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Nikolas Immer (Trier)



Freude für die Freunde. Zu Schillers Kultur der Geselligkeit



Joy for the Friends: Schiller's Culture of Sociability
Friedrich Schiller's ode To Joy is one of his best known poems. Written in 1785, while Schiller belonged to Körner's circle, the ode presents different forms of sociability. Basically, the term 'Freude' [Joy] alludes to Shaftesbury's concept of enthusiasm, describing the harmonious unity of the universe. From the perspective of man, the capacity of joy forms the basis of amity. The relation of friendship, understood as an anthropological, i.e. universally human model of sociability, is also explored by Schiller in his ballad Die Bürgschaft. In Schiller's poem, joy appears most forceful at the moment of reconciliation, as it also takes shape in the literature of his contemporaries, especially in the figure of 'goddess joy', described by Hagedorn and Uz. Finally, the ode To Joy appears to be inspired by the movement of freemasonery and was indeed sung in freemasons's circles.



Rettung vor Tirannenketten,
Großmut auch dem Bösewicht,
Hoffnung auf den Sterbebetten,
Gnade auf dem Hochgericht!
Auch die Toden sollen leben!
Brüder trinkt und stimmet ein,
Allen Sündern soll vergeben,
und die Hölle nicht mehr seyn.
Chor.
Eine heitre Abschiedsstunde!
süßen Schlaf im Leichentuch!
Brüder – einen sanften Spruch
aus des Todtenrichters Munde!
(V. 97– NA: I, 172)1

Diese zwei Strophen sind heutzutage so gut wie unbekannt. Sie bilden den Schluß der ursprünglichen Fassung von Schillers berühmter Ode An die Freude. Schiller streicht diesen Schluß, als er das Gedicht kurz vor seinem Tod für die geplante Prachtausgabe seiner Gedichte überarbeitet.




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Erst in der gekürzten Fassung letzter Hand ist die Ode populär geworden, eine Popularität, die sich nicht zuletzt der Vertonung durch Ludwig van Beethoven verdankt.2 Aber was haben diese zwei Strophen, ja was hat die gesamte Ode überhaupt mit Geselligkeit zu tun?

Wie eingangs zitiert, enthält die vorletzte Strophe auch den Appell: "Brüder trinkt und stimmet ein". Nähme man allein diesen Vers in den Blick, ließe sich das Gedicht als ein Trinklied qualifizieren, in dem das lyrische Ich seine Tischgenossen zum gemeinsamen Gesang und Umtrunk auffordert. In dieser Perspektive wäre das Gedicht ein Loblied auf die Geselligkeit in der Tradition anakreontischer Tafellieder. Wird jedoch bedacht, daß Schiller diese Verse erstmals im Jahr 1786 veröffentlicht, gewinnt der Anruf "Brüder" durch die Nähe zum Schlagwort der 'Brüderlichkeit' aus dem Umfeld der Französischen Revolution eine erkennbar politische Färbung. Doch wie es in Schillers literarischem Werk oft der Fall ist, so ist es auch hier: Aktuelle Tagespolitik wird zurückgedrängt, um die Perspektive auf übergreifende Zusammenhänge zu weiten. D.h. Schiller geht es, wie er Ende 1788 in einem Brief an Caroline von Beulwitz schreibt um "den Menschen und nicht [um] den Menschen", um "die Gattung und nicht [um] das sich so leicht verlierende Individuum" (NA: XXV, 154).3 Dieser Vorstoß zur 'Gattung Mensch' verlangt nichts weniger, als Reflexionen über anthropologische Fundamentalien anzustellen. Und eine solche ist, der Titel des Gedichts hat es bereits verraten: die Freude.

Was gemeinhin als gewöhnlicher menschlicher Affekt erscheint, wird in der Ode zu einem universalen Lebensprinzip stilisiert: "Freude heißt die starke Feder | in der ewigen Natur. | Freude, Freude treibt die Räder | in der großen Weltenuhr." (V. 37–) Die unmittelbare Wiederholung des Zentralbegriffs der Freude vergegenwärtigt bereits auf lautlicher Ebene, wie die Freude gleichsam als unerschöpfliche Batterie die 'große Weltuhr' mit Strom versorgt. Diese Metaphorik, die auf ein mechanistisch gedachtes Weltmodell zurückgeht, hat ihren Ursprung in dem Uhrengleichnis von Gottfried Wilhelm Leibniz, der die Synchronisierung von körperlicher und geistiger Welt – seine sogenannte 'prästabilierte Harmonie' – mit der Abstimmung zweier Uhren verglichen hatte. Die fortwährende Bewegung der Uhrenzeiger ist bei Leibniz, wie er in seiner Monadologie formuliert, durch das kontinuierliche Eingreifen der Instanz Gottes garantiert.4 Bei Schiller hingegen nimmt nun die Freude diese Funktion ein, womit deren ontologischer Bedeutungsgehalt eminent aufgewertet wird. Zugleich resultiert aus dieser Aufwertung ein Gegensatz zu einigen Gedichten Schillers aus den frühen 1780er Jahren, in denen noch die Liebe als universales Lebensprinzip postuliert worden war. Diesen Wandel hat Christoph Bruckmann mit dem Einfluß Shaftesburys zu begründen versucht,5 dessen Schriften grundlegend für die sogenannte 'gefühlsethische Wende' im 18. Jahrhundert sind. Vor diesem Hintergrund könnte 'Freude' als Übersetzung des Begriffs 'enthusiasm' gelesen werden, der in Shaftesburys Philosophie den Gedanken einer sympathiegelenkten Weltordnung einschließt. Darin "begreift [er] die Natur […] als ein von der Sympathie der Dinge geprägtes Ganzes, dessen sympathisierende Teile auf einen gemeinsamen Zweck hin geordnet sind." (Meyer-Sickendiek 2005: 90)




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Bezogen auf den Menschen, wird diesem das Vermögen zugesprochen, die harmonische Ganzheit zu erkennen und sich seiner Zugehörigkeit zur übergreifenden Weltordnung bewußt zu werden. Damit gewinnt der Enthusiasmus bzw. die Freude einen dezidiert einheitsstiftenden Charakter. In dieser Dimension, in der alle Wesen der Natur – enthusiastisch gesprochen – eine Familie bilden und im Resultat 'alle Menschen Brüder werden', erweist sich die Freude als Triebkraft einer kosmischen Geselligkeit.

Wie es die Ode vorführt, besitzt diese Triebkraft außerordentliche Qualitäten. So vermag sie es, vitalisierend auf alle Lebewesen einzuwirken, da es heißt: "Freude trinken alle Wesen | an den Brüsten der Natur" (V. 25f.). Darüber kann sie ihren zivilisierenden Charakter entfalten, sofern sie in flüssiger Form genossen wird: "Freude sprudelt in Pokalen, | in der Traube goldnem Blut | trinken Sanftmut Kannibalen, | Die Verzweiflung Heldenmut – –" (V. 73–76). Freilich ist dieses Bild etwas fragwürdig, da es vielmehr der Wein, d.h. "der Traube goldne[s] Blut" ist, der sowohl abspannend als auch anspannend wirken soll. Anspannen soll er die Verzweifelten und in ihnen neuen Mut wecken, abspannen soll er die Menschenfresser und sie in sanftmütige Zeitgenossen verwandeln. Freude bedeutet in dieser Hinsicht nichts anderes als Stillstellung durch übermäßigen Alkoholkonsum.

Schließlich ist es eine Kernfunktion der Freude, zwischenmenschliche Beziehungen zu festigen. Das Ideal der globalen humanen Verbrüderung nimmt dabei seinen Ausgang vom Einzelwesen, dem es aufgegeben ist, "eines Freundes Freund" zu werden bzw. "ein holdes Weib" (V. 14f.) zu erringen. Der Jubel desjenigen, der "eine Seele | sein nennt auf dem Erdenrund" (V. 17f.), gründet folglich nicht auf der Befriedigung, den anderen vereinnahmt zu haben, sondern vielmehr auf dem Bewußtsein, eine Seelenbruder bzw. eine Seelenschwester gewonnen zu haben. Erst auf der Grundlage solcher konkret gelebter Sympathien kann die Utopie einer universalen Geselligkeit möglich werden.

Freilich enthält dieser Entwurf auch einen Mißklang, der sich im Textverlauf sofort anschließt: "Und wer's nie gekonnt, der stehle | weinend sich aus diesem Bund!" (V. 19f.) Schon Hermann Christoph Gottfried Demme, der 1793 im Neuen Teutschen Merkur eine Vorlesung Über Schillers Lied an die Freude veröffentlicht, tritt wortreich für denjenigen ein, der bei Schiller des Freundschaftsbundes verwiesen wird:

Ach der Mann der keinen Freund hat, keine Seele auf dem ganzen Erdenrunde seyn nennen kann, ist ein gar zu unglückseliges Wesen! Und Gott! es wäre doch möglich, daß der Unglückselige an seinem Unglück, wenigsten zum Theil, unschuldig wäre. Vielleicht ließ ihn sein Schicksal die bessern Menschen vorbeygehen, und unter Unmenschen gerathen, die ihn mißhandelten; vielleicht wollte sich sein Herz mehr als einmahl der Freundschaft öffnen, aber immer kam er an Unwürdige, die ihn misbrauchten; vielleicht fiel er unter Mörder, die sein Herz unheilbar verwundeten! Wäre es aber auch ganz seine eigne Schuld; doch könnt' ich ihn jetzt nicht ausstoßen, ihn nicht seinem einsamen Gram und Unmuth überlassen; […]. (Demme 1793: 31f.)




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Kritisiert wird die elitäre Beschränkung von Schillers Freundschaftszirkel, in den nur derjenige aufgenommen wird, der eine tatsächliche Freundschaftsbeziehung vorweisen kann. Das Universalprinzip der Freude jedoch, mit dem gerade die Zusammengehörigkeit aller Lebewesen postuliert wird, müßte den Zirkel insbesondere für jene öffnen, die noch nicht das Glück hatten, einen Freund gefunden zu haben. In diesem Sinne urteilt auch Jean Paul, der in seiner Vorschule der Ästhetik (1804) hinzusetzt: "Wie poetischer und menschlicher würde der Vers durch drei Buchstaben: 'der stehle weinend sich in unsern Bund!'" (Jean Paul 2000: V, 395) Diese Kritik läßt die Vermutung entstehen, Schiller habe in seinem Gedicht nur eine misanthropische Extremform benannt, zu der es keine lebensweltliche Entsprechung gibt. Mit diesem Argument wird Schiller auch von Demme in Schutz genommen, der relativierend schreibt: "Gern gebe ich es zu: daß jenes harte Urtheil durch den Beysatz! 'wers nie gekonnt' gewissermaßen gerechtfertiget werde; ja daß man, den Menschenfeind blos in abstrakto gedacht, wie ihn gewiß hier der Dichter gedacht haben wollte" (Demme 1793: 33). Demme zufolge exponiere das Gedicht nur einen Irrealis; d.h. ein Mensch, der den Typus des Menschenfeinds in Reinform verkörpere, sei schlichtweg nicht vorstellbar. Die prinzipiell anthropologische Befähigung zu freundschaftlich-geselligem Verhalten wird somit ex negativo bestätigt.

Daß Schiller aber die Figur des Menschenfeinds in dieser Zeit durchaus literarisch geläufig ist, belegt sein Dramenfragment Der versöhnte Menschenfeind, das 1790 im elften Heft der Thalia erscheint und 1802 den gekürzten Titel Der Menschenfeind erhält. Der adlige Protagonist von Hutten, der "die Geschichte [s]einer Mißhandlungen" nicht einmal seiner Tochter zu erzählen vermag, wird von ihr als ein Mensch beschrieben, bei dem das "Saitenspiel" des Herzens zerrissen ist (NA: V/N, 258, 276).6 Diese Metapher kündet bei Schiller nicht nur von der größtmöglichen Isolierung des Einzelnen, sondern auch vom Verlust des menschlichen Empfindungsvermögens. Exemplarisch ist hier an den Streit zwischen Ferdinand und Louise in Kabale und Liebe zu erinnern (Szene III/5), an dessen Ende die Entzweiung der Geliebten symbolisch angezeigt wird: Ferdinand "hat in der […] Wut eine Violine ergriffen, und auf derselben zu spielen versucht – Jetzt zerreißt er die Saiten, [und] zerschmettert das Instrument auf dem Boden" (NA: V/N, 104). Im übertragenen Sinne erscheint von Hutten in Schillers Menschenfeind wie solch ein 'zerschmettertes Instrument', unfähig, sich auf die Menschen in seinem Umfeld angemessen einzulassen. Damit entspricht er der zeitgenössichen Vorstellung von einem Misanthrophen, wie sie 1739 in Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon formuliert wird. Darin heißt es:

solche Leute, welche ihrer sonst guten Freunde Gegenwart nicht mehr vertragen mögen, meiden dannenhero ihre Gesellschafft, halten sich einsam, und eingesperret, begeben sich auf einen Winckel, vergiessen keine Thränen, lassen sich auch durch anderer ihre Zähren nicht bewegen. (Zedler 1732/54: XXI, 452)




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Der Verlust der Empfindungsfähigkeit, das Unvermögen zu sympathischen und empathischen Affekten wird bei Zedler über den Aspekt der emotionalen Bewegung angedeutet, findet aber noch keine Bewertung. Daß damit jedoch eine Extremform menschlichen Verhaltens in den Blick genommen ist, wird erst anhand von Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht kenntlich, ein philosophischer Entwurf, der 1784 und damit kurz vor Schillers Ode An die Freude erscheint. Die soziale Disposition des Menschen wird von Kant anhand der Doppelperspektive von Vergesellschaftung und Vereinzelung beschrieben und auf die knappe Formel von der "ungeselligen Geselligkeit" gebracht:

Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. die Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzeln (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen. (Kant 1998: VI, 37f.)

Diese Ambivalenz von Eigensinn und Gemeinschaftssinn kennzeichnet die Soziabilität des Menschen. Kant bleibt jedoch nicht bei dieser Behauptung stehen, sondern richtet seine Überlegung teleologisch aus. Er unterstellt, daß der Umgang mit der Gemeinschaft in zunehmendem Maße das Engagement des Einzelnen erfordere: "Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, [und] der Geschmack gebildet" (Kant 1998: VI, 38). Den Zielpunkt dieser prozeßhaften Entfaltung und Bildung bildet die Transformation der Gesellschaft in "ein moralisches Ganze[s]" (ebd.). Diese angestrebte Versittlichung des Menschengeschlechts konvergiert nun auffallend mit dem bei Schiller anvisierten globalen Freundschaftsbund. Auf dieser Ebene hat sich aus der anthropologischen Anlage zur Geselligkeit die Exzellenzform freundschaftlicher Geselligkeit herausgebildet. Was Kant 1784 theoretisch ausführt und Schiller 1786 literarisch gestaltet, reaktiviert eine Vorstellung vom 'höchsten Gut der Gemeinschaft', die Andreas Rüdiger, ein Schüler von Christian Thomasius, bereits 1721 in seiner Anweisung Zu der Zufriedenheit der Menschlichen Seele vorgetragen hatte:

Daß aber die Freundschaft dieses [höchste Gut] sey, ist daraus klahr, (1) weil kein besserer Zustand der menschlichen Gesellschaft seyn kan, als wann alle Menschen in Freundschafft mit einander leben, (2) daß dergleichen Zustand zu erlangen sey, können wir zwar mit keinem Exempel des gantzen menschlichen Geschlechts erweisen, jedoch aber […] mit dem Exempel kleinerer Gesellschafften, als der ersten Christen; item Damons und Pythias, auch anderer. (Rüdiger 1726: 184)

Das hier von Rüdiger angesprochene Freundespaar 'Damon und Pythias' hat nicht nur in der Literatur zahlreiche Gestaltungen gefunden,7 sondern steht auch mit Schiller in unmittelbarer Verbindung: nämlich über seine Ballade Die Bürgschaft (1798).




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Da sich Schiller bei der Ausarbeitung des Gedichts auf die Fabulae des Hyginus stützt, stößt er zunächst auf das Freundespaar Möros und Selinuntius, das er später für die Ausgabe letzter Hand – gemäß der Überlieferung bei Valerius Maximus und Cicero – in Damon und Pythias ändert.8 Der prominente Freundschaftsbund, der Schiller gewiß aus seinen frühen Studien antiker Literatur vertraut war, dürfte ihm im Jahr 1786 nochmals vor Augen gestanden haben, als er den Aufsatz Ueber moderne Größe seines Freundes Ludwig Ferdinand Huber las, der darin Vergleiche zu antiken Freundschaftsmodellen zog.9 Schiller hatte den Beitrag Hubers in seine Thalia aufgenommen, wo er direkt auf den Abdruck der Ode An die Freude folgte.

In der Bürgschaft selbst wird das hohe Ideal, "eines Freundes Freund" zu sein, auf die denkbar anspruchsvollste Probe gestellt. Möros, der als dilettierender Tyrannenmörder unterwegs ist, verhält sich ebenso heroisch wie politisch naiv. Anstatt zu leugnen, antwortet er auf die barsche Frage von Dionysios II. von Syrakus, was er mit dem Dolch habe anstellen wollen, wahrheitsgemäß: "Die Stadt vom Tyrannen befreien!" (V. 6) Freilich artikuliert sich in diesem Geständnis die Todesentschlossenheit des Attentäters, das geplante Vorhaben unbedingt ausführen zu wollen. Nur hätte ihm eine elegante Lüge nicht die Möglichkeit verschafft, den Anschlag ein zweites Mal wagen zu können? Das vielleicht, ließe sich vermuten, nur hätte es dann keines Bürgen mehr bedurft. Den aber braucht Möros, da er sich plötzlich besinnt, seine Schwester noch verheiraten zu müssen. Der im Gedicht namenlose Selinuntius wird daher als Stellvertreter bei Dionysios zurückgelassen, dem der Kreuzestod droht, sofern Möros nicht innerhalb von drei Tagen zurückkehrt. Bezeichnend ist dabei die von "arger List" (V. 15) geprägte, an Möros gerichtete Antwort des Königs:

Doch wisse! Wenn sie verstrichen die Frist,
Eh du zurück mir gegeben ist,
So muß er statt deiner erblassen,
Doch dir ist die Strafe erlassen. (V. 18-21)

Der in Aussicht gestellte Straferlaß kann in zwei Hinsichten die Perfidie des Tyrannen konturieren, der auf die Verspätung des Attentäters spekuliert. Zum einen ist es denkbar, daß Dionysios insgeheim den Wortbruch erwägt, um am Ende Möros mitsamt seinem Freund zu beseitigen. Zum anderen könnte er tatsächlich zu seinem Wort stehen, um Möros in dem Bewußtsein weiterleben zu lassen, den unschuldigen Freund wissentlich geopfert zu haben. Selbst die Freude als belebendes Prinzip könnte Möros dann vor seinen künftigen Selbstvorwürfen nicht mehr retten.

Was aber auch hinter der "argen List" stecken mag – Möros gelingt das vermeintlich Unmögliche. Ebenso wie Phileas Fogg nach fast genau 80 Tagen der Weltumquerung rechtzeitig wieder im Londoner Reformklub eintrifft, erreicht Möros nach fast genau drei Tagen das inzwischen in Syrakus errichtete Kreuz, um den Freund vor dem staunenden Volk auszulösen. Als Dionysios von der "Wundermähr" hört, ergreift ihn "ein menschliches Rühren" (V. 131f.). Im Gegensatz zu dem bei Zedler geschilderten Misanthrophen zeigt der Tyrann immerhin insoweit menschliche Züge, als er sich durch das Schicksal anderer rühren läßt. Indem er gesteht, daß sein "Herz […] bezwungen" (V. 136) sei, bittet er um Aufnahme in den innigen Freundschaftsbund.




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Während in der ältesten Überlieferung des Stoffes, die bei dem Philosophen Aristoxenos zu finden ist, die Freunde das Ansinnen des Königs vehement ablehnen,10 läßt Schiller den Ausgang der Handlung bewußt offen.

An diesem Punkt hätte sich die Geltung des universalen Prinzips der Freude zu erweisen: Denn sofern das Negativbild des Menschenfeinds aus der Ode An die Freude, wie es Demme vorgeschlagen hat, tatsächlich "blos in abstrakto gedacht" ist, muß der Freundschaftszirkel selbst für einen Tyrannen mit nur bedingt menschlichen Regungen geöffnet werden. Ist die Vorstellung des brüderlichen Freundschaftsbundes hingegen eine elitäre, darf der freundlose König beruhigt abgewiesen und ihm hinterhergerufen werden: "wer's nie gekonnt, der stehle | weinend sich aus diesem Bund!" Schiller nutzt hier das erzählerische und dramatische Potential der Ballade, um einen offenen Entwurf literarisierter Geselligkeit zu liefern.

Auch die Ode An die Freude läßt sich ohne weiteres als eine solche künstlerische Inszenierung von Geselligkeit auffassen, nur mit dem Unterschied, daß hier das Hauptgewicht auf dem panegyrischen Gestus des Widmungsgedichtes liegt. Das führt jedoch sofort zu der Frage, inwiefern Schillers poetische Feier der Freude ihrerseits Teil einer größeren literarischen Tradition ist? Eine erste Andeutungen habe ich in der Einführung mit dem Hinweis auf die Anakreontik bereits gegeben.

Nach Wolfgang Adam kommt es seit den zwanziger und dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts zu einem regelrechten Aufschwung des Begriffs 'Geselligkeit' in deutschen Texten, vor allem in der schöngeistigen Literatur.11 Einen besonderen Stellenwert gewinnen hier die Moralischen Wochenschriften, deren Autoren sich als 'Aufseher' über die gesellschaftlichen Sitten verstehen und die ihren didaktischen Auftrag vornehmlich darin sehen, praktische Verhaltensregeln zu vermitteln.12 So erscheint etwa Mitte des 18. Jahrhunderts die von dem Theologen Samuel Gotthold Lange und dem Philosophen Georg Friedrich Meier herausgegebene Zeitschrift Der Gesellige, deren 48. Stück programmatisch dem Thema "Freundschaft und Geselligkeit" gewidmet ist. Bereits bei ihnen findet sich ein deutliches Votum für die soziale Exzellenzform freundschaftlicher Geselligkeit, da sie der Meinung sind, "daß keine Empfindungen so zärtlich, so natürlich, so angenehm und erhaben sind, als die Empfindungen der Freundschaft. […] Denn diese ist es allein, welche die Geselligkeit ordnet, lenket, dauerhaft verknüpfet, und in weislichen Schranken erhält." (Zit. nach: Adam 2004: 10)

Was sich in diesem Zitat andeutet, ist eine starke Emotionalisierung des Freundschaftsbegriffs, der bereits deutlich empfindsame Züge trägt. Obwohl die deutsche Empfindsamkeit im Grunde erst mit Johann Christoph Bodes Übersetzung von Laurence Sternes Reiseberschreibung A Sentimental Journey Through France and Italy (1768) einsetzt, läßt sich die anakreontische Poesie mit ihrem Ideal des freundschaftlichen Miteinanders durchaus als Wegbereiter der kommenden sentimentalen Strömung begreifen.




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Im Rahmen der Nachdichtung und Nachahmung der galanten Verse des altgriechischen Lyrikers Anakreon finden sich etwa bei Friedrich von Hagedorn und Johann Peter Uz Gedichte, die sich dezidiert mit dem Motiv der Freude befassen. Hagedorns Ode, die im Jahr 1747 erscheint und ebenfalls mit An die Freude überschrieben ist, thematisiert eine literarische Symbolfigur des 18. Jahrhunderts, die nach Franz Schultz als "Vorformung der Humanitätsidee" zu begreifen sei: Es ist die 'Göttin Freude'.13 Bei Hagedorn heißt es dazu:

Freude, Göttin edler Herzen!
Höre mich.
Laß die Lieder, die hier schallen,
Dich vergrössern, dir gefallen:
Was hier tönet, tönt durch dich.
Muntre Schwester süsser Liebe!
Himmelskind!
Kraft der Seelen! Halbes Leben!
Ach! Was kann das Glück uns geben,
Wenn man dich nicht auch gewinnt? (Hagedorn 1769: III, 41)

Schon in den ersten zwei Strophen wird ein intrikates Wechselverhältnis artikuliert: Während die vorgetragenen Lieder einerseits den Charakter von Huldigungsgesängen für die Göttin Freude tragen, erscheint sie zugleich als eine Instanz, die den Gesang solcher Lieder überhaupt erst ermöglicht. Der stimulierende Impuls, der von ihr ausgeht, wird im Anschluß sofort auf den Lebensbereich des Menschen bezogen. Darin verhält sie sich komplementär zur 'Seelenkraft', die allein nur das 'halbe Leben' ausmache und ohne Einwirkung der Freude antriebslos bleibe. Obgleich Hagedorn ebenfalls die kräftigende Wirkung der Freude akzentuiert, erlangt sie nicht das umfassend vitalisierende Potential, das Schiller dem Lebensprinzip 'Freude' zuschreibt.

Daß Hagedorns Lied dennoch für 'Furore' beim zeitgenössischen Publikum sorgen konnte,14 belegt exemplarisch die 1750 erschienene Ode Der Zürchersee von Friedrich Gottlieb Klopstock, die ebenfalls die 'Göttin Freude' beschwört und in der zudem vermerkt wird, daß die Mitglieder der Bootspartie "empfanden wie Hagedorn" (Klopstock 1823/30: I, 70). Und auch der genannte Dichter Johann Peter Uz, dessen ebenfalls An die Freude (1768) überschriebene Ode 1786 von Mozart vertont wird, ruft abermals die inzwischen wohlbekannte Göttin an, läßt aber das lyrische Ich mit einer recht selbstbezogenen Hoffnung schließen:

Göttinn, o so sey, ich flehe,
Deinem Dichter immer hold,
Daß er schimmernd Glück verschmähe,
Reich in sich, auch ohne Gold;
Daß sein Leben zwar verborgen,
Aber ohne Sklaverey,




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Ohne Flecken, ohne Sorgen,
Weisen Freunden theuer sey!

(Uz 1776: I, 250)

Vor allem aufgrund der metrischen Parallelität und der lautlichen Anklänge hat Franz Schultz Uzens Ode als "Vorfrucht des Schillerschen Liedes" (Schultz 1926: 23) bezeichnet. So deutet beispielsweise die Charakterisierung bei Uz, die Freude sei eine Göttin, die "Immer selbst in […] [ihre] Krone | Ihre schönsten Rosen band" (Uz 1776: I, 250), auf Schillers Rede von der "Rosenspur" (V. 28) der Freude voraus. Dennoch läßt die durchgreifende Konzeption des Freudegedankens eher die Abhängigkeit von Hagedorn als die Antizipation Schillers erkennen. Daher ist in diesem Zusammenhang auch auf den Artikel 'Freude' aus Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste aus den Jahren 1771 und 1774 hinzuweisen. Denn der bei Uz anklingende Gedanke, daß die menschliche Perfektibilität durch die Wirkung der Freude maßgeblich befördert werde, wird bei Sulzer aufgenommen und konkretisiert. Er führt aus, daß die Freude den Menschen nicht nur "menschlicher und wolthätiger mache[]", sondern daß sogar "ein Tyrann selbst müßte der Tyranney entsagen" (zit. nach: Bruckmann 1991: 99) können. Zum einen weist diese Überlegung abermals auf die Schlußwendung von Schillers Bürgschaft voraus, zum anderen artikuliert Sulzers Verständnis von Freude die Vorbedingung der in Schillers Ode zutage tretenden kosmischen Geselligkeit. Denn erst wenn die Gemeinschaft menschlicher und wohltätiger geworden ist, gewinnt die Vision einer universalen Verbrüderung die Chance auf Verwirklichung.

Das Stichwort der Verbrüderung lenkt jedoch nicht nur auf die Französische Revolution, wie eingangs angemerkt. Es deutet zudem auf einen weiteren Kontext, der für Schillers Ode bereits im frühen 20. Jahrhundert aufgewiesen worden ist: nämlich den der Freimaurerei. Wie Hans-Jürgen Schings in seiner kenntnisreichen Studie Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten (1996) herausgearbeitet hat, stand Schiller in seiner Stuttgarter und Mannheimer Zeit vielfach in Kontakt mit Freimaurern, ohne jedoch auf deren Werbungsversuche einzugehen.15 Als Schiller im April 1785 nach Leipzig übersiedelt, gerät er dort ebenfalls in die nächste Nähe von zwei Freimaurern. Es sind ausgerechnet jene Verehrer und späteren Freunde, die ihn nach Leipzig eingeladen haben: Christian Gottfried Körner und Ludwig Ferdinand Huber.16 Körner gehörte seit 1777 der Leipziger Loge 'Minerva zu den drei Palmen' an und hatte Ende 1780 gemeinsam eine Frankreich-Reise mit Johann Caspar Lavater unternommen, auf der er in Paris mit Touzai Duchanteau zusammengetroffen war, einem Mitglied der französischen Loge 'Chercheurs de la Verité'. Duchanteau hatte sich in den Kopf gesetzt, vermittels seiner Urinexperimente den Stein der Weisen hervorzubringen – was freilich nicht gelang. Die Anhänglichkeit Körners an den mystisch verstiegenen Schwärmer ging sogar soweit, daß eine gemeinsame Reise nach Asien erwogen wurde,17 die Schiller und Huber später in ihrer Körner gewidmeten Bildergeschichte Avanturen des neuen Telemachs verspotteten.18




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Wie Schings jedoch klarstellt, hatte der Freundschaftsenthusisamus Körners und Hubers,19 den sie Schiller entgegenbrachten, gewiß keine "illuminatische Motivation" (Schings 1996: 97). Und im zehnten seiner Briefe über Don Karlos bekräftigte Schiller 1788 mit aller Deutlichkeit: "Ich bin weder Illuminat noch Maurer" (NA: XXII, 168). Worin liegt nun also der freimaurerische Gehalt der Ode An die Freude, die folglich vielmehr als eine Frucht des persönlich-freundschaftlichen Umgangs mit Körner, Huber und ihren Frauen anzusehen ist?

Bereits 1905 und 1907 haben Hans Vaihinger und Gotthold Deile darauf aufmerksam gemacht, daß Schillers Gedicht deutliche Anklänge an Freimaurerlieder aufweist. In formaler Hinsicht ergeben sich diese Bezüge vor allem aus der Sangbarkeit der Ode sowie aus der chorischen Gestaltung der Erstfassung. Wie Deile darlegt, enthält die prominente Sammlung Lieder, zu singen für die Freimäurerlogen, die Balthasar Ockel 1782 herausgegeben hat, fünf solcher Tafellieder mit einfallendem Chor.20 Während im Vergleich mit Schillers Ode schon hier vereinzelte Parallelen zu ziehen sind, hat Vaihinger insbesondere auf das Lied Der Entschluß hingewiesen, das ebenfalls in Ockels Sammlung abgedruckt ist. Ich zitiere die zweite und vierte Strophe:

Oben über'm Sternenheer
Herrschet unser Meister,
Um ihn rollen Welten her
Und ihm dienen Geister.
Zürnen Seines Angesichts
Wandelt beide in ein Nichts.
Höher klimmen wollen wir,
Weise sein und bieder,
Glühn von heisser Dankbegier
Gegen ihn, ihr Brüder,
Der uns drüben über'm Grab
Auch die hellste Aussicht gab!
(Zit. nach: Vaihinger 1905: 140)

Sofort wird die gedankliche Nähe zu Schillers An die Freude erkennbar, wenn im Entschluß etwa von einem Meister die Rede ist, der "über'm Sternenheer" herrscht, und in Schillers Gedicht von einem "liebe[n] Vater", der "überm Sternenzelt" (V. 11f.) wohnt. Auch das Moment der Verbrüderung wird durch die direkte Anrede "Brüder" in beiden Liedern eigens betont. Dabei ist es wichtig, sich die erste Fassung der bekannten Verszeile "Alle Menschen werden Brüder" (NA: II/1, 185) zu vergegenwärtigen. Denn 1786 hatte Schiller noch deutlich sozialrevolutionärer formuliert: "Bettler werden Fürstenbrüder" (V. 7).21




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Diese Forderung einer bewußten Überschreitung von Standesgrenzen korrespondiert nun augenfällig mit zeitgenössischen Bestrebungen der Freimaurer. So schreibt etwa Johann Friedrich Pregel in einem Traktat von 1787:

Aber so wie die Natur bey einem animalischen Körper eine Wunde wieder mit dem gesunden Fleisch ausgleicht, […] ebenso liegt auch in unserer Seele des Gefühl der Gleichheit, welches den Bettler lehret, dass der Fürst ein Mensch wie er sey, und diesem in dem Bettler ein gleiches Geschöpf, wie er ist, zeiget. Dieses Gefühl ist die Grundveste der Maurerey, ist (um mit Lessing zu reden) das Nitrum, welches in der Luft seyn muss, ehe es sich als Salpeter an die Wände anhängt. (Pregel 1787: 82)

Mit einem Lessing-Zitat aus dessen Freimaurergesprächen Ernst und Falk (1776/78) stützt Pregel den ausgesprochenen Kerngedanken von der Gleichheit aller Menschen, die es angesichts der Polarität von Bettler und Fürst überhaupt erst herzustellen gilt. Daß Schiller diese "Grundveste der Maurerey" noch dazu in Form eines Tafelliedes präsentiert, läßt sich daher kaum als bloßer Zufall werten, was auch die Rezeption der Ode bestätigt. Denn Schiller erhält am 14. Dezember 1792 einen Brief des Justitiars Josef Zerboni di Sposetti, der im Namen der Glogauer Loge 'Zur goldenen Himmels-Kugel' Schiller für sein Tafellied Dank zollt:

[Man] […] hat mir den Auftrag gemacht Ew Wohlgebohren […] für die erhaben frohen Empfindungen zu danken, welche die Absingung Ihres Liedes an die Freude bey [unseren] […] Tafellogen bisher in jedem Individuo erweckt hat, und Ihnen zugleich zu melden: daß wir […] nie unterlaßen, bey jedem maurerischen Feste mit inniger Bruderliebe Ihrem Genius für die immerwährende Energie Ihres Geistes eine Libation [ein Trankopfer] zu bringen. (NA: XXXIV/1, 208)

Mit dieser öffentlichen Vereinnahmung hat sich auch die Bedeutung gewandelt: Schillers Ode An die Freude, die aus Schillers persönlicher und intensiver Freundschaftserfahrung im Körner-Kreis erwachsen ist, hat die zeitgenössische Wahrnehmung in ein freimaurerisches Gesellschaftslied umgebildet. In dieser Dimension hat das Gedicht den Gehalt politischer Geselligkeit gewonnen.

In einem vorläufigen Resümée ergibt sich ein facettenreiches Bild der bei Schiller anklingenden und aufscheinenden Geselligkeitskonzepte. Erstens wird die Freude als universale Triebkraft kenntlich, die als Prinzip kosmischer Geselligkeit eine 'Lebenskette' zwischen allen Lebewesen stiftet. Da es zweitens dem Menschen aufgegeben ist, die Sozialutopie einer allgemeinen Verbrüderung zu realisieren, bietet die Beziehungsform freundschaftlicher Geselligkeit bereits einen Ausblick auf das anzustrebende Ideal. Drittens leistet der Künstler die verdeutlichende Vergegenwärtigung dieses Ideals, da er in seinen Werken das Potential literarischer Geselligkeit erproben kann. Und viertens verhindert dies freilich nicht die Funktionalisierung der künstlerischen Entwürfe durch eine Gemeinschaft, die ihrerseits das Ziel der Realisierung politischer Geselligkeit verfolgt.




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Mit dieser Zusammenfassung ließe sich nun problemlos schließen, gäbe es da nicht Schillers Brief vom 21. Oktober 1800 an Körner, in dem folgendes zu lesen ist:

Die Freude hingegen ist nach meinem jetzigen Gefühl durchaus fehlerhaft, und ob sie sich gleich durch ein gewißes Feuer der Empfindung empfiehlt, so ist sie doch ein schlechtes Gedicht und bezeichnet eine Stufe der Bildung, die ich durchaus hinter mir laßen mußte um etwas ordentliches hervorzubringen. Weil sie aber einem fehlerhaften Geschmack der Zeit entgegenkam, so hat sie die Ehre erhalten, gewißermaaßen ein Volksgedicht zu werden. (NA: XXX, 206)

Es läßt sich spekulieren, dass Schiller mit dem "fehlerhaften Geschmack der Zeit" gerade die Ähnlichkeit der Ode An die Freude mit zeitgenössischen Freimaurerliedern im Blick hatte. Denn schließlich gesteht er Körner am 18. Februar 1802: "Es ist eine erstaunliche Klippe für die Poesie, Gesellschaftslieder zu verfertigen – […] man ist immer in Gefahr in den Ton der FreyMäurerlieder zu fallen, der (mit Erlaubniß zu sagen) der heilloseste von allen ist." (NA: XXXI, 105)22 Trotz dieser deutlichen Distanzierung nahm Schiller die umgearbeitete Ode, in der nun alle Menschen Brüder werden, in den zweiten Band seiner gesammelten Gedichte von 1803 auf. Den dort beibehaltenen Chor strich er jedoch erst für die Fassung, die in der geplanten, letztlich aber nicht mehr realisierten Prachtausgabe seiner Gedichte abgedruckt werden sollte.23

Wie Schiller selbst feststellte, war die Ode inzwischen längst zum "Volksgedicht" geworden. Am Beispiel Hölderlins hat Christoph Bruckmann aufgewiesen, wie sehr es das Gedicht vermochte, eine idolisierende Geselligkeit zu stiften. So berichtet Hölderlins Freund Rudolph Magenau, daß die Ode im Freundeskreis bei einem Glas Punsch und mit Tränen in den Augen abgesungen wurde.24 Doch die Idolisierung kann nicht nur heiligend, sondern auch werkverfremdend wirken. So wurde im Bremer Sonntagsblatt vom 16. Juli 1854 die Anekdote überliefert, daß nach den Stammbuchblättern des 'Turnvaters' Friedrich Ludwig Jahn der ursprüngliche Wortlaut des Gedichts 'Freiheit schöner Götterfunken' geheißen habe. Obwohl die Herausgeber der Schiller-Nationalausgabe diese Anekdote als Legendenbildung entlarvt haben, hat noch 1990 Wolfgang Altendorf auf der Freiheits-Variante der Ode An die Freude insistiert.25 Damit hat das Gedicht seinerseits neue Schiller-Geselligkeitszirkel gestiftet: solche, in denen werktreu am Begriff der Freude festgehalten wird, und solche, in denen Schiller verbessert wird, um den Begriff der Freiheit zu propagieren.

Daß hingegen der Dichter mit seiner Selbstkritik, er habe inzwischen eine neue "Stufe der Bildung" erklommen und könne daher das einstige Gedicht nur noch bedingt schätzen, auf anderes zielte, sei wenigstens angedeutet. Denn Schillers verstärktes Interesse für ästhetische Problemlagen, das sich in den 1790er Jahren in mehreren dichtungstheoretischen und philosophischen Essays niederschlug, weist in eine Richtung, die mit der kosmischen, freundschaftlichen oder literarischen Geselligkeit des Gedichts nicht mehr einzuholen ist. In dieser Perspektive geht es um das übergreifende Kulturkonzept einer ästhetischen Geselligkeit.26




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Notes

1 Friedrich Schillers Werke (Schiller 1943ff.) werden unter der Sigle 'NA' zitiert. Der Erstdruck der Ode An die Freude (NA: I, 169-172), die im Folgenden in der Erstfassung nur unter Angabe der Verszahlen zitiert wird, erschien in Schillers Thalia (Schiller 1786). – Die zitierten Strophen wurden als Werbeanzeige – genauer V. 85 – zuerst auf dem Umschlag von Johann Wilhelm von Archenholtz' Zeitschrift Litteratur und Völkerkunde (Februar-Heft 1786) abgedruckt. Vgl. NA: II/2A, 146. Zu Schillers Kritik an dieser Werbung Göschens vgl. Schillers Brief vom 13. Februar 1786 an den Verleger (NA: XXIV, 34f.).

2 Der Jenaer Freund Bartholomäus Fischenich schreibt am 26. Januar 1793 aus Bonn über Beethoven: "Er wird auch Schillers Freude und zwar jede Strophe bearbeiten. Ich erwarte etwa vollkommenes, denn soviel ich ihn kenne, er ist ganz für das Große und Erhabene" (Zit. nach: Bruckmann 1991: 106). Zu den frühen Vertonungen des Gedichts vgl. Parsons 2004.

3 Brief Schillers vom 10./11. Dezember 1788 an Caroline von Beulwitz.




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4 Vgl. Leibniz 1998: 37.

5 Vgl. Bruckmann 1991: 98f. Hugh Barr Nisbet hingegen weist darauf hin, daß eine frühe Shaftesbury-Rezeption für Schiller nicht erwiesen ist. Vgl. Nisbet 2000: 85f.

6 Zu Schillers Dramenfragment vgl. Hamburger 1956 sowie Martin 2005.

7 Vgl. Gegenschatz 1981.

8 Vgl. NA: II/2A, 650; NA II/2B, 175.

9 Vgl. Huber 1786: 17.

10 Vgl. Porphyrios: Vita Phytagorae, 59–61.

11 Vgl. Adam 2004: 10.

12 Vgl. Vollhardt 1995: 153.

13 Vgl. Schultz 1926: 5.

14 Vgl. Alt 2000: I, 252.

15 Vgl. Schings 1996.

16 Vgl. Schings 1996: 97, Anm. 116.

17 Vgl. Bauke 1967: 40

18 Vgl. Schiller 1987: 22.

19 Vgl. Heinz 2005: 237.

20 Vgl. Deile 1907: 97; Mayer 1999.

21 Vgl. Dau 1978: 43f.

22 Am 24. Mai 1803 spricht Schiller auch vom "platten Ton der Freimäurerlieder" (NA: XXXII, 42).

23 Vgl. NA II/2B, 135f., wo die Aufnahme des Gedichts in die Prachtausgabe mit der kompositorischen Anlage der Sammlung begründet wird.

24 Vgl. Bruckmann 1991: 103f.

25 Vgl. NA II/2A, 146; Altendorf 1990.

26 Den Begriff hat Hartmut Reinhardt in anderem Zusammenhang geprägt. Vgl. Reinhardt 2002.