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Timo Obergöker (Mainz)



Christine Felbeck (2008): Erinnerungsspiele. Memoriale Vermittlung des Zweiten Weltkriegs im französischsprachigen Gegenwartsdrama. Tübingen: Francke.



Die literarische Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs in Romanen, Augenzeugenberichten und Autobiographien ist mittlerweile in der Forschung sehr gut erschlossen und in zahlreichen Forschungsarbeiten facetten- und kenntnisreich diskutiert worden. Dennoch bleibt eine Aufarbeitung der Vermittlung des Zweiten Weltkriegs im Drama ein Desiderat, welches die nun vorliegende Dissertationsschrift von Christine Felbeck glänzend erfüllt. Christine Felbecks Dissertation ist von der zentralen Frage geleitet, wie die 'zweite' Generation, d.h. diejenige, die die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges nicht direkt miterlebt hat, auf kollektiv tradierte Erinnerungs- und Gedächtnismuster zurückgreift, um die Realität der Schoah und der massiven Zerstörung und Auslöschung menschlichen Lebens wiederzugeben.

Memoria ist in den letzten Jahrzehnten zu einem der Zentralbegriffe der Kultur- und Literaturwissenschaften geworden. Gleichwohl ist er in seiner konkreten Anwendung mit gewissen Unschärfen versehen. Daher ist die Einordnung des Begriffs in die erinnerungspolitische Diskussion äußerst hilfreich. Die Autorin lässt die Erinnerungstheorien Halbwachs', Noras, Wartburgs und Assmanns Revue passieren und erläutert in großer Dichte die wichtigsten gedächtnistheoretischen Ansätze.

Auf der Grundlage dieser theoretischen Prämissen entwickelt die Autorin jenen Ansatz, den sie der Analyse der von ihr ausgewählten Texte zugrunde legt. Ihre Interpretation beruht auf zwei Ebenen: Einerseits untersucht sie auf der Ebene des Gedächtnisses im Drama, in welchem Maße Gedächtnis und Erinnerung handlungskonstituierend oder handlungsmotivierend wirken. Andererseits beleuchtet sie "die Prozesse der Aneignung, Transformation und Aktualisierung kultureller Prätexte im weitesten Sinne." Folglich geht es hier um Spuren etwa intertextueller Art, die in das Drama eingeschrieben werden und in einem subtilen Kräftefeld auf bereits bestehende Texte rekurrieren.




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Das erste und sehr ausführlich gestaltete Kapitel ist denjenigen Autoren gewidmet, die der 'zweiten' Generation angehören und oftmals, aber durchaus nicht immer, Kinder von Deportierten und Ermordeten sind. Dieser Generation ist auch Jean-Claude Grumberg zuzurechen, dessen Eltern vor dem radikalen Antisemitismus der Garda de fer aus Rumänien nach Frankreich flohen. Über Drancy wiederum wird der Vater nach Auschwitz deportiert. In seiner Trilogie juive spielt das Stück L'Atelier eine zentrale Rolle. Ähnlich wie in Robert Bobers Roman Quoi de neuf sur la guerre? situiert sich die Handlung in einem Schneideratelier nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Obzwar der Krieg offiziell vorbei ist, präsentiert das Atelier Menschen deren Leben zutiefst von den vorangehenden Ereignissen gezeichnet sind. Die mehrheitlich jüdischen Protagonisten sind geprägt von einem là-bas, dessen Dekodierung indes dem Rezipienten überlassen wird. Zahlreiche Auslassungen verweisen auf das Nichtgesagte, die Leerstelle Lager, die über allem schwebt, ohne explizit zur Sprache zu kommen.

Anders nähert sich der Autor Yoland Simon in seinem Stück Adieu Marion der Kriegsthematik. Neun Tableaux' präsentieren die hermetische Welt eines Pariser Kabaretts, in dem angestrengt versucht wird, sich den äußeren Einflüssen des Krieges zu entziehen. Eingedenk der Wucht der externen Ereignisse ist dies aber nur schwer möglich. Namensgeberin des Stückes ist eine Tänzerin, die sich aufgrund der Liebe zu einem deutschen Soldaten, der an die Ostfront geschickt wird, das Leben nimmt. Gerade die Figuren der Halbwelt werfen, ähnlich wie in Truffauts Le dernier métro oder in frühen Romanen Modianos, die Frage auf, welche äußeren Parameter einen Menschen zu einem Widerstandskämpfer oder zu einem Kollaborateur werden lassen. Die moralischen Zwischentöne der Protagonisten machen deutlich, dass eine klare Beantwortung dieser Frage nicht eindeutig möglich ist. Ein weiteres wichtiges Stilmittel stellen die zahlreichen Lieder dar, die sich auf der einen Seite in die Logik des Kabaretts einschreiben, auf der anderen Seite Elemente eines kollektiven Gedächtnisses sind, dessen Klischeehaftigkeit hier wiederum dekonstruiert wird.

Durch die Eigentümlichkeit der Zeitstruktur zeichnet sich auch Enzo Cormanns Stück Berlin, ton danseur est la mort aus, welches aus der Perspektive des Jahres 1946 den Lebensweg einer zutiefst traumatisierten Frau beschreibt, die im Jahre 1935 ihren Ehemann eigenhändig umbringen musste, um ihr Leben zu retten. Gleichzeitig verweisen in den Text eingelassene Spuren auf die Jahre vor 1935, namentlich auf den Aufstieg der Nationalsozialisten in den 1930er Jahre. Durch die besondere Zeitstruktur wird darüber hinaus das 'Davor' und das 'Danach' thematisiert. Wenngleich der Krieg offiziell beendet ist, bleibt er für die Protagonistin unabgeschlossen. Sprachfetzen und Kellerräume gemahnen an die Traumatisierung der Hauptfigur und werfen darüber hinaus die Frage – Adornos missverstandenes Diktum umdeutend, welches "schöngeistige Literatur" nach Auschwitz als einen Akt der Barbarei disqualifiziert – nach ihrer Darstellbarkeit auf. Gleichzeitig stellt der Text in dringlicher Form die Frage nach Schuld, Mittäterschaft und Kollaboration auf und setzt den schmerzhaften Erinnerungsprozess einer Protagonistin in Szene, für die der Krieg im Jahre 1945 noch lange nicht beendet ist.




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Enzo Cormanns Toujours l'orage behandelt in ähnlich beeindruckender Form die Schwierigkeiten des Überlebens. Théo Steiner lebt von der Welt und vor allem von der Sprache zurückgezogen in Morvan. Von der Sprache abgewandt, widmet er sich in erster Linie der Malerei, der hier gleichsam eine therapeutische Funktion zugeschrieben wird. Die Überwindung einer künstlerischen Krise wird erst durch Wiedererlangen der Sprache möglich. In diesem Ansinnen wird dem Überlebenden des Lagers Theresienstadt ein jüngerer von Überlebenden abstammender Regisseur an die Seite gestellt, der ihm dabei hilft, sich aktiv mit seiner Deportation nach Theresienstadt auseinanderzusetzen. Im Rahmen einer 'Zeitreise' gelangen wir an die Quelle Théos Traumas: Als dieser im KZ gefangen war, gestattete ihm ein SS-Offizier einen Namen aus den Deportationslisten nach Auschwitz zu streichen, wobei schließlich deutlich wird, dass er seinen eigenen entfernte und damit seinen Eltern das Todesurteil sprach. Die "Schuld des Überlebens", hier wie in einer Parabel versinnbildlicht, lässt ihn fortan nicht zur Ruhe kommen. Intertextuelle Bezüge finden sich in vielfältiger Form: Der Text ist durchgehend auf der Folie von Shakespeares King Lear verfasst. Ferner wird über Karl Krauss' und Walter Benjamins Verhältnis zum Judentum nachgedacht.

Jüdische Familiengeschichten sind wie im Film Le Tango des Rashevski von Philippe Blasband stets mit der Frage nach Erinnerung und Weitergabe von Tradition verbunden. Ein Vater-Sohn-Konflikt, einmal mehr auf der Grundlage von Shakespeares King Lear, wird in Serge Kribus' Le grand retour de Boris S. behandelt. In Dialogform wird ein spannungsgeladenes Vater-Sohn-Verhältnis präsentiert, in dessen Kern es um die Frage der Vermittlung jüdischer Identität und Erinnerung geht. Durch das Schweigen des Vaters entfernt sich sein Sohn vom Judentum, sodass ein Bruch in der Kommunikationskette und mithin mit dem Judentum entsteht.

Eine ähnliche Problematik tritt auch in Gérald Auberts Le voyage zu Tage. Ein Überlebender des Konzentrationslagers Dachau begibt sich mit seinem Sohn auf die Reise nach Dachau. Zahlreiche Lieder, Witze und Bemerkungen des Vaters, machen deutlich, dass dieser in seinem Denken ganz 'dort' geblieben ist und folglich sein Bild und seine Wahrnehmung Deutschlands, dessen Boden er paradoxerweise nicht zu betreten gedenkt, immer noch von der traumatischen Erfahrung des Lagers geprägt sind.

Von dem Faszinosum Deutschland legt auch das Drama Vater Land – Le pays de nos pères von Jean Paul Wenzel und Bernard Bloch Zeugnis ab. In sieben Episoden wird die Reise des Sohnes eines frankophilen Wehrmachtssoldaten nach Deutschland dargestellt, der eine französische Identität annimmt, nach dem Krieg aber enttarnt wird. Auf dieser Reise, die bisweilen phantasmagorische Züge annimmt, verschwimmt die Raum- und Zeitwahrnehmung. Dabei werden verschiedene Stationen und Orte der deutschen Geschichte fokussiert. Die Suche nach dem Land der Väter ist aber auch in autobiographischer Perspektive von Belang: Beide Autoren haben deutsche Väter. Somit ist die Reise durch Raum und Zeit, wie sie der Text inszeniert, auch eine Reise zu sich selbst.

Um das konfliktreiche Verhältnis von Erinnerung und Vergessen kreist das Drama L'Arbre de Jonas. In einem französischen Dorf kehrt Jonas, ein nur knapp der Deportation Entronnener, an seinen Heimatort zurück, auch um die Dorfbewohner, aus deren Mitte er deportiert wurde, mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Auch hier wird neben der Schuldfrage jene nach der Verankerung im kollektiven Gedächtnis gestellt.




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Die Verquickung von individueller und kollektiver Erinnerung und die Frage nach kollektiver Schuld wird in Gilles Boulans Kinderzimmer in sehr eindringlicher Form verhandelt. Drei Frauen, eine junge Überlebende des Massakers in Oradour sur Glane, eine junge Deutsche, die beim Spielen auf dem Dachboden die SS-Uniform ihres Vaters entdeckt und dadurch aus der Sorglosigkeit der Kindheit herausgerissen wird und eine deutsche Journalistin treffen in Oradour sur Glane, einem non-lieu de mémoire kondensiert aufeinander. Am Ende des Stückes führt der Autor die drei Schicksale in der chambre des enfants zusammen und zeigt die Möglichkeiten und Grenzen von Versöhnung auf.

Um die familiäre Vermittlung von Erinnerung geht es auch in Roland Fichets Drama Plage de la Libération. Im Rahmen einer Familiengeschichte geht es erneut um Vermittlung von Erinnerung, aber auch ihre Brüchigkeit. Während der Familienvater seine raison d'être aus seiner Mitarbeit in der Résistance schöpft, situiert sich der Rest der Familie in radikaler Opposition zu diesem Mythos. So ist der Sohn Teil der rechtsextremen Szene, während die Tochter einen Deutschen geheiratet hat, den sie zwar liebt, der ihr aber oftmals 'zu deutsch ist'. Deutlich wird, dass eine Fokussierung auf die Vergangenheit den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft verstellt.

Ein hoch komplexes und kunstvoll durchkomponiertes Stück stellt Violences á Vichy von Bernard Chatreux dar. Die Komplexität des Dramas wird dadurch noch erhöht, dass zwei Versionen des Textes existieren – die erste stammt aus dem Jahre 1980, die zweite aus dem Jahre 1995 – und somit wiederum zwei sehr unterschiedliche erinnerungspolitische Kontexte die Entstehung aber auch die Rezeption der Texte bestimmen. Denn im Jahre 1980 setzte die Auseinandersetzung mit diesem passé qui ne passe pas (Rousso) sehr langsam ein, während der Erinnerungsprozess zur Mitte der 1990er Jahre von den Papon-Prozessen und einer vermehrten öffentlichen Präsenz der Thematik geprägt ist. In elf verschiedenen Tableaux' wird der Versuch unternommen, die Vichy-Ideologie in einer Mischung aus Spiel und Dokumentation als das zu entlarven, was sie tatsächlich war, eine menschenverachtende Kollaborationsgesinnung. Dabei wird beständig mit der Erwartungshaltung des Zuschauers gespielt und überlieferte Textformen dekonstruiert.

Nach diesen geographischen Schwellen führt uns Christine Felbeck an die Schwelle menschlicher Wahrnehmung, jene Räume, in denen menschliche Grenzerfahrungen offenbar und Seelenzustände verhandelt werden, die sich rein rationalen Erwägungen entziehen. Dies wird im Titel des Dramas Auschwitz de mes nuits von Jean Manuel Florensas thematisiert. Die Therapie seiner schweren traumatischen Störung sieht so aus, dass der Überlebende Claude im Rahmen einer LSD-Behandlung fünf Etappen seines Lebens im Lager erneut erlebt, bis er schließlich hinter die 'verbotene' Tür tritt und dort auf das Unaussprechliche trifft: Er selbst hat im Lager Säuglinge und Kleinkinder erwürgt, um sich eine zusätzliche Ration Essen sicherzustellen. Die Figur des Claude wird dabei gleichsam verdoppelt: Claude 1 sucht die Erinnerung, Claude 2 indessen das Vergessen. Hier wird deutlich, in welchem Maße das überlebende Subjekt in seiner Integrität angegriffen ist.




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Der hier bereits erwähnte Jean Claude Grumberg schließlich nähert sich dem Tod seines Vaters, indem er sein 'Traumstück' Rêver, peut-être auf Grundlage des Hamlet von Shakespeare aufbaut und mittels des Traumes einen Raum eröffnet, in dem der Tod des Vaters gedacht werden kann.

Abstrakter versucht Patrick Kermann sich benannter Thematik zu nähern. Von aleph bis tav wird um das hebräische Alphabet ein Text beständig de- und rekonstruiert, der die Möglichkeiten und Grenzen der sprachlichen Vermittlung der Shoah auslotet. Patrick Kermann lässt in seinem Projekt eine Vielzahl von fragmentarischen Stimmen in einem polyphonen Text zusammenfließen, der den Rezipienten in die Pflicht nimmt, ein wie auch immer geartetes Gesamtbild zusammenzustellen.

Christine Felbeck füllt mit ihrer Dissertation dadurch eine Lücke, dass sie eine systematische Analyse derjenigen Theaterstücke wagt, die in verschiedensten Ausdrucksformen den Holocaust darstellen. Es gelingt ihr, eine Gesamtschau zu liefern, die als Grundlage für zahlreiche andere Studien dienen kann und sicherlich weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu animieren wird, sich dieser Thematik anzuschließen. Abschließend darf gesagt werden, dass der Band nicht nur inhaltlich und sprachlich beachtenswert ist, sondern auch sorgfältig redigiert und gewissenhaft layoutet wurde. Insofern sei der Autorin eine zahlreiche Leserschaft gewünscht.