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Marie Guthmüller (Bochum)



Marie-France de Palacio (2004): L'écriture dela maladie dans les correspondances. [Actes du colloque de Brest – avril 2002] Brest CNRS.

Martin Dinges, Vincent Barras (Hg.) (2007): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 17.–21. Jahrhundert. Stuttgart: Franz Steiner



Wie Michel Foucault es in "l'écriture de soi" erinnert: seit der Antike ist das Schreiben über den eigenen Körper, über Gesundheit und Krankheit, ein Topos der brieflichen Korrespondenz. Neben dem eigenen Tagesablauf ist es der Körper, der bereits in den Briefen Senecas, Marc Aurels und Plinius' zur festen Größe wird, "Körper und Tage" sind zentrale Themen, um die die Korrespondenzen kreisen. Die Reflexion über Krankheit im Brief, weiter gefasst über das Verhältnis zwischen Körper und Geist, hat eine lange Tradition, sie führt von Platon über Seneca bis zu Michel de Montaigne und von dort zu Mme de Sévigné, deren Briefe im 18. Jahrhundert, dem siècle des correspondances, zum unhintergehbaren Modell werden. In Anlehnung an oder in Abgrenzung zu dieser grande épistoliaire räumen auch Autoren wie Rousseau, Diderot oder Voltaire dem Schreiben über Gesundheit und Krankheit in ihrer umfangreichen Korrespondenz viel Raum ein. Dennoch ist "Krankheit in Briefen" nie Thema einer übergreifenden literatur- oder kulturwissenschaftlichen Monographie geworden – hier gilt es zunächst ein Forschungsdesiderat zu benennen.1

In jüngerer Zeit haben sich nun zwei Sammelpublikationen dem Sujet gewidmet, von unterschiedlicher Warte aus aber mit zahlreichen Berührungspunkten: ein vor fünf Jahren in Frankreich erschienener literaturwissenschaftlicher Tagungsband, der in Deutschland trotz des wachsenden Interesses der Philologien an Themen, die sich im Kontext der literature and sciences ansiedeln, bisher unbekannt geblieben ist: Marie-France Palacio (Hg.), L'écriture de la maladie dans les correspondances, Brest (CNRS) 2004, sowie ein medizinhistorischer Tagungsband, der einen interdisziplinären Anspruch stellt: Martin Dinges und Vincent Barras (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum, 17.-21. Jahrhundert, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2007. Beide Bände zeigen, wie im Folgenden nachgezeichnet werden soll, die Virulenz des Themas auf und eröffnen ein breites Spektrum an philologischen, kulturwissenschaftlichen und medizinhistorischen Forschungsperspektiven – allerdings lassen sie auch einen konzeptionellen Mangel bezüglich des behandelten Mediums spürbar werden, der sicher auch, aber eben nicht nur, der Publikationsform "Tagungsband" geschuldet ist.




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L'écriture de la maladie dans les correspondances geht auf eine im April 2002 in Brest durchgeführte Tagung des CNRS geförderten Centre d'Etude des Correspondances zurück. Der von der Komparatistin Marie-France Palacio herausgegebene Band versammelt zwölf Beiträge, die sich mit Fokus auf die grands auteurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Frage widmen, wie "außerhalb des Bereichs der Fiktion" (6) über Krankheit geschrieben wird. Mit Ausnahme von Friedrich Melchior Grimm, Franz Liszt und Rainer Maria Rilke handelt es sich bei den Protagonisten des Bandes um Franzosen, mit Ausnahme von Liszt um Schriftsteller – und alle sind sie männlich: neben den genannten "Maîtres" sind es Alfred de Vigny, Gérard de Nerval, Charles Baudelaire, Erneste Renan, Emile Zola, Jean Lorrain, Remy de Gourmont, Romain Rolland und Marcel Proust, deren Korrespondenzen zum Gegenstand der Untersuchung werden. Im Zentrum vieler Beiträge steht die Frage, wie die Autoren den Zusammenhang zwischen Krankheit und Genie konzeptionalisieren, inwieweit sie ihr Leiden mit einem Gefühl des Auserwähltseins identifizieren und ihre Schmerzen und Einschränkungen als Opfer betrachten, die sie für ihr Werk bringen müssen.

In diesem Zusammenhang wird, etwa in Dominique Mabins Beitrag "L'écriture de la maladie dans la Correspondance de Marcel Proust", auch danach gefragt, inwieweit der Widerstand, den der leidende Künstler gegen bestimmte Medikationen und Behandlungsmethoden aufbringt, dieser Opferidee geschuldet ist. Weitere zentrale Themen sind die Reflexionen, die die Autoren über den Zusammenhang von physischem und psychischem Leid anstellen, die Metaphorik, in der sie die Symptome und den Fortgang der Krankheit beschreiben sowie allgemein der Austausch von Tropen zwischen medizinischen Praktiken und literarischen Verfahren, der sich in den Briefen vollzieht.

Allerdings wird das Interesse daran, wie die grands auteurs über ihre Krankheit schreiben, bereits in der Einleitung in einer problematischen Ambivalenz benannt, die dann auch für die Beiträge des Bandes in der Tat charakteristisch ist: So soll es zum einen darum gehen, in die Privatsphäre des Genies einzudringen, Intimes über die Autoren zu erfahren, um die "coulisses parfois sordides de l'œuvre à venir" sichtbar zu machen (5), zum anderen stellt sich die Frage nach den ästhetischen Dimensionen des autobiographischen Schreibens über Krankheit, nach der Konzeption des Schreibens als Krankheit, bzw. als Zeugen vom Sich-Aufzehren im Kreationsprozess sowie die Frage nach den spezifischen medialen Bedingungen der Gattung "Brief". Dass der erste Aspekt zu den folgenden quer liegt und zu einem anekdotischen Umgang mit dem Briefmaterial verführen muss, wird von Palacio nicht thematisiert – in den Beiträgen wird indes spürbar, dass es den AutorInnen häufig nicht gelingt, sich vom biographischen Interesse am Intimbereich "großer Männer", wie es das 19. Jahrhundert – hervorgebracht hat und wie es unter anderem in seinen großen Briefeditionen (Voltaire, Chateaubriand, Balzac) Ausdruck gefunden hat, konsequent abzugrenzen.




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So erzählt beispielsweise Claude Knepper in seinem Beitrag "Franz Liszt: maladie, mythe personnel et création artistique" zunächst ausführlich Liszts Lebens-, Liebes- und Krankengeschichte(n), bevor er nachzeichnet, wie der Komponist in seinen Briefen ebenso wie in seinem symphonischen Werk Mazeppa einen persönlichen Mythos kreiert, in dem Krankheit und künstlerische Produktion zusammenfallen. Psychologie und Werk Liszts werden nach Knepper schließlich gleichermaßen aus einer traumatischen Kindheitserfahrung erklärbar – das Thema Krankheit in Briefen gerät in den Hintergrund. Alexandre Stroev weist in seinem Beitrag "'C'est mon écriture qui me tuera'  : Les maladies épistolaires de Frédéric Melchior Grimm" zwar zunächst durchaus auf die strategischen Dimensionen hin, die das Schreiben über Krankheit in Briefen annehmen kann und hält hier, in Anschluß an Geneviève Haroche-Bouzinacs Arbeiten zu Voltaire, wichtige Aspekte fest: so setzt Voltaire seine Krankheiten ein, um Leute an sich zu binden oder fernzuhalten, sich bemitleiden und lieben zu lassen, von sich zu sprechen, ohne sich dem Vorwurf des Narzissmus auszusetzen und um andere zu kommandieren. Diese appellative Funktion des Schreibens über Krankheit aber wird nicht systematisch weiterverfolgt, Stroev scheint Grimms eigene Korrespondenz eher zufällig nach dessen Konzeption des (Brief-)Schreibens als körperliches Martyrium durchzusehen.

Auch André Guyaux' Artikel "Le discours de la maladie dans la correspondance de Baudelaire" spricht zwar treffend von Baudelaires Korrespondenz als einem "corpus privilégié dans le genre pathologico-épistolaire" (119) und erlaubt Einblicke in ein besonders reiches Textkorpus, das von der "lettre de chantage à la santé", über an Ärzte gerichtete Briefe mit um Exaktheit bemühten Symptombeschreibungen und satirische Briefe zur Vergeblichkeit von Heilmethoden bis hin zu Reflexionen über den psychopathologischen Charakter der Krankheit reicht – letztlich aber findet auch mit diesem Material keine am Medium Brief orientierte Auseinandersetzung statt.

Die Tendenz, anhand seiner Korrespondenz die biographische Krankengeschichte des Autors nachzuzeichnen, wird selbst in Artikeln spürbar, die, wie Corinne Bayles fundierter Beitrag "Gérard de Nerval et ses 'fièvres': l'impossible aveu de la folie" oder Agnes Kettlers "Névrose et création : présence et signification de la maladie dans la correspondance de Rilke avec Lou Salomé (1897–1926)" das Ausgerichtetsein der Briefe auf einen bestimmten Empfänger hin in den Mittelpunkt stellen und ihre strategischen Dimensionen berücksichtigen. Die spezifischen medialen Bedingungen der Gattung "Brief" werden in den Artikeln generell nur am Rande berücksichtigt: über die materielle Situation des Briefes (über den Brief als Ding) sowie über seine Aktantenstruktur (über den Brief als Ereignis) wird in L'écriture de la maladie dans les correspondances nur marginal reflektiert. Sieht man davon einmal ab, so liefert der Band eine Vielzahl von Denkanstößen. Die Frage danach, was es heißt, einem Briefpartner seinen leidenden Körper zu präsentieren, wird in den zwölf literaturwissenschaftlichen Beiträgen auf ganz unterschiedliche Weise gestellt, so dass zahlreiche Facetten eines möglichen Antwortspektrums sichtbar werden.

Thematisch und methodisch noch weiter gefächert präsentiert sich der von den Medizinhistorikern Martin Dinges und Vincent Barras herausgegebenen Sammelband Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum, 17.21. Jahrhundert.




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Der Band geht auf die Tagung Maladie en lettres/Krankheit in Briefen zurück zurück, die vom Institut universitaire Romand d'histoire de la médecine et de la santé publique der Universität Lausanne in Kooperation mit dem Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung organisiert wurde und vom 26.–28. Juni 2003 in Lausanne stattfand. Der Band stellt den Anspruch, "Perspektiven von Forschern und Forscherinnen verschiedener Sprachräume und Forschungstraditionen zusammenführen" (8) und versammelt achtzehn medizinhistorische, philosophische und literaturwissenschaftliche Beiträge, die von Forschern und Forscherinnen aus Frankreich, der Schweiz und Deutschland stammen.

Man merkt dem Band die Faszination und Begeisterung für das ausgebreitete Material an: In der Einleitung ist die Rede vom "Erstaunen über eine sich neuerdings in der historischen Forschung verbreitende Erkenntnis, nämlich die unerschöpfliche Fähigkeit des Briefes, dieser einzigartigen Kommunikationsform, mit einer seltenen Frische und Lebendigkeit […] die unterschiedlichsten persönlichen und kollektiven Erfahrungen, die sich um Fragen der Gesundheit und Krankheit drehen, zum Ausdruck zu bringen." (7) Im Mittelpunkt der Sammelpublikation steht die Frage danach, wie sich "diese noch weitgehend unausgewerteten Quellen" für die historische Forschung nutzen lassen, es geht um eine "Auswertung der Schätze, die in diesen Briefen verborgen liegen" (7). Somit liegt der Interessensschwerpunkt auf dem Inhalt der Briefe, auf den in ihnen enthaltenen Informationen. Der Brief wird zunächst nicht als Medium, sondern als medizinhistorisches Dokument behandelt, was zur Folge hat, dass die spezifischen medialen Bedingungen der Gattung auch in diesem Band Gefahr laufen, in den Hintergrund zu treten.

In der Einleitung schreiben Dinges und Porter den Band in das Feld der "Patientengeschichte" ein, einen Forschungsbereich, den Medizinhistoriker aus dem englischsprachigen Raum, namentlich Roy Porter, in den 1980er Jahren auch als "history from below" – "Geschichtsschreibung von unten" bezeichnet haben. Das Augenmerk der Publikation liegt auf der schriftlichen Fernkonsultation, also auf solchen Briefen, in denen Patienten oder deren Angehörige einem Arzt Symptome und Begleitumstände ihrer Krankheit schildern, auf deren Basis der Arzt dann, wiederum in schriftlicher Form, Ratschläge zur Behandlung gibt. Diese Form der Konsultation war vom 16.–18. Jahrhundert gängig, erlebte ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert und ging um 1800, als die Dichte an Ärzten zunahm und Diagnoseverfahren und Behandlungsmethoden aufkamen, die die Präsenz des Körpers erforderten, abrupt zurück.

Der Patientenbrief ist also eine Erscheinung mit bestimmten Charakteristika, die in einem begrenzten historischen Zeitraum auftritt, er lässt sich zum Brief, in dem von Krankheit die Rede ist, nicht ohne Weiteres synonym setzen. Daher stellt sich die Frage, ob der in der Einleitung formulierte Anspruch, den Brief "in seiner ganzen historischen Tragweite" (8) zu betrachten, eingelöst wird, wenn man zugleich voraussetzt, dass die "alte Gattung des Patientenbriefs […] in anderen äußerst unterschiedlichen und weniger offensichtlichen Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit ärztlichen Fragen auf[geht]" (11).




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Familienkorrespondenzen, Beschwerdebriefe und andere Formen des brieflichen Austauschs, in denen im 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert über Krankheit geschrieben wird, bringen ja eine Vielzahl von Dimensionen mit sich, die der Patientenbrief selbst gar nicht hatte.

Dass die schriftliche Konsultation in dem Krankheit in Briefen betitelten Tagungsband als Modell für das untersuchte Medium insgesamt fungiert, zeigt die Tatsache, dass der erste, "Typologien und theoretische Zugänge" betitelte Teil des Bandes ausschließlich Artikel versammelt, die an die "history from below" anschließen und vom Patientenbrief ausgehen: Michael Stolbergs "Patientenbriefe in vormoderner Zeit", Hubert Steinkes "Krankheit im Kontext. Familien-, Gelehrten und Patientenbriefe im 18. Jahrhundert" und Séverine Pillouds "Interpretationsspielräume und narrative Autorität im autobiographischen Krankheitsbericht" orientieren ihre Methoden an dessen Typologie. Während Steinke in Abgrenzung zum Patientenbrief eine Typologie des Familien- und Gelehrtenbriefs entwirft, konzentriert sich Pilloud anhand der Korrespondenz des Schweizer Arztes Samuel-Auguste Tissot auf die im Patientenbrief gegebenen Möglichkeiten, den Standpunkt des Leidenden geltend zu machen. Bei Stolberg sind es drei "kulturgeschichtlich ausgerichtete Analyseebenen" (27), für die sich die Arbeit mit dem als Quellengenre betrachteten Patientenbrief als fruchtbar erweist: die "Erfahrung" von Krankheit und ihre Artikulation in "Bildern und Begriffen, die die jeweilige Zeit oder Kultur zur Verfügung stellt" (28), das "Self-fashioning" (der Begriff schließt an Greenblatt an) der Patientennarrative und schließlich das "kritische, komplementäre Potential der Patientenbriefe" gegenüber einer "ausschließlich auf Elitetexte beschränkten Diskursanalyse" (32).

Die beiden folgenden Teile des Tagungsbands sind chronologisch geordnet und gehen in der Vielfalt ihrer Ausrichtung über die im ersten Teil skizzierten theoretischen Zugänge und Typologien hinaus. Besonders der zweite Teil, mit der Überschrift "17. und 18. Jahrhundert", versammelt Beiträge, deren Spektrum den zuvor skizzierten Forschungsrahmen produktiv überschreitet: Neben Medizinhistorikern (Benedino Gemelli: "Die Sprache der Krankheit in der Korrespondenz von Antonio Vallisneri", Marion Maria Ruisinger: "Chirurgie im Brief. Das Beispiel der Konsiliarskorrespondenz Lorenz Heisters", Philip Rieder "Für eine anthropologische und medizinische Lektüre der Briefkultur im Jahrhundert der Aufklärung") schreiben hier auch Kunsthistoriker, Literaturwissenschaftler und Philosophen. Matthias Bruhn etwa zeichnet in "Krankheitsbilder. Künstler in der Frühen Neuzeit berichten über ihren Zustand" am Beispiel des Barockmalers Poussin nach, wie dieser das Schreiben über die eigene Krankheit nicht nur einsetzt, um bei Auftraggebern um Verständnis für Verzögerungen zu werben, sondern auch, um sich durch den Anschluss an bestimmte Leidenstopoi in eine Linie mit Michelangelo zu stellen oder durch ein System von Anspielungen ästhetische Fragen zu reflektieren.





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Auch medienhistorische Aspekte finden in diesem Teil Berücksichtung: So weist Carmen Götz in "Krankheit als Effekt kultureller Konstruktionen während der Aufklärung. Das Beispiel der Hypochondrie" in Anschluss an Albrecht Koschorke auf die Gleichzeitigkeit von Subjektkonstitution und Schriftkultur im 18. Jahrhundert hin und situiert die Hypochondrie als "Modekrankheit der Aufklärungszeit" (120) in diesem Kontext. In "Diderot als medizinischer Berichterstatter in den Briefen an Sophie Volland" betrachtet Odile Richard-Pauchet das Brieftagebuch, das der Enzyklopädist über fünfzehn Jahre für seine Geliebte führt, selbst als enzyklopädisches, der science de l'homme gewidmetes Projekt, das körperliche wie seelische Aspekte gleichermaßen berücksichtigt. Es ist die Krankheit seiner Frau Antoinette, die Diderots Tagebuch zunächst unterbricht und später dann, in Form von Berichten über ihren Gesundheitszustand, zum einleitenden Topos der Briefe an Sophie wird.

Eine pointierte, auf die Bedeutung von Begehrensstrukturen konzentrierte Lektüre von Jean Jacques Rousseaus Korrespondenz liefert Anne-France Grenon in "'Ich habe zu leiden gelernt, Madame!' Rousseau und der Briefdiskurs über Krankheit". Sie zeigt auf, wie das Schreiben über den eigenen kranken Körper einen anderen, zweiten Körper schafft, "wie in der Rede über Krankheit eine Erfahrung des Leidens als Begehren verarbeitet wird" und wie "die Erfahrung des Begehrens […] die Beziehung zur Krankheit und zur Rede des briefschreibenden Ichs" bestimmt. (123)

Anders als der zweite Teil des Tagungsbandes versammelt der knappe dritte Teil, unter der Überschrift "19. und 20. Jahrhundert", wieder ausschließlich Beiträge von Medizinhistorikern. Gleich zwei von ihnen sind Samuel Hahnemann gewidmet: Während Olivier Faure in "Behandlungsverläufe. Die französischen Patienten von Samuel und Mélanie Hahnemann (1834–1868)" untersucht, wie sich in den Briefen an den Begründer der Homöopathie eine neue Kultur der Selbstbeobachtung herausbildet, beleuchtet die Historikerin Bettina Brockmeyer diese Krankheitsdarstellungen aus einer Genderperspektive. Auch Susanne Frank interessiert sich für Aspekte eines geschlechterspezifischen Umgangs mit Krankheit, in ihrem Beitrag "Gesundheitsverhalten von Männern. Gesundheit und Krankheit in Briefen, 1800–1950" wählt sie zudem ein diachrones Vorgehen und unterscheidet zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen. Die beiden letzten Artikel des Bandes reichen thematisch bis in die Gegenwart. In ihrem Artikel "'Ich habe öfter mit Ärzten darüber sprechen wollen, doch die winken ab….' Briefe an Natur und Medizin zwischen 1992 und 1996" untersucht Sylvelyn Hähner-Rombach anhand der Korrespondenz der Zeitschrift mit ihren Lesern die medikale Alltagskultur von Kranken, die sich für alternative Behandlungsformen interessieren. Der Klinikarzt Gérard Danou beschäftigt sich in seinem Beitrag "Das Spiel überkreuzter Reden: 'Ich wünsche Zugang zur Krankenakte meines Vater zu erhalten'" mit den unterschiedlichen Aussagesituationen in einem Briefdossier, in dem eine Angehörige sich bei der Krankenhausverwaltung über die Umstände beim Tod ihres Vaters beschwert.

Die thematische wie methodische Vielfalt der Artikel in diesem interdisziplinären Konferenzbandes ist bereichernd, wirft aber auch Probleme auf.




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Einer der Beiträger, der Literaturwissenschaftler Renaud Redien-Collot, stellt zu Beginn seines Beitrags "Medizinische Rede und poetische Praxis: Die verschiedenen Figuren der Autorität im Briefwechsel zwischen Madame d'Epinay und dem Abbé Galiani" fest "dass die Naturwissenschaftler [im Verlauf der Konferenz] die verschiedenen Aspekte der brieflichen Form bezüglich einer Typologie von Texten untersuchten, während sich die Geisteswissenschaftler eher für die Produktionsprozesse des Briefs interessierten" (95). Damit legt er den Finger auf eine grundsätzliche methodische Diskrepanz, die der Band sichtbar werden lässt ohne dass sie von den Herausgebern reflektiert würde: Während ein Großteil der meist medizinisch ausgebildeten Historiker den Brief als Dokument wahrnimmt, das ein im Verhältnis zu sich und zur Welt festgelegtes Individuum erkennen lässt, fragen die meisten Literaturwissenschaftler nach den dynamischen Eigenschaften des Schreibakts, also nach den Prozessen, die dieses Individuum erst hervorbringen – was Zweifel daran nähren könnte, ob beide Forschergruppen überhaupt am selben Gegenstand arbeiten.

Insgesamt ist den beiden Bänden, Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum ebenso wie L'écriture de la maladie dans les correspondances zu bescheinigen, dass sie ein kulturwissenschaftliches Forschungsdesiderat aufgegriffen und in ihren Beiträgen gezeigt haben, wie komplex und vielfältig sich dieses von den unterschiedlichen disziplinären Warten aus darstellt. Eine stärkere Berücksichtung der spezifischen medialen Bedingungen des Mediums Brief wäre dem einen wie dem anderen Band allerdings zu wünschen gewesen.



Anmerkungen

1 Angemerkt sei in diesem Kontext, daß übergreifende Arbeiten zur écriture de la maladie, also zum Schreiben über Krankheit (der performative Charakter des Schreibens geht in der deutschen Übersetzung leider verloren) für den Bereich der autobiographischen Schriften in Frankreich wie Deutschland generell ein Forschungsdesiderat darstellen.