands coups de bélier, s'accéleraient l'un après l'autre" (ebd.: II,13,479). Das Seelenschloss wird nun belagert und gestürmt. Die abgründige Perfidie der Bildfügung besteht aber darin, dass Emmas eigener Herzschlag zum Rammbock des anstürmenden Feinds geworden ist; Seelenschloss und Angreifer fallen ineinander. Wenn der innere Bräutigam als Abwesender zum Feind geworden ist – der zudem in der sexuell überdeterminierten Metapher des bélier konzipiert wird –, gibt das im traditionellen Bildfeld von Seelenschloss und geistlichem Bräutigam eine Figur der Ambivalenz von Emmas Seelenökonomie. Der Geliebte als Feind ist die allegorische Figuration des Ambivalenzkonflikts von Liebe und Hass; sie ist in zahllosen petrarkistischen Liebesgedichten als die Figur der geliebten Feindin präfiguriert.

Der moderne Ambivalenzkonflikt hat demnach eine Tiefenstruktur. In der prämodernen petrarkistischen Version des Konflikts wird er durch die Dichtung sublimiert. Der Liebende schreibt Gedichte, statt melancholisch zu werden; er verwandelt die Melancholie, die ja nach der ältesten Überlieferung eine seelische Disposition für Kreativität ist, in Gestalt. Das gelingt Emma nicht; die wolkigen Phantasien und freischweifenden Träumereien haben nicht die Kraft, ihren Eskapaden eine Gestalt zu geben und sie in Geschichten zu verwandeln. Eine Frage ist dann, unter welchen Bedingungen die Melancholie kreativ, unter welchen sie schlicht krank macht. Eine weitere Frage ist, was der Übergang vom Gedicht zum Roman, von der Lyrik zur Erzählung – der wohl bereits mit dem Don Quijote beginnt, auf den wiederum Madame Bovary bezogen ist – für die Konfiguration der Gefühle bedeutet.3 Das Gedicht ist in einem elementaren Sinn Bild, Pathosfigur; der Roman ist dynamische Pathosfiguration, bewegtes Bild. Des Weiteren ist zu klären, wie diese petrarkistische Konfiguration der Liebe aus der christlichen Figur der Passion hervorgeht. Petrarca hat ja seinen Canzionere auch im Horizont der christlichen Passion konzipiert. Die Brautmystik bildet also die Tiefenstruktur dieses Komplexes.




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Die dreiundvierzigtägige Krankheit nach der Flucht Rodolphes ist als Leiden an der Ferne des Geliebten erneut eine Replik auf die spirituelle dunkle Nacht der Gottferne. Die groteske Kluft zwischen dem Seelenschmerz Emmas und den vulgärwissenschaftlichen Expektorationen des Apothekers nach ihrer ersten Ohnmacht – Homais meint, in den Aprikosen, die Rodolphe mit dem Abschiedsbrief geschickt hat, die physische Ursache erkannt zu haben, während sie tatsächlich als die Repräsentanzen von Rodolphe die psychischen Ursache von Emmas Schmerz sind – macht noch einmal die Fallhöhe dieser Leidensgeschichte deutlich. Sie wird konkret durch den neuen Bräutigam, den Emma sich erwählt, als sie während ihrer Krankheit die Kommunion empfängt: "une autre vie commençait; il lui sembla que son être, montant vers Dieu, allait s'anéantir dans cet amour comme un encens allumé […] et ce fut en défaillant d'une joie céleste qu'elle avança les lèvres pour accepter le corps du Sauveur qui se présentait" (ebd.: II,14,486). Dieses neue Leben – das mit dem "corps du Sauveur qui se présentait" ausdrücklich an die christliche Figur der Realpräsenz anknüpft – wird aber von Anfang an wieder, wie bereits während ihrer Zeit in der Klosterschule, nicht spirituell, sondern sinnlich-ästhetisch konfiguriert. Die Falten des Bettvorhangs als Wolken und das Kerzenlicht als himmlischer Glorienschein führen sie zu einer "vision splendide" nach Art der bunten Bilder in den Erbauungsbüchern ihrer Jugend (ebd.: I,6,323) mit goldenem Himmelsthron, Heerscharen von Heiligen und Engeln sowie Gottvater "tout éclatant de majesté". Diese Vision wird ihr zur "chose la plus belle qu'il fût possible de rêver" (ebd.: II,14,486). Ihre "vision splendide" ist ein realistisches Traumbild der himmlischen Herrlichkeit; deshalb hat es wiederum nicht die Kraft zur wahrhaften Konfiguration ihrer Gefühlswelt, und deshalb bleibt ihr "l'autre amour au-dessus de tous les autres amours" verschlossen (ebd.: II,14,487). Teresa von Avila hatte in ihrem Buch über das innere Schloss ihren Mitschwestern gegen den Wunsch nach konkret abbildlicher Vorstellung die abstrakte, von konkretem Bildrealismus freie visión intelectual vorgestellt. Die Unfähigkeit zu solcher visión intelectual dürfte ein Grund für die moderne Psychasthenie sein.

Ein weiterer Grund ist die Interferenz mit dem anderen Geliebten. Die Erinnerung an Rodolphe wird weiter in der Figur des Seelenschlosses konzipiert. Sie ruht "tout au fond de son cœur" – so heißt es in Entsprechung zum göttlichen Bräutigam, dessen Vorstellung ihr in ihrer Jugend "au fond de l'âme des douceurs inattendues" geweckt hatten (ebd.: I,6,323) – wie die mumifizierte Leiche eines Königs in der Krypta des Schlosses. Von dort aus durchdringt "ce grand amour embaumé" wie eine Ausdünstung das gesamte Seelenleben Emmas, so dass sie mit den Worten ihrer ehebrecherischen Liebe zu Rodolphe ihre Liebe zu Gott im Gebet ausdrückt (ebd. II,14,487/488). Das ist nicht so sehr blasphemisch zu verstehen, sondern verweist einerseits auf die elementare Interferenz von irdischer und himmlischer Liebe, von erotischer und spiritueller Passion, andererseits noch einmal auf die wesentliche Differenz von Gefühl und Ausdruck.




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Die Beziehung zum nächsten Liebhaber findet wiederum im Spannungsfeld von irdischer und himmlischer Liebe, von Boudoir und Kathedrale statt. Das Treffen in der Kathedrale nimmt Léón in der Vorstellung vorweg und malt sich Emma – Sinnliches und Geistiges ineinander blendend – "dans toutes sortes d'élégances" und "dans l'ineffable séduction de la vertu qui succombe" aus (ebd.: III,1,510); später begeistern ihn "l'exaltation de son âme et les dentelles de sa jupe" (ebd.: III,5,533). Die Kirche ist ihm als "un boudoir gigantesque" ein Ort der Verführung zwischen erotischer und geistlicher Liebe, der durch seine besondere Sinnlichkeit – der Duft des Weihrauchs und das Licht der Kirchenfenster – das Begehren spornt. Die spirituelle Liebe hat einen sinnlichen Grund, und die erotische Liebe hat eine spirituelle Aura; das wöchentliche Treffen mit Léon ist für Emma das Glück des siebten Tags (ebd.: III,5,536). Beider Gemeinsames ist die menschliche Seele, die zum Schwingen gebracht und in Ekstase geraten will. "L'église, comme un boudoir gigantesque, se disposait autour d'elle; les voûtes s'inclinaient pour recueillir dans l'ombre la confession de son amour; les vitraux resplendissaient pour illuminer son visage, et les encensoirs allaient brûler pour qu'elle apparût comme un ange, dans la fumée des parfums" (III,1,510).

Emmas Versuch, beim Gebet vor dem Tabernakel geistlichen Beistand zu erhalten, scheitert zum einen an ihrer bekannten Disposition; sie versucht den "secours divin" anzuziehen, indem sie sich vom Glanz des Tabernakels, dem Duft der Blumen und der Stille der Kirche in Stimmung versetzen lassen will (ebd.: III,1,511). Diese subjektive Schwäche hat aber eine objektive Entsprechung. Der Hinweis auf "le silence de l'église" ist nicht nur akustisch zu verstehen; das spirituelle Schweigen der Kirche wird in der folgenden Führung durch die beflissene Geschwätzigkeit des Kirchenschweizers desto deutlicher. Die touristische Führung stellt die Kathedrale als kultur- und kunstgeschichtlich bedeutenden Ort aus; die Kirche ist nicht Kultort, sondern Museum.

Das Hotelzimmer, in dem sie sich regelmäßig treffen, ist als das reale Boudoir der korrespondierende Gegenort zur Kathedrale. Es ist mit seiner "lumière tranquille" zwar "tout commode pour les intimités de la passion"; aber es ist auch von einer "splendeur un peu fanée" (ebd.: III,5,532) und macht so die Kluft zum "boudoir gigantesque" der Kathedrale besonders spürbar. Das Elend der bürgerlichen Liebe hat seinen Grund darin, dass sie um die 'gigantische' Aura der Spiritualität beschnitten ist. Die Ekstase ist zur Transgression des Ehebruchs geworden.

Am Ende wird diese konzeptuelle Konstellation von spiritueller und bürgerlicher Liebe wieder aufgenommen. Emma erinnert sich, wie sie bei ihrem ersten Treffen "anxieuse et pleine d'espérance" zur Kathedrale gekommen war und das Kirchenschiff ihr "moins profonde que son amour" erschienen war (ebd.: III,7,563). Die unmittelbar folgende Phantasie, in einer Kutsche den Vicomte aus dem Schloss Vaubyessard zu sehen, verbindet das mit dem Gefühlsbild des Schlosses und führt noch einmal die beiden Momente zusammen. Der Kirchenraum ist für ihre Liebe nicht deshalb zu klein, weil diese zu groß wäre, sondern weil ihre unermessliche Sehnsucht nicht angemessen konfiguriert ist. Kirche und Schloss als Seelenarchitektur bleiben für Emma leer, weil auch ihr innerer Seelenraum leer ist. Emma hat den inneren Bräutigam nicht ausgebildet, und ihre Geliebten haben nicht die Statur des Bräutigams. Wenn das gleichwohl unermessliche Begehren ihrer Liebe in die Grenzen der bürgerlichen Ehe und des ebenso bürgerlichen Ehebruchs eingeschlossen wird, kann das nicht gutgehen. Die Kirche ist das Boudoir der geistlichen Liebe. Sie hat die Seele auf eine Weise konfiguriert, dass sie zu wahrhafter innerer Erfahrung und Ekstase fähig war. Kathedrale, Schloss und Boudoir sind drei Gestalten der Seele, Seelenräume als symbolische Formen. Die Diagnose des Romans zeigt, dass alle drei Seelenräume leer sind. Die Frage, die der Roman aufwirft, ist dann, was die Seelenräume von Kathedrale und Schloss in der Moderne ersetzen kann, um die Seele mit entsprechenden Wunsch- und Gefühlsbildern neu zu konfigurieren.




PhiN 53/2010: 51


Die Szene im Haus des Apothekers gibt der Unterscheidung von Weltlichem und Sakralem und deren säkularisierender Neutralisierung in der Moderne eine weitere Dimension. Homais nennt sein Laboratorium sein capharnaüm und erläutert den besonderen Status dieses Raums, indem er ihn als Tabuort bezeichnet, zu dem nur er selbst Zugang hat: "il faut établir des distinctions" (ebd.: III,2,517). Die Unterscheidung, die Homais damit als eine Replik auf die von Sakralem und Profanem vornimmt, lässt die Wissenschaft an die Stelle der Religion treten; das Sakrale ist ein abgesonderter Ort, an dem nun statt des Allerheiligsten die Heilmittel der Moderne stehen. Die Bezeichnung capharnaüm markiert auf ingeniöse Weise den ganzen Komplex, der hier im Spiel ist. Homais verwendet das Wort ironisch in seiner alltagssprachlichen Bedeutung von Rumpelkammer; als einen solchen Ort des Durcheinanders kann das Wort auch einen Raum der Ausschweifung bezeichnen. Allem voran aber verweist es auf den Ort in Galiläa, an dem wichtige Ereignisse im Leben Jesu stattfanden; das ist der tiefere Sinn der Ironie von Homais, dessen Aufklärungspathos ja dezidiert auch gegen das Christentum gerichtet ist. Für sein capharnaüm ist die im Johannesevangelium überlieferte Predigt Jesu besonders bedeutsam, in der er nach der wunderbaren Brotvermehrung vom "wahren Brot des Himmels" spricht: "Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit Leben" (Joh 6,26-63).

Der kranke und entstellte Bettler am Stadtrand von Rouen ist – wie der hinkende Hippolyte – ebenfalls ein "pauvre diable"; der Anblick seines körperlichen Leidens löst bei Emma einen Melancholieschub aus. "Cela lui descendait au fond de l'âme comme un tourbillon dans un abîme, et l'emportait parmi les espaces d'une mélancolie sans bornes", so dass sie dann "ivre de tristesse" und "avec la mort dans l'âme" ist (ebd.: III,5,535). Die Konstellation des armen Teufels mit der Melancholie deutet an, dass diese Krankheit das negative Revers der Vergeistigung und der spirituellen Liebe ist. Den "félicités plus grandes", die der göttliche Bräutigam bewirkt (ebd.: II,14,487), korrespondiert die "mélancolie sans bornes" als das höllische Übel. Emmas Verderbtheit gehört in diesen Komplex. Das Gespinst aus Lügen, Betrügereien und Hinterlist, in das sie "comme dans des voiles" ihr Leben und ihre Liebe hüllt, erkennt der Erzähler als Teil ihrer seelischen Verfassung und ihres Gefühlshaushalts: "C'était un besoin, une manie, un plaisir" (ebd.: III,5,538). Angesichts von Emmas Liebeskünsten, "qui lui emportaient l'âme", fragt Léon sich: "Où donc avait-elle appris cette corruption, presque immatérielle à force d'être profonde et dissimulée?" (ebd.: III,5,544). Und als sie Léon vorschlägt, zur Begleichung ihrer Schulden Geld in seinem Büro zu unterschlagen, ist er von der "muette volonté de cette femme" gebannt: "Une hardiesse infernale s'échappait de ses prunelles enflammées" (ebd.: III,7,562). Diese "corruption presque immatérielle", die Verderbtheit als geistiges Phänomen an der Grenze zum Körperlichen, ist das negative Revers der Vergeistigung. Der Unfähigkeit zum Glück der "félicités plus grandes" korrespondieren die Trauer und das Leiden der Melancholie sowie die seelische Verderbtheit. In der Melancholie spielen das malum physicum und das malum morale ineinander; so ist sie le mal du siècle. Das Buch ist zuletzt auch eine Studie über diesen Aspekt des Übels und des Bösen unter den Bedingungen der Moderne.




PhiN 53/2010: 52


Emmas Reflexionen kurz vor dem Ende fassen noch einmal das elementare Problem zusammen, das der Roman erkundet. Sie gehen aus Erinnerungen an die Zeit im Konvent hervor. Das zeigt, dass sie die Tiefenstruktur von Emmas Bildungsroman ist. Die unermessliche Sehnsucht, die sich in ihr aus ihren religiösen und literarischen Lektüren gebildet hat, ist in der Wirklichkeit ohne Entsprechung geblieben; und ihre Liebhaber – Charles, der Vicomte, Rodolphe, Léon – sind allesamt unendlich weit entfernt von der Gestalt des Bräutigams. "Elle n'était pas heureuse, ne l'avait jamais été. D'où venait donc cette insuffisance de la vie, cette pourriture instantanée des choses où elle s'appuyait?" (ebd.: III,6,550). Ein Grund für die "insuffisance de la vie" und "pourriture instantanée des choses" ist die unendliche Kluft zwischen der Figur des Bräutigams und den wirklichen Geliebten. Der irdische Liebhaber und die irdische Liebe sollen die Kraft des himmlischen Liebhabers und der himmlischen Liebe haben. "Oh! Quelle impossibilité!" Aus dieser Unmöglichkeit wird der Bräutigam idolisch: "un être fort et beau, une nature valeureuse, pleine à la fois d'exaltation et de raffinements, un cœur de poète sous une forme d'ange". Dieses Idol hat in einer Art ontologischem Liebhaberbeweis eine Wirklichkeit, die aber, da Emma sie verfehlt, der Grund ihres Elends, der "insuffisance de la vie" und "pourriture instantanée des choses" ist. Ein Wesen mit solchen Eigenschaften muss auch existieren; nur ist es ihr unmöglich, ihm zu begegnen: "Mais s'il y avait quelque part un être fort et beau […] pourquoi, par hasard, ne le trouverait-elle pas? Oh! Quelle impossibilité! […] les meilleurs baisers ne vous laissaient sur la lèvre qu'une irréalisable envie d'une volupté plus haute" (ebd.: III,6,550). Diese "irréalisable envie" betrifft zunächst Emma Bovary als Person. Ihre individuelle Geschichte hat dieses spirituelle Fundament. Wie unzulänglich es auch sein mag, sie weiß gleichwohl von einer "volupté plus haute" und misst daran jede andere Lust. Sie betrifft im Weiteren Emma als einen Typus der modernen Seele, die ebenfalls auf dem spirituellen Fundament der Prämoderne und des Mittelalters aufruht. Diese Möglichkeit einer "volupté plus haute" ist noch nicht vergessen; sie wirkt als unermessliche Sehnsucht nach, die von der Empfindsamkeit und der Romantik – und möglicherweise bereits durch den Petrarkismus – ins Säkulare transformiert worden ist. – Es ist denkbar, dass eine Differenz der Postmoderne zur Moderne darin besteht, mit der allgemeinen Enthistorisierung des Denkens auch diese Tradition langsam vergessen zu lassen. Sexualität ist dann Bedürfnisbefriedigung und Sport, nicht Erotik und innere Erfahrung.

Die Frage, ob dieses Versprechen einer "volupté plus haute" Illusion ist oder ob es eine Möglichkeit der realen Unterscheidung von Gott und Götze, Ideal und Idol, wahrhafter und scheinhafter Konfiguration der Seele gibt, hält der Roman in der Schwebe, da Emmas Lektüren während ihres Bildungsgangs von Anfang an nur aus dem Bodensatz der spirituellen Erbauungsliteratur und deren sentimentalen und romantischen Fortsätzen besteht. Emmas Seelenleben ist als negatives Revers auf die hohe spirituelle Literatur bezogen; Teresa von Avila ist lediglich als Abwesende eine mögliche Vergleichsgestalt.




PhiN 53/2010: 53


Die unermessliche Sehnsucht und die Unmöglichkeit ihrer Erfüllung konfiguriert sich noch einmal in der Schlossphantasie, wenn Emma das Landgut Rodolphes am Ende als "impassible château" (ebd.: III,8,577) wahrnimmt. Deshalb leidet sie auch nicht an der realen Situation – "la question d'argent" –, sondern an der Liebe. Noch im äußersten Elend findet sie nicht in die Wirklichkeit, sondern bleibt ihrer Wunsch- und Phantasiewelt verhaftet, für die das "impassible château" die negative Figur ist. Von der Leidenschaft ist nur noch das bloße Leiden geblieben; die unmögliche Liebe bewirkt seelische Verletzung, der unerfüllte Wunsch wird zur Erinnerungsspur des fehlenden Objekts, und diese Erinnerung ist die Wunde der Seele. "Elle ne souffrait que de son amour, et sentait son âme l'abandonner par ce souvenir, comme les blessés, en agonisant, sentent l'existence qui s'en va par leur plaie qui saigne" (ebd.: III,8,577). Diesen unerfüllten Wunsch führt der Roman in einer hochingeniösen Schlusswendung auf die Urgestalt des Wunsches – das Essen – zurück, dessen Versagung entsprechend die Urgestalt der seelischen Wunde an der Grenze zum Körper ist.

Emma ist seelisch verhungert. Deshalb ist ihr Ende mit dem Essen und dem Anfang aller möglichen Befriedigung verbunden. Das Arsen ist dann nur in erster Linie eine materielle Substanz, die sie zu sich nimmt, um sich umzubringen; als verletzende Speise ist das Gift die Figur der fehlenden spirituellen Nahrung, die ihr die Liebe hätte sein sollen. Die letzte Phase ihres Lebens steht mit Erbrechen und Magenschmerzen nicht nur einfach im Zeichen der Umkehrung des Essens. Das Gift ist die Figur ihrer unbefriedigten Wünsche und als deren letztes Ersatzobjekt ihr letzter Liebhaber; sie behandelt es als ein personales Gegenüber: "elle maudissait le poison, l'invectivait, le suppliait de se hâter" (ebd.: III,8,583). Zu diesem Szenario bietet einerseits das üppige Abendessen, das Homais den beiden Ärzten auftischt, während Emma stirbt, die groteske Entsprechung. Vor allem aber korrespondieren ihm die letzten Minuten vor dem Tod. Der Anblick des Priesters erinnert sie an die "volupté perdue de ses premiers élancements mystiques"; und der Kuss auf den Kruzifixus wird zum Todeskuss auf dem Brautbett des Todes: "collant ses lèvres sur le corps de l'Homme-Dieu, elle y déposa de toute sa force expirante le plus grand baiser d'amour qu'elle eût jamais donné" (ebd.: III,8,587/588); ihr Mann lässt sie – offenbar in einer vagen Einsicht in diese Konstellation – in ihrem Brautkleid in den Sarg legen (ebd.: III,9,591). Dieser allerletzte Liebhaber wird aber sogleich durch eine weitere Figur abgelöst. Das Revers zum Gottmenschen ist der arme Teufel des Bettlers, der Emmas endgültig letzte Vorstellung der Verzweiflung vor dem Tod ist. Das Gift als allegorische Figuration spaltet sich auf in Gott und Teufel, die Gestalten der höchsten Lust und des tiefsten Elends. Das ergibt die Figuration des Ambivalenzkonflikts von Liebe und Hass in der Form, die das Christentum ihr gegeben hat. Das bedeutet umgekehrt auch, dass diese Ambivalenz ebenfalls den Gehalt der christlichen Spiritualität bildet, die Formen entwickelt hat, den daraus entstehenden Konflikt einzuhegen. Gelingt das nicht, wird er zu acedia und Melancholie.




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III

 

… and you feel just like Jesus' son
Lou Reed: Heroin

Flauberts Analyse der modernen Seele in Madame Bovary erhält ein schärferes Profil, wenn man sie mit den Souvenirs d'enfance et de jeunesse (1883) von Ernest Renan vergleicht. Die entscheidende Wende im Leben Renans findet in den vierziger Jahren statt, etwa zu der Zeit, in der Flauberts Roman spielt. Renan gestaltet den intellektuellen Werdegang seines Lebens als eine Allegorie der Neuzeit vom späten Mittelalter über die Prämoderne zur Moderne, vom einfachen Glauben über die Theologie zur Wissenschaft, vom göttlich offenbarten Wort zum menschlich überlieferten Wort, so dass Philologie und Weltgeschichte als wissenschaftliches Analogon zur Theologie und Heilsgeschichte erkennbar werden. Vom mittelalterlich naiven Glauben des bretonischen Christentums seiner Kindheit über das renaissancehaft rhetorische, humanistische Christentum im Seminar Saint Nicolas – in dem er zum ersten Mal die Freiheit der "atmosphère du siècle" verspürt – kommt er ins 1642 gegründete Seminar Saint Sulpice und zum tridentinisch erneut dogmatisch und theologisch gefestigten Christentum. Die rationale Strenge der theologischen Ausbildung führt ihn zur Erkenntnis, dass die Gründe für den Glauben schwächer sind als die gegen ihn. So enthält das Christentum seine eigene Aufhebung in Wissenschaft und wird der Einbruch des Säkulums rational begründet. Das ist die Lektion, die Renan aus der Moderne zieht und als die der Moderne nachvollzieht. Diese Entwicklung konzipiert er als eine Fortschrittsgeschichte. Die Menschheit entwickelt sich von der Antike mit zunehmendem Fortschritt in eine Zukunft, die immer erkenntnisreicher wird. Und das Medium dieses Fortschritts ist die moderne Wissenschaft. "J'aime le passé, mais je porte envie à l'avenir." Descartes wäre begeistert, wenn er irgendeine physikalische Abhandlung von heute lesen könnte, denn jeder Schüler kennt heute Wahrheiten, für die Archimedes sein Leben geopfert hätte (Renan 1983: 5).

Die Konversion zum Nicht-Glauben – "cette grande lutte engagée entre ma raison et mes croyances" (ebd.: 170) – ist deshalb für ihn nicht eine Sache der persönlichen Entscheidung, sondern wie die des heiligen Augustinus, auf dessen Darstellung in den Confessiones die Renans eine Replik ist, ein heteronom motivierter Prozess. An die Stelle des übernatürlichen Eingriffs tritt bei Renan das wissenschaftlich methodische Denken; der "esprit cientifique" lässt für den Denkenden "ses opinions se former hors de soi par une sorte de concrétion impersonnelle" und stellt ihn durch die Macht der Tatsachen vor die Wahrheit (ebd.: 169). Diese wissenschaftlich gefundene Wahrheit ist der moderne Ersatz der Offenbarung. Wissenschaft und Offenbarung berühren sich im Begriff der Wahrheit. Die Wissenschaft zeigt die Wahrheit der Offenbarung als Schein auf und kann deshalb als wirkliche Wahrheit an deren Stelle treten. Das ist der Zivilisationsgewinn der Moderne.




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Die Konversion fasst Renan in der traditionellen Figur der Metamorphose von der Puppe zum Schmetterling. "La transition de l'habit ecclésiastique à l'habit laïque est comme le changement d'état de la chrysalide" (ebd.: 185). Die Religion und das Priestertum ist die Puppe, die Wissenschaft und das Forschertum ist der Schmetterling, die wahrhafte Form der rationalen Seele. Das Bild impliziert, dass es sich bei dieser historischen Entwicklung um einen nachgerade natürlichen Prozess handelt. Es ist die Natur des menschlichen Geistes, sich von der Religion zur Wissenschaft zu entwickeln. Aber Renan würde wohl auch mit dem Goethe der zahmen Xenien sagen, wer diesen "esprit cientifique" nicht hat, "der habe Religion". "En réalité, peu de personnes ont le droit de ne pas croire au christianisme. Si tous savaient combien le filet tissé par les théologiens est solide, comme il est difficile d'en rompre les mailles, quelle érudition on y a déployée, quelle habitude il faut pour dénoyer tout cela! ... " (ebd.: 84)

Die im ersten Kapitel ausführlich beschriebene unglückliche, im Wahnsinn endende Liebe der Tochter des verarmten Landadligen zum Priester des Orts gibt in verdichteter Form die Verfassung von Emma Bovarys Gefühlshaushalt. Renan meint, das adlige Fräulein hätte, wenn sie verheiratet gewesen wäre, ihre spirituelle Energie religiös binden und den Priester die Position des geistlichen Bräutigams neben dem Ehemann einnehmen lassen können. Die Verbindung von beiden in einer Person wäre für sie, so meint sie, das Paradies, sie ist aber in Wahrheit eine fixe Idee, die ihre Liebe phantastisch und objektlos macht: "L'amour chez elle devint culte, adoration pure, exaltation" (ebd.: 32). Die "feux follets de son imagination détraquée" (ebd.: 35) lassen sie wahnsinnig werden.

Die besondere Verfassung der ungehegten Trieb- und Affektstruktur, die Flaubert an Emma Bovary exemplarisch untersucht, hat Avital Ronell – Drogenkriege. Literatur.Abhändigkeit.Manie – als die der Sucht zu entziffern versucht. Deren Besonderheit ist ein Begehren ohne ein reales Objekt, das stattdessen auf eine Serie "nicht-substantieller Anderer" gerichtet ist (Ronell 1994: 128). Dieses Begehren wird durch Emmas Lektüren geweckt. Dabei ist es aber wohl nicht einfach so, wie Ronell anzunehmen scheint, dass die Literatur als literarische Fiktion dergestalt wesenlos wäre und nur "nicht-substantielle Andere" zu liefern im Stande wäre. Emmas Klostererziehung zeigt, dass auch die religiöse Erziehung ganz objektlos bleiben kann. Die Frage müsste vielmehr sein, wie dieser phantasmatisch-scheinhafte Andere zu einem wirklichen und wahrhaften Anderen werden kann. Eben das ist das Versprechen der Religionen gewesen. Und das theologische und spirituelle Schrifttum des Christentums zeigt, dass dieses Versprechen eingelöst werden konnte.

Die Moderne hat diese Kraft der konfigurierenden Hegung verloren, die als transzendentales Signifikat (Derrida) zu konzipieren vermutlich ganz unzulänglich ist; genauer: sie schlicht als Garanten von Sinn und Bedeutung zu nehmen, ist ein Symptom für den Verfall dieser Kraft. Deshalb kann die Verfassung dieser Dimension der Moderne als Sucht beschrieben werden, als ungebundene Sehnsucht und Suche ohne Ziel und Objekt.




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Die Droge wird in dem Maße zum Medium dieser Suche, wie sie als weltliches Analogon zum spirituellen Glück der Religion konzipiert werden konnte. Sie ist, in Baudelaires ingeniöser Formel, ein künstliches Paradies. Der Haschischrausch bewirkt "le bonheur absolu", denn "l'homme est passé dieu" (Baudelaire 1975a: 394). Die Droge verschafft "cette jouissance suprême de se sentir plein de vie" (Baudelaire 1975b: 413). Sie schafft ein "idéal artificiel" (ebd.: 403), der Berauschte fühlt sich als "Homme-Dieu" (ebd.: 426), und die Welt erstrahlt in einer "gloire nouvelle" (ebd.: 431). Das alles bleibt aber phantasmatisch und hat lediglich halluzinatorischen Charakter. "Les sophismes du hachich sont nombreux et admirables. […] le plus efficace est celui qui transforme le désir en réalité" (ebd.: 432). Das ergibt eine "triomphante orgie spirituelle" (ebd.: 435), die für Baudelaire satanisch konnotiert ist.

Der heilige Augustinus hat in seinem Kommentar zur Genesis – De genesi ad litteram – die Frage nach dem Status des Paradieses diskutiert. Das irdische Paradies am Anfang war eine sowohl körperliche wie geistige Wirklichkeit (Augustinus 1865: VIII,1,1, 372), die "in deliciis" errichtet worden ist (ebd.: VIII,3,6,374). Das Sakramentale gibt die Form für das Ineinanderwirken von Geistigem und Körperlichem. So wird die göttliche Weisheit im irdischen Paradies durch den Baum des Lebens "tamquam sacramento" materiell bezeichnet. Die paradiesische Wonne ist nicht nach Art von körperlichen oder körperlich induzierten geistigen Wahrnehmungen verstehbar: "per corporum similitudines, quales in spiritu imaginaliter fiunt, sicut in somnis, vel in aliquo excessu spiritus quod graece dicitur ekstasis" (ebd.: VIII,25,47,391). Über die Beschaffenheit des Paradieses und seiner Wonne handelt das zwölfte Buch als Kommentar zum Bericht des Apostels Paulus über seine Entrückung in das Paradies des dritten Himmels (2 Kor 12,2-4). Augustinus diskutiert die Differenz verschiedener Visionsarten und wirft dann die Frage nach der Vision einer unkörperlichen Substanz als die nach einer wahrhaften Vorstellung auf: "substantia incorporea videbatur, non in aliqua imagine corporis, sed sicut videtur iustitia, sapientia, et si quid eiusmodi" (Augustinus 1865: XII,4,12,458). Solche Visionen sehen nicht körperlich und nicht imaginär, sondern "eas res continent quae non habent imagines sui similes, quae non sunt quod ipsae" (ebd: XII,6,15,458/459). Und diese "incommutabilis substantia" wird in der ewigen Glückseligkeit nach der Auferstehung der Leiber wiederum auf eine neue körperliche Weise wahrgenommen. "Omnia enim evidentia erunt sine ulla falsitate, sine ulla ignorantia, suis ordinibus distributa et corporalia et spiritalia et intellectualia, in natura integra et beatitate perfecta" (ebd.: XII,36,69,484).

Die Frage, wie eine halluzinatorische von einer wirklichen Vorstellung und diese von einer solchen intellektuellen Wahrnehmung zu unterscheiden ist und ob diese Unterscheidung überhaupt trennscharf möglich ist, kann hier nicht erörtert werden. Sie ist aber seit je im Feld der inneren Erfahrung der Mystik als die von visionärer Ekstase und schwärmerischer Exaltation zu treffen versucht worden. Und für den Umgang mit den fiktionalen Welten der Literatur ist seit ihrem Beginn in der Prämoderne eine entsprechende Unterscheidung als erforderlich erkannt worden. Der Don Quijote mit seinen Fragen nach dem richtigen oder falschen Lesen oder seinen hochkomplexen metafiktionalen Konstruktionen ist dafür das markanteste Beispiel. Und Madame Bovary ist schon bald als dessen moderne Replik erkannt worden. Für Ronell ist aber entscheidend, dass der Süchtige die Gestalt des Desiderats einer solchen Erfahrungswahrheit ist, die er sucht, aber nicht erreichen kann, weil sein Begehren nicht konfiguriert ist. Und eben darin ähnelt ihm Emma Bovary; sie ist wie der Süchtige "auf der Suche nach mehr" (Ronell 1994: 131). Daraus ergibt sich eine entscheidende Einsicht, die für die Analyse der modernen Trieb- und Affektverfassung von großer Tragweite sein kann. Es ist nicht die Droge, die Sucht erzeugt, vielmehr erschafft die Suchtverfassung sich ihre Drogen. So kann tendenziell alles in dem Maße zur Droge werden, wie es zum wesenlosen Objekt und "nicht-substantiellen Anderen" dieser Triebökonomie wird. Und so ist umgekehrt die simulakrische Symbolwelt der Moderne als Figuration dieser Suchtverfassung zu entziffern. Sucht, so kann man dann vielleicht in einer ersten Annäherung sagen, entsteht, wenn die psychische Ökonomie nicht durch einen substantiellen Anderen konfiguriert wird.




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Walter Benjamin hat in seine Baudelaire-Studien – einer ersten Ausarbeitung seiner Rekonstruktion der Moderne des 19. Jahrhunderts, die das Passagen-Werk werden sollte – eine Reflexion über das Glücksspiel und die "Spielwut" (Benjamin 1974: 637) eingefügt, die zeigt, dass die Spielsucht das wesenlose Wesen der Suchtverfassung zu erkennen geben kann. Die einzelnen Partien des Glücksspiels, so führt Benjamin eine Überlegung Alains an, sind auf elementare Weise kontextlos. Jedes Spiel ist absolut unabhängig vom vorherigen und folgenden. Der Gewinn ist nicht Lohn, der Verlust nicht Vergeltung, das Spiel besteht immer nur aus der jeweiligen Partie. Seine Verfassung ist die Wiederholung; jedes Spiel wiederholt den immer gleichen Vorgang, der selbst aber leer, ziel- und inhaltslos ist. Der Zufall hat keine Ursache und keinen Zweck. Er ist als ein Nicht-Objekt die Figur der Leere schlechthin, die Gestalt des Falls nach dem Ende der Providenz. Er ist ein Objekt, das sich entzieht, das in jeder Hinsicht unvorhersehbar ist. Das Glücksspiel ist eine geregelte Form, den Zufall ins Werk zu setzen. Die einzige Gewissheit dabei ist, dass der Zufall eintrifft, dass der Würfel, die Kugel, die Karte fällt; was das Ergebnis sein wird, ist unvorhersehbar, allenfalls durch Wahrscheinlichkeitskalküls einzuhegen; aber das ist dann nicht mehr eine Sache des Glücksspiels.

Benjamins Überlegungen zur Psychologie des Spielers zeigen eine entscheidende Konsequenz, die der Einbruch des Hasard mit sich bringt. Der Spieler will zwar gewinnen, aber das ist nicht "ein Wunsch im eigentlichen Sinn des Wortes" (ebd.: 639); ihn treibt die Gier. Deren kontextlose momentane Lust hat nicht die zeitliche Verfassung von Begehren und Erfüllung, die Erfahrung ermöglicht. Der zeitlose, aus dem Kontinuum der Zeit herausgebrochene und deshalb immer wieder neu beginnende Augenblick bleibt erfahrungslos. Das ergibt die Figur der Wiederholung, "das Immer-wieder-von-vorn-anfangen" als die "regulative Idee des Spiels" (ebd.: 636). Das Besondere dieser regulativen Idee liegt dann aber gerade darin, zwar regulativ zu sein, aber damit zugleich auch den Begriff der Idee, des konfigurierenden Urbilds für Erkenntnis und Erfahrung zu zersetzen. Das Glücksspiel ist das "Rauschgift" (ebd.: 636), das über diese Zersetzung von Zeit und Erfahrung hinwegtrösten soll; das tut es aber lediglich im selbst nur augenblickshaften Rausch, der die Gier immer wieder neu entstehen lässt. Das Glückspiel kann dann in einem weiteren Sinn die regulative Idee der Moderne bilden. Es gibt eine Figur von ihrer Verfassung, deren Besonderes der Zusammenbruch jener Form der Erfahrung ist. Erfahrung ist "ein unwiederbringlich Verlorenes" (ebd.: 638), das die Autoren der Hochmoderne noch einmal – nämlich als Verlorenes – zur Sprache gebracht haben.

Eine entscheidende Frage ist dann, ob die Religionen eine solche wahrhafte symbolische Konfiguration gegeben oder nur versprochen haben, ob Religion eine Form ist, vor der Sucht zu bewahren oder ob sie selbst eine Gestalt der Sucht ist. Karl Marx hat in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) die Religion umstandslos als Droge analysiert. Sie ist "ein verkehrtes Weltbewusstsein" in einer "verkehrten Welt" und deshalb nur die "phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens", dessen "wahre Wirklichkeit" erst durch die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse entsteht. "Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks" (Marx 1976: 378/9). Marx kann Religion und Droge deshalb als Gestalten eines falschen Bewusstseins identifizieren, weil er mit dem revolutionären Klassenbewusstsein eine wahrhafte Alternative dazu im Sinn hat. Für ihn ist also die Unterscheidung zwischen phantastischen und wahrhaften Vorstellungen eindeutig zu treffen.




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Es ist naheliegend, ein solches richtiges Bewusstsein wiederum als die Gestalt eines säkularen Religiösen zu erkennen. Dann ergibt sich aber die Frage, ob die traditionellen Religionen und ihre modernen Erben tatsächlich die Verfassung der Droge haben. Es gibt vermutlich Gründe, das zu bezweifeln. Die Religion, sofern sie ein Dogma hat, also intellektuell anspruchsvoll konfiguriert ist, hat nicht die Verfassung einer Erfahrung ohne Objekt und ohne Wahrheit. Sie ist ja gerade die symbolische Gestaltung eines solchen Objektes. Dem korrespondiert die liturgische Substruktur des Alltagslebens. Die festlichen Ereignisse, die mit den Sakramenten der katholischen Kirche verbunden sind – Taufe, Erstkommunion, Hochzeit, Krankensalbung und Beerdigung –, haben das christliche Leben gefügt; sie bilden auch ein strukturierendes Prinzip von Madame Bovary.

Emma Bovary selbst aber fehlt diese Gestaltungsform; ihre Trieb- und Affektwelt ermangelt einer Verfassung, die dem freischweifenden, unermesslichen Begehren eine Form geben könnte. Deshalb bleibt sie erfahrungslos; und das heißt zuletzt: gefühllos. Weil sie aber die Ahnung einer solchen Konfiguration hat, verspürt sie den Unterschied und den Mangel. Avital Ronell hat dafür eine paradoxe Formel gefunden: "Emma leidet endlos unter ihrer Endlichkeit, wenn sie ihrem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüber sitzt. (…) Sie fühlt das Nicht-Fühlen" (Ronell 1994: 134). Das endlose Leiden an der Endlichkeit, das an der defizienten Figur der Glückseligkeit überhaupt – des facie ad faciem der Gottesschau – in seinem ganzen Elend aufbricht, erzeugt eine Empfindung, die Ronell – analog zum "Geist geistloser Zustände" bei Marx – als Fühlen des Nicht-Fühlens zu konzeptualisieren versucht hat. Eine zureichende Entfaltung dieser Denkfigur – sie hat die Verfassung der negativen Rekurrenz als Dynamik von Emmas Triebambivalenz – würde es gestatten, die Fallhöhe der modernen Seele zu erfassen. Der spirituelle Subtext des Romans stellt die Diagnose der modernen Seele als psychisch tot gerade im Vergleich zu den psychischen Kräften, die einmal möglich waren. Die Erinnerung an diese Möglichkeit, ohne sie noch verwirklichen zu können, ist der Grund der modernen Melancholie.4

Auf den Verlust reagiert Emma mit Wiederholung; die wechselnden Liebhaber sind in jeder Hinsicht Ersatzobjekte für den fehlenden 'Bräutigam'. Dieser Ersatz durch ein vervielfältigtes Objekt, dem ein ebenso vervielfältigter Verlust entspricht, führt aber zu einer Zersetzung des Liebesobjekts und der Verlusterfahrung. Die zerplatzenden, sich vervielfältigenden Feuerkugeln mit dem Gesicht Rodolphes darauf, die sie kurz vor dem Ende halluziniert, geben dafür ein Bild (Flaubert 1951: III,8,577). Für Emma ist das Objekt, das nicht eines ist, in Wahrheit gar keines. So wird nicht nur die Suche zur Sucht, zur Suche ohne Objekt und zur freischweifenden Sehnsucht; auch der Verlust ist dann nicht einer, sondern keiner. Die paradoxe Verfassung des Objekts, das keines ist, führt zum Verlust, der keiner ist, zur Unfähigkeit des Verlustes und so zur Melancholie.

Im Alltag des Lebens ist der Verlust dieses absoluten Objekts zu einer diffusen Verlustverfassung geworden. Flaubert deutet das durch ein Moment in Emmas Geschichte an, das eigentlich gar nicht zu ihrem Leben gehört, es aber offenbar doch auch bestimmt. Das Entscheidende dieser Passage liegt darin, den Verlust nicht als einmalige Katastrophe zu konzipieren, sondern ihn – auch für den Leser fast unbemerkbar – wie von ungefähr und ganz nebenbei anzudeuten. Emma selbst fragt sich an den Punkten ihres Lebens, die zu Wendepunkten werden könnten, was der Grund für ihre Unfähigkeit nicht nur zum Glück, sondern überhaupt zum Leben sein könnte. "Mais qui donc la rendait si malheureuse? Où était la catastrophe extraordinaire qui l'avait bouleversée?" (ebd.: II,10,449). Diese anfängliche Frage nach einem konkreten, ja persönlichen Verursacher wird am Ende in eine Frage überführt, die eher auf eine allgemeine Verfassung als auf eine besondere Ursache zielt. "D'où venait donc cette insuffisance de la vie, cette pourriture instantanée des choses où elle s'appuyait?" (ebd.: III,6,550) Die "insuffisance de la vie" ist bei Emma nicht die Folge einer traumatisierenden catastrophe extraordinaire, sondern ein Moment ihrer psychischen Ökonomie und ihrer – offenbar gleichwohl – traumatisierten Psyche.




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Ihr Ungenügen wird nicht durch den Verlust eines hochbesetzten Objekts ausgelöst. Der Tod ihrer Mutter ist für sie nicht eine catastrophe extraordinaire; sie trauert gar nicht wirklich, sondern spielt lediglich die Rolle der Trauernden – "ce rare idéal des existences pâles" (ebd.: I,6,326). Das Ungenügen gehört zu der Zeit offenbar bereits zu ihrer Verfassung. Es ist tatsächlich ein Moment ihrer unbewussten Affektstruktur. Nur ein einziges Mal wird kurz angedeutet, dass Emma einen älteren Bruder hatte, an den aber nicht sie sich erinnert, sondern ihr Vater, als er das junge Paar nach der Hochzeit verabschiedet. Dessen ungenügender Ersatz ist Emma, für die ihrerseits später ihre Tochter der ungenügende Ersatz eines Sohnes sein wird. "Leurs fils, à présent, aurait trente ans! […] Il se sentit triste comme une maison démeublée; et les souvenirs tendres se mêlant aux pensées noires […], il eut bien envie un moment d'aller faire un tour du côté de l'église. Comme il eut peur, cependant, que cette vue ne le rendît plus triste encore, il s'en revint tout droit chez lui" (ebd.: I,4,319). Dieser für den Vater noch konkrete Verlust überträgt sich auf Emma und gibt das Gepräge für ihre psychische Verfassung; das führt zu dem diffusen Ungenügen der "insuffisance de la vie". Die melancholische Disposition des Vaters wird bei Emma zum Persönlichkeitsbild. Das Ingeniöse der Passage liegt darin, dass bereits für den Vater die Seelenarchitektur in der Spannung von weltlichem und kirchlichem Gebäude steht; das leere innere Haus ist die Replik auf die Kirche, die für ihn offenbar ebenso leer ist und ihn "plus triste encore" macht.

Emmas psychische Verfassung ist recht eigentlich eine Nicht-Verfassung. Ihre Triebe und Affekte sind weder ödipal noch auf andere Weise symbolisch gestaltet. Die christliche Anthropologie hat in der Denkfigur der Gottebenbildlichkeit die drei rationalen Seelenkräfte – Gedächtnis, Verstand, Wille – als die psychischen Repräsentanzen der drei trinitarischen Personen – Vater, Sohn, Geist – und die psychische Verfassung als deren dreieiniges Zusammenwirken konzipiert. Die Psychoanalyse hat ebenfalls eine Dreierstruktur – aber ohne einen theologischen Überbau – als das Gefüge von Ich, Über-Ich und Es – bei Lacan als das von Imaginärem, Symbolischem und Realem – angenommen. Wenn dort, wo inwendig eine Figur der Seele Gestalt geben sollte, wo der Andere als das gefügte Zusammenspiel der seelischen Kräfte der Person eine Wirklichkeit geben sollte, eine Leere herrscht, ist diese Abwesenheit in einer paradoxen Logik aber doch wirksam; der Mangel ist nicht nichts, er ist wirklich als Leere, die Erfüllung sucht, aber nicht zu füllen ist, da sie – eine konturlose Leere – der Gestalt ermangelt und deshalb tendenziell unendlich ist. Sie bildet die Melancholie als die moderne Version der spirituellen dunklen Nacht aus. Hegel hat sie als die schlechte Unendlichkeit des unglücklichen Bewusstseins analysiert. Und Flaubert hat sie prototypisch in Emma Bovary oder Frédéric Moreau als die Verlustverfassung des modernen Menschen gestaltet.

Die Leere ist auf phantomhafte Weise wirklich. Sie wird durch das simulakrische Surrogat des Suchtobjekts nur scheinbar erfüllt. Die alles entscheidende Frage ist dann, ob die in den vorstehenden Überlegungen implizierte Unterscheidung zwischen Phantom und Figur, zwischen scheinhafter und wahrhafter Konfiguration der Seele tatsächlich tragfähig ist.




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Bibliographie

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Benjamin, Walter (1974): "Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus", in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 509–653.

Flaubert, Gustave (1951): "Madame Bovary", in: ders.: Œuvres complètes. Bd. 1, hg. von Albert Thibaudet / René Dumesnil. Paris: Gallimard, 291–614. [1857]

Guillemin, Henri (1963): Flaubert devant la vie et devant Dieu. Paris: Nizet. [1939]

Hermine, Micheline (1997): Destins de femmes, désirs d'absolu. Essai sur Madame Bovary et Thérèse de Lisieux. Paris: Beauchesne.

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Musset, Alfred de (1973): La Confession d'un enfant du siècle, hg. von Gérard Barrier. Paris: Gallimard. [1836]

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Rogers, Peter (2009): The Mystery Play in Madame Bovary: Mœurs de province. Amsterdam / New York: Rodopi.

Ronell, Avital (1994): Drogenkriege. Literatur, Abhändigkeit, Manie. Frankfurt am Main: Fischer.

Vinken, Barbara (2009): Flaubert. Durchkreuzte Moderne. Frankfurt am Main: Fischer.




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Anmerkungen

1 Bereits 1939 hat Henri Guillemin, der dem Feld des renouveau catholique entstammt, in einer ausführlichen Studie – Flaubert devant la vie et devant Dieu – Flauberts Verhältnis zur Religion dargestellt. Die Studie ist aus der Perspektive von "notre univers français et chrétien" (Guillemin 1963: 127) geschrieben und hat insgesamt eine nachgerade apologetische Tendenz. Flaubert ist zwar nicht bekennender Katholik, aber "catholique en ce sens profond", dass er "au plus creux de son âme" katholisch fühlt (ebd.: 165). Micheline Hermine hat in Destins de femmes. Désir d'absolu (1997), einem Vergleich zwischen Emma Bovary und Thérèse de Lisieux, das Augenmerk auf die Verwicklungen von weltlicher und geistlicher Liebe in Flauberts Roman gerichtet. Ihre Ausführungen sind aber kaum mehr als eine assoziative Parallelaktion. Auch Peter Rogers hat diese Spur im Werk Flauberts bemerkt, aber er hat sie in seiner 2009 publizierten Studie The Mystery Play in Madame Bovary: Mœurs de province in einem konfusen Wust von triftigen Beobachtungen und wilden Assoziationen wieder verloren. Ein Beispiel mag das belegen. Emma Bovary wird im Roman häufig mit marianischen Elementen in Verbindung gebracht. Wenn Emma also Maria ist, dann  ist der junge Diener, der Charles nachts zum Vater Emmas holt, "John the Baptist, the precursor" (Rogers 2009: 31) – etc.

2 Alfred de Musset hat La Confession d'un enfant du siècle (1836), die er auch als das Porträt einer ganzen Generation konzipiert hat, unter die emblematische Figur des amputierten Beins gestellt: "Mais de même qu'un blessé atteint de la gangrène s'en va dans un amphithéâtre se faire couper un membre pourri […]; de même, lorsqu'un certain temps de l'existence d'un homme, et, pour ainsi dire, un des membres de sa vie a été blessé et gangrené par une maladie morale, il peut couper cette portion de lui-même […]. Ainsi, ayant été atteint, dans la première fleur de la jeunesse, d'une maladie morale abominable, je raconte ce qui m'est arrivé pendant trois ans. Si j'étais seul malade, je n'en dirais rien; mais comme il y en a beaucoup d'autres que moi qui souffrent du même mal, j'écris pour ceux-là" (Musset 1973: I,1,19).

3 Martin von Koppenfels (2007) hat in seiner fulminanten Studie – Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans – die Frage nach der besonderen Konfiguration der Gefühle durch die Erzählung aufgeworfen und in einer luziden Analyse der Education sentimentale eine Antwort vorgeschlagen.

4 Die Flaubert-Studie von Martin von Koppenfels hat die Denkfigur eines "Gefühls der Gefühllosigkeit" weiter entfaltet und zum leitenden Interpretament des gesamten Werks von Flaubert und vor allem der Education sentimentale gemacht. Die Auseinandersetzung mit seinen Überlegungen wird Gegenstand einer gesonderten Untersuchung werden.