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Reinhard Krüger / Peter Stolz (Berlin)



Mimesis: Beobachtungen zu einer aktualisierten Diskussion1



Mimesis: Some remarks on a renewed discussion
This article reviews the important book on Mimesis, published by Gunter Gebauer and Christoph Wulf in 1992. After decades of structuralist and poststructuralist approaches to literature (who have their undeniable merits concerning the description of the artistic and aesthetic facture of poetic and literary texts), Gebauer/Wulf raise again the question concerning the relations between literature on one hand and social practice and history on the other hand. This relation is considered and discussed on the background of the antique concept of mimesis. Gebauer/Wulf review nearby 2500 years of artistic – mostly literary – practice in Europe, and put a stress on the conclusion, that mimesis has been and will still carry on being a primordial category of artwork. Even if there were some important objections to be made concerning the categories of 'reality' and artificially worked out representations of reality and their mutual semiotic relations, (because reality, from a cognitive point of view, does only exist as far as it is represented in our perceptions and mind) this books remains a fertile overview and synthesis in provoking and arising new questions that may lead us to a further and more profound comprehension of mimesis as an undeniable category of the conditio humana in past and present.


"Ne vous enyvrez point des éloges flatteurs
Qu'un amas quelquefois de vains Admirateurs
Vous donne en ces Reduits, prompts à crier 'merveille!'
Tel écrit récité se soutient à l'oreille [...]
Je vous l'ay déja dit, aimez qu'on vous censure [...]
Faites choix d'un Censeur solide et salutaire,
Que la raison conduise, et le sçavoir éclaire,
Et dont le crayon seur d'abord aille chercher
L'endroit que l'on sent foible et qu'on se veut cacher."
Boileau: L'Art poëtique, chant IV



1. "Weisen der Welterzeugung": der Anteil des Menschen an seinen Bildern von der Wirklichkeit

Nahezu fünfzig Jahre nach Erich Auerbachs Mimesis, auf die explizit Bezug genommen wird (18sq), haben Gunter Gebauer und Christoph Wulf (Gebauer/Wulf 1992) versucht, diese vielfach destruierte Zentralkategorie der ästhetischen Reflexion seit der Antike "einer historischen Rekonstruktion [zu unterziehen], im Verlauf deren wir Kontinuitäten und Brüche in der Verwendung des Begriffs herausarbeiten konnten." (9) Mit diesem Band, und dies ist das große Verdienst von Gebauer/Wulf, steht erstmals eine systematische Präsentation der Konzepte von Mimesis in der europäischen Geschichte zur Verfügung, welche zugleich auf der Höhe gegenwärtiger philosophischer und wahrnehmungstheoretischer Positionen verfaßt ist.




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Es soll angesichts der folgenden kritischen Einwände, die das grundsätzliche Verdienst dieser Untersuchung keinesfalls schmälern, darauf hingewiesen werden, daß es sich für die Aktualisierung der Mimesis-Diskussion unter neueren philosophischen und literaturtheoretischen Perspektiven bei diesem Band um ein grundlegendes Werk handelt, das einen Weg durch das Material zeigt und zugleich insofern produktiv ist, als es Respekt vor der Leistung und zugleich seine kritische Überwindung provoziert. Gunter Gebauer und Christoph Wulf haben das Wagnis auf sich genommen, nahezu 2500 Jahre europäischer Kulturgeschichte exemplarisch unter dem Gesichtspunkt der in ihr identifizierbaren mimetischen Praktiken und der diesen entsprechenden Konzepte von Mimesis in einer groß angelegten Synthese im Detail zu sichten, darzustellen und die Ergebnisse zusammenzutragen. Dies hebt sich wohltuend von jenen von Kautelen geprägten Arbeiten ab, die nur das bereits von anderen gesichtete, bewertete und damit kanonisierte Material anzugreifen wagen, den Weg ins Neuland der Verfertigung historischer Konstruktionen aus neuen Materialien jedoch scheuen. Von daher verstehen wir die folgende Auseinandersetzung als Bestandteil eines respektvoll, kritisch und freundschaftlich geführten Dialogs, der von Gebauer und Wulf eröffnet worden ist.

Auf ein methodisch fruchtbares, nicht jedoch in jedem Punkte unproblematisches Vorwort, das wegen einiger falscher Weichenstellungen einer eingehenderen Diskussion bedarf, folgen insgesamt sechs Kapitel, in denen das Phänomen der Mimesis von der Antike bis in das 20. Jahrhundert jeweils im Kontext seiner historischen Konstellation und Ausprägung erfaßt werden soll. Jedem der Hauptteile ist in der alten Tradition von Rowohlts deutscher Enzyklopädie und ihren enzyklopädischen Stichwörtern gleichsam zur Orientierung der Lektüre eine resümierende Darstellung der jeweiligen historischen Position der Mimesis vorangestellt.

Mimesis soll demnach programmatisch nicht als eine a-historische Kategorie verstanden werden, sondern in der geschichtlichen Vielfalt und Differenziertheit des Begriffs und seiner Verwendungen erfaßt und dargestellt werden. Das Material der Untersuchung setzt sich im wesentlichen aus antik-philosophischen Traditionen, neueren ethnologisch-anthropologischen Daten, der Literatur der italienischen Renaissance sowie dem Spektrum der französischen Literaturgeschichte zusammen. Dabei ist es den Autoren bewußt, daß sie Einschränkungen in Kauf nehmen mußten, denn "zu viele, für ein komplexes Verständnis der Mimesis wichtige Bereiche wie Musik und Architektur konnten nicht, andere nur unzulänglich berücksichtigt werden." (9) Kann man dies als Entscheidung der Autoren akzeptieren, da die Auswahl und Beschränkung immer not tut, so stellt sich jedoch die Frage, weshalb gerade in der Frage der modernen Formulierung und Ausleuchtung des Mimesis-Phänomens nur Benjamin, Adorno und Derrida Berücksichtigung finden – mithin ein bestimmter Kanon philosophischer Provenienz – , die expliziten theoretischen Positionen zum Mimesis-Problem wie zur Narrativik und ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit von Autoren wie Calvino, Eco oder Borges keiner Erörterung wert gewesen sind.




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Ziel der Darstellung ist es nun, weit über die Kunstproduktion hinaus, Mimesis als eine conditio humana zu verstehen, welche "unterschiedliche Ausprägungen des Menschen erst möglich macht," (9) denn "Mimesis ist nicht an die Grenzziehungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Leben gebunden." (10) Somit ist Mimesis ein Phänomen, das überall in Erscheinung treten – genauer gesagt gibt es keine Facette des menschlichen Lebens, die nicht mimetisch wäre – und verschiedenartig funktionieren kann, beispielsweise zur Affirmierung von Verhältnissen, womit Gebauer/Wulf den Anteil der Mimesis an der Konstruktion von Macht ansprechen:

"Mimesis führt zur Angleichung an destruierte Umwelten und verfestigte Gesellschaftsverhältnisse; sie beteiligt sich an der Verbildlichung der Welt und an Prozessen der Simulation. Die sich mimetisch zu angenommenen Wirklichkeiten verhaltenden Bilder der Massenmedien fördern die Ästhetisierung der Welt. Sie schaffen vorgebliche oder konstruierte Wirklichkeiten, verändern sie und saugen sie auf; Bilder in Form von Fernsehbildern werden miniaturisiert und beschleunigt, werden zum Ersatz von Realitätserfahrungen; nicht Wirklichkeiten werden zu Bildern, sondern die Bilder werden zu Wirklichkeiten; eine Pluralität von Bild-Wirklichkeiten entsteht. Die Unterschiede zwischen Wirklichkeiten, Bildern und Fiktionen lösen sich auf. [...] Bilderfluten ertränken die Einbildungskraft und vernichten die Unverfügbarkeit des Anderen und die Widerständigkeit des Fremden." (10)

Diesem Rundschlag gegen die von den Medien konstruierten Bilder wäre zunächst dahingehend zuzustimmen, daß jedes Bild ideologieförmig und als Produkt der Semiose von Bildern auch insofern affirmativ bezüglich eines bestimmten Weltbildes oder einer bestimmten semiotischen Modellierung von Wirklichkeitserfahrung ist, da diese selbst notwendigerweise immer nur nach den bereits eingeübten Möglichkeiten der Weltbildkonstruktion von konditionierten Subjekten oder sozialen Gruppen als selektives Bild erzeugt werden kann. Kritikwürdig ist zweifellos auch der in der modernen Mediengesellschaft durch Bilderfluten eingeübte oder oktroyierte, suchtförmige Konsum von visuellen Surrogaten, welche die außerhalb der Medienkanäle stattfindende Realitätswahrnehmung tendenziell an die Peripherie delegieren können. (Cf. Calvino 1993, bes. 91sq.) Problematischer ist hingegen die Äußerung über den verschwindenden Unterschied zwischen Wirklichkeit, Bildern und Fiktionen, denn es besteht für das wahrnehmende Subjekt grundsätzlich nicht die Möglichkeit, Wirklichkeit jenseits der 'Projektionsfläche' von selektiven, vom Subjekt konstruierten und insofern auch immer fiktionalen, durch Konjekturen aus den Wissensvorräten erzeugten Bildern wahrzunehmen. Mit dem hier implizierten Begriff von einer Wirklichkeit, die, und sei es nur differentiell, empirisch und folglich auch begrifflich von den Bildern und Fiktionen verschieden wäre, wird die philosophische Kategorie der objektiven Realität gesichert, die unter wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Aspekten bestenfalls als Garant dafür angenommen werden kann, daß die Reizungen der Sinne, auf deren Grundlage unser Nervensystem zu arbeiten beginnt, tatsächlich 'von außen' kommen.2




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Mithin gilt die Konstruktion der Bilder, die Mediatisierung der Wahrnehmung, die Substitution der eigenen Konstruktion von in Erfahrung gewonnenen Wahrnehmungsbildern durch von anderen produzierte Bilder für Gebauer/Wulf als hinderlich auf dem Wege der Realitätserfahrung. Im Fluchtpunkt dieser Argumentation steht die Vorstellung von der Möglichkeit einer, durch bereits existierende Bilder und Wirklichkeitsmodelle nicht beeinträchtigten Wahrnehmung von Wirklichkeit, die allerdings nichts anderes als die Fortschreibung von romantisch-surrealistischen Mythen (cf. Krüger 1989) und verwandten Konzeptionen von Wahrnehmung und Kommunikation ist. Tatsache ist jedoch, daß sogar die vom einzelnen selbst produzierten Bilder, bereits als 'Verstellungen' für Realitätserfahrung angesehen werden müßten, oder anders formuliert: wenn Realitätserfahrung nur durch Mimesis, durch Modellbildung möglich ist, dann kann der Vorwurf an die Mediatisierung der Wahrnehmung durch von anderen produzierte Bilder so uneingeschränkt nicht aufrechterhalten bleiben.

Vielmehr stellt diese, ungeachtet der kritikwürdigen und zugleich unhintergehbaren, affirmativen und machterhaltenden Funktionen der Medienbilder, nur eine Ausformung des Sachverhalts dar, daß Realitätserfahrung – solange es sich wenigstens um die Verhandlung einer Grundfrage der conditio humana handelt – nicht vom Einzelnen her, außerhalb der sozialen Praxis gedacht werden kann, sondern als soziales Phänomen aufgefaßt werden muß, denn selbst die Möglichkeiten des Einzelnen, Realitätserfahrung zu erwerben und diese – mimetisch – für sich zu verarbeiten, zu speichern, zu memorieren, in seinen Bildvorräten, Zeichenarsenalen, Sprachkompetenzen und Gestenreservoirs zu ordnen, ist nur als mimetischer Prozeß, als Simulationsarbeit mit solchen Materialien denkbar, die in 'sozialer Interaktion', d.h. von der sozialen Arbeit der Zeichenproduktion erzeugt und von dieser 'zur Verfügung gestellt' worden sind (cf. Rossi-Landi 1968).

Obgleich somit von Gebauer/Wulf die metaphysische Spaltung von objektiver Realität und subjektiver – immer nur mediatisiert durch eigene Symbolproduktion – wahrnehmbarer und modellierbarer Realität als philosophische Erblast angenommen wird, bleibt dennoch die gedankliche Möglichkeit einer Darstellung des Mimesis-Problems aus der Perspektive der unauflöslichen Einheit von Erfahrung und Kenntnis:

Die oft unbewußt bleibende Mischung aus Tun und Wissen bezeichnet ein besonderes Denken oder Vermögen, das praktisch-technische, durch Erfahrung erworbene Fertigkeiten und theoretische Fähigkeiten des Erkennens und Bewertens verschmilzt. In dieser Deutung ist Mimesis Kennzeichnung der Produktion einer symbolischen Welt, die praktische und theoretische Bestandteile einbezieht. [...] Der Mimesisbegriff beinhaltet Widerstand gegen die Spaltung der menschlichen Bereiche der Erfahrung, des Handelns und des Erzeugens symbolischer Welten in einen Praxis- und einen Theorieteil; er wendet sich gegen eine Aufgliederung, die so endgültig aussieht, daß jede Vermittlung sinnlos zu sein scheint. (11)




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Somit wird Mimesis auch als ein Phänomen gefaßt, welches de facto den metaphysischen Spaltungen von Realität und Wahrnehmung, Praxis und Theorie, Materie und Geist, Zeichen und Sinn entgegenarbeitet und diese in der Praxis falsifiziert.3 "Während ihrer gesamten Geschichte verweist Mimesis auf die gegenseitige Durchdringung beider Bereiche, auf die Nichtanerkennung der Spaltung, auf die Erzeugung von Welten aus Symbolen und aus Erkenntnissen auf der Grundlage von Sinneserfahrungen" (11), lautet der Kernsatz. Welt, insofern sie vom Menschen wahrgenommene Welt ist, ist immer eine erzeugte Welt neben anderen erzeugten oder erzeugbaren Welten. Empirische Welt und als Wahrnehmungsbild konstruierte Welt sind somit, abgesehen von der sensualistisch-materialistischen Grundannahme, daß die Ideen in letzter Konsequenz auf der Grundlage von Sinneseindrücken der Außenwelt, nur durch metaphysische Spekulation begrifflich voneinander trennbar. Diese hypostasiert jedoch implizit die Möglichkeit einer jenseits der Weltbildkonstruktion erfahrbaren, empirischen Welt. In der Tat existiert diese jedoch, sobald es sich um wahrgenommene, d.h. um die einzige unsere Sinne affizierende und von uns beurteilbare Welt handelt, niemals außerhalb der Modelle, die wir uns als Wahrnehmungsbilder von dieser Welt konstruiert haben. Entsprechend auch die Kritik an Erich Auerbachs ansonsten respektvoll gewürdigter Arbeit: "Er nimmt nicht in den Blick, daß Mimesis allgemein eine Hinwendung zu einer Welt ist, die durchaus nicht mit der empirischen Wirklichkeit identisch zu sein braucht. [...] Mimesis wird nicht in ihrer Konstruktivität untersucht; die Art und Weise der Welterzeugung mit ihren fiktionalen und imaginären Seiten wird nicht analysiert." (18/19)

In der Problematisierung der Nicht-Identität von empirischer Wirklichkeit und den Produkten der Mimesis liegt jedoch eine methodisch-philosophische Schwäche der Darstellung Gebauers und Wulfs begründet, die von den unkritisch übernommenen Implikaten des Begriffs der 'Welterzeugung' (Goodman) herrührt (26sq.). Diese Kategorie setzt immer die – außerhalb der Wahrnehmungsmöglichkeiten und der konsensuellen Redeweisen über sie jedoch nie verifizierbare – Existenz der empirischen Welt voraus, die sich von den Wahrnehmungsbildern unterscheidet. Nach Goodman erscheint es so, als gäbe es eine hinter den Schleiern der Wahrnehmung erkennbare Realität. Sicherlich kann diese objektive Realität auf der Grundlage einer sensualistisch-materialistischen Grundannahme legitimerweise als existent extrapoliert werden, und die Existenz einer objektiven – jedoch niemals außerhalb der Wahrnehmungsmodi erkennbaren – Realität soll hier auch nicht in Abrede gestellt werden. Nur spielt sie als objektive Realität für die menschliche Praxis und damit für die Mimesis als solche keine Rolle, sondern nur als wahrgenommene, in Modellen zeichenhaft eingefaßte, und damit immer nur nach menschlichen Möglichkeiten repräsentierte Realität. Demzufolge gibt es, so resümieren Gebauer und Wulf die Thesen Goodmans, keine beschreibungsunabhängigen Tatsachen (26). Die Goodmansche Kategorie der 'Welterzeugung' trägt jedoch neben dem produktiven Aspekt des Hinweises auf die Bedeutung der Verfahren symbolischer Repräsentation der von der 'objektiven Realität' empfangenen Sinneseindrücke als 'Weltbild' auch die Last eines jenseits der mimetischen Praxis als metaphysisches Problem tradierten Begriffsapparates, welcher die ausschließlich für die menschliche Praxis relevante Einheit von wahrgenommener Wirklichkeit und Wahrnehmung in letzter Konsequenz kategorial trennt.




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Folglich trägt auch die in Gebauer/Wulfs Darstellung präsente, aus der Tradition Hegelscher Dialektik stammende Vorstellung von der 'gegenseitigen Durchdringung beider Bereiche' noch die Spuren metaphysischen Denkens, indem sie implizit die Trennung von Theorie und Praxis, Materie und Geist etc. voraussetzt, mithin die Einsicht in den Aufbau der Vorstellungen (Theorie, Bilder, Wissenschaften etc.) aus den Sinneserfahrungen nicht konsequent bis in die Konstruktion des Begriffs oder der Metapher anwendet. Dies ist eine Frage, welche in der gesamten Darstellung immer wieder mit problematischen Folgen präsent sein wird: nicht nur die empirische Welt bzw. objektive Realität sind Gegenstand der Mimesis oder Ausgangspunkt unserer modellhaften Weltbildkonstruktionen bzw. Simulationen, sondern ebenfalls die Reize, die bereits in verarbeiteter, zu Bildern, Strukturen etc. kondensierter Form in unserem Kopf gespeichert sind. Hiermit ist die entscheidende Frage der Funktionen von Phantasie für die Produktion unserer Weltbilder angesprochen, welche mit der ausschließlichen Hinwendung auf die empirische Realität nicht aus der Perspektive der Mimesis-Problematik erfaßt werden kann.

Grundsätzlich schließlich verstehen Gebauer/Wulf die Produktion der mimetischen Konstrukte als ein gesellschaftliches Phänomen: "Mimesis [ist] immer eine Angelegenheit eines Beziehungsgeflechts von Personen: Die mimetische Erzeugung einer symbolischen Welt nimmt Bezug auf andere Welten und ihre Schöpfer und schließt andere Personen in die eigene Welt ein. An dieser Konstellation sieht man, daß mit Mimesis eine Vermittlung zwischen Welten und Personen anerkannt wird; sie bezeichnet nicht eine Unterwerfung unter hergebrachte Muster, sondern eine Akzeptanz der Arbeit von Vorgängern und Traditionen." (12) Mimesis erscheint aus dieser Perspektive als das Verfahren Weltmodellierung, die durch den Bezug auf die mimetischen Produkte der anderen gleichermaßen im Raum der Geschichte wie im sozialen Raum der Gegenwart sozial interagiert und kommuniziert. Weltmodellierung findet also immer unter Bezugnahme auf die Weltmodelle anderer statt.

Allerdings gibt es nach Gebauer/Wulf die Einschränkung, daß diese Funktion der Mimesis nur für die Zeit vor dem Anbruch des rationalen Denkens gelten soll, das auf "das einzelne isolierte Erkenntnissubjekt bezogen ist." (11) Zweifellos ist ihnen bei der Kennzeichnung dieser philosophischen Konfiguration seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert weitgehend zuzustimmen, doch haben philosophische Überzeugungen noch niemals die Macht besessen, die menschliche Praxis dahingehend zu modifizieren, daß die anthropologischen Grundlagen der conditio humana – die Mimesis und die Intersubjektivität und soziale Bedingtheit einer jeden kommunikativen Praxis und ihrer Erzeugnisse eingeschlossen – dadurch in Frage gestellt würden. Es scheint also nicht so zu sein, als habe sich durch den Anbruch des rationalen Denkens und der Hypostasierung des isolierten Erkenntnissubjekts die soziale Praxis der Mimesis als intersubjektiver Praxis verflüchtigt. Ebensowenig jedoch haben beispielsweise die Naturwissenschaften – dies wird insbesondere in den letzten Jahren besonders deutlich – niemals die Simulation oder mimetische Verfahren zur modellhaften Repräsentation der Strukturen und Dynamiken des Seienden preisgegeben, oder als habe, um in den Bereich der Kunstproduktion zurückzukehren, der Gedanke der Kunstautonomie auch nur ein Jota am mimetisch-simulierenden Charakter der Kunstprodukte geändert. (Cf. dagegen 11.) Lediglich die Medien, die Materialien und die Formensprachen der Kunst haben sich verändert.




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Zwar ist es richtig, daß der Begriff der Mimesis – insbesondere allerdings derjenige der imitatio und seiner Derivate – in der zumeist von eben jenen Philosophen des Rationalismus produzierten Kunsttheorie des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts abdankt, die Kunstproduktion selbst bleibt jedoch, bis in die Kunst des ready-mades, der écriture automatique und in den art brut hinein mimetisch, auch wenn die Gegenstände der Mimesis sich verändern. (Cf. Thévoz 1989)

Gebauer und Wulf formulieren das Mimesis-Problem im weiteren auf der Grundlage einer impliziten Intertextualitäts-Theorie, indem sie Mimesis auch als eine Frage der Kommunikation mit anderen fassen, die in späteren Kapiteln aus Anlaß der Querelle des Anciens et des Modernes zu der These von einer historischen Mimesis erweitert wird: "Mimesis in bezug auf fremde Personen ist eine produktive Einmischung in andere Denk- und Sprechweisen. Sicher macht es einen Unterschied, ob dabei nur Variationen oder neue Denk- und Sprechweisen entstehen. Dies ist eine Frage der graduellen Abstufung. Nicht hier entscheidet sich, ob ein Autor die Qualität des Eigenständigen erhält. In diesem Problem sind wir von der Ideologie des Originalgenies beeinflußt." (13) Völlig zu recht und vor allem dann äußerst produktiv, wenn es sich um die Untersuchung von Phasen scheinbar repetitiver, bestenfalls variierender Kunstproduktion handelt (cf. Langer 1989)4, decken Gebauer und Wulf die Ideologie des Originalgenies als jene petitio principii auf, welche die angemessene Bewertung der Kunstqualität solcher Zeiten verhindert.

Auf der anderen Seite wird durch ein ungenau gefaßtes Verhältnis von 'Variation' und 'Neuheit', 'Einpassung in vorhandene Strukturen' und 'Eigenständigkeit' die selbst in der kleinsten Variation über vorhandenes Material begründete Neuheit und Eigenständigkeit, mithin die Dialektik von sozialer Konstitution des Zeichenmaterials und der individuellen Kombinatorik nicht mehr differenziert erfaßbar. Schon Nietzsche hatte in Menschliches, Allzumenschliches genau den Wert der kleinsten Differenz in der artistischen Variation des gleichen Materials erkannt und darauf hingewiesen, wie gerade die kleinste Abweichung von gegebenen Bearbeitungen eines Materials zur Quelle ästhetischen Genusses wird, wenn der Reiz der Neuheit des Materials längst verflogen ist: "Wenn dasselbe Motiv nicht hundertfältig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das Publikum nicht über das Interesse des Stoffes hinauskommen; aber zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfindungen in der Behandlung dieses Motivs fassen und genießen, wenn es also das Motiv längst aus zahlreichen Bearbeitungen kennt und dabei keinen Reiz der Neuheit, der Spannung mehr empfindet." (Nietzsche 1979: 558.)5 Diesem Hinweis ist die Forschung viel zu wenig gefolgt, wenn es sich um die Untersuchung von Phasen scheinbar repetitiver Kunstproduktion handelt. Stattdessen wenden Gebauer und Wulf die Innovationsqualität ausschließlich ins Politische – d.h. sie versuchen sie in ihrer sozialen und symbolischen Sprengkraft zu erfassen – und messen sie am Grad der vom erzeugten Symbolsystem angezeigten Widerständigkeit gegen die sozialen Verhältnisse: "Die Frage ist, inwieweit der Autor sozialem Druck widersteht und Gegendruck erzeugt, ob seine Strategie gegenüber dem Medium ein Kodifizierungssystem hervorbringt, mit dessen Hilfe er symbolische Macht gewinnt." (13)




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Insgesamt identifizieren Gebauer und Wulf vier Felder, in denen sich Mimesis vollzieht: Identifikation einer Person mit einer anderen (geistige Beziehung)6, praktisches Handlungswissen, körperliche Handlung (Geste) und das Performative. Mithin ist Mimesis ein Phänomen, das sich in verschiedenen Artikulationsformen und Zeichenpraktiken findet, womit sich die Frage des verfügbaren Quellenmaterials und der hermeneutischen Methode stellt. Für eine historische Rekonstruktion der mimetischen Praxis sehen sich die Autoren vor das Problem gestellt, daß ältere – vor allen Dingen schriftliche – Quellen selbst nur historisch bedingte Umformungen von in anderen Medien stattgefundener Mimesis sind. Sie berichten nur von anderen, nicht an die Schriftform gebundener Mimesis:

Wir erhalten die ursprünglichen mimetischen Prozesse der Praxis nicht anders denn als sprachliche Konstrukte und meistens in geschriebener Form. Mimesis wird in die Geschichte eingepaßt und in jeweils spezifische historische Formen gebracht. (14)

Hierin begründet sich die weitgehende Orientierung Gebauers und Wulfs auf literarische Traditionen. Die Vorstellung von den 'ursprünglichen mimetischen Prozessen', die nur über die alten schriftlichen Traditionen rekonstruiert werden könnten, bedingt jedoch zugleich ein methodisches Problem: die Möglichkeiten, welche eine vergleichende Anthropologie und Ethnologie auch zur Aufdeckung der Verfahren beispielsweise nur noch literarisch umgeformter und tradierter, antiker Mimesis zur Verfügung gestellt hätte, werden hier nicht ins Auge gefaßt. Doch ist zu konzedieren, daß auch ein komparatistisches Verfahren im angedeuteten Sinn in letzter Konsequenz keine Sicherheit bezüglich der geleisteten Interpretation bieten würde. Selbst die historisch-rekonstruierende Darstellung mimetischer Verfahren stellt bereits die Transposition dieser Mimesis in das Medium eines anderen Zeichensystems dar, der die Ungenauigkeit und Unsicherheit bezüglich des in der historischen Rekonstruktion Mimetisierten inhäriert. So kann man den Autoren nur zustimmen, wenn sie schreiben: "Auch unser Vorgehen ist konstruierend; es ist zu dem Zweck entworfen, eine Ordnung in das Denken zu bringen, die möglichst vieles von dem erfassen soll, was wir über mimetische Prozesse wissen. Indem wir Ausprägungen des Mimesisbegriffs im geschichtlichen Kontext nachbilden, versuchen wir, das Denken in begrifflichen Etiketten zu überwinden. Freilich ist es eine unentscheidbare Frage, ob unsere Weise, die Welt zu ordnen, mit jener historischer Personen übereinstimmt oder ihnen auch nur angemessen ist."(14)

Dabei ist den Verfassern bewußt, daß selbst eine weitgehende Annäherung an die historischen Formen der Mimesis niemals mit denselben Instrumentarien und Leitideen stattfinden kann, denn "es gibt keinen der Geschichte enthobenen Wesenskern der Mimesis. [...] Insofern hat dieses Buch keine zentrale These, die wir dem untersuchten Textkorpus überstülpen. Es verfolgt, indem es den historischen Wandel von Mimesis zur Darstellung bringt, die Absicht, verschüttete Dimensionen des Begriffs freizulegen und Reduktionen, falsche Eindeutigkeiten, Verarmungen aufzuheben." (16)




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2. Metamorphosen der Mimesis und der Mythos von Oralität und Literalität

Die Widersprüchlichkeiten in Platons Mimesis-Konzept führen Gebauer und Wulf auf den Übergang von Oralität zu Literalität zurück. (42) Mit dem kulturgeschichtlichen Periodisierungskonzept von Oralität und Literalität, das in der aktuellen Form aus der Romantik stammt, versichern sich die Schriftkulturen ihrer – allerdings als dekadent beurteilten – Überlegenheit gegenüber einer verklärten Menschheit im schriftlosen Kindheitsstadium. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Vorstellung um einen kulturgeschichtlichen Mythos. Verfolgen wir diese Denktradition zurück, so gelangen wir mindestens bis zu Montaignes Essai Des coches, in dem die Kategorien von Schriftlosigkeit und Kindheit zu einem Metaphernfeld des anthropologischen Denkens verschränkt werden. (Montaigne 1962: 886-887.)7 Mit diesem Bild will Montaigne nun gerade die in der Auseinandersetzung mit der amerikanischen Wirklichkeit präsente Vorstellung von der Barbarei und Nicht-Zivilisiertheit der amerikanischen Völker zurückweisen und damit zugleich das in der spanischen Diskussion des 16. Jahrhunderts um den Menschencharakter der Amerikaner wichtige Kriterium des Schriftbesitzes (= Fähigkeit zur dauerhaften Memorierung der eigenen Geschichte, cf. dazu Krüger 1999) als nebensächlich aus der Debatte verabschieden.

Aus der Metapher von der Menschheit im schriftlosen Kindheitsstadium ist in der Folge jedoch kulturwissenschaftlich-anthropologische Gewißheit geworden, die sich ihres Herkommens aus einer politisch-gesellschaftskritischen Welt von Denkbildern nicht mehr bewußt ist. Die fatale Konsequenz daraus besteht darin, daß die Kulturgeschichte bis auf den heutigen Tag in der Dichotomie von Oralität und Literalität gedacht und rekonstruiert wird, der Blick auf andere, die Literalität präfigurierende graphische, visuelle, architektonische etc. Formen dauerhafter 'Notierung' von Denkinhalten jedoch nicht oder nur selten (eine Ausnahme: Assmann 1988) gerichtet wird. So wird immer wieder – implizit in der Tradition Platons – der Schaden benannt, welchen die 'Einführung der Schrift' an den Leistungen der oralen Kultur angerichtet habe (cf. p.ex. Goody e.a.: 1986), auf der anderen Seite wird jedoch erst das Vorhandensein des die Rede in Phoneme analytisch zergliedernden und diese repräsentierenden Alphabets als die Bedingung angenommen, unter der sich der Mensch zu einem sich und seine Geschichte selbst reflektierenden Individuum entwickeln konnte (cf. p.ex. Illich 1988). In dieser Tradition stehen auch Gebauer/Wulf, wenn sie schreiben:

Orale Kulturen stehen vor dem Problem, daß sie über keine Techniken der Aufbewahrung von Traditionen in Form von Niederschriften verfügen, von niedergelegten Symbolen, die wie Dinge gespeichert und wieder hervorgeholt, zu späteren Zeiten gelesen und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können (70-71).




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Da Gebauer und Wulf zu Recht davon ausgehen, daß das "Gedächtnis von Einzelmenschen [...] prinzipiell nicht die Instanz [ist], die kulturelles Wissen speichert," und daß das, "was in einer Kultur behandelt wird, [...] zu einem wesentlichen Teil außerhalb der Leistungen des Intellekts" (71) liege, wäre neben der Sprachform und ihrer Verschriftlichung nach den anderen Formen zu fragen gewesen, welche das "kulturelle Gedächtnis" konstituieren, eine Frage, welche sich die moderne Ägyptologie zu stellen begonnen hat und die bereits ausführlich in den, unter diesem Gesichtspunkt zu wenig beachteten spanischen Missionarsberichten (cf. p.ex. Scharlau/Münzel 1986, die in der Tradition der Oralitätsforschung aus den Crónicas praktisch ausschließlich die verschütteten Formen von Mündlichkeit filtern) über die nichtalphabetischen Schriften und Merksysteme in der Neuen Welt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert erörtert worden ist. So aber bleiben Gebauer und Wulf auf die grundlegenden Forschungen Parrys, Lords und Havelocks angewiesen, welche sich ausschließlich der Mnemotechnik oraler Kulturen widmen.

In der Tat ist es aber durchaus denkbar, daß Platons Schriftkritik selbst nichts anderes ist, als ein historisches Gestell, als ein von ihm bzw. seiner Tradition erzeugtes outillage mental, mit dem nicht vorrangig auf die bedeutungsmäßige Ablösung der Oralität, sondern auf die der zuvor dominierenden Formen graphischer, architekturaler, ritueller, gestischer, selbstverständlich auch oraler etc. Formen der Memorierung und der Mitteilung von Wissen reagiert wird. Das Vorhandensein dieser Formen der Kommunikation wird wenigstens durch die frühe Begriffsgeschichte von Mimesis untermauert, von der auch Gebauer und Wulf Rechenschaft ablegen. (44sq.) Weniger einsichtig ist jedoch, weshalb sie so auf die erstmalige Reduktion des Mimesis-Begriffs auf rein ästhetische Phänomene bei Platon und Xenophon insistieren (47), wäre dies doch gerade der begriffsgeschichtliche Hebel, Mimesis als weit über den engen Bereich der Kunst hinaus verstandene Erscheinung der sozialen Praxis darzulegen.8

Es scheint jedoch so, als habe hier eine petitio principii vorgelegen, nämlich zu beweisen, daß die Mimesis ihre Transformation in eine ausschließlich ästhetische Kategorie erst im Übergang von Oralität zu Literalität erfahren habe. Daß mit Xenophons Memorabilia, wie Gebauer und Wulf es auch belegen, die Wendung der Mimesis zur ästhetischen Kategorie am Beispiel der Plastik, nicht jedoch am Exempel der Dichtkunst stattgefunden hat, zeigt eine begriffsgeschichtliche Spur, die in die Vorgeschichte eines auch ästhetischen, jedoch nicht an die Reflexion auf Literalität gebundenen Mimesis-Begriffs deutet. Die Plastik als eine nicht-alphabetische Form des graphischen Ausdrucks und der Niederlegung von Ideen mit graphischen Mitteln, kann ja nicht der Oralität zugeordnet werden. Bestenfalls die Entzifferung plastischer Konstrukte in Gestalt des memorierten oder auch öffentlich vorgetragenen Mythos gehörten hier noch in die Oralität, auch wenn der Ausgangspunkt des Vortrages bereits eine graphisch-plastische Manifestation des Denkens ist.




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Auch wenn hier einige kritische Fragen zu stellen waren, so zeichnet sich die Analyse von Platons Mimesis-Begriff durch Originalität und ein hohes Maß an Differenziertheit aus. Während allgemein die Dichterschelte aus der Politeia und gelegentlich noch entsprechende Passagen aus dem Ion geläufig sind, so legen Gebauer und Wulf das gesamte Korpus der Platon-Stellen zur Mimesis vor (50-68) und entdecken hier zahlreiche positiv besetzte Verwendungen des Begriffs Mimesis. So wird bei Platon selbstverständlich auch die Tätigkeit des Philosophen als Mimesis verstanden, welche der einzige Weg zur Herstellung von Bildern und Welterkenntnis ist. (52) Die Autoren legen damit jene Elemente im Denken Platons frei, welche gerade im Platonismus des Mittelalters und in der neuplatonischen Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie der Frühen Neuzeit von ungleich größerer Bedeutung sein werden, als sie es seit der Metaphysik und der Preisgabe des Neuplatonismus im 18. Jahrhundert waren. Gerade diese bedeutenden Aspekte des Platonischen Mimesiskonzepts und der Ideen-Lehre hätten später im Kapitel über Mittelalter und Renaissance eine viel größere Beachtung verdient gehabt.

Regierte alle bisherige Mimesis das Prinzip der Ähnlichkeit, so sei mit dem Aufkommen der Schrift, Platon lege davon Zeugnis ab, ein Bruch vollzogen worden, nach dem sich die Mimesis-Problematik neu darstelle. (69sq.) Zweifellos stellt nun die Zurückdrängung – nicht zuerst der Oralität – sondern der anderen Medien dauerhafter oder repetierbarer Wissensspeicherung durch die Schriftlichkeit das Ähnlichkeitsprinzip der bisherigen Formen von Mimesis in Frage, denn die Schrift – wenigstens die alphabetische Schrift – über einen Sachverhalt ist beispielsweise dem mimisch, graphisch oder plastisch dargestellten Sachverhalt zunächst nicht gleichrangig. Auf der anderen Seite ist jedoch gerade das Verständnis des Dramas als Mimesis der Gesten und der Reden von Menschen (der práttontes bei Aristoteles, die zunächst wohl angemessen als die Sprechhandelnden übersetzt werden müßten) eine Vorstellung, die sich wenigstens bis in die Kunsttheorie der Renaissance halten wird (cf. Leonardo 1982: 13)9 , nicht weniger auch dem Ähnlichkeitsprinzip bezüglich der "gente che insieme parlino" (Leonardo da Vinci) unterworfen als die 'vorliteralen' mimetischen Künste und Techniken. Daß der Anteil der Inszenierung bei Aristoteles bereits der unbedeutendste und kunstloseste am Drama ist, mündet in seiner Auffassung, daß die Wirkung der Tragödie auch durch Lektüre, nicht nur durch Aufführung zustandekommt. Damit stellt er einerseits den neuen medialen Charakter der Dramen (ihre Schriftlichkeit) in Rechnung, auf der anderen Seite ist die Mimesis-Frage bei Aristoteles nun deutlich auf die Seite der Mimesis von Reden der práttontes verschoben.

Hier schließlich wirkt ein neuer Aspekt der Mimesis: unter den Bedingungen einer phonozentrischen, alphabetischen Schrift wird die laute Lektüre zum Wiedererkennen und zur Mimesis der von der Schrift notierten Rede. (77) Mit Aristoteles wird die Mimesis zu einer nahezu ausschließlich ästhetischen Kategorie und das mimetische Verhalten zugleich als eine anthropologische Konstante verstanden. (81) Richtig ist, daß Aristoteles am Beispiel der Malerei die Vorstellung entwickelt, daß die Künste Ähnliches und Schöneres abbilden (82) und eine kategoriale Trennung von Wissenschaften und Geschichtsschreibung auf der einen und dem poien auf der anderen Seite durchführt.




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Aristoteles fordert in der Poetik allerdings nicht nur die Verschönerung und Verbesserung des Vorgefundenen im Kunstwerk, welche die begriffliche Ablösung der poetischen Mimesis von anderen Formen der Mimesis befördert, sondern die Konstruktion und Komposition von Texten (vor allem Tragödien) aus vorgefundenem Material (die Verknüpfung der Mythen), welche nun gerade durch die dargestellte Katastrophe und die von ihr ausgelöste Katharsis jenen Grad der Abweichung des Gezeigten vom Eudaimonie-Ideal präsentieren, den jeder Polite, der sich als ein den Protagonisten Ähnlicher ebenso wie dieser verhält, mit katastrophalen Folgen für sich, seinen Oikos und die Polis riskiert (cf. dazu Tomberg 1968, sowie Krüger 1983). Die in der Tragödie dargestellten 'Menschen, die besser sind als wir', zahlen dieses Besser-Sein (im Sinne sozialer Schichtung, die sich auf dem alten Prinzip der 'Bestheit-aretè ' begründet) mit Blindheit oder Uneinsichtigkeit gegenüber den Folgen ihres eigenen Handelns. Sie sind demnach nicht nur besser, sondern zugleich, wenn die von Aristoteles intendierte, politisch-kathartische Wirkung der Tragödie zustandekommen soll, für sich und die Polis auch unheilsstiftend. Insofern ist poetische Mimesis auch bei Aristoteles, trotz ihrer Eigenart gegenüber der Geschichtsschreibung, auch immer Mimesis der Praxis und soll zugleich auf diese zurückwirken. Nur in dieser Dialektik ist auch das Verhältnis angemessen zu verstehen, das bei Aristoteles zwischen dichterischer Wahl des Materials aus vorhandenen Stoffen und dichterischer Fiktion (nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit) besteht. Gerade in diesem Wechselverhältnis wäre die Relation zwischen Sozialem (den von Anderen oder Früheren zur Verfügung gestellten Materialien) und Individuellem (der singulären Komposition und Verwebung der Mythen zu einem zuvor nicht dagewesenen Konstrukt) gut zu erfassen. Intertextualität, Reflexion auf vergangenes, neu zu gestaltendes Material ist somit bereits ein virulentes Thema der Poetik des Aristoteles. So aber verschieben Gebauer und Wulf die Frage der poetischen Mimesis bei Aristoteles zu deutlich in die Richtung des zuvor nicht Dagewesenen und der Idealisierung, welche die Abtrennung der Kunst von der Wirklichkeit befördere: "Mit diesen Überlegungen löst Aristoteles Mimesis endgültig von dem Anspruch, sich auf eine gegebene Wirklichkeit zu beziehen. [...] Der Dichter schafft etwas, das es vorher noch nicht gibt und für das keine Modelle vorliegen. Selbst wenn der Dichter einen historischen Stoff wählt, muß er ihn nach Gesichtspunkten seiner Kunst gestalten und ihn auf ein höheres Niveau bringen, als es im Leben anzutreffen ist." (84)


3. Imitatio als historische Mimesis in Mittelalter und Renaissance, oder die Neuformulierung der Querelle-Problematik

Als einen Kernpunkt der Mimesis-Problematik im nur kurz behandelten Mittelalter (90-108) erkennen Gebauer/Wulf die einsetzende Antiken-Rezeption, welche die antiken Materialien dahingehend verändere, daß sie in das christliche Denken eingepaßt würden, zugleich jedoch langfristig auch das Potential zu einer widerständigen, subjektiven Positionsbestimmung gegen das christliche Denken enthält. Es gelte hier ebenso, was bereits für Platon und Aristoteles gegolten habe und was die Autoren zu Beginn des Renaissance-Kapitels hinsichtlich der zu jeder Zeit sich neu stellenden Frage nach dem niemals vollständig einsehbaren Herkommen des eigenen Wissens formulieren: "Gewiß ist lediglich, daß jeder Mensch und jede Epoche durch mimetische Prozesse geprägt werden, die sich auf bereits Vorhandenes richten, das aufgenommen und verarbeitet wird." (109) Anhand einzelner Fallbeispiele zeichnen Gebauer und Wulf überzeugend Grundprinzipien mittelalterlicher Antiken-Imitatio nach. Das aus verschiedenen antiken und mittelalterlichen Komponenten gefertigte Passionskreuz Ottos III wird dabei zum Modell mittelalterlicher Mimesis erhoben: "Diese Amalgamierung von Zeichen verschiedener Traditionen ist für das Mittelalter charakteristisch." (93)




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Das Ergebnis dieses Verfahrens sind mimetische und gleichermaßen innovative Produkte. (94) Für die literarische imitatio stellen Gebauer/Wulf jedoch erhebliche Unterschiede fest, die aus einer verschiedenen Bewertung der Fähigkeiten des Künstlers herrührten: "So fällt für Dante der Künstler weit hinter die mimetischen Fähigkeiten Gottes zurück; demgegenüber betont, in deutlicher Abgrenzung zu Dante, Boccaccio das überragende mimetische Vermögen des Malers Giotto di Bondone. Nicht Gott, sondern Giotto ist für Boccaccio der Inbegriff des mimetischen Genies." (95) Diese Position greift für das Verständnis Dantes erheblich zu kurz, denn auch Dante sieht in der vorgängigen Praxis anderer Menschen die Modelle für die eigene mimetische Praxis. Zur Entwicklung einer differenzierten Darstellung der Positionen Dantes müßte vor allen Dingen dessen Schrift De vulgari eloquentia unter dem Gesichtspunkt der historischen Mimesis untersucht werden, denn hier erfindet Dante nach dem erkannten Prinzip der altgriechischen koinè die Kriterien für die Konstruktion einer neuen, italienischen Nationalsprache. Antikes Prinzip und gegenwärtiges, regionalsprachliches Material gehen hier in der Konzeption eine Synthese ein. Mimesis in diesem Sinne steht nicht mehr in dem Schatten einer vom Menschen unerreichbaren göttlichen Mimesis, sondern sie ist ein seines eigenen Geschichtsortes bewußtes Verfahren (cf. dazu auch Eco 1993: 41sq.) 10 Der Mensch erfindet hier seine Nationalsprache nach dem ebenfalls von Menschen vorgefertigten und in der Geschichte und kommunikativen Praxis erprobten Verfahren des 'sprachlichen patchworks'. Mithin stehen hier nicht Gott und die Modelle und Produkte seines Schöpfungswerks vor jeder Mimesis, sondern die semiotische Praxis des als soziales Wesen in der Geschichte interagierenden Menschen liefert hier die Vorgabe der eigenen Praxis, ist mithin Gegenstand der Mimesis. Somit kann man auch der allgemeinen Feststellung von Gebauer und Wulf zustimmen, wenn sie schreiben: "Mimesis kann als Reproduktion eines Vorbildes nicht hinlänglich begriffen werden. Vielmehr führt die Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern zu neuen Werken, die aus einer Amalgamierung heterogener Elemente bestehen." (95) Es kommt "im mimetischen Prozeß gerade dadurch zur Hervorbringung von neuen Werken, daß Autor und Künstler etwas zur Darstellung bringen, für das es zwar einen mimetischen Bezug zu einem anderen Werk gibt, ohne daß durch diesen der spezifische Charakter des neuen Werks aber befriedigend erklärt werden könnte." (96) Es entstehe etwas Neues, "das nicht auf die zugrundeliegenden Modelle reduziert werden kann." (96)




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Nach diesen knappen Untersuchungen 'praktischer Mimesis' stellen Gebauer/Wulf die Kunstphilosophie und die politische Theologie des Mittelalters dar, um das zeitgenössische, theoretische Verständnis der Mimesis herauszuarbeiten. Demnach erreicht "die Tätigkeit des Künstlers [...] nie die schöpferische Tätigkeit Gottes; als Kunst bedarf sie stets der Vorgaben der von Gott geschaffenen Natur. Begrenzt wird die Kunst also durch die Geschöpflichkeit und Naturabhängigkeit des menschlichen Künstlers, dessen Werke hinter der unendlichen Kunst und Schöpferkraft Gottes notwendig zurückbleiben." (97) Da die Kunst als Nachahmerin der Natur die materiellen Manifestationen des Geistes Gottes nachahmt, könne sie an der Idee arbeiten, "etwas aus sich heraus [...] schaffen" und über das Sichtbare hinaus die Natur korrigieren und vollenden. Im ganzen entsteht so ein Bild von der mittelalterlichen Kunstphilosophie, nach dem der Mensch grundsätzlich nur im Rahmen der von Gott geschaffenen Welt operieren kann und dem göttlichen Schöpfer gegenüber notwendigerweise in den zweiten Rang zurücktritt. Es wäre jedoch die Frage zu stellen gewesen, inwiefern gerade dieses 'Aus-sich-heraus-Schaffen', die mögliche Korrektur und Verbesserung, d.h. die Überwindung des von der Natur Vorgegebenen, nicht jener Ort im mittelalterlichen Verständnis der Kunstproduktion ist, an dem sich der Mensch seiner eigenen, nicht mehr von Gott abhängigen Leistungsfähigkeit bewußt wird. Die menschliche Partizipation am göttlichen Geist, die sich auch in den Begriffen des Schönen, des Guten, in den Proportionen, der Ganzheit, Klarheit etc. (cf. 99) zeigt, die einem Kunstwerk eigen sind, könnte nichts anderes sein, als die zeitgenössische argumentative Strategie, mit der sich der Mensch nun gerade von der Unterlegenheit gegenüber Gott emanzipiert.

Somit bleibt die ausschließliche Verortung des mittelalterlichen Mimesis-Denkens in den Kontext christlicher Denkformen wenig einsichtig. Entsprechend wird nur der offizielle, religiöse Diskurs rekonstruiert, d.h. die philosophischen Auslassungen über das Verhältnis der Produkte des Menschen zu den Schöpfungen Gottes. Hier tritt ein Widerspruch zutage zwischen den von Gebauer/Wulf bei Bocaccio und Hita identifizierten Tendenzen zur Reflexion über die Andersartigkeit und neue Qualität des durch imitatio zustandegekommenen Werkes und der ausschließlichen Abhängigkeit des Künstlers von den "Vorgaben der von Gott geschaffenen Natur." (97) Anstelle der ausschließlichen Paraphrasen mittelalterlicher Philosophie wünschte man sich deren Neusituierung vor dem Hintergrund weiterer Materialanalysen, welche die praktischen Prinzipien der Mimesis im Mittelalter aufgedeckt hätten. Aufgrund ihrer außerordentlichen Bedeutung wäre eine Auseinandersetzung mit der leider zu kurz, nur illustrativ angesprochenen, mittelalterlichen Architektur (102) angebracht gewesen.

Die Präsenz des immer noch zu wenig beachteten jüdischen (hier vor allem des kabbalistischen) und arabischen Denkens spielt in der Darstellung eine untergeordenete Rolle. Ebenso wird nicht die Möglichkeit wahrgenommen, selbst in christlich sich gebendem Denken Formen einer pensée masquée zu identifizieren, die mit einem vielfach nur noch rhetorischen Bekenntnis zu Gott diese theologisch-philosophische Grundfrage erledigen, um sich den irdischen Dingen, der menschlichen Praxis und den Wahrnehmungsweisen des Menschen zuzuwenden. Es zeigt sich hier ein Grundproblem philosophiegeschichtlicher Periodisierungen, welche die Beantwortung der Frage nach Gott in das Zentrum der Darstellung rücken, während die (beispielsweise bei Ockham, Cusanus und selbst bei Lullus) erheblich bedeutendere und größeren Raum einnehmende Frage nach den Grundlagen menschlich-irdischer Praxis, nur wenig Berücksichtigung findet.




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Hier zeigt sich in der Darstellung von Gebauer/Wulf als Mangel, daß die in den letzten Jahren vor allem von der Kunsttheorie (Cf. p.ex. Pochat 1986: 218sq., Jäger 1990). intensiver rezipierte Philosophie von Nikolaus Cusanus nur unter dem Gesichtspunkt ihres platonischen Gedankenguts berücksichtigt worden ist, ohne daß die Spezifik und die Funktion des neu-platonischen Denkens im 15. Jahrhundert erfaßt würde. (98) Im Konzept des alter deus und seiner semiotischen Folgen im Denken von Cusanus ist jedoch ein außerordentlich fruchtbares Mimesis-Konzept enthalten, welches über die imitatio dei hinausreicht (so in De Beryllio) und nicht die 'objektive Realität' und die Ideen des deus absconditus sondern die vom Menschen durchgeführte, zeichenhafte Simulation der Sinneseindrücke als die einzige dem Menschen verfügbare Form des Weltverständnisses untersucht (cf. p.ex. Cusanus 1966: 702).11 Ohne auf Cusanus einzugehen, hat bereits John Deely darauf hingewiesen, daß wir die seit dem 18. Jahrhundert aufgebauten, metaphysischen Konflikte hinter uns lassen könnten, wenn wir die Semiotik und Zeichentheorie aus der Zeit zwischen dem 12. und dem 17. Jahrhundert genauer untersuchten und diese in ihrer anders gearteten Konfiguration des Denkens anerkennten (Deely 1986).

 

Im Abschnitt über die Renaissance – hier bis an das Ende des 17. Jahrhundert gefaßt – nehmen Gebauer/Wulf die Frage der Antiken-Rezeption wieder auf, formulieren diese im Kontext der Intertextualitätstheorie als Frage der Mimesis um und stellen – so wie es Forschungskonsens ist – eine Opposition von antiqui und moderni fest, wobei sich die letzteren, insbesondere vertreten durch experimentalwissenschaftlich-praktisch orientierte Kräfte sukzessive von dem tradierten Wissen der Antike entfernen und damit implizit die Mimesis-Frage anders positionieren. (109sq.) Ist dies in Grundzügen auch zutreffend, so führt die – auch in der literatur – und geistesgeschichtlichen Realität des 15. bis 17. Jahrhunderts präsente – polemische Zuspitzung des Konflikts auf antiqui und moderni zu groben Verzeichnungen, welche die binnendifferenzierte Sicht der einzelnen Parteien, ihrer zum Teil fließenden Übergänge (cf. 155) kaum noch gestattet und das Etikett bereits für die Wirklichkeit der historischen Konstellation nimmt. Daß dies insbesondere für die französische Querelle des Anciens et des Modernes (cf. 150-155, sowie 160sq.) nicht zutrifft, ist inzwischen einschlägig untersucht. Vor dem Hintergrund der politischen, philosophischen und religiösen Konstellation der Regierungszeit von Louis XIV sind gerade die anciens die Vertreter der ästhetischen, staatlichen und politischen Modernität, während die christlichen modernes, gestützt auf das Argument des nie gekannten Höhenflugs der Geschichte unter Louis XIV, gerade die Vertreter der reaktionärsten Gesellschaftsmodelle und der ästhetisch minderwertigsten Kunst und Literatur werden können. Daß hier jedoch auch politische Reaktion und humanistische Ästhetik (p.ex. Claude Fleury), traditionelle humanistische Gelehrsamkeit und dezidiert a-religiöser, ästhetischer Modernismus, der dem l'art pour l'art präludiert (p.ex. René Rapin), an der Antike geschulte Materialästhetik und proabsolutistischer, politischer Fortschritt (p.ex. Nicolas Boileau), politisch konservative Positionen und immer noch aus neu-platonischen Traditionen gespeiste Kunstmoderne (p.ex. La Fontaine) etc. etc. unter einem Etikett wie anciens sich ein Stelldichein geben können, sind historische Sachverhalte, an denen die übliche Konstellation von antiqui et moderni wenigstens in Frankreich zu überprüfen wäre. Ähnliches gilt übrigens auch für die modernes aus der Zeit von Louis XIV, denn es führt kaum ein Weg von dem alternden Desmarets de Saint-Sorlin zu dem von ihm eingesetzten geistigen Nachlaßverwalter Charles Perrault, und erst recht nicht zu den von Boileau allerdings wegen ihrer Heldengedichte geschmähten Saint-Amant, Pierre Le Moine oder Carel de Sainte-Garde.




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Fehlen in der Darstellung von Gebauer und Wulf auch historisch spezifizierte Differenzierungen, so betonen sie doch, daß in der historischen Selbstwahrnehmung des Konflikts zwischen antiqui et moderni sich die Fronten auch immer wieder umgekehrt haben, wenn beispielsweise Giordano Bruno – hier allerdings ganz konsequent aus der Tradition des Neuplatonismus, der sapientia veterorum und der prisca sapientia kommend, worauf Gebauer/Wulf nicht hinweisen – der Meinung ist, daß die Modernen eigentlich die Alten seien, weil sie auf den Anfängen der Kultur aufbauten. (119) Diese Anfänge der Kultur sind nicht identisch mit dem, was üblicherweise von den Positionen der der Antiken-Rezeption in der Renaissance bekannt ist. Sie reichen in der Vorstellung der Renaissancephilosophen seit Ficino und Pico della Mirandola weit zurück über die mystischen Metaphern bei Platon, die orphische Mystik, die Ideologie der Pythagoräer, das, was von der ägyptischen Kultur bekannt ist bis hin zu Zarathustra (einschließlich seinem alttestamentarischen Pendant Moses). Es handelt sich hierbei um Kenntnisse, die über Traditionen des spätantiken Synkretismus seit dem ausgehenden Quattrocento präsent sind (Cf. p.ex. Seznec 1935, Seznec 1990, Wind 1984).

Ein Ort, an dem der Konflikt zwischen antiqui et moderni auch ausgefochten wird, sind die Poetiken des Cinquecento, die in dem Spannungsfeld von antiken Poetik-Mustern (Aristoteles und Horaz) und den in der Antike nicht beschriebenen und theoretisch erörterten Formen sowie den in der Renaissance überlebenden nachantiken Gattungen verfaßt worden sind. (115sq.) Die Positionen hinsichtlich der Mimesis bestünden jedoch darin, die Dichtkunst darauf zu verpflichten, "Ähnlichkeiten zum Leben zu schaffen." (114) Die außerordentliche Bedeutung der neuplatonisch beeinflußten Phantasia-Theorien in dieser Zeit (cf. p.ex. die wenig beachtete, grundlegende Darstellung von Klaniczay 1977, bes. 134-211.), die womöglich als Wahrnehmungstheorien gelesen werden müßten (zur Bedeutung und poetischen Funktion inszenierter Wahrnehmung, beispielsweise in den Novelas ejemplares von Cervantes cf. Schmauser 1996), hätte hier als Korrektiv gegen literaturgeschichtliches Handbuchwissen über den poetologischen Diskurs in die Waagschale geworfen werden können. Das, wie Galileo Galilei in seiner Kritik feststellt, dem Leben ganz unähnliche, weil nicht baubare Zauberschloß der Armida aus Tassos Gerusalemme liberata ebenso wie die Romane von Rabelais, die Faerie Queene von Spencer, der Don Quijote etc. etc. sind mit dem einfachen Hinweis auf die poetologische Forderung nach "Ähnlichkeiten zum Leben" nicht erklärbar. Entweder es handelt sich bei diesen Texten nur partiell um mimetische Texte, wobei der nicht-mimetische Aspekt dieser Texte durch Instanzen gestiftet sein muß, die mit der conditio humana nichts zu tun haben, oder aber der Mimesis-Begriff muß auch für die Renaissance – einschließlich des 'Manierismus' und des 'Barock' – so erweitert gefaßt werden, daß die Mimesis nicht nur der Lebenspraxis in ihren sinnfälligen Aspekten gilt, sondern offensichtlich auch in der Rezeption transformierten und transponierten literarischen Mustern (cf. auch die Ausführungen 128sq.) und Vorstellungsbildern, die nicht notwendigerweise als "Ähnlichkeiten zum Leben" komponiert sein müssen.




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Gebauer und Wulf weisen jedoch selbst darauf hin, daß die Mimesis literarischer Traditionen (Stichwort: Intertextualität) ein äußerst kreativer Prozeß sein kann: "Die Ergebnisse der sich auf die Mimesis der Antike bzw. der Natur berufenden Literatur und Kunst rechtfertigen diese Einschätzung. So führt die Mimesis antiker Vorbilder durchaus zu Werken, deren Vorlagen kaum mehr identifizierbar sind." (129.)

Es stellt sich somit zum einen die Frage, auf welchem Wege diese Transformationen bis zur Unkenntlichkeit des Ausgangsmaterials stattfinden können und welche Instanzen diese Transformationen bewirken bzw. gestatten. Sicherlich kann dies allein durch den sonst richtigen Hinweis auf die anderen Lebenserfahrungen, welche in die neue Gestaltung eingehen (129), nicht ausreichend erklärt werden. Vielmehr müßte auch gefragt werden, aufgrund welcher Erfahrungen die Phantasie mitunter die vorhandenen und die empfangenen Sinneseindrücke so verarbeiten kann, daß sie Dinge erzeugt, welche dem Leben ganz unähnlich sind. Die zweite Frage, die sich hier anschließt, betrifft eine methodische Konsequenz für die Literaturwissenschaft: Um den Prozeß literarischer Produktion zu verstehen, kann es demnach nicht mehr nur darum gehen, die verwendeten Materialien zu identifizieren, um es damit sein Bewenden haben zu lassen, sondern es müssen vor dem Hintergrund der identifizierten alten Materialien und ihrer Strukturen die neu hinzugekommenen Aspekte, Kombinatoriken und Kompositionsverfahren benannt und in ihrer Konstitution und Funktion bestimmt werden. Somit müssen gleichermaßen das übernommene, transformierte, negierte oder auch ausgelöschte Material ebenso wie das hinzugekommene Neue untersucht werden. Weder die ausschließliche Konzentration des Blicks auf die Präsenz der alten Materialien noch die Suche nach dem 'Bruch mit den Traditionen' werden vor dem Hintergrund der von Gebauer und Wulf, jetzt aus der Mimesis-Perspektive formulierten Intertextualitätsproblematik auch nur irgendeinem Text gerecht. Dies gilt für Zeiten der beschleunigten Kunstinnovation ebenso wie für Phasen vergleichsweise repetitiver Kunstproduktion. Es kann zur Illustration nur noch einmal darauf hingewiesen werden, daß eine so scheinbar radikal innovative Kunst wie die eines Marcel Duchamp mit dem ready-made zugleich auf eine äußerst demonstrative Weise den Sachverhalt vorführt, daß in jedem Kunstwerk immmer auch bereits von anderen produziertes, existierendes Material präsent ist.

Erscheinungen dieser Art verstehen Gebauer/Wulf als "diachrone bzw. synchrone mimetische Prozesse" (130), welche die Rezeption, die Rezeptionsweise und den Vorgang der Interpretation und Neugestaltung vorhandenen Materials umfassen. Hier greifen Mimesis und Hermeneutik ineinander. Am Beispiel der Adagia von Erasmus stellen Gebauer/Wulf das Verhältnis von Vielheit der Interpretationen sprichwortartiger Sentenzen, der Erweiterung des Leserkreises und der damit einhergehenden Erhöhung der Zahl der Interpretationen dar. Gerade die eine Vielzahl von Interpretationen fordernde, knappe Form sei es nun, welche die zunächst in der Tradition der Bibelexegese unbestrittene Eindeutigkeit des Textes in Frage stelle. (132sq.)




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Zutreffend weisen Gebauer/Wulf dabei auf den 'gemmenartigen' Charakter der Adagia hin, doch ihre Vorstellung vom Hieroglyphischen der Adagia entstammt eher einem modernen, metaphorischen Gebrauch des Begriffs der Hieroglyphe als der zeitgenössischen Begrifflichkeit. Hier erschöpft sich die Hieroglyphe nicht in einer Unendlichkeit von möglichen Interpretationen, sondern die Polysemie der Hieroglyphe – hier gilt als Modell valabler Hieroglyphen-Lektüren die Hieroglyphica von Horapollo – beschränkt sich in der Regel auf zwei bis drei Deutungen, über die es nur in seltenen Fällen hinausgeht. Mustergültig wird dieses Modell der Dialektik von Vielheit und Endlichkeit der Interpretationen in der Hieroglyphica von Pierio Valeriano (1552) eingelöst und zum praktischen Leitfaden der Präsentation von Symbolen, Hieroglyphen und sogar Buchstaben genommen. Insofern kann auch bei der Deutung eines Adagiums oder eines Symbols nicht von der Reduktion seines hieroglyphischen Charakters gesprochen werden (131), sondern im Gegenteil: sein hieroglyphischer Charakter – jedenfalls im Verständnis des 16. Jahrhunderts – erhellt geradezu aus der Möglichkeit einer großen aber endlichen Zahl von Interpretationen (cf. dazu Krüger 1998). Die Endlichkeit bestimmt sich dabei nicht etwa durch eine mathematische Operation, sondern durch die Verfügbarkeit der antiken wie modernen Quellen (Traumbücher, Poesie, Erzählungen, Traktate zur ars memorandi etc.), in denen ein Symbol, Sprichwort oder eine ähnlich hieroglyphische Kurzform vorkommt.

Kehren wir zurück zu Gebauer/Wulf: Während Erasmus noch mit der Vielheit der Interpretationen die Monosemie des Textes in Frage stelle, werde der Leser von Montaigne an der Erschaffung des Textes beteiligt. (134) Eine wichtige Strategie von Montaigne bestehe darin, die angeeigneten Materialien nicht mehr als Zitate zu kennzeichnen, sondern derart in seine Texte einzuweben und deren Spuren verschwinden zu lassen, daß an den Leser die Forderung einer ganz anderen Kompetenz gestellt werde. "Montaigne treibt den mimetischen Umgang mit Texten, Bildern und Materialien weiter. Er zitiert falsch, verkleidet seine Zitate, so daß sie in einer anderen als der ursprünglichen Form und Bedeutung erscheinen." (Ib.) Der Text bei Montaigne wird schließlich zum Medium, in dem sich Montaigne selbst verstehen will und als sich unablässig Anderer und Verändernder präsentiert. (135) Dadurch wird aber auch der Leser nicht mehr an ein referentielles Subjekt des Textes verwiesen, sondern zu einem Leser, der sich als den Text mimetisierender (d.h. interpretierender) Leser selbst aus den disparaten Bezugspunkten des Montaigneschen Textes zu konstituieren hat. (139. Zur Konstruktion des Lesers durch den Text cf. auch Eco 1994: 18sq.) Der disparate Text wird somit zur Selbst-Mimesis (Selbstreferentialität, 136) des Denkens eines moi en mouvement, zu einem Konstrukt, das kein stabiles auktoriales Subjekt kennt. Da Wirklichkeit nur als im Inneren des Wahrnehmenden präsente erkannt werden kann, Montaigne führt dies mit seinem Verfahren des 'In-sich-Kreisens' vor, kann es keinen Weg der Unmittelbarkeit geben: "Es gibt keinen unmittelbar erkennenden Zugang zu den Dingen. Zwischen den Objekten und dem Menschen stehen Sprache, Wahrnehmung und Imagination." (137) Und genau dies wäre ausdrücklich zu unterstreichen: Sprache, Wahrnehmung und Imagination stehen nicht zwischen den Menschen und den Objekten, sondern sind die Formen, in denen die Objekte im Menschen überhaupt präsent sind, denn der Mensch kann als Mensch nicht außerhalb der Sprache, Wahrnehmung und Imagination gedacht und als zunächst sprach-, wahrnehmungs- und imaginationsloser Organismus den Objekten gegenübergestellt werden.




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4. Mimesis als Inszenierung des frühmodernen und absolutistischen Staates

Wenn auch der Feststellung zuzustimmen ist, daß unter Louis XIV die "Entfaltung der Subjektivität in der künstlerischen Mimesis [sich] in das Projekt des absolutistischen Staates [integriert]" (147), so steht doch der von Gebauer/Wulf postulierte, radikale Unterschied zwischen Renaissance (hier als das 16. Jahrhundert verstanden) und dem Zeitalter des Absolutismus insofern in Frage, als auch seit dem 15. Jahrhundert durch Mäzenatentum, Akademiegründungen etc. die kreativen Kräfte nicht weniger in die Inszenierung der politischen Macht eingebaut werden, als dies im 17. Jahrhundert der Fall ist. Daß Frankreich nur als besonders bedeutendes Beispiel dieses Vorgangs angesehen werden kann, liegt zum einen daran, daß sich dieser Prozeß hier, im Gegensatz zu Italien, in dem politischen Rahmen eines großflächigen Nationalstaates vollzieht. Zweitens ist dieser Prozeß in Frankreich nach der Preisgabe der von Richelieu eingeführten Politik der kulturellen Hegemonie der Krone (cf. dazu Krüger 1996) durch den in dieser Frage vollkommen inkompetenten Mazarin besonders beeindruckend. Dies vor allem deshalb, weil durch den kulturellen Zentralisierungs- und Hegemonieschub unter Colbert und Louis XIV die Vielzahl der seit dem Tode Richelieus in feudale Kulturhegemonien eingebundenen Kräfte – nicht ohne Widerstände (p.ex. La Fontaine, zunächst auch Boileau, einige Privatakademien) – neu um das staatliche Zentrum versammelt werden. Somit gilt nicht nur für Frankreich, sondern auch für andere Prozesse kultureller Hegemoniebildung: "Im französischen Absolutismus hat Mimesis eine konstruktive Funktion; sie erzeugt eine Welt der politischen Ästhetik. Die wichtigsten Künste dieses Zeitalters sind das Theater und die Architektur." (147) Man kann noch hinzufügen: das Epos, das in der unheroischen Welt des Absolutismus – im Gegensatz zur heroischen Zeit der nationalstaatlichen Einigungsbewegung – die als politische Forderung erzeugte Fiktion eines kriegerischen Heldendaseins des Königs konstruiert und an diesem Anachronismus zugrundegeht (cf. Krüger 1986). Die politisch-ästhetischen Konflikte, die sich innerhalb der in die kulturelle Hegemonie der Krone eingebundenen Kräfte abgespielt haben, bleiben in der Darstellung jedoch ohne weitere Erörterung (cf. 152sq.). Gegen diese repräsentative Symbolproduktion setzten sich, so Gebauer/Wulf, auch Kräfte zur Wehr, welche an die Stelle des Einsatzes der Mimesis zur Produktion von absolutistischen Repräsentationen die wissenschaftlichen Methoden (Descartes) oder die Fiktionen von Romanwelten setzten. (148)

Bei der Darstellung der Entwicklung im Frankreich des 17. Jahrhunderts kann nach Gebauer/Wulf festgehalten werden, daß eine Vergößerung des Abstandes zwischen normgleichen Poetiken und antiken Vorbildern auf der einen und den neuzeitlichen Kunstwerken auf der anderen Seite von den zeitgenössischen Kritikern festgestellt wurde. Dieser Sachverhalt zeige an, daß Mimesis, insbesondere bei den modernes, immer deutlicher eine "Veränderung des Vor-Bildes durch den Autor, Künstler oder Leser" (155) implizierte.




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Ein grundsätzliches Mißverständnis, welches offensichtlich der Vorgabe geschuldet ist, die Tendenzen zur Autonomisierung der Kunst im 18. Jahrhundert in ihrer Präfiguration zu zeigen, betrifft nun die Darstellung der Funktionsweisen des klassischen französischen Theaters: "In den Tragödien der französischen Klassik wird das Tragische vom Alltäglichen und von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entschieden getrennt." (157) Mag es auch sein, daß das Alltägliche als das dem Leben abgeschaute Partikular-Anekdotische nicht präsent (siehe dagegen aber Corneilles La bague de l'oubli oder La Place royale) ist, so ist nun gerade in der Tragödie, wie in der Komödie auch, die gesellschaftliche Wirklichkeit insofern präsent, als mit den trois unités, allen voran der Einheit des Ortes eine grundsätzliche Dialektik der französischen Gesellschaftsentwicklung seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert auf der symbolischen Ebene der theatralischen Repräsentation durchdacht und vorgeführt wird: Die in mehreren Schüben unter Henri IV, dann unter Richelieu und schließlich unter Louis XIV stattfindende Konzentration der hocharistokratischen Kräfte am Hof, welche den beständig drohenden Verfall Frankreichs in bürgerkriegsartigen Konflikten verhindern sollte und zugleich die allgemeinen Bedingungen eines stabilisierten Staatswesens schaffen sollte, in dessen Rahmen sich die merkantile Expansion vollziehen konnte. Das Räumlich-Statische der Racineschen Tragödien ist somit kein Verlust an gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern gerade im Gegenteil die für die Darstellung des Aristokraten erforderliche, formale Konsequenz aus einer von Racine seit Anbeginn seiner Tragödienproduktion (cf. seine Epitre au Roi zu Alexandre le Grand, 1660) genauestens beobachteten Dialektik des Raumes und der Bewegung unter den Bedingungen der beiden staatstragenden Bewegungen von höfischer Konzentration und merkantiler Expansion (cf. dazu Nerlich 1977, II: 399sq.).

Die These von dem Verlust an gesellschaftlicher Wirklichkeit wird nun umstandslos auf die Komödien Molières übertragen und die Texte ausschließlich aus moralistischer Sicht betrachtet: "Molières Kritik bezieht sich weniger auf die gesellschaftlichen Bedingungen der verschiedenen Schichten; das Verhalten der Menschen wird unter moralischer Allgemeinheit beurteilt." (159) Zwar ist es richtig, daß das Ideal des honnête-homme in seiner spezifischen Ausformulierung der 1660er Jahre zu einem Kriterium der Beurteilung von Lebenspraxis wird, doch werden in Molières Komödien nicht generell die bürgerlichen Lebensverhältnisse karikiert (158), sondern nur jene arrierierten Segmente des zeitgenössischen bürgerlichen Habitus (Thesaurierung, Wucher, religiöse Verblendung, Nobilitierung als Karrierestrategie) der Lächerlichkeit und Kritik preisgegeben, welche den neuen merkantilen und fernhändlerischen Orientierungen Colberts widersprechen. Die Darstellungsmittel Molières variieren dabei so, wie es der Gegenstand der Mimesis erfordert. Genaueste Regelkenntnis gestattet ihm einen präzisen Einsatz des Regelverstoßes, um mit dem Code der dramatischen Formen bestimmte Kräfte – beispielsweise den Dom Juan – als außerhalb des räsonnablen und damit politisch akzeptablen Verhaltens sich bewegend zu kennzeichnen. Gebauer und Wulf fassen diese Möglichkeit einer Lektüre Molières nicht ins Auge, womit bestimmte Aspekte der der mimetischen Verfahren bei der Rekonstruktion der Mimesis zu der Zeit von Louis XIV unberücksichtigt bleiben. Sie unterstreichen hingegen einen anderen Aspekt, der langfristig für die ästhetische Debatte und das moderne Regelverständnis von Bedeutung sein wird: wie schon im Falle des Cid von Corneille (152sq.) 12 wird auch der virtuose Umgang mit den Regeln – einschließlich ihrer Preisgabe – bei Molière zu einer artistischen Vorgabe, welche einer anderen Ästhetik präludiert bzw. von dieser als solche verstanden werden wird: "Indem Molière gegen bestimmte als gültig angesehene Regeln des Schauspiels verstößt, entfaltet sich seine Genialität." (159) Es ist de facto die spätere Genie-Ästhetik, die sich neben dem Cid auch auf Molière berufen kann, ein Aspekt, der in der zeitgenössischen Molière-Rezeption trotz vereinzelter Kritiken praktisch noch keine Rolle spielt. Die ästhetische Würdigung der Regellosigkeit und der innovativen Qualitäten des Cid ist erst eine Angelegenheit der 1680er Jahre, und zwar zunächst bei Fontenelle.




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Eine bemerkenswerte Interpretation des kritischen Umgangs mit den Repräsentationen in der Zeit des Absolutismus finden wir aus Anlaß der Romane Madame de Lafayettes (192sq.), die faktisch als eine frühe Form von Medienkritik und mediatisierter Wahrnehmung im Absolutismus verstanden werden. Die Protagonisten werden als mediatisiert wahrnehmende vorgestellt, die im Zweifelsfall nur noch die Bilder, nicht aber mehr die Personen selbst lieben und darauf verzichten, sich aus der Erfahrung mit ihnen, eigene, neue Bilder herzustellen. Das massive Dazwischentreten von gesellschaftlich erzeugten Repräsentationen, in modernen Kategorien gesprochen: die soziale Bilderflut des absolutistischen Staates reduziert – so unhintergehbar wie der Prozeß der sozialen Konstitution des Bildmaterials als solcher auch sein mag – die Möglichkeiten zu einer variationsreichen, d.h. individuelleren Wahrnehmung und Bildproduktion. Entsprechend nehmen sich die Romanfiguren gegenseitig nur in Szenen als Bilder wahr und erkennen einander nicht. Die Bilder führen nicht zu der anderen Person, sondern in den Irrtum und die Mehrdeutigkeit der im Bild eingefaßten Gesten, Handlungen etc. (194) "Das Handeln ist in mimetischen Ketten organisiert und erzeugt eine innere Welt, die nie den Status des Wirklichen zu erreichen vermag. Wirklich sind nur die äußeren Zeichen, die Bewegungen des Inneren ausdrücken." (195) Hier ist die narrative Inszenierung einer Subjekt-Objekt-Spaltung angezeigt, welche mit einer erfahrenen Spaltung von innerer und äußerer Welt einhergeht. Die Beziehungen zwischen beiden ist demnach semiotisch bestimmbar, es kommt jedoch auf die Kenntnis des Codes an. Gebauer und Wulf weisen auf den Hintergrund der rationalistischen Philosophie bei Mme de Lafayette hin, berücksichtigen jedoch nicht die einschlägige Untersuchung von Erich Köhler (Köhler 1959), in der nachgewiesen wird, wie Mme de Lafayette das Interpretationsproblem von äußeren Zeichen und psychischer Welt mit der cartesianischen Lehre (cf. auch 204sq.) von den passions de l'âme auf eine neue Grundlage zu stellen und textlich zu inszenieren versucht. Damit nutzt sie erneut, ein – vielleicht gültigeres, jedoch auch nur vorläufiges – System zur narrativen Modellierung und Erklärung erfahrener Wirklichkeit und wendet es für die Konstruiktion des Bildes von den psychischen Befindlichkeiten ihrer Erzählgestalten an (Krüger 1986: 166sq.). Mimesis wird auf diesem Wege nicht überwunden, sondern nur in einem neuen, diesmal nicht mehr preziös-liebeskasuistischen, sondern zu artistischen Zwecken eingesetzten, philosophisch-rationalistischen Modell aufgehoben und fortgesetzt (cf. dagegen 203). Auch die rationalistische Modellierung von Weltverhältnissen stellt den mimetischen Charakter einer jeden, auch philosophisch begründeten Modellbildung nicht in Frage. In diesem Verfahren kann also keine Präfiguration der einer nicht mehr mimetischen, autonom gesetzten Kunst im 18. Jahrhundert erkannt werden. Auch für das artistisch-schöpferische Subjekt, als welches sich Mme de Lafayette mit ihrer Erfindung einer cartesianischen Neumodellierung des narrativ vorgeführten Seelenhaushaltes zeigt, bleibt Mimesis eine unhintergehbare Vorgabe der conditio humana.


5. Die Illusion des schöpferischen Subjekts: das 18. Jahrhundert in avantgardistischer Apotheose

Das 18. Jahrhundert stellt nach Gebauer/Wulf die Zeitspanne dar, in der sich zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Autonomie des Kunstwerks, die Authentizität des Schreibens und das aus seiner Innerlichkeit schöpfende Subjekt konstituieren (427sq.). Kulminationspunkt dieser Entwicklung ist Jean-Jacques Rousseau; seine Leistung bestand darin, "das erste große Modell der Subjektivität und Selbst-Mimesis entworfen" zu haben, "das moderne Individuum" zu verwirklichen und dem Individuum seine eigene Sphäre geschaffen zu haben, in der es sich voll und authentisch entfalten kann. Rousseau schuf sich seinen inneren, ihm eigenen Bereich, "in den öffentliche Macht nicht hineinreicht" (285). Er lieferte "das Textmodell des authentischen Aufschreibens" (284). Er kehre sein Innerstes nach außen und schaffe dadurch eine fiktionale Welt, die eine "Art höhere Wirklichkeit" darstelle (289). Gesellschaft sei ihm stets als "repressive Gewalt", die das "intime Selbst" zerstörerisch unterdrücke, erschienen (291).




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Rousseau stellt für die Autoren einen besonderen Typus Autor dar, der sozialem Druck widersteht, Gegendruck erzeugt, gegen herrschende symbolische Macht antritt und ein neues "Kodifizierungssystem" hervorbringt (13), mit dem er die symbolische Macht herausfordert. Diese Autoren gehören der Bewegung des "erfolgreichen Gegendrucks" an, die ein "selbst-autorisiertes Schreiben" herausbilden, die sich gegen das "establishment" im weitesten Sinne wenden. "In der Geschichte der Mimesis spielen die Autoren, die mit Hilfe des Mediums eine eigene Welt erzeugen, eine zunehmend wichtigere Rolle" (26). Als Gegenzug dazu stellt er den affirmativen Autor, der keine 'eigene' Schreibweise in dem Sinne entwickelt, daß sie sich gegen den mainstream ihrer Epoche wendet. Die Genieästhetik, die von den Autoren hier zur bipolaren Kategorienbildung herangezogen wird, weist ihr Konzept als idealistische Denkart aus, die den genialen Autor offensichtlich außerhalb der sozialen Mimesis stellt und "höhere Wirklichkeiten" erzeugen läßt. Diese "schöpferischen Subjekte" sind "moderne" Personen "mit einer Genese, ein einmaliges Individuum" (218). Diese gottähnlichen Autoren besitzen durch ihren authentischen Diskurs soviel an "Wahrheitspotential" im Sinne einer Kritik der bestehenden repressiven Verhältnisse, daß sie auch das Verhältnis Autor-Leser determinieren: "Beim Lesen muß man einige Gemeinsamkeiten mit dem Autor teilen, die nicht notwendig die Bedeutungsinterpretation des Textes einschließen. Jede korrekte semantische Interpretation hat ein Lesen des Textes zur Voraussetzung, und zwar ein Lesen, das dem des Autors entspricht" (277). Sicherlich hätte Schleiermacher an dieser Machtfülle des schöpferischen Autorenwortes seine Freude, da es seiner homologischen Hermeneutik, die von ähnlichen Prämissen ausgeht, entspricht. Das säkularisiert-religiöse Bild eines Autors, dessen Wort der Leser richtig verstehen muß entmündigt den Leser und verkehrt die horizontale Beziehung zwischen Leser und Autor, die sicherlich auch die strukturelle Mimesis einer demokratischen Kommunikationsgesellschaft darstellt, in eine vertikale Beziehung, die rezeptions- und wirkungsästhetische Fragen völlig negiert und die produktionsästhetische Mächtigkeit postuliert, ohne den temporalen und kontextuellen Hiatus von Produktion und Rezeption zu reflektieren. Aber auch für den Autor halten Gebauer/Wulf Rezepte bereit, damit diese einseitige Kommunikation auch gelingt: "Der Leser muß das Geschriebene verstehen können; Sprache und Darstellungsweise müssen so gewählt werden, daß er das Wesentliche begreifen kann" (276). Kurz gesagt: ein Autor muß "richtig" schreiben, damit der Leser ihn "semantisch korrekt" verstehen kann.




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In Rousseau sehen beide dieses Ideal verwirklicht. Die Fiktion eines bürgerlichen Individuums wird in ihn hineinprojiziert, eine Fiktion, die spätestens seit Freud, Mach und Simmel, man könnte auch Rabelais und Montaigne anführen, d.h. zu jeder Zeit, in der man kritisch über den Menschen nachdachte, obsolet ist, da das "Ich" gar nicht "Herr seiner selbst sein" kann, da es Teil eines komplexen Beziehungs- und Wahrnehmungsgeflechts ist, das von komplexen zeitlichen und räumlichen Ungleichzeitig-/-räumlichkeiten durchzogen wird, in dem der einzelne Mensch nur anhand dieses Beziehungsnetzes, nie aber als Entität beschrieben werden kann. Gerade bei Rousseau liegt dies auf der Hand. Die Entäußerung, die in den Confessions und den Rêveries stattfindet, ist sicherlich auch ein Rückzugsgefecht eines sich einerseits stets mißverstanden fühlenden, andererseits auch tatsächlich mißverstandenen Autors. Revolutionäres Pathos oder avantgardistischer Formwille, wie es Gebauer/Wulf identifizieren, liegen Rousseau jedoch völlig fern. Auch eine "rousseauistische Utopie einer sozialen Transparenz" (257) ist in seinem Werk nicht zu erkennen: die soziale Idylle von Clarens stellt nicht das "autonome Selbst" dar (229), auch kein bürgerliches Identifikationsmodell, sondern entspricht eher der Mentatilität des Landadels; auch die Erziehung Emiles und Julies bietet kein positives Modell eines autonomen bürgerlichen Subjekts. Es ist immer auch ein Kampf gegen die sexuelle Leidenschaft, die nach Rousseau den Menschen ins Verderben reißt. Emiles Erziehung ist keine Erziehung zur Freiheit, ihm werden die inneren Beweggründe seiner Erziehung nie bewußt. Völlige Unterordnung soll unter dem Deckmantel völliger Freiheit die ideale Erziehung gewährleisten; authentisch ist daran gar nichts, auch keine neue Innerlichkeit, es ist einfach nur pervertierte Machtstrategie eines Erziehers, der ohnehin schon weiß, daß er seinen Prinzipien nie gerecht werden wird: "Le pauvre enfant qui ne sait rien, qui ne peut rien, qui ne connaît rien, n'est-il pas à votre merci? Ne disposez-vous pas, par rapport à lui, de tout ce qui l'environne? N'êtes-vous pas le maître de l'affecter comme il vous plaît? Ses travaux, ses jeux, ses plaisirs, ses peines, tout n'est-il pas dans vos mains sans qu'il le sache? Sans doute il ne doit faire que ce qu'il veut; mais il ne doit vouloir que ce que vous voulez qu'il fasse; il ne doit pas faire un pas que vous ne l'ayez prévu; il ne doit pas ouvrir la bouche que vous ne sachiez ce qu'il va dire." (Rousseau 1966: 150.)

Nicht Freiheit und autonomes Subjekt sondern völlige Entfremdung und Negierung des anderen sind hier mimetische Modelle, nach denen fiktionale Beziehungen aufgebaut werden. Rousseau wollte nie Entfaltung sondern stets nur Verhinderung, Bremsung, Aufhalten der unabweisbaren, allgemeinen "décadence". Verfall der Sitten, Verfall der Moral, Verfall der Religion, Verfall der politischen Einheiten; nur in kleinen Ländern mit historisch gesehen noch nicht so weit entwickelten Produktivkräften wie beispielsweise in Korsika, war für ihn eine demokratisch-republikanische Gesellschaftsform denkbar. Für Frankreich war dieser Zustand nicht wiederherstellbar; der Gesellschaftsvertrag stellt einen ethischen Zwangspakt dar, der keine "autonomen Subjekte" entstehen läßt, sondern aus dem Hobbesschen Menschenbild die Konsequenz zieht, daß die forces propres des Menschen nicht für jeden einzelnen produktiv genutzt werden könnten, sondern durch alle begrenzt werden müßten, damit sie nicht wieder in ihrer Wildheit ausbrächen; als religiöse Klammer muß daher noch eine religion civile formuliert werden. Diese ethischen Zwangsdogmen entspringen nicht einer religiösen Gemeinschaft im herkömmlichen Sinne, aber der Staat hat das Recht, jeden, der sich nicht daran hält, aus der Gemeinschaft auszuschließen: "Sans pouvoir obliger personne à les croire, il peut bannir de l'Etat quiconque ne les croit pas." (Rousseau 1964, livre. IV, chapitre 8) Die "Utopie sozialer Transparenz" fordert bei Rousseau einen hohen Preis.




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Starobinski führt dies auf die Kommunikationsunfähigkeit Rousseaus zurück; auch die Entäußerung und Beschreibung des Inneren der Confessions sind in letzter Konsequenz eher aus diesem Problem heraus verstehbar: die Zeichen der Welt werden für Rousseau nicht lesbar, Zeichen führen ihn nicht zu den anderen, sondern stets nur in narzißtischer Art und Weise zu sich selbst zurück, so daß diese "Selbst-Mimesis" eigentlich eher eine Selbstinszenierung eines Menschen ist, der etwas anderes sein möchte als der Durchschnittsbürger, eine Art zweiter Moses, ein erleuchteter Seher. Auch Jean-Paul Sartre kannte diese Anwandlungen, die Passagen aus Les mots sind bekannt. Starobinski schreibt dazu: "le moi devient magiquement l'esclave de son propre reflet" (Starobinski 1971: 200.) Rousseau schafft daraus den "mythe personnel" (Starobinski 1971: 414.) des schöpferischen Subjekts, des Sehers, der eine ganze Generation nach Rousseau faszinieren wird - man denke nur beispielsweise an Bernardin de Saint-Pierre oder an Hölderlin. Rousseau beschreibt diese Erleuchteten im Vorwort seines Theaterstückes Narcisse ou l'amant de lui-même: "J'avoue qu'il y a quelques génies sublimes qui savent pénétrer à travers les voiles dont la vérité s'enveloppe, quelques âmes privilégiées, capables de résister à la bétise de la vanité, à la basse jalousie, et aux autres passions qu'engendre le goût des lettres. Le petit nombre de ceux qui ont le bonheur de réunir ces qualités, est la lumiére et l'honneur du genre humain; c'est à eux seuls qu'il convient pour le bien de tous de s'exercer à l'étude [...]." (Rousseau 1964: 970.) Formuliert Rousseau an dieser Stelle den Autorbegriff, den Gebauer/Wulf dem affirmativen Autor als schöpferisch-kritischen Kämpfer gegen repressive Gewalt entgegenstellen? Sicherlich nicht, aber die Ähnlichkeit der Formulierung ist bestechend. Rousseau widerspricht auch in diesem Vorwort der These einer "Selbst-Mimesis", er bezeichnet seine Schrift als "une satyre très-amére, non de moi, mais de mon siécle." (Rousseau 1964: 974.) Die Entlarvung des Verfalls der damaligen Gesellschaft war stets Rousseaus Ziel, auch die Inszenierung seines Ichs war daher keine "Selbst-Mimesis" im Sinne der Autoren, sondern komplexe fiktionale Konstruktion, um soziale Wirklichkeit zu enthüllen und zu kritisieren. Das Thema seiner fiktionalen Welt ist zwar sein Ich, aber die Konstruktion der Welt, d.h. der raum-zeitliche Modus, in den das Thema eingebettet ist, steht unter dem Motto der Kritik einer dekadenten Gesellschaftsform im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Genette unterscheidet heuristisch die drei Bereiche THEMA, DIEGESIS und HISTOIRE, die ineinander verwoben sind (Genette 1982: 340-343); für das Verständnis der Rousseauschen Schreibweise ist diese begriffliche Scheidung hilfreich. Rousseau selbst belegt die oben genannte Strategie. In seiner Idée de la méthode dans la composition d'un livre weist er darauf hin: "[...] je me hâterois d'éxaminer l'homme par ses relations [...] le lecteur saura bien tirer la conclusion." (Rousseau 1964: 1245-1247.)




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Genausowenig wie es Freiheit in seiner Erziehungsschrift für den Zögling gibt, sind seine Confessions authentischer Ausdruck einer subjektiven Intimsphäre, "in die öffentliche Macht nicht hineinreicht." Rousseau ist sich darüber bewußt, daß sich auch in seinem Inneren ein komplexer Beziehungsraum befindet, in den gesellschaftliche Macht hineinragt. Die Confessions und die Rêveries bilden an dieser Stelle ein autobiographisches Diptychon: die Bekenntnisse erklären die Fiktion aus den Tiefen des Ichs heraus, während die Träumereien die andere Seite dieser Ich-Inszenierung darstellen; die anderen tragen die Schuld an seiner Einsamkeit, sie haben alle "liens" mit ihm gebrochen. Rousseau inszeniert in diesem Diptychon sein Leben zwischen Sein und Nichts. Dieses existentielle Oszillieren stellt keine authentische Selbst-Mimesis im Sinne einer wahrheitsgetreuen Nachahmung seines Lebens dar, sondern sie ist sein letzter Versuch einer Gesellschaftskritik, die radikal bei den eigenen Erfahrungen ansetzt. Die Confessions inszenieren sein Ich als die Quelle des Seins der Menschheit, die Rêveries als Leere und Nichts, vor denen er nun steht: "Mais moi, détaché d'eux et de tout, que suis-je moi-même? Voilà ce qui me reste à chercher." Die Texte Rousseaus stellen die komplexen Probleme des Autors in seiner Zeit dar, sie sind nicht "Selbst-Mimesis", sondern vermittelte historische Wirklichkeit, gebrochen durch die konkrete Beziehungsproblematik des Autors in bezug auf seine Umwelt. Es handelt sich um eine subjektiv gebrochene soziale Mimesis; er sucht die Öffentlichkeit, den Leser, und nicht das Innere; seine Themen entsprechen dem Zeitgeist; den "Gefühlskult" in der Darstellung findet man durchaus in verschiedenen Schreibweisen der damaligen Zeit wieder. Auch für Rousseau gilt: "le sens d'une œuvre, d'un texte littéraire, se constituant dans tout ce qui dans cette œuvre, dans ce texte se rattache au[x] discours explicatifs et/ou justificatifs sur le monde, tenus ou connus avant ou à l'époque de la production du texte." (Nerlich 1989: 115.) Gebauer/Wulfs Analyse trägt an Rousseaus Texte Begriffe aus avantgardistischen Metadiskursen heran, die die Rousseausche Textwelt einseitig akzentuieren.

Als Antipode zu Rousseau bauen Gebauer/Wulf Diderots Dramentheorie auf. Sie impliziert gesamtgesellschaftliche, erzieherische Momente, die in einer "universalistischen Perspektive" münden: "[...] die Anhebung des Geschmacks im Theater würde zu einer Verbesserung der ganzen Nation führen." Diderot bindet den Geschmack an "das Gesellschaftliche: an die Lebensverhältnisse der bürgerlichen Klasse, die ihn zu einem grundlegenden Merkmal erhebt" (259). Bei ihm sei Theater "der ideale Ort für eine modellhafte Erzeugung des Inneren von Personen" (258). Dabei strebt Diderot nicht eine Authentizität der Gefühle – keine "Selbst-Mimesis", wie Rousseau – an, sondern er inszeniert die Gefühle und ahmt damit persönliche Innerlichkeit in gesamtgesellschaftlicher Perspektive nach. Die dramatische Fiktion wird somit zum Erkenntnismodell für die Realität und bietet dem Bürgertum die Möglichkeit, ein kritisches Klassenbewußtsein aufzubauen. Vor allem Schiller, Lessing und Jean Paul seien davon beeinflußt worden (258).

Das Drama als ein Kernbereich der Geschichte der Mimesis endet bei den Autoren mit Diderot. Die Weiterentwicklung in Frankreich, die Zerstörung des klassischen Regelkanons über die Dramen und poetologischen Schriften von Diderot, Sedaine, Mercier, Beaumarchais bis Victor Hugo wird nicht erwähnt. Diderot ist jedoch nur der Anfangspunkt einer romantischen Theaterentwicklung, die schließlich in Victor Hugos Préface de Cromwell (1827) gipfelt. Vor allem Louis Sébastien Merciers Schrift Du théâtre ou Nouvel Essai sur l'art dramatique von 1773, der viele Theoreme Victor Hugos bereits vorwegnimmt, hätte in das Kapitel über das 18. Jahrhundert gehört, wollte man dem Anspruch gerecht werden, "wichtige Phasen der Mimesisentwicklung einer historischen Rekonstruktion" zu unterziehen (9). Im Kapitel über das 19. Jahrhundert wird der Begriff "romantisch" dann benutzt, aber nicht in bezug auf die Dramentheorie. Es war aber gerade die Diskussion der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts, in der sowohl für das Drama als auch für den Roman – besonders den historischen Roman – wichtige produktionsästhetische Konsensregeln aufgestellt wurden, wobei unter Konsensregeln kein Gattungsparadigma "romantischer" oder "historischer" Roman zu verstehen ist (cf. zum Problem des Begriffs "Gattung" Stolz 1990), sondern programmatische Thesen, die die Autoren in ihre literarische Praxis mehr oder minder stringent umsetzten.




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Bei Victor Hugo führt die Dreiteilung der Dramengeschichte zur Definition der letzten Phase als der "temps modernes", die "la vérité" zum Thema haben. Dieses neue Drama ist "philosophique et pittoresque", es ist "la poésie complète." "L'harmonie des contraires" bildet den Modus dieser modernen, totalen Dichtung, ihr Ziel ist die Darstellung des Menschen. Mit dem Postulat der freien Gattungsmischung wird die französische Klassik endgültig verabschiedet. Interessant werden die Bemerkungen zum Mimesisproblem: Stellt das neue, moderne Drama die Wahrheit des Menschen in all ihrer Widersprüchlichkeit dar, d.h. letztlich die NATUR des Menschen, so gilt allerdings: "La vérité de l'art ne saurait jamais être, ainsi que l'ont dit plusieurs, la réalité absolue. L'art ne peut donner la chose même." Kunst und Natur sind getrennt zu denken, aber es besteht dennoch Kontakt zwischen beiden "sous peine de l'absurde": "L'art, outre sa partie idéale, a une partie terrestre et positive." (Hugo 1963: 435sq.) Kunst hängt mit Wirklichkeit demnach mimetisch zusammen, sie ist Teil der empirischen, positiven Wirklichkeit, ohne mit ihr einfach und unmittelbar verrechnet zu werden.

Die radikale Trennung, die Gebauer/Wulf zwischen "empirischer Wirklichkeit" und "mimetischen Welten" am Ende ihres Buches vornehmen (437), verkennt die materielle Verwurzelung jedes Kunstwerks in der Wirklichkeit: Schrift trägt Spuren der Wirklichkeit komplex vermittelt in sich, ist selbst eine konkrete, materielle Wirklichkeit als Schrift-Signifikant und kann daher von der Wirklichkeit nie radikal getrennt werden, sonst wäre jede Frage nach Mimesis sinnlos. Das Drama schafft nach Hugo die Verquickung zwischen Idee und Leben, "drame de la vie" und "drame de la conscience". Es ist "un miroir où se réfléchit la nature [...] un miroir de concentration qui loin de les affaiblir, ramasse et condense les rayons colorants." (Hugo 1963: 436sq.) Wie sieht nun diese Arbeit, dieser Arbeitsprozeß der mimetischen Umsetzung von nature in art aus: "L'art feuillette les siècles, feuillette la nature, interroge les chroniques, s'étudie à reproduire la réalité des faits, surtout celle des mœurs et des caractères [...] restaure ce que les annalistes ont tronqué, harmonise ce qu'ils ont dépouillé, devine leurs omissions et les répare [...]. Ainsi le but de l'art est presque divin: ressusciter, s'il fait de l'histoire; créer, s'il ait de la poésie." (Hugo 1963: l.c.) Die mimetische Umsetzung geschieht demnach als intertextueller Konzentrations- und Kondensationsprozeß, indem Kunst im Sinne Walther Benjamins als Korrektiv der Geschichte wirkt und die Geschichte der Besiegten, der "kleinen Leute", die verdrängte Geschichte ans Tageslicht bringt. Sie ist Lektüre im umfassendsten Sinne, Lesen von Texten, semiotische Interpretation von Welt, aber auch referentielle Anbindung an "la réalité des faits". Bei Victor Hugo ist diese mimetische Arbeit ein demiurgischer Prozeß. Ganz im Sinne der Romantik handelt es sich beim historischen Drama um "résurrection" im Bereich der Dichtung um "création", d.h. um gottähnliche Attribute des Schriftstellers. Balzac übernimmt diesen Begriff der Mimesis für seine Comédie humaine, Flaubert übernimmt den Begriff der "résurrection" für seine historische Romanwelt, beispielsweise für den Roman Salammbô (Stolz 1992: 52-58). Auch die "couleur locale", die bei Victor Hugo "le fond du drame" ausmacht, bleibt als mimetischer Anspruch an Roman und Drama im 19. Jahrhundert von Balzac, über Vigny, Gautier bis Flaubert bestehen und manifestiert sich insbesondere im historischen Roman.




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6. Das 19. Jahrhundert: Der Kampf zwischen romantischem und anti-romantischem Roman?

Besonders problematisch erscheint die These, das 19. Jahrhundert sei in strukturalistischer Lesart in romantische und anti-romantische Schreibweisen einzuteilen, wobei die romantische zu affirmativer, sozialer Mimesis und die anti-romantische zu reflektierter Befreiung des Ichs aus der affirmativen Reproduktion der bestehenden Realität in der sozialen Mimesis führe (305-307). Balzac ist dabei der Repräsentant der romantischen Schreibweise, Stendhal, Flaubert und Dostojewski sind die der anti-romantischen Schreibweise. Romantische Schreibweisen bei Chateaubriand festzustellen, kann sicherlich gelingen, aber einen romantischen Roman in Frankreich paradigmatisch festzulegen und diesen Kode dann in Balzacs Werk zu verorten, ist nicht möglich. Unbestritten bestehen Themenreihen im Roman des 19. Jahrhunderts, Motivreihen und intertextuelle, mimetische Prozesse der Konzentration, Verschiebung, Veränderung innerhalb der literarischen Textwelt des 19. Jahrhunderts (Stolz 1992: l.c., Engler 1982), aber gerade die Tatsache, daß Balzac nicht das einzelne Ich, sondern eine Sozialtypologie anstrebt, ist kein Kennzeichen romantischer Romanorganisation. Gebauer/Wulf schreiben folgerichtig in bezug auf Balzac: "Die soziale Wirklichkeit wird zu einer Epiwelt des realistischen Romans" (310). Realistischer Roman – der Begriff ist nicht als typologische Invarianz, sondern als offenes Formenspektrum realistischer Schreibweisen zu verstehen – und romantische Schreibweise sind sicherlich nicht einfach gleichzusetzen. Die Grundüberzeugung der Subjektautonomie, d.h. die "Überzeugung, daß die Person ihre Ziele autonom und selbstbestimmt wählt" (329), sehen die Autoren als "romantisches" Merkmal an und finden es überraschenderweise in den "anti-romantischen" Romanen von Stendhal und Flaubert.

Die begriffliche Einteilung der Autoren ist in bezug auf die Romanwelt des 19. Jahrhunderts in Frankreich fragwürdig. Auch die Behauptung, Balzacs Romanwelt sei die des allwissenden Erzählers, der keine verschiedenen Erzählperspektiven zuließe, wohingegen Flaubert und Stendhal durch die "Kombination von externer und interner Perspektive" sichtbar machten, "wie eine Romanperson auf der Suche nach ihrem Ich ist" (306), ist in dieser Allgemeinheit nicht haltbar (Genette 1972: 209.). So wird beispielsweise in Balzacs Roman Le lys dans la vallée die schwierige Situation des Ichs aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Gebauer/Wulf sehen in Balzac einen "Willen zur Macht" (321)13 , beschreiben den Balzacschen Erzähler "mit dem Anspruch [...] selbst ein Chef zu sein – der Chef der Symbolmacht" (321) und definieren die Comédie humaine als "große autoritäre Geste." (322) Sie werfen Balzac Wirklichkeitsferne in seiner Darstellung vor, d.h. "Balzacs Tableaus und Szenen beschreiben nicht, was der Fall ist" (312) und stellen die These auf, Balzac "ästhetisiere die französische Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sei sie ein Roman." (312) Andererseits gestehen die Autoren, "soziale Wirklichkeit ist nicht unabhängig von sprachlichen Darstellungen; in einem gewissen Sinn ist sie selbst sprachlich konstituiert." (308)




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Es sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, welchen Mimesisbegriff und welchen Wirklichkeitsbegriff die Autoren an Balzacs Werk anlegen. Daß Sprache stets mit Bildern, Metaphern arbeitet, wird allgemein anerkannt. Die Wittgensteinsche "Was der Fall ist"-Digression paßt wohl kaum zur Romankunst, es sei denn, man versteht unter Romankunst die Kunst eines realistischen Romans als Reflex der sozialen Wirklichkeit im Lukáczschen Sinne und vernachlässigt aber dann bewußt die sprachliche Vermittlung jedes Kunstwerks, d.h. eigentlich die Frage nach der Mimesis. Die Autoren scheinen dieses Modell zu verfolgen, da sie streng zwischen empirischer Wirklichkeit und mimetischen Welten unterscheiden und annehmen, daß zwischen beiden ein "Spalt" klaffe, den man nicht schließen dürfe, sonst geschehe eine "potentielle Aufhebung von Wirklichkeit" (436sq.). Mimesis ist demnach der Gegner der Wirklichkeit, denn "Überall, wo Mimesis herrscht, bestehen fließende Übergänge zwischen Darstellung, Abbildung, Wiedergabe, Reproduktion, aber auch Täuschung, Illusion, Schein" (436). Mimesis könnte die empirische Wirklichkeit als Referenzsystem zerstören, "allumfassend" (437) werden. Kunst als mimetischer Prozeß könnte mithin die "reale" Welt zerstören. Die Aporien dieses Denkens entspringen wiederum einer bipolaren Konstruktion, die die unentwirrbare Dialektik zwischen den Darstellungsmedien von Wirklichkeit (Schrift, Sprache, Bild, Film, Geste, Mimik ...) und der empirischen Wirklichkeit, zu der der Mensch allerdings immer nur medial vermittelten Zugang erlangt, vernachlässigt. Obwohl Gebauer/Wulf die Gedanken Jacques Derridas zum "Zwischencharakter der Mimesis", der ein oszillierender Prozeß ist (420), korrekt wiedergeben, können sie diese Erkenntnis, daß der Mensch nur mimetische Kenntnisse über die Wirklichkeit, d.h. medial vermittelte, "textähnliche" Erkenntnisse, erlangt, nicht in ihre Definiton von Mimesis einbauen. In ihrem Denken bleibt ein "metaphysischer Bezugspunkt" (419), den Derrida gerade dekonstruierte: "Die empirische Wirklichkeit." Sie verbleibt als Idee einen "Spalt" breit von der Mimesis getrennt. Derrida weist bei Platon nach, daß "das Wissen der Wahrheit auch bei Platon von mimetischen Prozessen abhängt" (412). Genauso hängt aber auch unser Wissen von der Wirklichkeit von mimetischen Prozessen ab. Die Angst der Autoren vor der Mimesis ist unbegründet, der Mensch konnte Wirklichkeit an und für sich noch nie erkennen. Montaigne betont die Ähnlichkeit zwischen Wirklichkeit und Fiktion genauso wie etwa Borges oder Paz im 20. Jahrhundert. Die Autoren scheinen aber diese strenge Scheidung zwischen Wirklichkeit und Mimesis/Fiktion aufrechtzuerhalten, um einen referentiellen Mimesisbegriff in realistischer Lesart zu definieren: Wenn Realität und Fiktion stets voneinander getrennt sind, kann es feste, 'faktische' Referenzen in der Wirklichkeit geben, auf die sich Fiktion beziehen kann. Dann wird auch verständlich, wieso ein Leser den Autor semantisch korrekt verstehen kann; auch der Autor kann die Welt, die Wirklichkeit, 'falsch' abbilden, 'falsch' nachahmen und in die mimetische Welt überführen. Balzac hat zwar die empirische Welt korrekt abgebildet, aber er denkt über den Modus seiner Abbildung nicht nach und schafft dadurch eine mimetische Welt des 'Scheins', der 'Täuschung', die der empirischen Wirklichkeit gefährlich werden kann: "Die Klassengesellschaft ist eine Kulturgesellschaft, ein Kapitalismus des Geschmacks; das ökonomische Sein wird verdoppelt durch einen ästhetischen Schein." (311) Balzacs Mimesis bildet in realistischer Lesart richtig ab, aber verdoppelt nur, da sie die empirische Wirklichkeit nicht in Frage stellt (cf. Engler 1994: 58 in bezug auf die Thesen von Gebauer/Wulf.).14




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In dieser politisierenden Lesart wird man dem Romanwerk Balzacs nur unzureichend gerecht. Balzac exemplifiziert sein Vorgehen auch in seiner Romanwelt und führt dabei Mimesis als literarischen Prozeß vor.15 Balzac ist an dieser Stelle auch aus dem Kontext heraus zu verstehen: die empirische Wirklichkeit war zu dieser Zeit als Erkenntniskategorie nicht mehr streng von der Fiktion zu trennen: Victor Hugo erkannte dies ebenso wie Stendhal oder Mme de Staël: "Le roman fait, pour ainsi dire, la transition entre la vie réelle et la vie imaginaire. L'histoire de chacun est, à quelques modifications près, un roman assez semblable à ceux qu'on imprime, et les souvenirs personnels tiennent souvent à cet égard lieu d'invention." (De Staël 1847: 337sq.)

Zusammenfassend kann man sagen, daß die Autoren in bezug auf Balzac das Modell des autonomen Subjekts, als aufgeklärtes animal rationale, das wir bereits im Zeitalter der Aufklärung als ihr Modell hervorschimmern sahen, zum Wertmaßstab innerhalb der Literatur bestimmen. Während bei Balzac die passion – dies wird auch programmatisch in den Präliminarien zur Comédie humaine deutlich – den ganzen Menschen ausmacht, diese Leidenschaft aber zum kritischen Ich anscheinend nicht paßt, wird Balzac von den Autoren als romantischer Allmachtserzähler abgestempelt, der in seinen Romanen soziale Mimesis 'unreflektiert' verwendet und im Sinne avantgardistischer Theorie – vielleicht avant la lettre – sein mimetisches Verfahren im Roman als Metadiskurs des Romans nicht thematisiert (306sq.).

Am Ende des 19. Jahrhunderts diagnostizieren die Autoren "eine Tendenz zur Auflösung des Romans. Die Darstellung der Darstellung löscht sich selbst aus [...] der Roman verfällt ins Schweigen" (307). Welcher Roman hier gemeint ist, bleibt im Unklaren, die Romanwelt am Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich entspricht dieser Darstellung sicherlich nicht. Im 20. Jahrhundert, so die Autoren, gibt es eine "Lösung"; zwar ist die "literarische Mimesis" beendet, aber Marcel Proust biete nun jedem Leser ein "inneres Buch" an, das jedem "Leser zum eigenen Verfassen angeboten wird. Aber auch dieses ist nicht mehr materiell, sondern vollzieht sich als geistiger Prozeß jenseits der Buchstaben" (307). In bezug auf die Proustsche Romanwelt ist hier sicherlich Klärung vonnöten. Zunächst ist das Romanwerk von Marcel Proust eine Auseinandersetzung mit den Romandiskursen des 19. Jahrhunderts: Flaubert, Balzac, Sainte-Beuve, aber auch Anatole France werden verarbeitet, verändert, in einen neuen Romandiskurs verwandelt. Antoine Compagnon reiht die Kontexte in diesem Zusammenhang kenntnisreich auf; seiner These: "La théorie esthétique proustienne appartient au XIXe siècle; en 1920, Proust réagit encore aux attaques aux décadents en 1880: Huysmans, les impressionnistes, Wagner," (Compagnon 1989: 15, Stolz 1991) ist zuzustimmen. Gerade diese Arbeit innerhalb des literarischen Raumes führt Proust vom realistischen Mimesisbegriff weg. Er versteht, daß Realität sinnlich und medial vermittelt wird und daß auch die Medien (Bilder, Literatur, Namen ...) innerhalb der Literatur als Material verwendet werden können. Damit entsteht ein neues Verhältnis zur Mimesis: Mimesis ist nicht länger in realistischer Verengung Abbild oder Nachahmung von empirischer Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit ist ein komplexes Relationsgefüge von Wahrnehmungspraktiken, Darstellungsmodi und medialen Möglichkeiten, Kenntnisse und Erkenntnisse über die Menschen, ihre Kultur und ihre Lebenswelt zu erlangen. Mimesis kann nun sowohl verändernde Nachahmung, interpretierende Innovation, deviante Tradition von Lebenswelt aber auch von literarischer Welt, von Bildwelt, von Medienwelt sein. Mimesis wird zum intertextuellen Raum in dem sich verschiedene Praktiken treffen, handwerkliche, schriftstellerische, malerische etc. All diese materiellen Praktiken schreiben als sinnliche Eindrücke bewußt oder unbewußt im Autor einen Text, ein Gewebe, aus dem schließlich der literarische Text als 'Übersetzung' hervorgeht: "Et je compris que tous ces matériaux de l'œuvre littéraire, c'était ma vie passée." (Proust 1954: 899.) Ein geistiger Prozeß "jenseits der Buchstaben", wie dies Gebauer/Wulf vorschlagen, schwebt Proust an dieser Stelle keineswegs vor, obwohl Prousts Romankonstruktion letztendlich auf einer idealistischen Konstruktion beruht. (Cf. Stolz 1994: 216sq.)




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Proust bietet aber dennoch Möglichkeiten zur Konstruktion eines neuen Mimesisbegriffes, aufbauend auf Roman- und Ästhetikdiskursen des 19. Jahrhunderts: "Car l'instinct dicte le devoir et l'intelligence fournit les prétextes pour l'éluder. Seulement les excuses ne figurent point dans l'art, les intentions n'y sont pas comptées, à tout moment l'artiste doit écouter son instinct, ce qui fait que l'art est ce qu'il y a de plus réel, la plus austère école de la vie, et le vrai Jugement dernier. Ce livre, le plus pénible de tous à dé chiffrer, est aussi le seul que nous ait dicté la réalité, le seul dont « l'impression » ait été faite en nous par la réalité même. [...] Le livre aux caractères figurés, non tracés par nous est notre seul livre." (Proust 1954, III: 879-880) Die materiellen Spuren, die sich im "réseau de souvenirs" befinden und unseren "choix des communications" (Proust 1954, III: 1030) bedingen, stammen aus der Außenwelt, sind aber keine direkten Eindrücke, sondern medial vermittelte "caractères figurés non tracés de nous" des jeweils historischen Beziehungsgeflechts, in dem wir kommunikativ leben. Da ein direkter Zugang zur Wirklichkeit via realistischer Mimesis nicht mehr möglich erscheint, kann der Autor nur versuchen: "je m'apercevais que ce livre essentiel, le seul livre vrai, un grand écrivain n'a pas dans le sens courant à l'inventer, puisqu'il existe déjà en chacun de nous, mais à le traduire. Le devoir et la tâche d'un écrivain sont ceux d'un traducteur." (Proust 1954, III: 879-880) Diese "Übersetzungsarbeit" ist ein Passagen-Werk, ein Überlagern der Räume, Zeiten, der Medien, der Eindrücke, die durch die "mémoire involontaire" dem Autor geliefert werden. Es sind wahrgenommene, vermittelte Materialien aus vergangener Zeit, "vie passée", die sich kondensieren und konzentrieren in bestimmten sprachlichen Formulierungen und dem Autor vor Augen stehen. Mimesis ist nicht mehr allein Nachahmung, sie wird zum Konvergenzpunkt der Diskurse und Wahrnehmungen, sie erhält jenen Zwischencharakter, den Derrida konstatiert, sie ist der Prozeß, der zwischen Lebenswelt und literarischer Welt steht und die eine in die andere im Proustschen Sinne 'übersetzt', d.h. hinüberführt.16 Die Frage nach roman oder essai philosophique stellt sich in der Recherche nicht mehr. Die neue Romanform ist philosophisch und romanesk. Sie ist création und nicht mehr Abbild der Wirklichkeit: "Il est clair que la vérité que je cherche n'est pas en lui, mais en moi. Il l'y a éveillée, mais ne la connaît pas, et ne peut que répéter indéfiniment, avec de moins en moins de force, ce même témoignage que je ne sais pas interpréter et que je veux au moins pouvoir lui redemander et retrouver intact, à ma disposition, tout à l'heure, pour un éclaircissement décisif. Je pose la tasse et me tourne vers mon esprit. C'est à lui de trouver la vérité. Mais comment? Grave incertitude [...]. Chercher? pas seulement: créer. Il est en face de quelque chose qui n'est pas encore et que seul il peut réaliser, puis faire entrer dans sa lumière." (Proust 1954, I: 45) Die Frage nach der neuen Mimesis-Konzeption bei Proust könnte nun gestellt werden. Mimesis führt bei Proust zu "création", wobei das Material, aus dem sie schafft, alle wahrgenommenen Eindrücke aus der Wirklichkeit umfaßt, literarische ebenso wie künstlerische und lebensweltliche.




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7. Mimesis: Ausblicke

Klärungsbedürftig ist sicherlich der Begriff der Mimesis, darauf weisen Gebauer/Wulf zu Recht hin. Dabei ist Mimesis kein "hochkomplexes Gebilde" (423) sondern ein komplexer Überlagerungsprozeß verschiedener Praktiken. Sicherlich ist nur durch genaue Kontextualisierung eine historische Position einer mimetischen Konstruktion erkennbar, aber sie ist nie nur "eine individuelle Lösung" (424), in jedem mimetischen Akt schwingt ein ganzes Netz von Wahrnehmungen, Beziehungen, Praktiken mithin menschlichen und lebensweltlichen Alteritäten mit. Auch ist Mimesis, wie dies die Autoren behaupten, im zeitlichen Sinne keine Nach-Ahmung, es gibt keine 'mimetische Welt' und 'vorhergehende', empirische Welt. Mimesis ist immer 'dazwischen', ein ständiger Transformationsprozeß, der Metamorphosen der verschiedensten Beziehungsnetze schafft. Der Autor ist nicht die alleinige Instanz des mimetischen Prozesses. Die Logik der Moderne als Revolution, Avantgarde, Bruch, Wandel, Fortschritt hat sich als Ideologie erwiesen, Mimesis ist raum-zeitlicher Konvergenzraum, Genotext aus dem neue Texte, neue Diskurse, neue Kommunikation entstehen. (Cf. Paz 1990: 51 sowie Paz 1992: 180-185).17 Sie hat kein "eigenes Recht" und auch keine "eigene Existenz", wie dies Gebauer/Wulf vorschlagen, die Begriffe sind der Dynamik der Mimesis nicht angemessen. Auch können "mimetische Welten [nicht ...] aus sich selbst heraus verstanden werden" (431), sondern nur durch Rekonstruktion historischer Kontexte im Sinne eines semantischen und formalen Näherungsprozesses.

Es gilt daher, den Begriff Mimesis konkreter am Material zu verankern, beispielsweise die Text-Referenzen nach Medien (Schrift, Bild, Zeichnung, Symbol ...) Bezugs-, Diskurs-, Textsystemen (Lebenswelt, literarische Welt, historisches "Faktum", Filmwelt ...) und die verschiedenen Nachahmungsmodi nach Graden der Fiktionalität einzuteilen, ohne gleich in die allgemeinen Begriffspaare fiktional versus wirklich zu verfallen, die wenig Aussagekraft besitzen, da "fiktionale" Werke auch wirklich sind, eben mimetisch produzierte Welten.



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Anmerkungen


1 Die Kapitel 1 bis 4 dieses Diskussionsbeitrages wurden von Reinhard Krüger, die Kapitel 5-7 von Peter Stolz verfaßt. Zitate aus Gebauer/Wulf werden im folgenden durch einfache Seitenzahlen belegt.

2 So kritisierte schon Aristoteles in der Metaphysik die Pythagoräer, welche das Verhältnis von Beobachtung und theoretischer Schlußfolgerung dahingehend umkehrten, daß sie aus ihrer Theorie Konjekturen über die von ihnen so nicht beobachtete empirische Wirklichkeit anstellten: "Die sogenannten Pythagoräer [...] glaubten, alle anderen Dinge glichen ihrer ganzen Natur nach den Zahlen und die Zahlen seien das Erste in der ganzen Natur, [und daher] nahmen sie an, daß die Elemente der Zahlen die Elemente aller Dinge seien und der gesamte Himmel sei Harmonie und Zahl. Und alles, was sie in Ähnlichkeit mit den Zahlen und Harmonien in Hinsicht auf die Affektionen, die Teile des Himmels und den Gesamtaufbau des Himmels vorfanden, das faßten sie zusammen und paßten es einander an. Und wenn nun etwas offenblieb, so fügten sie noch etwas hinzu, damit ihre ganze Theorie geschlossen sei." Aristoteles: Metaphysik, A5, 985b / 986a, ed. Schwarz, Stuttgart 1984, 30.

3 Cf. dazu auch Pierre Bourdieu: Le sens pratique, Paris 1980, auf den sich Gebauer und Wulf später berufen.

4 Allerdings ist Langer (1989) nicht zuzustimmen, wenn er meint, daß Traditionen zu einer Innovationsblockade führen können. Es bedarf für solche historische Lagen vielmehr eines verfeinerten Instrumentariums der Beobachtung, um die Dialektik von Sozialem und Individuellem in der Kunstproduktion zu identifizieren. Mächtige Traditionen schließen die Innovation nicht aus, sondern reduzieren lediglich das verfügbare Material, ohne die individuelle Formung jemals negieren zu können.

5 Es ist evident, daß es sich hierbei um eine Auseinandersetzung mit Kants Theorie des Erhabenen handelt, das gleichfalls überdauert, wenn der Reiz der Neuheit des Materials beendet ist.

6 Daß Mimesis tatsächlich auf eine 'geistige Beziehung' reduziert werden kann, bezweifeln implizit auch Gebauer und Wulf, wenn sie beispielsweise das Anschmiegen an einen Anderen als eine "körperliche Vorform der Komplementarität" (13) kennzeichnen, welche eine Voraussetzung der Mimesis ist. Damit wäre der Blick auf mimetische Praktiken im Tierreich freigelegt. Hier müßten dann die Arbeiten von Maturana und Varela ebenso wie die zoosemiotischen Untersuchungen von Sebeok zur Erweiterung der Fragestellung herangezogen werden.

7 "Nostre monde vient d'en trouver un autre (et qui nous respond si c'est le dernier de ses freres, puis que les Dæmons, les Sybilles et nous, avons ignoré cettuy-cy jusqu'asture?) non moins grand, plain et membru que luy, toutesfois si nouveau et si enfant qu'on luy apprend encore son a, b, c; il n'y a pas cinquante ans qu'il ne sçavoit ny lettres, ny pois, ny mesure, ny vestements, ny bleds, ny vignes. Il estoit encore tout nud au giron, et ne vivoit que des moyens de sa mere nourrice. Si nous concluons bien de nostre fin, et ce poëte de la jeunesse de son siecle, cet autre monde ne faira qu'entrer en lumiere quand le nostre en sortira" (Montaigne 1962: 886-887).

8 Historisch nicht aufrechtzuerhalten ist die Auffassung, daß "die griechischen Künstler dieser Zeit [5. Jhdt. v.u.Z] für die Erarbeitung ihrer Werke keine konkreten Modelle zugrunde legten." (47) Aus viel früheren Keramiken ist bekannt, daß die Töpfer und die Maler der Figuren sehr wohl mit einem Modell (der als konkretem Muster hergstellten idea) in ihrern Werkstätten arbeiteten. Entsprechende Vasenmalereien, mit Werkstattdarstellungen, welche die idea als das konkrete gegenständliche Modell und als Vorgabe der Arbeit des Töpfers und des Skulpteurs zeigen, sind erhalten. Die Verzahnung von Kunstproduktion, der kunsthandwerklichen Praxis in den Werkstätten und der Begriffsgeschichte von idea ist bereits in den 20er Jahren von Erwin Panofsky in einer gleichnamigen, umfangreichen Studie dargelegt worden (Cf. Erwin Panofsky 31975).

9 "Solo il vero ufficio del poeta è fingere parole di gente che insieme parlino, e sol queste rappresenta al senso dell'udito tanto come naturali, perché in sé sono create dalla umana voce; ed in tutte le altre conseguenze è superato dal pittore" (Leonardo 1982: 13).

10 Eco unterstreicht jedoch den Aspekt der gottgegebenen adamitischen Ursprache zu sehr im Vergleich zur modellgebenden Funktion der griechischen koinè bei Dante.

11 "Aus der Kraft der Vernunft hat der Mensch die Fähigkeit, die natürlichen Eigengestalten zusammenzusetzen und zu trennen und aus ihnen vernunfthafte und künstliche Eigengestalten und Erkenntnis-Zeichen zu machen" (Nikolaus von Kues 1966: 702).

12 In diesem Zusammenhang muß darauf hingeweisen werden, daß nicht Mme, also Madeleine de Scudéry die erste Kritik des Cid verfaßt hat (cf. dagegen 152), sondern ihr Bruder, Georges de Scudéry.

13 Die autoritär-faschistische semantische Reihe, in die die Autoren durch diese Nietzsche-Anspielung, die zwar von Nietzsche selbst nie so gemeint war, aber von den Nationalsozialisten dann in ihr ideologisches System eingebaut wurde, den Autor Balzac stellen, zeigt die Aporien ihrer bipolaren, strukturalistischen Herangehensweise.

14 W. Engler charakterisiert die Thesen von Gebauer/Wulf folgendermaßen: "Jedenfalls ist die Debatte um Weltabbild und Weltbild von der Anthropologie provokativ eröffnet worden" (58).




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15 Als Beispiel hierfür sei die Schlüsselszene aus Le lys dans la vallée genannt: "une magnifique coupe d'émeraude au fond de laquelle l'Indre se roule par des mouvements de serpent. A cet aspect, je fus saisi d'un étonnement voluptueux que l'ennui des landes ou la fatigue du chemin avait préparé. ' Si cette femme, la fleur de son sexe, habite un lieu dans le monde, ce lieu, le voici ...' [...]. Elle était, comme vous le savez déjà, sans rien savoir encore, LE LYS DE CETTE VALLEE ... . L'amour infini, sans autre aliment qu'un objet à peine entrevu dont mon âme était remplie, je le trouvais exprimé par ce long ruban d'eau qui ruisselle au soleil entre deux rives vertes [...]" ( Balzac 1978: 987). Der Erzähler erklärt das Bild und den mimetischen Akt an dieser Stelle ("[...] je le trouvais exprimé par [...]), d.h. er stellt den "Zwischencharakter der Mimesis" dar, den Eindruck, der zum schriftlichen Ausdruck führte.

16 Engler (1994: 34) verweist auch auf die Kritik am realistischen Roman, die Proust formuliert und darauf, daß "einfache" Nachahmung nun nicht mehr möglich ist. "Das künstlerische Produkt ist Metapher, nicht Abspiegelung der Welt."

17 Cf. Paz 1990: 51: "Hoy asistimos al crepúsculo de la estética del cambio. El arte y la literatura de este fin de siglo han perdido paulatinamente sus poderes de negación; desde hace años sus negaciones son repeticiones rituales, fórmulas sus rebeldías, ceremonias sus transgresiones. No es el fin del arte: es el fin de la idea de arte moderno. O sea: el fin de la estética fundada en el culto al cambio y la ruptura." Die neue Kunst, die heute beginnt, bzw. sich an die Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts anschließt, nennt er "arte de la convergencia" (Paz 1990: 53). Dabei ist dieser Konvergenzraum der Kunst nicht unpolitisch, außerhalb der Gesellschaft oder als rein geistige Bewegung zu suchen, er liegt stets zwischen allen Menschen, zwischen den Praktiken, zwischen Tradition und Innovation. Er ist als Zwischenraum, Raum der modernen Mimesis, die die gesamte Welt – mit all ihren verschiedenen Praktiken und Traditionen – als Material der Dichtkunst nimmt: "El pensamiento de la era que comienza – si es que realmente comienza una era – tendrá que encontrar el punto de convergencia entre libertad y fraternidad. Debemos repensar nuestra tradición, renovarla y buscar la reconciliación de las dos grandes tradiciones políticas de la modernidad, el liberalismo y el socialismo" (Paz 1990: 68). Octavio Paz schrieb diese Worte im Juni 1989, zur Zeit der ersten Öffnung der Ostblockstaaten! Diesen Zusammenhang zwischen politischem und literarischem Denken aus den jeweils konkreten Alltagspraktiken heraus beschreibt er auch in Paz 1992: 180-185.

 

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