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Dirk Naguschewski (Berlin)



Verena Berger, Fritz Peter Kirsch und Daniel Winkler (Hg.) (2007): Montréal – Toronto. Stadtkultur und Migration in Literatur, Film und Musik. Berlin: Weidler.



Montreal mit ca. 2,5 Mio. Einwohnern (bzw. 5,1 Mio. im Ballungsraum) und Toronto mit 1,6 Mio. (bzw. 3,6 Mio.) sind die größten Städte Kanadas. Beide Metropolen zeichnen sich durch eine Reihe von Faktoren aus, die auch auf Literatur bzw. die Kultur im Allgemeinen zurückwirken. Aus linguistischer Sicht hat beispielsweise die offizielle Zweisprachigkeit des Landes gänzlich verschiedene Konsequenzen. Während Toronto im Wesentlichen anglophon ist, koexistieren in Montreal (obgleich in der dominant frankophonen Provinz Quebec gelegen) französisch- und englischsprachige Gemeinschaften. Dort gilt mehr als die Hälfte der Bevölkerung als frankophon, ein knappes Drittel der Bevölkerung hat eine andere Herkunftssprache als Englisch oder Französisch. Beide Metropolen verzeichnen eine hohe Anzahl von Zuwanderern, allerdings vollzieht sich deren sprachliche Integration auch in Montreal oftmals vorrangig über das Englische. Diese sprachsoziologischen Unterschiede sind vor dem kulturpolitischen Hintergrund einer offiziellen Staatsdoktrin des Multikulturalismus zu betrachten, die bestrebt ist, die kulturellen Eigenheiten der verschiedenen Volksgruppen zu bewahren, wie auch wiederholt von den Beiträgern des vorliegenden Bandes betont wird.

Exemplarisch lassen sich an Montreal und Toronto also aktuelle Phänomene des sozialen und kulturellen Wandels in Großstädten der westlichen Welt untersuchen. Der von den Romanisten Verena Berger, Fritz Peter Kirsch und Daniel Winkler herausgegebene Band zeigt sich somit auf der Höhe der Zeit und führt vor, wie sich Ansätze, die zumeist literaturwissenschaftlich geprägt sind, in einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung auch auf andere Phänomene beziehen lassen. Um es gleich vorwegzunehmen, der Band eignet sich nur bedingt als Einführung in den Themenkomplex, dafür sind die Beiträge zu heterogen und auch die Einleitung der Herausgeber füllt die Leerstellen nicht, die sich zwischen den Einzelstudien auftun. Ein Gesamtbild der beiden Städte (zumal im Vergleich) entsteht so nur in Ansätzen. Bemerkenswert ist aber der institutionelle Hintergrund des Unternehmens: Der Sammelband geht auf eine für den akademischen Alltag der deutschsprachigen Länder ungewöhnliche und durchaus lobenswerte Initiative zurück, indem er die Vorträge von Romanisten und Anglo-Amerikanisten vereint, die auf dem Romanistentag 2005 gehalten wurden.

In den Beiträgen geht es insbesondere um die Repräsentation der Integration von allophonen Zuwanderern in der städtischen Kultur. Neben literarischen Texten werden Rapmusik, Filme und ein Alphabetisierungsprojekt zur Veranschaulichung herangezogen, wobei die Beiträge zu Montreal überwiegen.




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Als anschaulicher Überblick kann der bibliographische Essay von Peter Klaus dienen, der die Entwicklung der Montreal-Literatur seit dem Erscheinen von Hugh MacLennans Roman Two Solitudes (1945) nachzeichnet und nicht nur die franko-, sondern auch die anglo-quebecer Literatur mit einbezieht. Der unbestreitbare Reichtum der Stadtliteratur wird dann im Folgenden anhand engerer Ausschnitte untersucht. Ludwig Deringer widmet sich der englischsprachigen Lyrik von Abraham Moses Klein (1909–1972), dessen Familie 1911 aus Russland nach Kanada einwanderte. Deringer geht es dabei vor allem darum, Klein als modernistischen Dichter zu präsentieren, dessen Werk eine Mittlerrolle zwischen Judentum und kanadischer Gesellschaft einnimmt. Die Spezifik Montreals gerät dabei etwas aus dem Blick, und diese Abkehr vom eigentlichen Thema des Bandes wiederholt sich in Elisabeth Damböcks Analyse der Texte des ebenfalls jüdischen und anglophonen Schriftstellers Mordecai Richler (1931–2001). Fast schon vorwurfsvoll resümiert sie, dass "sein Werk nicht als umfassendes Porträt der Stadt zu lesen ist" (S. 65). Dieses Fazit verweist auf eine Kollision verschiedener Fragestellungen, die in diesem Band wiederholt zu beobachten ist: Während auf der einen Seite die historische Entwicklung der Stadt als topographische Einheit inklusive sämtlicher sozialer und kultureller Aspekte steht, handelt es sich bei der hier analysierten Literatur doch keineswegs um vordergründige Versuche, den Wandel an sich zu repräsentieren, sondern um Werke, die einer künstlerischen Eigenlogik folgen. Diese Spannung zwischen Stadt und mutmaßlicher Repräsentation wird auch in den Beiträgen von Ursula Moser und Daniel Winkler deutlich. Mosers Untersuchung von Metrotexten – d.h. Texte, die die Erfahrungen mit Montreals U-Bahn reflektieren – zeigt, dass in ihnen von Migration mitnichten die Rede ist, sich als Antwort auf die Fragestellung des Bandes hier also lediglich ein Negativbefund ergibt. Eine ähnliche Bewegung vollzieht Winkler in seinen Ausführungen zu der italo-quebecer Autorin Bianca Zagolin, die von ihm ausdrücklich in der quebecer Literaturtradition verankert wird, in deren Romanen aber die Stadt als solche (hier Vancouver und Montreal) nicht zentral thematisiert wird. Vielmehr gehe es Zagolin um individuelle Identitätsfragen, die aber "nur bedingt migrationsspezifisch motiviert" seien (S. 218).

Neben den mittlerweile schon historisch anmutenden Erfahrungen jüdischer Einwanderer werden in diesem Band schwerpunktmäßig vorwiegend jüngere Einwanderergruppen behandelt. Die 'literatura latino-canadiense' unterzieht Verena Berger am Beispiel von Maurico Seguras Roman Côte-des-Nègres (1998) einer gründlichen Analyse. Hierbei kommen vor allem die unterschiedlichen Integrationserfahrungen der ersten und zweiten Generation von Einwanderern aus Haiti und Lateinamerika in den Blick. Diese Entwicklung wird von Klaus-Dieter Ertler in seinem (terminologisch leicht übersteuerten) Beitrag literaturgeschichtlich reformuliert, wenn er ausgehend von Segura und insbesondere Sergio Kokis eine "neuere Entwicklung von einer 'écriture migrante' zu einer 'écriture néo-québécoise'" (S. 179) diagnostiziert. Dabei betont Ertler angesichts aktueller Diskussionen, in denen Phänomene wie Ortlosigkeit und Transkulturalität favorisiert werden, die Bedeutung des 'lieu habité' für die Autoren. In der Tat wird verschiedentlich deutlich, dass die Probleme einer ersten Generation von Einwanderern sich doch sehr von denen der zweiten Generation unterscheiden.




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Während in den Beiträgen zu Montreal vielfältige Facetten zur Sprache kommen (das gilt nicht zuletzt für die englischsprachige Literatur der Stadt), bleibt das Bild, das von Toronto gezeichnet wird, insgesamt eher unscharf. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Beiträge von Paul Morris und Robin Curtis zu den schwächeren des Bandes gehören. Beide verheddern sich im Gestrüpp einer noch im Deutschen amerikanisch klingenden Theoriesprache, die an Stelle präziser Analysen diffuse Großkonzepte anbietet, die sich nur schwer wieder auf die vorgeblich analysierten Gegenstände zurück beziehen lassen. Ein Beispiel: "Obwohl die Verbindung einer Kultur zur Landschaft, in der sie lebt, für das kollektive Gedächtnis eines Volkes traditionell ausschlaggebend ist, wird meist das unvermittelte Erlebnis dieses Landes angenommen" (Curtis, S. 106) – Kultur/Volk, Land/Landschaft: Angesichts der mangelnden begrifflichen Präzision muss die Analyse zweier Filme, die sich mit dem armenischen Erbe der Filmemacher Gariné Torossian und Atom Egoyan beschäftigen, unklar bleiben. Wenig überraschend ist auch das Resümee von Magdalena Schwengler, die in der typischen Diktion postkolonial aufgeschlossener Studien ihre Analyse der Montréaler Rapkultur beschließt: "Die im nordamerikanischen Kontext spezifische Situation der frankokanadischen Metropole Montréal bietet jugendlichen MigrantInnen, die ihre Identität weder einseitig in der Kultur des Herkunftslandes noch in der Québecs verankert sehen, eine besonderen Freiraum, um sich sprachlich wie kulturell neu und ambivalent verorten zu können" (S. 152).

So bleibt als substanzieller Beitrag zu Toronto allein derjenige von Lutz Showalter, der der weitverbreiteten Annahme einer nicht-vorhandenen anglo-kanadischen Stadtliteratur eine konzise Analyse einiger seit den 1970er Jahren erschienener Romane entgegensetzt. Sein Fazit trifft sich dabei mit demjenigen Ertlers, wenn er bemerkt, dass sich "der Fokus von der Herkunftskultur der MigrantInnen auf deren kanadische Gegenwart verschiebt" (S. 124). Und in einem weiteren Punkt trifft sich Showalters Einschätzung der Literatur zu Toronto mit den Ergebnissen der Beiträge zu Montreal, wenn er die Bedeutung der Stadt im Kontext der behandelten Romane eher als "Matrix" beschreibt, "vor der sich das Leben der Charaktere abspielt" (S. 125), und ihr nicht die Rolle eines 'Subjekts' zuweist. In diesem Befund liegt womöglich auch das zentrale Ergebnis des gesamten Bandes.