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Daniel Tödt (Marseille/Berlin)



Daniel Winkler (2007): Transit Marseille. Filmgeschichte einer Mittelmeermetropole. Bielefeld: transcript.



Marseille läßt niemanden indifferent, so schrieb es der Bestsellerautor und Stadtbiograf Jean-Claude Izzo. In der Tat: Wer die lärmende, enge, alle Sinne einfordernde Stadt betritt, mag sofort Reißaus nehmen und sich ins malerische Hinterland der Provence flüchten, oder aber ist sogleich in ihren Bann gezogen und bleibt: um zu schauen, zu verstehen, zu forschen.

Daniel Winkler gehört zu Letzteren und nähert sich in seinem Buch Transit Marseille, das auf seiner an der Universität Wien eingereichten Dissertation beruht, der Stadt über ihre cinematografische Repräsentation.

Um die Stadt als Forschungsgegenstand konzeptuell zu greifen, rekurriert Winkler auf das in jüngster Zeit vermehrt diskutierte urbane Imaginäre, worunter er mit dem Berliner Stadtforscher Rolf Lindner ein "(reduziertes) Inventar von Bildern und Symbolen einer Stadt" (Lindner 2006: 34) versteht, welches sich u.a. aus Kulturprodukten gleichermaßen speist wie auf diese abfärbt, und letztlich Auskunft über den spezifischen Stadtcharakter gibt.1 Nach Winkler ist es gerade das Medium des Films, welches "wegen seines visuellen und haptischen Charakters mittels Repräsentation und Reproduktion bei der Herausbildung des urbanen Imaginären eine besondere Rolle" (40) spielt. Die Studie zählt damit zu jenen Arbeiten, die entgegengesetzt zur im globalisierten Zeitalter behaupteten Unwirklichkeit und Austauschbarkeit von Orten auf die Besonderheiten einzelner Städte verweisen, und ist zugleich Vorreiter in der empirischen Erprobung der von Lindner nahegelegten Perspektive.2

Das üppige Analysekorpus – es handelt sich um einige hundert Filmproduktionen des Zeitraums von 1908 bis 2004 – bändigt Winkler, indem er fünf Breschen durch das filmische Dickicht schlägt: Er konzentriert sich mit Pagnol, Carpita, Allio und Guédiguain auf repräsentative lokale Filmemacher, die allesamt Marseille ins Zentrum ihrer Produktionen stellten, sich intensiv mit ihrer Populärkultur auseinander setzen und für ein regionales Kino einstehen. Gleichsam gewährleistet dieser chronologische Aufbau, Genese und Wandlung der für Marseille typischen Narrative, Genres und Figuren wie auch deren Wanderung zwischen einzelnen Werken und Akteuren syn- wie auch diachron nachzuzeichnen.

Im ersten Kapitel blendet Winkler jedoch zunächst mit einem für Marseille dominanten Filmgenre auf: Der Kriminalfilm zeigt die Stadt als ville noir, in der u.a. von Alain Delon und Jean-Paul Belmondo verkörperte und von Gene Hackman oder Götz George gejagte Ganoven das Sagen haben. Diese Repräsentationen befördern letztlich die klischeehafte, aber wirkungsmächtige "mauvaise réputation" der Stadt und sind einem von außen eingenommenem und Stereotypen repetierenden Blick zuzurechnen. Diesen von Winkler auf den Begriff gebrachten "Marseiller Exotismus" (Winkler: 48) konterkarieren die in den folgenden Kapiteln besprochenen facettenreichen Spielfilme.

Doch zunächst handelt die Einleitung in einem äußerst dichten und informativen historischen Exkurs die urbanistische Entwicklung wie auch das Verhältnis der "peripheren Metropole" (79) zum französischen Festland und Mittelmeerraum ab.




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Das erlaubt Winkler, fortan die kulturgeschichtliche Tiefe der cinematografischen Repräsentationen auszuloten; en passant streift er kulturwissenschaftliche Stadtforscher wie den hierzulande selten rezipierten Pierre Sansot. Verdeutlicht wird dabei die lange Dauer der wiederholt von Paris aus kolportierten Exotisierung und Abwertung Marseilles, welche das ohnehin im Zentralismus verschärfte Verhältnis zwischen Second City und Hauptstadt akzentuiert.

Als ersten lokalen Cineasten widmet sich das zweite Kapitel Marcel Pagnol, der in seiner Tätigkeit als Regisseur und Produzent als Ahnvater des Marseiller Kinos gilt. Seine komödiantische Marseiller Trilogie aus den 1930er Jahren zeigt ein idyllisches, provenzalisches Marseille. Der Handlungsort der Bar, die unterhaltsamen Figuren, das gemächliche Pétanque-Spiel suggerieren zusammengenommen eine nach außen hin abgeschlossene Lebenswelt, welche zeitgenössische kosmopolitische Aspekte des damals wichtigsten kolonialen Hafen Frankreichs ausklammert. Die Figuren und Orte des Pagnolschen Marseille, zitiert von unzähligen Filmemachern, prägen seitdem die kulturelle Textur der Stadt und finden etwa im Asterix-Band Tour de France ebenso Eingang wie, ab den 1990er Jahren, in die lokale Rapmusik.

Gegen diese dominanten Topoi à la Pagnol grenzt sich der zweite fokussierte Filmemacher ab, dessen Schaffen eine reflexive Filmästhetik prägt und dem cinéma militant zuzuordnen ist: Paul Carpita. Lange Zeit verschollen und erst ab den 1990er Jahren breiter rezipiert, setzt Le Rendez-vous des quais gegen den Indochinakrieg mobilisierende Gewerkschaftler und Docker in Szene, und steht für ein Marseille, das in den Folgejahren des 2.Weltkriegs von sozialen und politischen Auseinandersetzungen durchzogen ist. Die Rezeptions- und Produktionsgeschichte ausbreitend veranschaulicht Winkler, wie lokale Presse und Vereinigungen den Filmemacher darin unterstützten, die Tradition des radicalisme ouvrier auf die Leinwand zu bringen. Kommt Marseille dort im Sinne der vielzitierten ville rebelle zum Tragen, beschreibt Carpitas Marseille sans soleil wiederum den Alltag der Dockarbeiter und wendet sich bisher ausgeblendeten Innenstadtvierteln zu, um abermals bewusst mit den Klischees des idyllischen Marseilles zu brechen.

Die Viertel jenseits des Alten Hafens und die städtische Migrationsgeschichte als zentrale Filmthemen einzuführen, dieser Verdienst ist wiederum René Allio zuzuschreiben. Weder belustigend noch kämpferisch entwirft dieser dritte zentrale Cineast seine Charaktere; sein reflexives Kino bevölkern vielmehr gebrochene Figuren. Allios Karriere steht neben dem gescheiterten Versuch, im Zuge von Mitterands Dezentralisierungspolitik Marseille in ein Filmproduktionszentrum zu verwandeln, für die ersten Konturen eines cinéma de banlieue und Migrationskinos. Retour à Marseille problematisiert die in den 1970er Jahren emporschießende und von Einwanderern bezogene Peripherie nördlich der Innenstadt, wo sich dörfliche und urbane Elemente zu einer bizarren Topografie vereinen. Winkler seziert jene Sequenzen, die Gemeinplätze des Kriminalstreifens verlassen, deren subtile Botschaft aber nicht nur von der lokale Presse negiert wurde. Auch dem auf einen verbesserten Ruf der Stadt bedachten Bürgermeister blieb der künstlerische Subtext verschlüsselt: nach einer Filmvorführung verweigert er Allio gar einen Händedruck.

Das zwischengeschobene Kapitel B-Movie und Autorenkino setzt sich mit der in den späten 1980ern ausgelösten neuen Welle von Marseille-Filmen auseinander. Pagnol-Remakes sichern einerseits die longue durée alter Stories, Figuren und Plots. Andererseits aber wandelt sich der über Jahrzehnte vorherrschende schlechte Leumund der Stadt, was die täglich ausgestrahlte Seifenoper Plus belle la vie ebenso bezeugt wie der Erfolg der Taxi-Komödien. Als Grund für das emsige Filmtreiben führt Winkler neben der für Paris begrenzten Drehgenehmigungen, das Bestreben der Stadtpolitik an, Marseille als Kulturzentrum des Südens zu profilieren.




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Neben dem dominanten und den Tourismus ankurbelnden Sonnentopos, so zeigt der Autor, erhalten ab den späten 1980er Jahren aber auch abseits des Regionalkinos differenzierte Blicke auf die Stadt Einzug in das Kino. Die bisher ausgesparten tristen Hochhaussiedlungen im Norden der Stadt finden in Migrations- und Banlieuefilmen den Weg auf die Leinwand, und Werke über armenische und maghrebinische Zugezogene öffnen den andernorts hermetisch abgeriegelten Marseiller Mikrokosmos: Diese erzählen von der porösen multikulturellen Fassade Frankreichs, dem Ringen um Anerkennung und den Widerständen gegen kulturelle Assimilation. Wie auch bei den Biografien der Filmemacher, den Debatten um die Filme und den dort dargestellten städtischen Orten, geht Winkler auch hier in die Tiefe, zeichnet die spezifischen Migrationsgeschichten anschaulich nach und liefert so ein differenziertes und verzweigtes Stadtportrait.

Robert Guédiguian bildet mit seinem "Kino der Ränder" (237) den vorläufigen Schlusspunkt des Parcours durch rund 100 Jahre Marseiller Filmhistorie. Er ist der weltweit renommierteste lokale Filmemacher und macht Marseille zur Hauptfigur seiner Streifen, wobei es die urbane Peripherie ist, welche zum Zentrum der Handlung avanciert. Seine mal an ein politisches Märchen, mal an das Brechtsche Theater erinnernden Filme kreisen um Marginalisierung und Wandel der Stadt. So splittert der Streifen La ville est tranquille, erschienen im Jahre 2000, Marseille in ästhetische und soziale Gegenstücke auf: Rechts wählende und die Solidarität aufkündende Hafenarbeiter, juvenile Jugendliche und Stadtplaner des großspurigen Euroméditerranée-Projekts, das Hochqualifizierte anlockt und die lokale Arbeitslosigkeit ignoriert, fügen sich zu einem ambivalenten und bedrückenden Mosaikbild. Guédiguians Marseille ist ein von Krisen gebeutelter Ort, der nach außen hin ein friedlich multikulturelles Ferienziel vorgaukelt.

Transit Marseille löst nicht nur das Versprechen des Untertitels ein, die Filmgeschichte der Mittelmeermetropole zu schreiben, sondern wirft darüber hinaus erhellende Schlaglichter auf Entstehung und Verbreitung jener hartnäckigen Vorstellungen, Geschichten und Genres, die das urbane Imaginäre Marseilles kennzeichnen und fernab aktuell betriebener Stadtimagekampagnen einzigartig machen.

Ebenfalls kommt Winkler dem von ihm offengelegten Anspruch, eine Brücke zwischen lokalen und globalen Forschungskontexten zu schlagen, in allerbester Weise nach: Seine Detailkenntnis der Stadt und deren filmischer Repräsentation führt er mit kulturwissenschaftlichen und filmästhetischen Analysen zusammen, die dem Filmischen genauso viel Aufmerksamkeit widmen wie dem Städtischen. Für die Diskussion des urbanen Imaginären leistet Winkler daher ganze Arbeit und macht neugierig auf eine mögliche und dem Konzept inhärente Ausweitung der Analyse über das Medium des Films hinaus.

Kurzum: Was der Leser in den Händen hält, ist eine ebenso kritische wie innige, für den deutschsprachigen Raum bisher einzigartige Stadtführung durch eine spannende kulturelle Grenzstadt Europas. Angesicht des im vergangenen September zugesprochenen Titels der Europäischen Kulturhauptstadt 2013 bleibt zu hoffen, dass diese Gelegenheit genutzt wird, um Marseille ebenso vielschichtig, ambivalent und faszinierend darzustellen, wie es Winkler mit seiner Arbeit gelungen ist.



Bibliographie

Lindner, Rolf (2006): "The Gestalt of the Urban Imaginary”, in: Weiss-Sussex, Godela/ Bianchini, Franco (Hg.), Urban Mindscapes of Europe, Amsterdam/ New York: Editions Rodopi B.V., 35-43.




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Lindner, Rolf (2006b): "The Imaginary of the City”, in: Lenz, Günter H. u.a. (Hg.), Toward a New Metropolitanism. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 209-215.

Ulzen, Patricia van (2007): Imagine a metropolis : Rotterdam's creative class, 1970 – 2000, Rotterdam: 010 Publishers.



Notes

1 Vgl. hierzu exemplarisch Lindner 2006/2006b.

2 Ebenso von Lindners Auffassung des urbanen Imaginären ausgehend diskutiert van Ulzen das Metropolen-Image Rotterdams (Ulzen 2007).