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Bernhard Huss (München)



Die Katharsis, Jean Racine und das Problem einer 'tragischen Reinigung' bei Hofe1



Modern and early modern interpretations of the 'katharsis' principle – and how Jean Racine refers to it
This article outlines, in its first section, several current interpretations of Aristotle's doctrine about tragic katharsis. In doing so, it distinguishes emotional and medico-physiological approaches (the tradition of the line Bernays – Schadewaldt – Flashar) from the more recent view of katharsis as a semi-rational 'cultivation of the emotions' (Arbogast Schmitt and his school). The second section, then, is dedicated to the interpretations of the katharsis principle that were proposed in the early modern period. Since the Italian Renaissance emotional and medical explanations differentiate from moralizing and rationalizing katharsis theories. The latter were especially influential in early modern poetics. They seemed to be easily compatible with the culture of courtly societies. However, the third part of the present article, concentrating on the case of Jean Racine (whose exegesis of katharsis is multifarious and heterogeneous), shows that such an officiously moral interpretation of katharsis is only a kind of facade with a legitimizing function. Racine's plays in themselves document his deeply pessimistic world view: they run counter to any moralizing interpretation and do not allow katharsis to work, either in an 'official' courtly sense or in a genuinely Aristotelian understanding.



1. Der Katharsis-Satz des Aristoteles und seine Rezeption – heute

Seit wenigen Monaten gibt es eine neue autoritative, sehr umfangreich kommentierte deutsche Übersetzung der Poetik des Aristoteles. Sie stammt von Arbogast Schmitt, dem Marburger Gräzisten, der sich mit der Aristotelischen Poetologie in einer ganzen Reihe von Studien und Aufsätzen eingehend auseinandergesetzt hat.2 Schmitts Version der Poetik, die allein schon aufgrund ihrer überaus reichen Kommentierung neue Maßstäbe setzt und gewissermaßen aus dem Stand eine Standardreferenz konstituiert, läßt den Text der Poetik an vielen Stellen eingängiger wirken, als er in der weit verbreiteten Fassung von Manfred Fuhrmanns zweisprachigem Reclam-Heftchen bisweilen erscheint. Fuhrmanns deutsche Formulierungen, die nicht zuletzt syntaktisch oft etwas sperrig daherkommen, haben andererseits nicht selten den Vorteil größerer theoretischer Griffigkeit.3 Die hier angedeutete Differenz der beiden deutschen Poetiken gewinnt hie und da eine ganz grundsätzliche programmatische Valenz. Dies gilt nicht zuletzt für einen Kernsatz der Poetik, der unter allen Sätzen dieses Textes vielleicht die größte Nachwirkung entfaltet hat, nämlich den Satz von der tragischen Katharsis. Aristoteles spricht von der Katharsis im Rahmen seiner Tragödiendefinition im 6. Kapitel der Poetik. Dort heißt es wie folgt, zunächst in Schmitts Version:




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Die Tragödie ist also Nachahmung einer bedeutenden Handlung, die vollständig ist und eine gewisse Größe hat. In kunstgemäß geformter Sprache setzt sie die einzelnen Medien in ihren Teilen je für sich ein, lässt die Handelnden selbst auftreten und stellt nicht in Form des Berichts geschehene Handlungen dar. Durch Mitleid und Furcht bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefühle. (Aristoteles 2008: 9; Kursivierung B.H.)

Deutlich anders liest sich dieser Passus in Fuhrmanns Übertragung:

Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt. (Aristoteles 21994: 19; Kursivierung B.H.)

Die beiden Übersetzungen bieten zwei grundsätzlich verschiedene Interpretationen der Formulierung des Aristoteles an. Bei Schmitt werden in der Tragödie die vergleichsweise eher 'sanften' Gefühle von "Mitleid" (griechisch éleos) und "Furcht" (griech. phóbos) hervorgerufen, und die Tragödie erzielt eine "Reinigung eben dieser Gefühle", d.h. beim Zuschauer werden die Gefühlsregung von Mitleid und Furcht einem Prozeß unterworfen, der als Reinigung (griech. kátharsis) beschrieben werden kann. Bei Fuhrmann dagegen werden mit "Jammer" (éleos) und "Schaudern" (phóbos) offenbar heftigere Affekte im Tragödienpublikum wachgerufen (und im Sinne eines heftigeren Affekts hat man denn auch oft für phóbos "Schrecken" gesagt). Und gereinigt werden nicht "eben diese Gefühle" (wie bei Schmitt), sondern "derartige Erregungszustände". Damit ist die Möglichkeit eröffnet, daß sich die "Reinigung" nicht nur auf die von der Tragödie selbst unmittelbar wachgerufenen tragischen Wirkaffekte éleos und phóbos beziehen könnte, sondern auch auf Gefühlsregungen oder Erregungszustände, die mit "Jammer" und "Schaudern" nicht identisch sein müssen, sondern ihnen nur ähnlich oder mit ihnen vergleichbar sind. Fuhrmanns Übersetzung ist die wörtlichere, während Schmitts Übersetzung bereits eine interpretierende 'Zurichtung' des Aristotelischen Textes vornimmt. Bei Aristoteles nämlich ist von einer "kátharsis tôn toioúton pathemáton" die Rede, und das heißt ad litteram nun tatsächlich "eine Reinigung so beschaffener Gefühlsregungen" oder "eine Reinigung der so beschaffenen Leidenschaften": "so beschaffen" wie éleos und phóbos, aber nicht notwendigerweise identisch mit diesen beiden tragischen Wirkaffekten, die die Tragödie unmittelbar hervorruft.

Damit sind wir bei der Hauptschwierigkeit, die die Interpretation des Katharsis-Satzes über viele Jahrhunderte (bis heute) umstritten gemacht hat.4 Sie liegt in seiner sprachlichen Formulierung. Denn der griechische Text läßt sich sprachlich auf dreierlei Weise verstehen. Entweder ist der Genitiv "der so beschaffenen Leidenschaften" ein genitivus subiectivus. Dann führen die Affekte Mitleid und Furcht (oder Jammer und Schaudern / Schrecken) selbst die Reinigung herbei, sind also aktive Elemente. 'Wovon' gereinigt wird, wäre in diesem Fall gar nicht gesagt. Oder der Genitiv ist ein genitivus obiectivus. Dann werden die Affekte Mitleid und Furcht als Objekte einer Reinigung gewissermaßen geläutert. Oder der Genitiv ist ein genitivus separativus. Dann wird jemand (nämlich der Zuschauer) durch eine 'Reinigung' in der Tragödie von den Affekten Mitleid und Furcht befreit. Eine zusätzliche Unsicherheit kommt durch die Qualifizierung der erwähnten Affekte als "so beschaffene" oder "derartige" ins Spiel: Sind damit Furcht und Mitleid allein gemeint? Oder ist gemeint: Affekte wie Furcht und Mitleid und dergleichen – also noch eine ganze Spanne anderer menschlicher Affekte auch? Alle hier aufscheinenden Deutungsoptionen sind im Verlauf der Interpretationsgeschichte dieses Satzes auch wahrgenommen worden. Und an dem Vergleich von Schmitt und Fuhrmann sieht man: Die Frage ist offensichtlich noch keineswegs ausgestanden.




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Bevor ich nun zur Frühen Neuzeit komme, noch zwei Bemerkungen. Die eine bezieht sich auf einen wichtigen Satz des Aristoteles, der den Katharsis-Begriff in der Poetik ergänzend perspektiviert, die zweite auf maßgebliche heutige Interpretationen der Katharsis.

Aristoteles ergänzt seinen Katharsis-Satz im 13. Kapitel der Poetik. Dort ist erläutert, welche tragischen Handlungsmodelle überhaupt in der Lage seien, die tragischen Affekte Mitleid und Furcht wachzurufen und damit den Prozeß der Katharsis in Gang zu setzen. Aristoteles unterstreicht, allein ein moralisch auf mittlerer Ebene zwischen Gut und Böse angesiedelter Charakter als Hauptfigur könne in einer Tragödie die tragischen Wirkaffekte erzielen. Und dies nur dann, wenn er im Rahmen des tragischen Handlungsumschwungs "wegen eines bestimmten Fehlers" ins Unglück gerate (di' hamartían tiná, Übers. Schmitt). Ausdrücklich negiert Aristoteles dagegen ein Funktionieren der Katharsis bei anderen Handlungsmodellen, namentlich bei dem Modell einer Tragödie mit 'poetischer Gerechtigkeit'. Bei diesem Modell stürzen moralisch 'verkommene' Charaktere vom Glück ins Unglück (sprich: sie werden bestraft). Analog dazu, wenn auch von Aristoteles nicht mehr explizit ausgeführt, geraten die moralisch positiven Charaktere vom Unglück ins Glück (sprich: sie werden belohnt). Die Tragödie mit 'poetischer Gerechtigkeit', so Aristoteles (der diesen später geläufigen Terminus freilich noch nicht verwendet), sei zwar human, erwecke aber weder Mitleid noch Furcht im Zuschauer – so daß aus Aristotelischer Warte angesichts eines Waltens poetischer Gerechtigkeit auf der Bühne von Katharsis nicht die Rede sein kann. Mehr dazu später in Bezug auf Racine.

Kurz zum zweiten angesprochenen Punkt. Wie versteht man die Katharsis heute? Im 20. Jahrhundert hat sich die Tendenz verstärkt, die Katharsis nicht als einen moralisch konnotierten Begriff zu verstehen, also nicht eine moralische Läuterung, Befreiung von moralisch negativierten Leidenschaften oder dergleichen dahinter zu vermuten. Diese Deutungslinie hängt mit der Interpretation des Gräzisten Wolfgang Schadewaldt5 zusammen. Schadewaldt sieht die beiden Wirkaffekte des Aristoteles nicht mehr vor dem christlichen Horizont, in den sie seit der Renaissance explizit oder implizit gestellt waren. Vielmehr deutet er sie als unmittelbar den Menschen packende, fast schockartig wirkende 'Elementaraffekte'. Sowohl der Schrecken als auch das Gerührtsein (Schadewaldt sagt: 'Jammer') sind heftige, schmerzhafte Erfahrungen, die als schwere Störungen empfunden werden. Die auf sie bezügliche Katharsis ist für Schadewaldt nicht mit einer moralisch läuternden, bessernden oder edukativen Aufgabe behaftet. Sondern sie wird ihrerseits als ein elementarer Prozeß aufgefaßt, der sich darstellt als "Ausscheiden, Beseitigen, Fortschaffen von störenden und beschwerlichen Stoffen (und Erregungen) aus dem Organismus".6 In der Katharsis kommt für Schadewaldt "durch die heftige Erregung von Mitleid und Furcht [...] eine Art psychosomatischer Entladungseffekt zustande" (Schmitt in Aristoteles 2008: 498). So kehre der von den Elementaraffekten lustvoll erleichterte und befreite Zuschauer "aus dem Erregungszustand wieder in die Normallage zurück".7 Hinter Schadewaldts Formulierung scheint medizinische Terminologie auf. In der Tat hat man in der Folge die Katharsis als einen psychophysischen Vorgang begriffen, der medizinisch-biologisch zu verstehen sei.8




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Jüngst gibt es eine Forschungsrichtung, die einer medizinisch-'automatischen' Katharsisauffassung gegenüber betont, die Affekte hätten im Verständnis des Aristoteles einen durchaus rationalen und kognitiven Aspekt. Die Erregung der beiden Wirkaffekte Mitleid und Furcht als Voraussetzung von Katharsis sei ohne bestimmte Wissensbestände und ethische Urteile auf seiten des Zuschauers gar nicht möglich.9 skeptisch gegenübersteht und deswegen auch nicht 'Jammer' und 'Schaudern', sondern (mit Lessingschem Anklang) 'Mitleid' und 'Furcht' sagt, hat nachdrücklich betont, Gefühle hätten bei Aristoteles immer auch eine rationale Dimension oder Grundlage, ohne die sie von vornherein gar nicht erst zustande kommen könnten (denn: wer sich vor etwas fürchtet, muß zunächst wenigstens rudimentär einen 'Grund zur Furcht' erfaßt haben usw.). Die Katharsis sei geradezu zu deuten als eine "Rationalisierung" der Gefühle von Furcht und Mitleid (Schmitt in Aristoteles 2008: 495). Der Zuschauer einer Tragödie erwerbe nämlich in der tragischen Katharsis eine Erweiterung seines emotional konnotierten Erfahrungsschatzes:

[Er] sieht, was seine Helden wirklich fürchten sollten, und empfindet Mitleid mit dem Unglück, das sie wirklich trifft, nicht mit dem, das sie sich einbilden. Seine Furcht und sein Mitleid beziehen sich also auf das, was wirklich zum Scheitern einer Handlung führt. Die Tragödie verschafft ihm so nicht durch moralische Belehrung, sondern dadurch, daß er die Gründe des Scheiterns eines Handelns in konkretem Miterleben begreift, eine Steigerung der Erkenntnisqualität seiner Gefühle. Er empfindet Furcht und Mitleid, und das heißt auch, er empfindet die Gefühle, die ihn selbst vor dem Scheitern des Handelns bewahren, dort, wo es angemessen ist, in der Weise, wie es angemessen ist, usw. Von dem Konzept her, wie es Aristoteles bei seiner Theorie der Gefühle verfolgt hat, ist diese Steigerung des Anteils der Rationalität in den Gefühlen selbst eigentlich das Einzige, was man als eine Katharsis von Mitleid und Furcht in seinem Sinn verstehen kann. (Schmitt in Aristoteles 2008: 341f.; Kursivierung im Text.)

Bei näherem Hinsehen wird deutlich, daß Schmitt als der aktuellste Interpret des Katharsis-Satzes keine rein 'homöopathische' Deutung vertritt, obwohl seine eingangs zitierte Übersetzung diesen Eindruck nahelegen könnte. D.h. es geht aus Schmitts Warte im 'Reinigungsprozeß' nicht einfach um eine Eindämmung, Läuterung, Regelung oder auch: Rationalisierung von Mitleid und Furcht selbst, sondern um einen erkenntnishaften Gewinn an einer Art von Handlungswissen, dessen Bezugsbereich durch Mitleid und Furcht indiziert ist. Schmitt faßt es unter anderem so: "Der Zuschauer vieler Tragödien gewinnt auf diese Weise einen Erfahrungsschatz über die Gründe des Scheiterns menschlichen Handelns, und zwar einen im Gefühl selbst erlebten Erfahrungsschatz" (Schmitt in Aristoteles 2008: 501; Kursivierung B.H.). Nur daher kann Schmitt auch sagen: "Man fürchtet und bemitleidet das, was man fürchten und bemitleiden soll, so, wie man es soll, in dem Augenblick, in dem man es soll, usw., weil man durch eben diese Gefühle selbst zur 'Aktualisierung' genau desjenigen Wissens angeregt wird, das vor dem Eintritt der Katastrophe bewahren könnte." (Schmitt in Aristoteles 2008: 495f.)




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Heutzutage wird die Katharsis also einerseits erklärt durch die Annahme von Elementaraffekten, die von der Tragödie aufgerufen werden und dann in psychophysisch 'kathartischer' Weise wieder abflauen – wobei der Aufruf der Elementaraffekte für manche Interpreten eine hedonistische Dimension keineswegs ausschließt.10 Andererseits wird sie interpretiert unter Verweis auf einen kognitiven Aspekt der Gefühlserfahrung von Tragödienzuschauern, einen Aspekt, der unter dem Schlagwort der Rationalisierung und "Kultivierung des Gefühls"11 einen Erkenntnisgewinn begreift, von dem der Zuschauer profitieren kann: Im Angesicht der Tragödie Reinigung zu erfahren, heißt mithin für diese zweite heutige Interpretationsrichtung, "den Erfahrungsschatz des 'Gefühlswissens'" (Schmitt in Aristoteles 2008: 494) lebensweltlich profitabel erweitern zu können.


2. Der Katharsis-Satz des Aristoteles und seine Rezeption – in der Frühen Neuzeit

Die Grundlage für diese beiden Interpretationsrichtungen ist bereits in der Frühen Neuzeit geschaffen. Die tiefgreifende Diskussion über die Katharsis beginnt mit der Rezeption der Aristotelischen Poetik im Italien des 16. Jahrhunderts. Sehr holzschnittartig und überblickshaft kann man festhalten: Hier lassen sich zwei grundsätzliche Strömungen voneinander trennen,12 die im Prinzip bereits in der Renaissance als solche differenziert worden sind.13

Die erste Gruppe wird von Theoretikern gebildet, die sich bei der Erklärung der Katharsis besonders auf die medizinische Seite der Erweckung und des Abbaus von Emotionen konzentrieren. Dabei kann der Terminus 'medizinisch' sich sowohl auf psychische wie auf physische Vorgänge beziehen, zumeist auf beides zusammen.

Eine Untergruppe dieser medizinischen Erklärungen läßt sich als 'Abhärtungstheorien'14 zusammenfassen. Hier wird davon ausgegangen, daß es "im Menschen ein selbständiges Affektpotential gibt, das durch wiederholte Entladung auf einen niedrigen Pegel gebracht werden" könne (Kappl 2006: 307). Wenn unter solchen Voraussetzungen also Mitleid und Furcht in einem Menschen (sprich: dem Zuschauer einer Tragödie) häufig bzw. in starkem Maß erregt werden, können dieselben Affekte, also Mitleid und Furcht, auf einen niedrigen Pegel gebracht werden. Dabei ist die Annahme maßgeblich, daß ein hohes Maß an diesen Affekten schädlich ist. Somit wäre durch die medizinisch-emotionale Eindämmung von éleos und phóbos in der Tat eine psycho-physische 'Reinigung' gegeben. In ihrer ausgefeiltesten Ausprägung, nämlich in Lorenzo Giacominis Abhandlung De la purgazione de la tragedia, hat diese Theorie Affinitäten zu den medizinischen Katharsisdeutungen des 20. Jahrhunderts.




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Mit diesem Ansatz verwandt ist die zweite Untergruppe von medizinischen Erklärungsversuchen, die der 'Verdrängungstheoretiker'.15 Hier ist besonders Agnolo Segni (1972) mit seinen Lezioni intorno alla poesia von 1573 zu nennen.16 Segni lehnt die Abhärtungstheorie ab. Durch die Erweckung von Mitleid und Furcht solle die Seele des Zuschauers nicht gegen diese Emotionen abgehärtet werden. Vielmehr solle sie von anderen Affekten gereinigt werden, die Mitleid und Furcht entgegengesetzt seien und die dem Menschen schadeten. Dem Mitleid entgegengesetzt sind Zorn und Haß ("ira" und "odio"). Der Furcht entgegengesetzt ist die Verwegenheit und Tollkühnheit ("ardire"). Und, auch dies diskutiert Segni hier, dem Schmerz entgegengesetzt sei übermütige Freude ("soverchia letizia"). Diese Affekte also, Zorn, Haß, Verwegenheit und freudigen Übermut, weise die Tragödie in ihre Schranken, indem im Zuschauer jeweils die entgegengesetzten Affekte erregt würden. Wer z.B. Mitleid verspürt, in dem werden Zorn und Haß zunichte, usw. Da die genannten Affekte dem Menschen schädlich seien, erweise sich der besondere Nutzen der Tragödie darin, daß sie den Menschen von ihnen befreie. Dadurch erleichtere sie ihn und lasse ihn seine spezifisch menschliche Situation erkennen.17

Neben den emotionalen und medizinischen Erklärungsversuchen steht in der Frühen Neuzeit der Ansatz, die Katharsis rationalistisch zu deuten (so u.a. die Dichtungstheorien von A.S. Minturno und von J.C. Scaliger).18 Dabei wird die Katharsis im wesentlichen als ein Erkenntnisprozeß oder als das Resultat eines solchen Prozesses gedeutet. Den Affekten gegenüber herrscht vergleichsweise große Skepsis. Das Emotionale wird zumeist mit der übergeordneten Ratio kontrastiert. Die Affekte spielen dabei nicht durchweg eine negative Rolle, aber sie sind doch nur dann positiv valorisierbar, wenn sie sich dem Regulativ der Vernunft unterordnen. Indem die Tragödie zeigt, daß schädliche Affekte fatale Folgen haben können, legt sie dem Zuschauer nahe, sich solcher schädlichen Affekte in der Lebenswelt zu entledigen. Der Zuschauer erkennt also an der Tragödie rational, daß Affekte schädlich sein können, und er zieht daraus eine rationale, erkenntnismäßige Schlußfolgerung. Diese betrifft häufig nicht nur einzelne Affekte und führt nicht nur zu einer diese Affekte betreffenden Gelassenheit. Sondern die rationale Erkenntnis, die die Tragödie reinigend vermittelt, lehrt den Menschen auch Weitergehendes: So lehrt sie ihn Gelassenheit gegenüber den Schlägen des Schicksals, die man vorausbedenken, die man eventuell vermeiden und die man nach ihrem Eintritt durch die Lehre der Tragödie jedenfalls leichter ertragen kann. Die Tragödie erzieht den Menschen auch zur Vorsicht: Entsetzt vom Sturz selbst des Unschuldigen, sieht sich der Zuschauer für die eigene Person vor. Belehrt vom Schicksal der tragischen Protagonisten, die durch allzu heftige Affekte oder verbrecherische Taten ins Unglück geraten sind, nimmt sich der Zuschauer vor solchen Affekten und solchen Taten in acht. Von der Tragödie informiert über den Fall irdischer Größe, mindert der Zuschauer seine Liebe zu den irdischen Dingen. So reduzieren sich auch Habsucht, Ehrgeiz und dergleichen.

Solche Ansätze sind, wie man sieht, nicht nur rationalistisch, sondern im weiteren Sinne auch moralisierend. Sie setzen voraus, daß die tragische Handlung im Zuschauer durch ihre Entsetzlichkeiten Mitleid und Furcht erweckt und daß durch diese Erweckung ein Erkenntnisprozeß ermöglicht wird. Dabei reduzieren sich teils die Affekte Mitleid und Furcht selbst, so daß Gelassenheit resultiert. Teils werden aber auch weitergehende moralische Fehlhaltungen abgebaut, wenn es um die Reduktion aller möglichen aufs Weltliche zielenden Bestrebungen geht wie etwa des Ehrgeizes.




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Die moralisierenden Katharsis-Interpretationen sind heute nicht mehr im Schwange. Zu eindeutig ist aus unserer heutigen Sicht, daß Aristoteles selbst von Katharsis nicht in einem solchen Sinn spricht. Doch in der Frühen Neuzeit war die moralisierende Deutung und damit Rechtfertigung von Dichtung weit verbreitet. Die somit bezweckte Rechtfertigung der Dichtung konnte dazu dienen, sie vor kirchlich-theologischer Kritik in Zeiten der Gegenreformation in Schutz zu nehmen. Sie konnte aber auch dazu dienen, Dichtung in hierarchisch kontrollierten Gesellschaften akzeptabel zu machen: Das Programm einer moralischen Reinigung und Läuterung des Publikums konnte in höfischem Kontext konform gehen mit der Einpassung des Publikums in einen hierarchisch-absolutistischen lebensweltlichen Kontext. So ist es wenig überraschend, daß moralistische Tragödieninterpretationen im Frankreich des 17. Jahrhunderts häufig sind. Am Ende der Phase, in der die 'doctrine classique' in Frankreich sich zunächst etablierte und dann regierte, schreibt René Rapin in seinen poetologischen Aristoteles-Reflexionen in diesem Sinn:

La tragedie rectifie l'usage des passions en moderant la crainte & la pitié, qui sont des obstacles à la vertu. Elle apprend aux hommes que le vice n'est jamais impuni, quand elle represente Egiste dans l'Electre de Sophocle puny, aprés avoir joüy de son crime, l'espace de dix ans. Elle enseigne que les faveurs de la fortune, & les grandeurs du monde ne sont pas toûjours de veritables biens, quand elle montre sur le theatre une Reyne aussi mal-heureuse que l'est Hecube qui déplore d'un air si touchant ses mal-heurs dans Euripide. (Rapin 1674/1973: 21f.)

Hier sehen wir, wie (anders als bei Aristoteles) die kathartische Mäßigung von Furcht und Mitleid19 darin begründet, daß der Zuschauer sieht, wie das Laster stets bestraft wird – weshalb er sich des Lasters enthalten wird. Außerdem soll (ganz in der Tradition rationalistischer Katharsisdeutung) laut Rapin der Zuschauer auch lernen, daß er die weltlichen Güter nicht zu hoch schätzen darf, da sie häufig gar keine wirklichen Güter seien. Rapin setzt somit eine allgemeine Mäßigung von Fehlhaltungen als kathartisches Wirkungsziel der Tragödie an: Furcht und Mitleid sollen gedämpft werden. Und darüber hinaus sollen ganz allgemein moralische Fehlhaltungen aller Art, Resultate von zügelloser Begierde wie etwa der Habgier, durch eine rationale Erkenntnis des Zuschauers überführt werden in eine stoizistische Gelassenheit und Genügsamkeit dem Weltgeschehen gegenüber. Schon über dreißig Jahre zuvor hatte Jules de La Mesnardière in seiner Poétique ein moralistisches Wirkungsziel der Tragödie festgeschrieben, wenn es bei ihm hieß, der "principal dessein" der Tragödie bestehe darin, "d'honnorer la vertu, & de corriger le vice" (La Mesnardière 1640/1972: 222): "Que les plus justes Tragedies sont celles où les forfaits ont leurs punitions légitimes, & les vertus leurs recompenses" (La Mesnardière 1640/1972: 223).

Allerdings sieht man bei Mesnardière auch, mit welchen Problemen die Etablierung eines rationalistisch-moralisierenden Katharsis-Modells zu kämpfen hat: Denn zum einen muß er in sehr weitschweifigen Argumentationsgängen dieses Modell gegen den Wortlaut des von ihm an sich ganz zutreffend paraphrasierten Aristoteles-Textes20 etablieren. Zum anderen fügt sich seine Auffassung der poetischen Gerechtigkeit bruchlos eigentlich nur zu einem von zwei Wirkaffekten, nämlich zur Furcht: Immer wieder zeigt La Mesnardière auf, wie das Gefühl der Furcht beim Zuschauer zu einer Form der apotreptischen Katharsis führen soll. So sagt er etwa zur Bühnengestalt der Phaedra bei Seneca:




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Et peut-on la [Phaedra] voir mourir auprés du corps de ce prince [Hippolytus] par un supplice volontaire, sans concevoir de la Terreur qui corrige puisamment les ames incestueuses de l'inclination qu'elles ont à ces detestables Amours? (La Mesnardière 1640 / 1972: 206f.)

Das heißt also: Der Wirkaffekt der Terreur schreckt den Zuschauer davon ab, so schaurige Verbrechen zu erwägen oder zu begehen, wie Phaedra sie erwogen und begangen hat. Zugleich aber, und hier liegt die Crux von La Mesnardières Argumentation, zugleich soll auch der zweite aristotelische Wirkaffekt im Zuschauer hervorgerufen werden, und dieser Wirkaffekt ist nun eine positiv konnotierte "pitié", die la Mesnardière für wichtiger hält als die "terreur" – und die mit einer rationalistisch-apotreptischen Katharsis gar nichts mehr zu tun haben kann: "Bien que Phedre soit coupable d'un inceste prémedité, & d'un parricide commis, peut-on entendre les plaintes qu'elle fait aprés la mort de son deplorable Hippolyte, sans estre touché de Pitié, & sans louer hautement sa noble Resipiscence?" (La Mesnardière 1640 / 1972: 206).

Hier zeichnet sich die Tendenz ab, die beiden aristotelischen Wirkaffekte voneinander zu entkoppeln. Am Beispiel von Phaedra läßt La Mesnardière "terreur" und "pitié" zumindest noch auf ein und dieselbe Bühnenfigur gerichtet sein, aber schon zu Beginn seiner umfangreichen Schrift theoretisiert er auch die Lösung, Mitleid und Furcht separat zu nehmen und auf ganz unterschiedliche Tragödientypen zu beziehen: Mitleid wird demnach hervorgerufen, wenn in einer Tragödie ein nur geringes Verschulden der tragischen Hauptfigur vorliegt, wenn wir es zu tun haben mit "des calamitez des personnes imparfaites, moins coupables que malheureuses" (La Mesnardière 1640/1972: 22). Furcht dagegen erwecken diejenigen Tragödien, die die großen Bösen des Bühnengeschehens auftreten lassen, "des Héros qui soient coupables de grans crimes" (La Mesnardière 1640 / 1972: 19).

Auf diesem Weg einer Trennung der beiden Wirkaffekte ist Corneille mit sehr eigener Akzentsetzung weitergegangen.21 Im zweiten seiner 1660 publizierten Trois discours sur le poème dramatique, dem Discours de la tragédie et des moyens de la traiter, unterstreicht er ausdrücklich, angesichts der zeitgenössischen Empfänglichkeit für die poetische Gerechtigkeit sei mit dem Aristoteles-Text nur zurechtzukommen, indem man die tragischen Wirkaffekte "pitié" und "crainte" systematisch auseinanderhalte. Für das Zustandekommen der tragischen "purgation", also der Katharsis, sei die "crainte" allein schon ausreichend; "pitié" könne beim Zuschauer ergänzend hinzutreten, müsse dies aber nicht (Corneille 1987: 147f.). Damit hat Corneille das Problem von La Mesnardière gelöst: Mitleid ist in der Katharsis-Produktion nur unterstützend tätig. Auch die bei La Mesnardière schon aufgeworfene Frage, auf wen sich Mitleid und Furcht jeweils zu richten hätten, beantwortet Corneille eindeutig, und zwar im Sinne einer moralisierenden Interpretation, die auf eine 'allopathische' Katharsis abzielt – also auf eine 'Reinigung' von anderen Affekten als es Mitleid und Furcht selbst sind:

Ainsi la pitié embrasse l'intérêt de la personne que nous voyons suffrir, la crainte qui la suit regarde le nôtre, et ce passage seul nous donne assez d'ouverture, pour trouver la manière dont se fait la purgation des passions dans la tragédie. La pitié d'un malheur où nous voyons tomber nos semblables, nous porte à la crainte d'un pareil pour nous; cette crainte au désir de l'éviter; et ce désir à purger, modérer, rectifier, et même déraciner en nous la passion qui plonge à nos yeux dans ce malheur les personnes que nous plaignons: par cette raison commune, mais naturelle et indubitable, que pour éviter l'effet il faut retrancher la cause. (Corneille 1987: 142f.)




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Als Beispiele für die Leidenschaften, die die oft bemitleidenswerten Figuren auf der Bühne ins Unglück treiben und die der Zuschauer daher aus Furcht im eigenen Leben zügeln möchte, nennt Corneille "ambition", "amour", "haine" und "vengeance" (Corneille 1987: 143). Damit hat Corneille ein eigenständiges Katharsis-System entwickelt, das er aber alsbald wieder fallen läßt. Er erklärt ausdrücklich seinen Zweifel, ob die Katharsis im Theater sich tatsächlich jemals schon ereignet habe:

Si la purgation des passions se fait dans la tragédie, je tiens qu'elle doit se faire de la manière que je l'explique; mais je doute si elle s'y fait jamais, et dans celles-là même qui ont les conditions que demande Aristote. [...] j'ai bien peur que le raisonnement d'Aristote sur ce point ne soit qu'une belle idée, qui n'ait jamais son effet dans la vérité. (Corneille 1987: 145f.)

Mithin trennt Corneille die aristotelischen Wirkaffekte, denen er andernorts (v.a. im "Avis" und im "Examen" zu Nicomède) einen dritten Wirkaffekt hinzufügt, nämlich die "admiration", die moraldidaktisch exaltierende Bewunderung für den positiv gezeichneten Helden, den er gegen Aristoteles zulassen will. Und nicht genug damit, daß Corneille Mitleid und Furcht separiert, im Grunde quittiert er die gesamte Katharsis-Diskussion achselzuckend, wenn er die so vieldiskutierte tragische Reinigung des Aristoteles zur dramaturgiefernen "belle idée" stempelt.


3. Der Katharsis-Satz des Aristoteles – bei Racine

Ganz anders Racine. Seine direkteste Auseinandersetzung mit dem Katharsis-Satz des Aristoteles22 findet sich in seiner französischen Übersetzung wichtiger Partien der Poetik. Diese Übersetzung hat Racine an den Rand seines Exemplars einer lateinischen Version der Poetik notiert. Diese Version stammt vom italienischen Humanisten Petrus Victorius, ist in zweiter Auflage in Florenz 1573 erschienen und wird von Racine an den Seitenrändern nicht nur ins Französische übersetzt, sondern auch kommentierend erweitert. Der Katharsis-Satz lautet in Racines Fassung wie folgt:

Elle [l'imitation de la tragédie] ne se fait point par un récit, mais par une représentation vive qui, excitant la pitié et la terreur, purge et tempère ces sortes de passions. C'est-à-dire qu'en esmouvant ces passions, elle leur oste ce qu'elles ont d'excessif et de vitieux, et les rameine à un estat modéré et conforme à la raison.(Racine 1968: 11f.; kursiv: interpretierende Zusätze Racines zum Wortlaut des Aristoteles-Textes)

Unmittelbar damit zusammenzusehen ist Racines interpretierende Wiedergabe jenes weiteren Aristoteles-Satzes, in dem das für die Katharsis ideale Handlungsmodell der Tragödie postuliert wird. Racine faßt diesen Satz so:




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Il faut donc que ce soit un homme qui soit entre les deux, c'est-à-dire qui ne soit point extrêmement juste et vertueux, et qui ne mérite point aussi son malheur par un excez de meschanceté et d'injustice. Mais il faut que ce soit un homme qui, par sa faute, devienne malheureux, et tombe d'une grande félicité et d'un rang très considérable dans une grande misère [...]. (Racine 1968: 19f. ; kursiv: interpretierende Zusätze Racines zum Wortlaut des Aristoteles-Textes)

Daran fällt mehrerlei auf. Zunächst: Racine, der verglichen mit seinen Zeitgenossen hier der Argumentation des Aristoteles eher nahe ist, denkt Mitleid und Furcht im Gegensatz zu La Mesnardière und Corneille wieder zusammen. Zweitens: Racine vertritt hier eine homöopathische, keine allopathische Katharsisdeutung. Die 'Reinigung' hat Mitleid und Furcht selbst zum Objekt, nicht andere "derartige Leidenschaften" (wie etwa Corneilles "amour", "ambition", "vengeance" oder "haine"). Drittens: Die homöopathische Wirkung auf die Affekte Mitleid und Furcht ist nicht (wie sonst oft) als Ausrottung, sondern eher als Mäßigung und Kultivierung dieser Affekte gefaßt – insofern erinnert Racines Deutung solch einer 'sanften Reinigung' zunächst an die "Kultivierung des Gefühls", von der Arbogast Schmitt heutzutage spricht. Viertens: Racine verbindet, wie Aristoteles, das Entstehen der tragischen Wirkaffekte mit dem peripetiehaften Vollzug der tragischen Handlungskurve. Wo Aristoteles den mitleiderweckenden und furchterregenden Sturz des Protagonisten ins Unheil "wegen eines Fehlers" geschehen läßt, gibt Racine dies mit der Wendung "par sa faute" wieder.23 Insbesondere durch den Gebrauch des Possessivums wird hier aus einem möglicherweise nur erkenntnismäßigen Fehler, einer Fehleinschätzung der tragischen Situation etwa, ein moralisch konnotierter Fehler: Racine verschiebt den Schwerpunkt der tragischen Verfehlung und damit den Quell der tragischen Wirkaffekte und der Katharsis mithin vom Gnoseologischen ins Ethisch-Moralische.

Dieser Befund würde nun zu Racine insgesamt auf den ersten Blick gut passen. Ein Autor, dem man nicht zu Unrecht häufig eine psychologisierende Interiorisierung des Tragischen schlechthin zuschreibt, möchte wohl dazu neigen, den Kern der tragischen Irrung nicht in objektivierbaren Fehlurteilen, sondern in seelisch-moralischen Verfehlungen zu suchen. Allein, bei näherem Hinsehen stimmt die Programmatik von Racines Vorreden, in denen er sich zum Katharsis-Problem äußert, keineswegs zu jener Deutung am Rande seines Aristoteles-Exemplars. Die hier wichtigen Vorreden sind die zur Iphigénie, zur Andromaque und (ganz besonders) zur Phèdre. Daß die Programmatik der Racineschen Vorreden in Sachen Katharsis und Wirkung der Tragödie nicht einheitlich ist, erhellt übrigens schon ein Blick auf das Vorwort der Bérénice,24 in dem die Reinigungsfrage völlig ausgeblendet wird. Dieses Vorwort erklärt ja plakativ "La principale Règle est de plaire et de toucher" (Racine 1999: 452). Und das tragödienkonstitutive "plaisir" des Zuschauers wird dementsprechend als "tristesse majestueuse" gefaßt (Racine 1999: 450) – ein ganz anderer Wirkaffekt als die aristotelischen Empfindungen von Mitleid und Furcht. Was die Leidenschaften der Bühnenfiguren angeht, so will sie die "Préface" der Bérénice einfach nur heftig erregt sehen, ohne sie näher zu qualifizieren.25 Hier, in seiner längsten zusammenhängenden poetologischen Äußerung überhaupt, verabschiedet sich Racine dezidiert von der Katharsis zugunsten einer statischen und gewaltigen Traurigkeitsempfindung, die im Publikum wachgerufen werden soll.




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Aber zurück zu den anderen Vorreden. In ihnen bringt der vermeintliche Paradearistoteliker Racine plötzlich wieder den zeittypischen Gedanken der poetischen Gerechtigkeit in eine unaristotelische Verbindung mit der Katharsis. So kommentiert Racine im Vorwort zur Iphigénie seine Einführung der Gestalt der Ériphile, die am Schluß des Stücks Selbstmord begeht, wie folgt:

Je puis dire donc que j'ai été très heureux de trouver dans les Anciens cette autre Iphigénie, que j'ai pu représenter telle qu'il m'a plu, et qui tombant dans le malheur où cette Amante jalouse voulait précipiter sa Rivale, mérite en quelque façon d'être punie, sans être pourtant tout à fait indigne de compassion. (Racine 1999: 698)

In einer Art und Weise, die nachgerade an La Mesnardières Versuche erinnert, poetische Gerechtigkeit und aristotelisches Mitleid engzuführen, stellt Racine hier neben den Wirkaffekt der "compassion" die Notwendigkeit, eine Hauptfigur zu bestrafen. Das ist kein Einzelfall. Bereits die erste Vorrede zur Andromaque hatte in die aristotelische Theorie des idealen Handlungsmodells (der 'mittlere Held' gerät durch einen verständlichen und nachvollziehbaren Fehler ins Unglück) in eigenwilliger Weise das Bestrafungsmotiv eingezogen:

Il [Aristoteles] ne veut pas qu'ils [die tragischen Hauptfiguren] soient extrêmement bons, parce que la punition d'un homme de bien exciterait plutôt l'indignation, que la pitié du spectateur; ni qu'ils soient méchants avec excès, parce qu'on n'a point pitié d'un scélérat. (Racine 1999: 198)

Mit dem Postulat der Mittelmäßigkeit des Charakters verbindet Racine hier, daß die Figur aufgrund eines moralischen Verschuldens, "par quelque faute", nicht etwa einfach ins Unglück stürzt, sondern dieses Unglück im Sinne poetischer Gerechtigkeit eine Bestrafung und somit eine scharfe Korrektur von Fehlverhalten darstellt. Erscheint dieses Fehlverhalten hier programmatisch neben seiner Strafwürdigkeit auch noch bemitleidenswert, so löscht Racine in der "Préface" zur Phèdre jede Konnotation von "pitié" oder "compassion" vollständig. Die Vorrede präsentiert das Stück als eine Schule der Tugend, die allenthalben unter dem Regnum poetischer Gerechtigkeit steht: "Les moindres fautes y sont sévèrement punies. La seule pensée du crime y est regardée avec autant d'horreur que le crime même. [...] le vice y est peint partout avec des couleurs qui en font connaître et haïr la difformité" (Racine 1999: 819).

Als Ideal hinter dieser Bestrafungsideologie, die die Phèdre haben soll, benennt Racines Vorrede das tragische Theater der antiken Griechen, das er wörtlich eine 'Schule der Tugend' nennt.26 Diese 'école' der 'vertu' zeichnet sich augenscheinlich dadurch aus, daß Figuren, die sich in ihren Verfehlungen als lasterhaft erweisen, in moraldidaktisch funktionalisierter Weise scheitern (ein Handlungsmodell, das Aristoteles ja als human, aber ganz untragisch bezeichnet hatte). In der Phèdre selbst soll gemäß dem Programm der Vorrede offensichtlich die Titelfigur das zu bestrafende Exempel abgeben. Phèdre wird von Racine allerdings als mittlerer Charakter bezeichnet, "ni tout à fait coupable, ni tout à fait innocente" (Racine 1999: 817). Im Sinne eines Tugendexempels zu bestrafen ist offensichtlich ihre "passion illégitime" (Racine 1999: 817) für den Stiefsohn Hippolyte, obwohl sie sich selbst heftig gegen diese Leidenschaft stemmt.




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Bis hierher können wir bilanzieren: Racines Vorreden, in denen die Katharsisproblematik angerissen wird, tendieren gewöhnlich dazu, das Modell der poetischen Gerechtigkeit auf die Handlung der Stücke zu applizieren. Damit ruft Racine die zeitgenössisch gängigste Strategie auf, Tragödien offiziös zu rechtfertigen. Die als unvermeidlich inszenierte Bestrafung moralischer Fehlhaltung macht Literatur höfisch kompatibel, da sie dadurch als Erziehungsinstrument im Sinne der herrschenden politisch-sozialen Verhältnisse begriffen werden kann. So hat Volker Kapp die "Verurteilung der Leidenschaft im Namen moralischer Prinzipien", die in der Phèdre statthabe, als Indiz für die Idealisierung des Höfischen bei Racine gewertet (Kapp 1981: 171). Kapp schreibt weiter, der "fol amour", der besonders Phèdre, aber auch Hippolyte auszeichne, sei "ein warnendes Beispiel für die Katastrophe, die ein mit dem Sieg der Leidenschaften motivierter Rückzug aus der Gesellschaft nach sich zieht. Die Inkriminierung des 'fol amour' diente in diesem Fall der Rechtfertigung des Absolutheitsanspruchs der Krone, die keinen Raum geistiger Unabhängigkeit außerhalb ihrer Einflußsphäre duldet [...]. Die tragische Moralität der Phèdre ist dann ein negativer Nachweis der Bedeutung der Dämpfung der Leidenschaften, die das Funktionieren der höfischen Welt ermöglicht" (ebd.: 171). Diese Dämpfung der Leidenschaften stehe mithin im Kontext des Kampfes "um die Rangstufen des gesellschaftlichen Prestiges" (ebd.: 169). Und dieser Kampf, so sagt Kapp unter Verweis auf Die höfische Gesellschaft von Norbert Elias,27 sei bei Racine der eigentliche "Gegenstand der Katharsis in der Tragödie" (ebd.: 169).

Die These, Racines tragisches Theater diene einer 'Idealisierung des Höfischen' und die Katharsis sei in seinen Stücken dementsprechend funktionalisiert, scheint mir sehr fraglich. Man könnte nämlich gut und gerne behaupten, daß eine im obigen Sinn umrissene, höfisch konturierte Katharsis-Konzeption, die bei Racine in jener Verquickung mit dem Handlungsmodell strafender Gerechtigkeit auftritt, daß diese moralisierende Katharsis der Bestrafung im Theater Racines eine offiziöse Vorblende ist.28 Dieser Vorblende, die nur eine Katharsis-Behauptung ist und die Stücke in einer höfischen Welt offiziell rezipierbar machen soll, entsprechen die Stücke selbst in keiner Weise. Das verrät Racine selbst quasi unwillkürlich in der "Préface" der Phèdre. Denn dort sagt er nicht nur, daß Phèdre ein mittlerer Charakter sei, und impliziert nicht nur, daß sie im Sinne einer 'Schule der Tugend' zu bestrafen sei. Sondern er sagt auch folgendes: "Et lorsqu'elle est forcée de la [sa passion illégitime] découvrir, elle en parle avec une confusion, qui fait bien voir que son crime est plutôt une punition des Dieux, qu'un mouvement de sa volonté" (Racine 1999: 817).




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Damit steht das ganz im Einklang, was Phèdre selbst im ersten Akt des Stückes über sich sagt. Wie ihre Mutter Pasiphae und ihre Schwester Ariadne sei sie verfolgt vom Haß der Göttin Venus, der offenbar ursächlich für ihren, Phèdres, jetzigen Zustand sein soll.29 Phèdre ist somit nicht, wie man nach der Andromaque-Vorrede sagen könnte, "par quelque faute" bestrafungswürdig. Sie ist weder für einen Erkenntnisfehler zur Rechenschaft zu ziehen (sie erkennt ja fast stets alles!) noch für eine selbstverschuldete, weil prinzipiell auch vermeidbare moralische Verfehlung. Sondern sie unterliegt einer negativen existentiellen Vorbedingung, für die sie selbst nicht so einfach verantwortlich zu machen ist. Wo aber der Wille der Götter Verschuldung verfügt, ist die Notwendigkeit einer Bestrafung des menschlichen Individuums sehr fragwürdig geworden. Damit bricht das Konzept einer moralisierenden Katharsis durch poetische Gerechtigkeit in sich zusammen.

Vergleichbares ließe sich auch für die anderen Stücke Racines behaupten. In der Andromaque etwa sind die Hauptfiguren allesamt durch die Vorgeschichte der älteren Generation gebannt und fixiert. Sie verfehlen sich nicht aus freien Stücken, sondern sie zelebrieren prädeterminiert eine Wiederholungsfigur, die aus der Vergangenheit herrührt. Mit Stierle zu sprechen: Die 'disposition d'esprit' der Hauptfiguren "kreist um jenes episch vergangene Ereignis vom Untergang Trojas, das zu ihrem Verhängnis in allen Figuranten dieser tragischen Verkettung lebendig ist" (Stierle 1985: 104). So aber sind sie von vornherein in einer Welt der 'negativen Anthropologie' gefangen, welche ihnen nicht wirklich Raum läßt, eigenverantwortlich Fehler zu machen, die eine moralisch abgezweckte Abstrafung nachvollziehbar werden ließen.

Auch wenn man auf den inoffiziellen Aristoteliker Racine zurückgeht, der eine Aristoteles-nahe Katharsis-Konzeption auf dem Rand seiner Aristotelesausgabe entwirft, dürfte es schwierig sein, diese Katharsis in seinen Stücken wiederzufinden. Denn dort setzt Racine eindeutig den Aristotelischen Handlungsumschwung als Voraussetzung der homöopatischen Katharsis an, die Mitleid und Furcht purgiert oder temperiert. Der Handlungsumschwung läßt 'mittlere Helden' ins Unglück stürzen, und erst dieser eindeutige Umschwung vom Glück zum Unglück ist es, der Mitleid und Furcht hervorruft und somit die Katharsis überhaupt erst einleitet. Davon geht auch Racine in jenen Anmerkungen eindeutig aus. Doch in seinen Stücken gibt es den traditionellen Sturz ins Unglück eigentlich nicht. Vielmehr regiert überall eine von vornherein gegebene tiefgreifende Dezentrierung des Subjekts (Stierle), die sich stilistisch nicht zuletzt in dem berühmten, von Spitzer so eindringlich analysierten Distanzstil der Figurenrede äußert.30 Die Figuren geraten nicht vom Glück ins Unglück, was katharsisträchtig wäre. Sondern sie sind von vornherein immer schon in ein Abseits des Unglücks gestellt, und der Zuschauer nimmt das auch wahr – in der Bérénice vielleicht am allerklarsten.31 In diesem Stück erkennt man am besten die Zurückdrängung der aristotelischen Wirkaffekte zugunsten einer Privilegierung einer umfassenden "tristesse majestueuse", die die einschlägige "Préface" nicht umsonst als den zentralen Wirkaffekt Racineschen Tragödienschaffens benennt. Diese "tristesse majestueuse" erstickt die von Racines Aristoteles-Randnotizen an sich geforderte homöopathische Moderation von Mitleid und Furcht geradezu.




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Es fällt in den Stücken also sowohl die moralisierend-rationalistische Katharsis aus, die etliche von Racines Vorreden plakativ behaupten, als auch die sanfte Reinigung von Furcht und Mitleid, die Racines private Aristoteles-Interpretation herausstreicht. Dieser Ausfall der Katharsis ist vor dem Hintergrund von Racines grundsätzlich 'negativer Anthropologie' zu sehen. Er ist ein Indiz dafür, daß es sich bei Racines Dramatik nicht um einlinig 'höfisches Theater' handelt, das eine Idealisierung des Höfischen bezweckte. Racine, der die standesbezogenen Darstellungsregeln der 'bienséance' wiederholt überschreitet,32 der sich "jenseits der Spielregeln höfischer Liebe" bewegt (Matzat 2006: 44), der absolutistische Machtstrukturen als Bedrohung des Individuums aufscheinen läßt,33 dem es "niemals um die Gerechtigkeit, die irdische oder die göttliche, zu tun" ist – "ob er es auch selbst glaubte" – (Auerbach 1967: 202), der das Hervorbrechen von Trieben inszeniert, deren Bewältigung scheitert, obgleich sie von der Norm doch gefordert wäre,34 dieser Racine ist weit entfernt von einer Idealisierung des Höfischen. Er ist vielmehr ein eminent konterdiskursiver Autor, ein Dichter der "entfesselte[n] Affektivität, die sich der 'schicklichen' Sprache nur zu bedienen scheint, um ihre eigene, fundamentale Unschicklichkeit einer höfischen-repräsentativen Gesellschaft überhaupt akzeptabel zu machen" (Warning 1999: 334). Stierle hat eindringlich aufzeigen können, daß die negative Anthropologie Racines und anderer dezidiert unhöfisch gerichtet ist:

Durch die Leidenschaft wird das Subjekt in den Antrieben seines Handelns sich selbst wie den gesellschaftlichen Normen entzogen. [...] Während politisch von Ludwig XIV. und seinen Ministern die Zentriertheit aller Lebensverhältnisse um den Mittelpunkt des Staatswesens angestrebt wird, wird im Diskurs der negativen Anthropologie die Dezentriertheit des Ich zum Thema gemacht [...], während die Gesellschaft mit ihren Normen höchste Dignität genießt, erhellt die negative Anthropologie die Verfallenheit des Ich an sich selbst. (Stierle 1985: 102, 119)

Die Stücke Racines sind in ihrer Handlungswelt so grundlegend negativ verfaßt, so ohne positive Kontrastfolie, daß eine Katharsis, die ja stillschweigend immer die Propagierung oder wenigstens Existenz positiver Werte voraussetzt, hier gar nicht funktionieren kann. Selbst rein medizinisch gefaßt, wäre ihr Resultat statt psychophysischer Entspannung eher nachhaltige depressive Verstimmung.


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Anmerkungen

1 Der hier vorgelegte Text ist die ausgearbeitete Fassung eines Vortrags, den ich am 20. Januar 2009 am Romanischen Seminar der Ruhr-Universität Bochum gehalten habe. David Nelting danke ich für die Einladung, Dietrich Scholler für die Gelegenheit zur Publikation in phin.de, den Diskutanten für ihre kritischen Nachfragen. Der ursprüngliche Vortragsstil ist zu einem geringen Teil beibehalten.

2 Vgl. Schmitt (1994), Schmitt (1996), Schmitt (1997), Schmitt (1998) und Schmitt (2004).

3 Man vergleiche z.B. die Wiedergabe des Passus aus Kap. 14, in dem Aristoteles davon spricht, daß tragische Handlungen dann besonders wirkkräftig seien, wenn sie sich unter Figuren abspielten, die einander verwandtschaftlich eng verbunden seien. Hier übersetzt Schmitt (in Aristoteles 2008: 19): "Dann aber [empfindet man Furcht und Mitleid], wenn großes Leid unter einander lieben Menschen geschieht, etwa wenn der Bruder den Bruder, der Sohn den Vater, die Mutter den Sohn oder der Sohn die Mutter tötet oder den Plan dazu fasst oder etwas anderes von dieser Art tut. Solche Handlungen muss man suchen." Dagegen heißt es bei Fuhrmann (in Aristoteles 21994: 43): "Sooft sich aber das schwere Leid innerhalb von Naheverhältnissen ereignet (z.B.: ein Bruder steht gegen den Bruder oder ein Sohn gegen den Vater oder eine Mutter gegen den Sohn oder ein Sohn gegen die Mutter; der eine tötet den anderen oder er beabsichtigt, ihn zu töten, oder er tut ihm etwas anderes derartiges an) – nach diesen Fällen muß man Ausschau halten." Fraglos ist, auch aufgrund der vorgenommenen syntaktischen Ergänzung, Schmitts Version 'lesbarer' – und dennoch trifft Fuhrmanns Phrasierung "innerhalb von Naheverhältnissen" (für griech. en taîs philíais) den theoretisch virulenten Punkt erheblich genauer als Schmitts allgemeines und in seiner Wörtlichkeit ungewollt ironisches "unter einander lieben Menschen" (die sich ggf. töten oder das beabsichtigen).

4 Zur Rezeption insgesamt vgl. Mittenzwei (2001) und überblicksartig Zimmermann (1999).

5 Vgl. Schadewaldt (1955), mit den in der Bibliographie angegebenen Nachdrucken. Schadewaldt schließt an eine Position an, die bereits Bernays (1857) vertreten hatte. Vgl. zum Folgenden überblicksartig Galle (2005: 124f.).

6 Schadewaldt (1955); hier zit. nach Galle (2005: 125).

7 Schadewaldt (1955); hier zit. nach Schmitt in Aristoteles (2008: 498).

8 Vgl. bes. Flashar (1956).

9 Vgl. neben Schmitts Poetik-Kommentar bes. Cessi (1987), Schmitt (1988), Schmitt (1994), Kappl (2006).

10 Vgl. bspw. Zimmermann (1999: 350).

11 So Schmitt in Aristoteles (2008: 492), vgl. ebd. 492–496 und siehe auch ebd. 334 ("Kultur des Gefühls"); 340 ("Bildung der Gefühle").

12 Vgl. zum Folgenden die sehr detailreiche Darstellung von Kappl (2006: 266–311). Die dort getroffenen Kategorisierungen, die im obigen Text nachvollzogen werden, simplifizieren und haben zuallererst heuristische Funktion. Denn de facto überschneiden sich in zahlreichen Katharsis-Theorien der Renaissance medizinisch-emotionaler Ansatz und rationalistisch-moralisierender Ansatz durchaus.

13 Nämlich von Lorenzo Giacomini in De la purgazione de la tragedia von 1586 (Giacomini 1972). Vgl. dort bes. 348f., wo die von uns im Folgenden getroffenen, an Kappl (2006) orientierten Ausdifferenzierungen schon grundgelegt sind. Giacomini unterscheidet dort (a) 'Abhärtungstheorie', (b) 'Verdrängungstheorie' und (c) einen rationalistisch-moralisierenden Ansatz. Vgl. zu (a): "Vogliono alcuni che la tragedia purghi da la compassione e dal timore, perché gli uomini assuefacendosi a compassionevoli et orribili avvenimenti, meno temono e meno si dolgono e men compatiscono, avendo massimamente vedute in altri infelicità maggiori." Zu (b): "Ma altri vogliono che la tragedia per mezzo de la compassione e de la paura purghi non le istesse passioni, ma le contrarie, ciò sono invidia, odio, ira, allegrezza e confidenza." Zu (c): "Altri finalmente, non approvando alcuna de le dette due sentenze, hanno eletto altra che è nel mezzo tra queste: cioè, che la tragedia visibilmente rappresentando la fragilità e la mutabilità di quei beni ne' quali è detta regnare la ingannatrice fortuna, moderi l'amore, il desiderio, la speranza e l'allegrezza di essi [...]". Im weiteren Verlauf seiner Argumentation entwickelt Giacomini eine ausführliche Kritik aller drei Positionen.




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14 Der Terminus bei Kappl (2006: 307).

15 Der Terminus hier verwendet in Anlehnung an Kappl (2006: 307).

16 Detaillierter dazu Kappl (2006: 289–292).

17 Vgl. Kappl (2006: 291).

18 Vgl. zum Folgenden Kappl (2006: 308f.).

19 Diesbezüglich scheint das soeben angeführte Zitat nahezulegen, Rapin vertrete einen rein 'homöopathischen' Ansatz. Tatsächlich aber verquickt er einen solchen Ansatz mit einer 'allopathischen' Dimension: Durch die Katharsis von phóbos und éleos wird sowohl ein Übermaß an 'crainte' und 'compassion' als auch ein Übermaß an deren Gegenkräften 'orgueil' und 'dureté' abgebaut. Rapin kombiniert im Grunde alle drei Ansätze, die zuvor für die italienische Renaissance ausdifferenziert worden waren: Unter rationalistischen Prämissen findet die Abhärtung gegen ein Übermaß der eigentlichen aristotelischen Wirkaffekte ebenso statt wie die regulierende Verdrängung von deren jeweiligem Widerpart, sofern auch hier ein exzessives Quantum festzustellen ist. Vgl. bes. Rapin (1674/1973: 169–171): "Ce Philosophe [Aristote] avoit reconnu deux defauts importans à regler dans l'homme, l'orgueil & la dureté, & il trouva le remede à ces deux defauts dans la Tragedie. Car elle rend l'homme modeste, en luy representant des Grands humiliés; & elle le rend sensible & pitoyable, en luy faisant voir sur le theatre les étranges accidens de la vie & les disgraces impreveües, ausquelles sont sujettes les personnes les plus importantes. Mais parce que l'homme est naturellement timide, & compatissant, il peut tomber dans une autre extremité, d'estre ou trop craintif, ou trop pitoyable: la trop grande crainte peut diminuer la fermeté de l'ame, & la trop grande compassion peut diminuer l'équité. La Tragedie s'occupe à regler ces deux foiblesses: elle fait qu'on s'apprivoise aux disgraces, en ley voyant si frequentes dans les personnes les plus considerables: & qu'on cesse de craindre les accidens ordinaires, quand on en voit arriver de si extraordinaires aux Grands. Mais comme la fin de la Tragedie est d'apprendre aux hommes à ne pas craindre trop foiblement des disgraces communes, & à ménager leur crainte: elle fait estat aussi de leur apprendre à menager leur compassion, pour des sujets qui la meritent. Car il y a de l'injustice d'estre touché des malheurs de ceux, qui meritent d'estre miserables."

20 Vgl. La Mesnardière (1640/1972: 8).

21 Vgl. allgemein Émelina (1998) sowie, auch zum Konnex mit Racine, Wagner (1987).

22 Vgl. allgemein bes. Duchêne (1990); s.a. Nagamori (1998).

23 Vgl. Duchêne (1990: 88f.).

24 Vgl. zum programmatischen Vorwort der Bérénice und zum 'Tod des Tragischen' in diesem Stück insgesamt Huss (2006).

25 Racine (1999: 450): "il suffit [...] que les Passions y [in der Handlung] soient excitées".

26 "Et c'est ce que les premiers Poètes Tragiques avaient en vue sur toute chose. Leur Théâtre était une Écolela vertu n'était pas moins bien enseignée que dans les Écoles des Philosophes" (Racine 1999: 819, Kursivierung B.H.).




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27 Vgl. Elias (1983). Elias selbst zieht eine ähnliche Verbindung zwischen den Konstitutionsregeln der höfischen Gesellschaft und der klassischen Tragödie. Für ihn ist das klassische französische Drama ein unmittelbares Element im höfischen Gesellschaftsleben, keine "Feiertagsbeschäftigung" (170). "Die Zuschauer sitzen mit auf der Bühne, füllen Hintergrund und Seiten. Was man dann zwischen ihnen vorträgt, zeigt die gleiche Abgemessenheit, die gleiche Durchdachtheit des Aufbaus, die für das höfische Leben im Ganzen charakteristisch ist. Leidenschaften können stark sein; leidenschaftliche Ausbrüche sind verpönt. Nicht der Inhalt des Stückes ist es ja, auf den es in erster Linie ankommt, es handelt sich ja fast immer um längst bekannte Stoffe, sondern auf die Feinheit der Manier, in der die agierenden Menschen ihr Schicksal bewältigen, ihre Konflikte lösen, wie auch im Leben der für alle gehobenen Schichten maßgebenden höfischen Gesellschaft die Art und Weise, die Manier, in der der Mensch jeweils eine Situation bewältigt, immer von entscheidender Bedeutung war. Und entsprechend der weitgehenden Abschnürung der höfischen Gesellschaft von jeder Aktion, die sich nicht auch in Worten, nämlich als Konversation vollzog, finden sich auch hier, im klassischen Drama Frankreichs, im Gegensatz zu dem englischen, nicht eigentlich Aktionen dargestellt, sondern Konversationen und Deklamationen über Aktionen, die sich selbst zumeist den Augen des Zuschauers entziehen." (170f.) Dabei sollen bestimmte höfische Charakteristika in der Dramatik "mindestens als Ideal" wiedergefunden werden können: "Die Gelassenheit, die Mäßigung der Affekte, Ruhe und Besonnenheit und nicht zuletzt jene spezifische Feierlichkeit, durch welche sich die höfischen Menschen aus der Masse der anderen heraushoben." (171) Demgegenüber stehen Gegenbewegungen, die der höfische Rationalitätszwang erzeugt, nämlich "Versuche zu einer Emanzipation des 'Gefühls', die immer zugleich Versuche zur Emanzipation des Individuums gegenüber einem bestimmten gesellschaftlichen Druck sind, die aber im Frankreich des 17. Jahrhunderts, äußerlich wenigstens, immer zu Niederlagen führen" (171). Ein solchermaßen höfisches Theater scheint mir zumindest bei Racine nicht nachweisbar, bei dem jene "Niederlagen" einen allpervasiven Charakter gewinnen: Sie spielen sich aufgrund der negativen Verfaßtheit des Kosmos so ab und haben nicht eine positive Kontrastfolie höfischen Verhaltens. Vgl. das oben Folgende. Daß die Funktion, die Elias hier der Tragödie zuschreibt, im Frankreich Ludwigs XIV. nicht von Racines Stücken, sondern von der 'tragédie en musique' Lullys und Quinaults weitgehend okkupiert wird, hoffe ich an anderer Stelle zeigen zu können.

28 Wo diese Vorblende nicht aufgezogen wird, können Racines Versuche, sich programmatisch auf das Katharsis-Theorem zu berufen, zu verräterischen Zeugnissen einer 'schwarzen Weltsicht' geraten (die der Aufruf des Modells der 'poetischen Gerechtigkeit' in den oben besprochenen Vorreden gerade kaschieren soll). So muß in der "Préface" zu Britannicus der jugendlich-naive, offenherzige und von emotionaler Wärme geprägte Charakter des Titelhelden herhalten, um die Erweckung des Affekts der "compassion" zu rechtfertigen: "Les autres se sont scandalisés que j'eusse choisi un homme aussi jeune que Britannicus pour le Héros d'une Tragédie. Je leur ai déclaré dans la Préface d'Andromaque les sentiments d'Aristote sur le Héros de la Tragédie, et que bien loin d'être parfait, il faut toujours qu'il ait quelque imperfection. Mais je leur dirai encore ici qu'un jeune Prince de dix-sept ans, qui a beaucoup de cœur, beaucoup d'amour, beaucoup de franchise et beaucoup de crédulité, qualités ordinaires d'un jeune homme, m'a semblé très capable d'exciter la compassion." (Racine 1999: 373). Merkmale der Jugend und ein positiver Charakter, gewertet als "imperfection", sichern hier im Verbund mit dem Sturz ins Unglück die "compassion" – ein Beleg für Racines fundamentalen Pessimismus (dazu vgl. oben das Folgende), aber nicht für eine im Sinne des Aristoteles funktionierende tragische Reinigung. Signifikant ist übrigens, daß Racine hier in diametralem Gegensatz zu Corneille nur noch die "compassion" als Wirkaffekt einer als heillos dargestellten Theaterwelt aufruft, die "crainte" (resp. "terreur") dagegen außen vor läßt.

29 Vgl. Akt 1, Szene 3, Vers 249–258: "Phèdre: Ô haine de Vénus! Ô fatale colère! | Dans quels égarements l'amour jeta ma Mére! | [...] | Ariane ma Sœur! De quel amour blessée, | Vous mourûtes aux bords où vous fûtes laissée! | [...] | Puisque Vénus le veut, de ce sang déplorable | Je péris la dernière, et la plus misérable." (Racine 1999: 829f., mit Auslassung der Repliken von Œnone)




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30 Vgl. zum 'Kontroll- und Defensivstil' von Racines tragischem Dialog Spitzer (1931, bes. 137f., 153, 216, 250, 259).

31 Vgl. dazu nochmals Huss (2006), dort bes. das abschließende Fazit.

32 Vgl. Neuschäfer (1971: XXVII zur Phèdre); Matzat (2006: 49 Anm. 19 zur Bérénice).

33 Vgl. Grimm (2002: 46f. zur Phèdre).

34 Vgl. Neuschäfer (1985: 217–224).