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Paola Quadrelli (Mailand)



Fabrizio Cambi (Hg.) (2008): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg: Königshausen & Neumann.



Die bekannte und erfolgreiche Assmannsche Formel vom "kulturellen Gedächtnis" kann als leitendes Stichwort der meisten Beiträge verstanden werden, die im vorliegenden Sammelband erschienen sind und die ursprünglich als Vorträge im Trientiner Symposium im April 2007 vorgestellt wurden. In Verbindung mit zwei ähnlichen Initiativen, die 1987 in Pisa und 2000 in Trient stattfanden und die einen Überblick über die Literatur der DDR aus dem Jahrzehnt 1976–1986, bzw. eine Bilanz über die literarische Verarbeitung der ersten Dekade der deutschen Einheit boten, zielte die erwähnte Trientiner Konferenz auf eine Erforschung der deutschen Post-Wende-Literatur nach einer Reihe von Schwerpunkten, die der Herausgeber wie folgt zusammenfasst: "Deutsche Identität, Deutsches Leid, Berliner Literatur, Geschichte und Gedächtnis, Literatur und Interkulturalität". Die 24 Aufsätze, die den Band bilden, stammen aus der Feder von Germanisten verschiedener Herkunft und verschiedener Generationen: Neben bekannten Namen der DDR-Forschung (wie der Doyens des Faches, Wolfgang Emmerich, dem der erste Beitrag zu verdanken ist, sowie der niederländischen Germanistin Anthonya Visser, der Turiner Literaturwissenschaftlerin Anna Chiarloni und dem Essener Germanist Hannes Krauss) sind auch viele junge Germanisten vertreten, die eine neue Annäherung an das deutsche literarische Leben des letzten Jahrzehnts versuchen. Offensichtlich lässt sich eine Diskussion über die Ausformung kulturellen Gedächtnisses nicht nur auf literarische Texte begrenzen: Sie soll vielmehr auch andere Textsorten und Medien in Betracht ziehen, wie Filme, Kunstwerke, Gedenkstätten und Denkmäler. Man denke dabei an die heftigen öffentlichen und noch andauernden Diskussionen über die Gestaltung der Berliner "lieux de mémoire", vom Holocaust-Mahnmal bis zum Palast der Republik und dem Stadtschloss.




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Die Beiträge von Anthonya Vysser und Matteo Galli kreisen um die filmische Repräsentation der ehemaligen DDR (Vysser), bzw. um die Landschaftsdarstellung im neuen deutschen Film (Galli), d.h. sie haben die Darstellung des Berliner Kiezlebens (z.B. des Bezirks Prenzlauer Berg in Sommer vorm Balkon oder Netto) bzw. die filmische "Wiederentdeckung" der Landschaften der ehemaligen DDR zum Thema (siehe z.B. die Kali-Bergwerke Sachsen-Anhalts in Schulze gets the blues oder die Grenzstadt Frankfurt an der Oder in Lichter und Halbe Treppe). Die Vereinigung hat auch den geographischen Horizont erweitert und zur Entdeckung von bis dahin vom Westen aus kaum zugänglichen Orten beigetragen: Dies ist von entscheidender Bedeutung für die zahlreichen (Familien-)Romane, die eine Verarbeitung der eigenen, familiären, oft verdrängten Vergangenheit mit einer persönlichen Erschließung des ehemaligen deutschen Ostens verbinden. Simone Costagli, der sich in seinem erkenntnisreichen Aufsatz mit den einstigen deutschen Ostgebieten in der Gegenwartsliteratur befasst, geht vom "festen Platz" aus, den Autoren der Nachkriegszeit wie Grass, Bobrowski, Bienek oder Siegfried Lenz dem deutschen Osten sicherten, um die Perspektive auf jüngere Texte zu erweitern, die oftmals den deutschen Osten als vorindustriellen Ort verklären (wie die Kindheitserinnerungen von Marion Gräfin Dönhoff oder der Reisebericht von Ralph Giordano, Ostpreußen Ade aus dem Jahre 1994) und seine Landschaften von Fichtenwäldern, Seen und Sandflächen besingen. Das gilt nicht für den Roman von Stephan Wackwitz, Ein unsichtbares Land, in dem der Autor die Klischees um den "Mythos Osten" zerstört, indem er mit bitterem Sarkasmus auf die bescheidene Entfernung aufmerksam macht (nur "einen längeren Spaziergang"), die den idyllischen Schauplatz der Kindheit der eigenen Großeltern vom KZ Auschwitz trennt.

Wie wichtig für die neuere deutsche Literatur das "Generationsparadigma" ist, von dem Emmerich in Anlehnung an den Aufsatz "Das Problem der Generationen" von Karl Mannheim spricht, zeigen die Aufsätze von Gerhard Friedrich, Elena Agazzi, Daniela Nelva, Domenico Mugnolo, Italo M. Battafarano (über Friedrich Christian Delius und sein Bildnis der Mutter als junge Frau), und Klaus Schuhmacher (mit seinen Überlegungen zum Thema Ich-Erzählen versus Rollenspiel in den Autobiographien Joachim Fests und Günter Grass').

Die Last der Geschichte, die Frage nach der Schuld, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus sind die Themen, die das schriftstellerische Werk von Winfried Georg Sebald durchdringen (worüber Mark M. Anderson und Alessandro Fambrini berichten) und die nicht umsonst den großen Erfolg dieses Autors im letzten Jahrzehnt bestimmt haben. Neben der Last der Vergangenheit eröffnet sich in Deutschland, sowie im ganzen industrialisierten Westen Europas, eine neue Welt, die durch die Einwanderung und die darauf folgende Interkulturalität geprägt ist. "Hybridisierung" und "Interkulturalität" sind eben die Leitbegriffe, die den Aufsatz von Antonella Gargano über die Berliner Romane von Kaminer sowie den sprachwissenschaftlichen Beitrag von Eva-Maria Thüne über die Texte der deutschen Schriftstellerin türkischer Herkunft Emine Sevgi Özdamar bestimmen.




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Mit dem Problem der interkulturellen Rezeption, wenngleich aus einem anderen Blickwinkel, beschäftigen sich auch Michele Sisto und Magda Martini, die die italienische Rezeption der deutschen Literatur nach der Wende erforschen und dabei ab 1999 "eine kleine Renaissance" der deutschen Literatur im italienischen Verlagsbereich feststellen. Ein Bestseller des deutschen Büchermarkts der letzten Jahre – Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) – steht im Zentrum des Beitrags von Heinz-Peter Preußer. In diesem erfolgreichen Werk, das von einem fiktiven Treffen zwischen Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt im September 1828 in Berlin handelt, taucht laut Preußer eines der typisch deutschen Themen des 20. Jahrhunderts wieder auf: Jene Zivilisationskritik, die zuerst von Horkheimer und Adorno und später von Autoren wie Hans Magnus Enzensberger und Heiner Müller repräsentiert und vorangetrieben wurde. Nun aber kehrt "die Tragödie des Weltuntergangs als Komödie zurück"; Preußer zufolge sei gerade darin der Grund für den kommerziellen Erfolg des Buches zu erkennen. Ohne die literarischen Vorzüge dieses Romans zu unterschätzen, bewertet Preußer Die Vermessung der Welt als eine "heitere" Fassung des alten Themas Zivilisationskritik, in der melancholische und elegische Töne sich überhören lassen.

Leichte, lockere, unheroische Töne sowie die "Auflösung der Vergangenheit in einer Vielzahl von Gefühlen und Begebenheiten" sind auch die Hauptmerkmale der "ostalgischen" Literatur, mit der sich Eva Banchelli auseinandersetzt. Die Fokussierung auf die Erfahrungen des Alltagslebens und der Rückzug ins Private prägen tatsächlich viele Romane der Wende-Literatur, wie, unter anderem, den Kreuzberger Roman Herr Lehmann (2001) von Sven Regener (auf den Stefano Beretta eingeht) oder sein östliches Pendant Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) von Thomas Brussig, die den Alltagstrott der Kiezbewohner in den letzten Wochen vor dem Fall der Mauer im Zeitlupentempo schildern.

Autobiographie, Heimat, Familie und Körper sind auch für die westdeutsche und österreichische Lyrikgeneration, wie Maurizio Pirro in seinem Beitrag über die lyrische Stimme Ulrike Draesners sowie Karen Leeder in "Heimat in der neuen deutschen Lyrik" betonen, zentrale Kategorien. Eine bedeutende Strömung in der Gegenwartsliteratur wird schließlich von Viviana Chilese erforscht, die sich mit der "Wiederentdeckung der Arbeit als Sujet literarischer Bearbeitungen" befasst. Werke wie Rainer Merkels Das Jahr der Wunder (2001), Ernst-Wilhelm Händlers Wenn wir sterben (2002) oder Kathrin Rögglas' Wir schlafen nicht (2004) zeugen von der vollständigen Determinierung der Lebensgestaltung des Einzelnen durch die Arbeit. Ein Interview von Anna Chiarloni mit der jungen, in der DDR aufgewachsenen Dichterin Uljana Wolf (geb. 1979) und drei kurze Beiträge zum Thema "Gedächtnis und Identität" von Uljana Wolf, Friedrich Christian Delius und Brigitte Burmeister, die die Rolle des Wortes und der Literatur in der ehemaligen DDR unterstreicht, schließen diesen verdienstvollen Band, der einen vielseitigen Überblick über die gegenwärtige deutsche Literatur bietet.