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Dietrich Scholler (Bochum)



Von München nach Rom über Marinetti zu McLuhan
Nebengedanken zum 100. Geburtstag des Manifeste du Futurisme (1909)1



Notes on the Occasion of the 100th Birthday of Marinetti's Manifest of Futurism
On February 20th, 1909, Filippo Tommaso Marinetti's Manifeste du Futurisme was first published in the newspaper Le Figaro. Soon after it was translated and republished in the most important European and American newspapers and thus became a foundation document of the historical avantgardes. Naturally, the rise of the avantgarde was accompanied by attacks against the world of passatismo. Particularly Rome, traditionally considered as caput mundi, at that time embodies all negative qualities of the ancient Europe. Therefore it had to be deconstructed in terms of rhetoric. No wonder then that Marinetti in his article Contro Roma passatista derides the Italian capital as leprosarium. To overcome the paralysis of the ancient world Marinetti proposes the use of new media: wireless telegraphy, automobiles, telephones, grammophones and so on. In other words: new extensions of men, proposals which will finally lead to Marshall McLuhan's idea of the electronic galaxy.



München, caput mundi

Im Jahr 2007 hat der seinerzeit scheidende Ministerpräsident Edmund Stoiber ein ausgebüxtes Landeskind heimgeholt und ihm zum Zwecke der Filmdichterkrönung in der Residenz der Wittelsbacher einen glorreichen Empfang bereitet: Die Rede ist von Florian Henckel von Donnersmarck, dem Regisseur des Erfolgsfilms Das Leben der Anderen (2006) und ruhmreichen Sieger bei der Oscar-Verleihung. In seiner kalifornischen Dankesrede hatte der Filmregisseur ja bekanntlich Deutschland und Bayern ("Germany and Bavaria") gedankt. In der Münchener Residenz nun erklärte er einem devoten Publikum den tieferen Sinn dieser Kollokation: Das sei wie beim Papst. Der segne Rom mit seinem "Urbi et Orbi" auch zweimal. Nun wolle er "sein Rom, nämlich München, auch doppelt segnen".2 Einmal ganz abgesehen davon, dass dieser Segen sicherlich allen Bewohnern der Landeshauptstadt gut getan hat, lässt natürlich der Städtevergleich ein sensibilisiertes mundialisiertes Gemüt aufmerken. Welches Rom meinte der Hobby-Bayer? Das Rom der Antike? Dann muss er seine Heimkehr als Triumphzug nach Art der römischen Kaiser empfunden haben. Andererseits, mit seinem performativen Sprechakt der Stadtsegnung kopiert er eher eine papale Geste. München, ein zweites Avignon? Wie auch immer, das Rom der letzten zweihundert Jahre konnte er nicht gemeint haben: wohl kaum den schrumpfenden und vielfach gedemütigten Kirchenstaat des 19. Jahrhunderts, auch nicht die narzisstisch erstarrte Schwulstschaubühne des Gabriele D'Annunzio, sicherlich noch weniger das Pasolini-Rom der borgate und schon gar nicht das der heutigen periferia, die in einem Sumpf aus Drogen- und Mafiakriminalität zu versinken droht.3




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Gleichwohl können diese Hinweise auf den sinkenden Stern der città eterna womöglich doch nicht so recht überzeugen. Denn die Strahlkraft des caput mundi als mundialatinisierendes Sendezentrum scheint ungebrochen, wenn auch neu kodiert. Im Rückgriff auf den von Jacques Derrida geprägten Begriff mondialatinisation4 weist der Anthropologe Marc Augé darauf hin, dass dem mundialisierten Christentum nicht erst im Zeitalter des Techno-Kapitalismus heidnische Züge anhafteten, sondern dass es im Laufe seiner zweitausendjährigen Expansion durch vielfältige Kontakte mit anderen Kulturen zu synkretistischen Verschmelzungen respekive Kontaminationen gekommen sei:

Le phénomène de contact que vous [Interviewer] évoquez à propos de L'Amérique du Sud tient sans doute au fait que le catholicisme possède déjà en lui-même une dimension assez largement païenne. Que l'on songe ici au multiples saints, aux rites, ou encore à cette idée que la prière peut avoir une efficacité immédiate, et l'on se convaincra de cette dimension païenne au sein même du catholicisme. Ce n'est pas un hasard si l'Eglise catholique intallait ses propres dispositifs sur [Hervorh. im Original] les dispositifs païens. Il s'agissait bien sûr d'une stratégie qui consistait à effacer le lieu des autres, mais elle se réalisait au prix d'une ambiguïté [...]. (Bessis 2004: 48)

Was aber heißt das mit Bezug auf die eingangs erwähnte Performance bzw. für den weiteren Gang der Dinge? – Wenn der Prozess der Mundialatinisierung mit Derrida und Augé als Expansionskalkül mit den Variablen 'Chancen' und 'Risiken' gefasst werden kann, dann muss das Christentum als expandierender Diskurs seine Regeln und Normen den Dispositiven der Zielkultur anpassen oder diese rekodieren. Im Fall des Florian Henckel von Donnersmarck haben sich die Dominanten bereits verkehrt: So wie einst das Christentum dank der römischen Straßen als den Kommunikationsachsen der Macht durch seinen Boten Paulus das Evangelium über Rom hinausgehend verbreitete, so bedient sich heuer ein Divus auf dem Sprung ins imperium californiensis der rituellen Praktiken des einstigen caput mundi, um zukünftig die performativen Standards des hollywoodesken Publikumsfilms zu verbreiten, mit dem Nebeneffekt "à effacer le lieu des autres" (s.o.).5

Bevor allerdings im 21. Jahrhundert ein Oscar prämierter Filmregisseur in parasitärer Weise in einem Akt der Wiederholung auf römisch-katholische Segnungsrituale zurückgreifen kann, musste das alte Rom rhetorisch begraben werden. Wie im Folgenden am Beispiel einer futuristischen Romschmähung gezeigt werden soll, verlagern sich in Derridas Allianz aus synkretistischem Christentum und tele-techno-szientistischem Kapitalismus im Zeitalter des ersten großen Medienumbruchs die Gewichte mehr als deutlich auf die Seite der Telekommunikation, mithin auf ein neues Dispositiv, in dem à la longue nicht länger die frohe Botschaft sondern das Medium selbst im Mittelpunkt steht, was man auch als mediologische Rekodierung von Mundialisierungsprozessen bezeichnen könnte.


Roma, città passatista

Hätte Henckel von Donnersmarck den futuristischen Cineasten und Romhermeneutiker Filippo Tommaso Marinetti gekannt, dann hätte er sich seinen München-Rom-Vergleich womöglich noch einmal überlegt, umso mehr, wenn er außerdem dessen Pamphlet "Contro Roma passatista" (1917) gelesen hätte. Ebendort wird die italienische Hauptstadt aufs Übelste beschimpft:




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Roma langue sotto la sua lebbra di rovíne, con la sua circolazione sanguigna semestrale che l'oro degli stranieri spinge lentamente attraverso le arterie dei grandi alberghi. (Marinetti 1968: 246)

Die italienische Hauptstadt wird mit einem altersschwachen Körper verglichen, der von leprösen Ruinen überzogen ist, eine pathologia litteralis, die einige Absätze weiter unten noch gesteigert wird, wenn von "ruderi [...] epidemici e più mortiferi della peste e del colera" (ebd.) die Rede ist. Der Blutkreislauf dieses todkranken Körpers kann nur dank saisonaler touristischer Blutspenden mehr schlecht als recht ("lentamente") in Schwung gehalten werden. Durch diese suchtartige Abhängigkeit vom Fremdenverkehr sind die Bewohner der Stadt durch und durch korrumpiert und daher für eine künftige panitalienische Kriegsmobilisierung schlichtweg unbrauchbar. Mehr als ein "contingente di pigri opportunisti e pacifisti" (ebd.) ist da nicht zu rekrutieren, denn:

Essi [i Romani] continuano la loro vita di sorci polverosi, orgogliosi e contenti di mangiar le bríciole dei dolciumi che le misses masticano con denti poderosi, mentre arrotondano le loro bocche e i loro occhi azzurri fra le immense gambe supérstiti del Colosseo decapitato!... (ebd.: 247)

Spätestens jetzt wird man merken, dass Marinetti die Römer nicht so gern hat, wenn er sie als eilfertige Schmarotzer charakterisiert, welche sich mit den Krümeln dolci-abhängiger, blauäugiger Britinnen abfinden. Das wie auf Stelzen stehende, aber kopflose Kolosseum kann in diesem Kontext getrost als Sinnbild für den Zustand des einstigen caput mundi verstanden werden. Zur unmissverständlichen Bekräftigung seiner Position fügt Marinetti außerdem eine kleine faktuale narratio ein:

Entravo in Roma, una sera, su una velocissima sessanta-cavalli, e, lasicando alle mie spalle la porta San Sebastiano, stavo per giungere al punto che separa l'Acquedotto di Nerone dall'Orto Botanico. – Correvo a tutta velocità, col volante rivolto direttamente verso l'Arco di Costantino – Nella mia noncuranza futurista, non vidi affatto sulla strada buia un masso di pietra ruzzolato giù dalle rovine neroniane... [...] ... Un urto violento... il mio radiatore frantumato!... (ebd.: 246)

Die kurze Geschichte ist mehr als ein Wink mit dem Zaunpfahl: Der geniale, leicht zerstreute futuristische Kraftfahrer rast durch Rom, als seinem PS-Boliden durch einen abbröckelnden neronianischen Steinblock die Kühlerhaube zertrümmert wird. Daraufhin appelliert er an die Bewohner Roms, dass sie am besten eine große Grube ausheben mögen, in der sämtliche Überreste der antiken bzw. päpstlichen Kapitale entsorgt werden sollten, eine Grube, von der man sich in Zukunft weit entfernt halten und stattdessen in die "aperta campagna" ziehen sollte: Boccaccio lässt grüßen.

Der Appell ist in raumsemiotischer Hinsicht bemerkenswert. Zur Ehrenrettung Roms sei gesagt, dass der Ich-Erzähler dieser Episode keineswegs so gleichgültig durch das antike Rom braust, wie er vorgibt. Immerhin werden sämtliche, durchweg erhabene Wegmarken peinlich genau aufgelistet, und kurz vor dem Unfall rast Marinetti nicht in irgendeine Toreinfahrt, vielmehr hat er den Triumphbogen des Konstantin direkt im Visier. Das heißt, Marinetti ist letztlich auf den sublimen Gebrauchswert der verhassten passatistischen Architektur angewiesen, um seine brandneuen futuristischen Tauschwerte adäquat auszudrücken. Als virtuelle Hintergrundstruktur liegt der kleinen Episode das Schema von Aufstieg und Fall, von rise and decline zugrunde oder, um es mit Sloterdijk auszudrücken: "nur was auffällt, kann auch fallen. Wo Vormächte, Arroganzen, Auffälligkeiten kamen und gingen, da gibt es Nachernte für Zynismus und Ressentiments und deren milderes Destillat, die Weisheit." (Sloterdijk 1999: 277) Marinetti muss demzufolge die erhabenen Ruinen der muralen Weltinnerlichkeit abschlagen, um die Grenzen des innerlichen Weltbildes zu erweitern, damit futuristische Verkehrsflüsse, elektrische Ströme, Funkwellen, ja, überhaupt alle neuartigen Datentransporte ungehindert fließen können.




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Körperextensionen, futuristisch

Der Diskurs über neue Medien verwandelt sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem Spezialdiskurs zu einem Interdiskurs, der das neue und spezielle Wissen über griffige Kollektivsymbole und schlagwortartige Verkürzungen ventiliert. Aus der Mitte der historischen Avantgarden heraus entsteht nachgerade in Gestalt des Futurismus eine Massenbewegung, die grundsätzlich alles bejubelt, was schnell ist oder schnell überträgt, also das Automobil, die Aeronautik und die drahtlose Telegraphie, eine Linie, die über McLuhan bis zu den heutigen Geschwindigkeitsfetischisten auf der Datenautobahn reicht.

Im ersten futuristischen Manifest liefert noch der zeittypische Vitalismus den Takt für Marinettis Ekstasen. Eine neue Generation tritt an, die keinem über 30 traut ("Les plus âgés d'entre nous ont trente ans"; Marinetti 1909), alles preist, was den Geist der Gefahr, der Energie, des Mutes, der Kühnheit, der Revolte und der fiebrigen Schlaflosigkeit atmet, mithin Eigenschaften, die der herrschenden passatistischen Kaste gänzlich fehlen, jenem italienischen Krebgeschwür nämlich, das aus "professeurs, d'archéologues, de cicérones et d'antiquaires" (ebd.) bestehe und von dem man sich schnellstmöglich befreien müsse. Aber es geht Marinetti nicht allein um die anthropologische Grundausstattung und um Berufsverbote. Bei genauerem Hinsehen verlässt sich der postulierte futuristische Überheld keineswegs auf seine schiere Kraft, vielmehr greift er zu Hilfsmitteln und Stimmungsaufhellern in Form medialer Erweiterungen. In der fünften These heißt es: "Nous voulons chanter l'homme qui tient le volant [...]" (ebd.). Marinettis pompöse Periphrastik zielt offensichtlich auf den Automobilisten in Gestalt des Zweiradfahrers, des Kraftfahrzeuglenkers sowie des Flugzeugpiloten ab.6 Mit Hilfe der neuen Fortbewegungsmittel entsteht ein Geschwindigkeitsrausch, der im 20. Jahrhundert den Rang einer Transzendentalie erhält.

Im ersten Manifest ist noch keine Rede von neueren Übertragungsmedien und ihren Konsequenzen für die menschliche Wahrnehmung. Wichtige Bausteine zu einer Art Medientheorie ante portas werden in einem späteren, mit "Distruzione della sintassi" (1913) überschriebenen Manifest geliefert. Darin werden die wahrnehmungspsychologischen Folgen respektive anthropologischen Umkodierungen durch den seinerzeit statthabenden, umfassenden Medienumbruch auf eingängige Weise entfaltet:

Coloro che usano oggi del telegrafo, del telefono e del grammofono, del treno, della bicicletta, della motocicletta, dell'automobile, del transatlantico, del dirigíbile, dell'aeroplano, del cinematografo, del grande quotidiano (sintesi di una giornata del mondo) non pensano che queste diverse forme di comunicazione, di trasporto e d'informazione esèrcitano sulla loro psiche una decisiva influenza. (Marinetti 1968: 57)




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Marinetti dringt demnach bereits zu einem vertieften Verständnis von der Materialität der Kommunikation vor, und wenn er von einem "completo rinnovamento della sensibilità" (ebd.) spricht, dann verweist er auf die apriorische dispositive Funktion technischer Medien hin. Durch entsprechende Ergänzungen steigert sich die Wahrnehmungs- und Aufnahmefähigkeit ins Unermessliche ("Ingigantimento del senso umano"; ebd.). Dabei dient ihm die von dem italienischen Physiker Guglielmo Marconi seinerzeit entwickelte Drahtlostelegraphie (telegrafia senza fili) als Modell für eine Neuausrichtung der menschlichen Phantasie.7 Marinettis Argument ist dreiteilig: Da man mittels neuer Fortbewegungsvehikel bzw. neuer Übertragungstechniken entfernte Punkte der Erde bzw. entfernt lebende Kommunikationspartner kurzschließen könne,8 entstehe ein völlig neues Reservoir an Analogiebildungen, das wiederum in Wechselwirkung mit einer renovierten Einbildungskraft trete, die sich über entsprechende Ähnlichkeitsstrukturen bis in die Sprache des futuristischen Dichters verlängere und schließlich im futuristischen Genie-Text materialisiere: "Per immaginazione senza fili, io intendo la libertà assoluta delle immagini o analogie, espresse con parole slegate e senza fili conduttori sintattici e senza alcuna punteggiatura." (Marinetti 1968: 63)

Marinettis Befreiungsdiskurs ist also das Ergebnis eines gewaltigen Medienumbruchs. Strenggenommen sind adäquate kulturelle Sinnbildungsprozesse fortan einzig und allein dank neuer Übertragungstechniken möglich, eine Sichtweise, die schließlich zur Apotheose der Medien selbst zu führen scheint, zu Marshall McLuhan. Einer der berühmtesten Sätze aus dem Theorienhimmel des 20. Jahrhunderts lautet "The medium is the message" und stammt aus seinem Klassiker Understanding Media (1964/1995). Darin wird ein im Grunde einfacher, aber folgenreicher Gedanke geäußert. Bei der Reflexion über die Bedeutung von Medien müsse man vollkommen von übertragenen Inhalten absehen. Allerdings geht es McLuhan mit dieser Formel nicht um eine zynische Reduktion auf das permanente Rauschen, unangesehen der Botschaften. Vielmehr möchte er mit seinen Büchern auf die tiefgreifende und wirklichkeitsverändernde, wenn nicht realitätserzeugende Wirkung der technischen Medien hinweisen.9 Auf überzeugende Weise hatte er das bereits in seinem Buch The Gutenberg-Galaxy (1962) getan. Darin wird gezeigt, was es heißt, wenn mündliche Gesellschaften über die Chirographie in das Zeitalter der Typographie eintreten: Die Technisierung des Wortes führt zu Veränderungen im Denken.

Es mag von einigem Interesse sein, dass auch in dieser Hinsicht eine Linie zurück zum Futurismus führt. Schon Marinetti war die gleichmacherische technische Disziplinierung durch die Typographie nicht entgangen: Da ihm eine Mimesis des modernen Lebens vorschwebt, plädiert er für eine "rivoluzione tipografica" (Marinetti 1968: 67). Der Schrifttsatz habe mehrfarbig zu sein, außerdem sollten mindestens zwanzig Schrifttypen verwendet werden, schließlich Kursiv- und Fettdruck, und zwar mit folgendem Ziel: "Con questa rivoluzione tipografica e questa varietà multicolore di caratteri io mi propongo di raddoppiare la forza espressiva delle parole." (ebd.) Als weitere Maßnahme gegen eine passatistisch erstarrte Tradition beabsichtigt er im Sinne der neuen Simultanwahrnehmung einen "lirismo multilineo" (ebd.) ins Werk zu setzen: Texte sollen nicht länger linear, sondern eher wie eine Partitur gestaltet sein, ein Vorhaben, das in der jüngsten Diskussion um Hypertextualität fröhliche Urstände feierte.




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Eine weitere, bereits von Marinetti gefasste Idee ist die der Organerweiterung. Technische Medien sind nicht nur äußere Werkzeuge, sondern Prothesen, Erweiterungen der natürlichen Ausstattung des Menschen. Am besten verkörpert sich diese Idee in der modernistischen Wahrnehmung des Automobils. Im o.g. Rom-Essay perforiert Marinetti die weiblich kodierte Stadt nicht ganz von ungefähr mit einer "velocissima sessanta-cavalli".10 Welche Weiterungen diese futuristischen Körperphantasien in der Imagologie des 20. Jahrhunderts nehmen sollten, lässt sich an automobilistischen Promotionen gut nachvollziehen:

Das Automobil gibt Kraft,

beschleunigt das Denken,

erforscht bezahnte Höhlen,

leuchtet sie aus,

wird zur Fontäne

und Teil des Körpers.11

Aber nicht nur die Motorik moderner Körper wird perfektioniert, auch dem Logos steht ein beträchtlicher Kapazitätsausbau bevor. Durch elektrische Datenübertragung und den damit gegebenen Möglichkeiten der Raum-Zeit-Kompression entsteht ein gigantisches externes Nervensystem, das alle Menschen miteinander verbindet und sie zu Bewohnern des Global Village macht. Bei aller Kritik im einzelnen muss man aus heutiger Sicht doch konzedieren, dass McLuhans Fixierung auf die Materialität der Kommunikation wichtige Einsichten hervorgebracht hat. Seine Thesen haben sicherlich dazu beigetragen, dass Kulturgeschichte nicht länger als Ideengeschichte betrieben werden kann. Nicht zuletzt durch die digitale Revolution kann sich McLuhan bestätigt sehen. Niemand wird bestreiten, dass die Art und Weise der Nachrichtenübertragung konstitutiv ist für die Stiftung von kulturellem Sinn, insbesondere dann, wenn es – um noch einmal auf die Münchener Residenz zurückzukommen – zu einer geglückten Synthese aus sakralem Segnungsritual und profaner Selbstinszenierung kommt.




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Endnote, römisch-katholisch

Dass der römisch-katholische Passatismus weder kurzfristig durch etwelche Manifeste noch längerfristig durch digitale oder andere Medienumbrüche ernsthaft erschüttert werden kann, scheint die jüngere McLuhan-Exegese zu bestätigen. In Italien ist vor einiger Zeit ein nachgelassener Sammelband mit Aufsätzen zur Religion erschienen (McLuhan 2002), der im Mutterland des Katholizismus viel Beachtung fand. Italien hat sich noch immer für solche großen Geister interessiert, die, eher protestantisch und damit noetisch erzogen, nach einem gewissen Lebensweg und reiflicher Einsicht wie McLuhan zum Katholizismus konvertieren. So verkehrt sich auf der Tastatur des Corriere-Rezensenten die "dimensione nascosta di Marshall McLuhan" (Fertilio 2003) unversehens "in realtà la sola intimamente vissuta" (ebd.), weshalb die Massenmedien eigentlich nichts anderes als katholische Apparate seien: "[...] l'arte sacra e lo stesso rito eucaristico della messa gli [McLuhan] apparivano affini alla radio e alla televisione [...]." (ebd.) Man darf hinzufügen: 'affini alla rete', wenn man bedenkt, dass der Situs des Vatikan (www.vatican.va) der meistbesuchte Ort im weltweiten Netz ist.


Bibliographie

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Anmerkungen

1 Es gibt wohl nur wenige ästhetische Programmtexte, zu denen mehr Hauptgedanken geäußert worden wären als zum futuristischen Manifest. Stellvertretend für neuere Abhandlungen zu diesem Komplex sei auf das Themenheft Futurismo der Zeitschrift Italienisch 49 (2003) hingewiesen, mit Beiträgen u.a. zum futuristischen Gesamtkunstwerk (Asholt), zu Marinettis Venedig-Darstellung (Behrens) und zum Dynamismus in der bildenden Kunst (Bunge) sowie jeweils weiterführenden Bibliographien zur okzidentalen Futurismusforschung. Jüngste Synthesen bieten der Katalog zur aktuellen Pariser Ausstellung Le Futurisme à Paris (Ottinger 2008) und die Monographie Debout sur la cime du monde. Manifestes du Futurisme (Villers 2008), nicht zu vergessen die aktualisierte Neuauflage des rororo-Bandes Futurismus in Rowohlts Enzyklopädie-Reihe (Schmidt-Bergmann 2009). – Der vorliegende Artikel geht teilweise zurück auf einen Vortrag in der Sektion "Mondialatinisation" im Rahmen des XXX. Romanistentags in Wien (2007). Ich danke den Organisatoren Angela Oster und Marcus Coelen für die freundliche Einladung, den Sektionsmitgliedern und -gästen für wichtige Anregungen.

2 Zu den Hintergründen der bayerischen Oscar-Gala vgl. Berr / Schneeberger (2005).

3 Vgl. hierzu den eindrücklichen Dokumentarfilm über das gleichnamige römische Stadtviertel Tor Bella Monaca (2006) von Daniel Ganzert. Hintergrundbeiträge und Interviews bieten die Webseiten von Radio Colonia.
(http://www.funkhaus-europa.de/sendungen/radio_colonia/ital/2008/081123_periferie.phtml, 1.1.09).

4 Die Kontamination mondialatinisation setzt sich aus dem Determinans mondialisation und dem Determinatum latinisation zusammen, und sie steht für "l'alliance étrange du christianisme, comme expérience de la mort de Dieu [Hervorh. im Original], et du capitalisme télé-techno-scientifique" (Derrida 2001: 23).

5 Bekanntlich löste Henckel von Donnersmarcks filmische Interpretation der Stasi-Vergangenheit seinerzeit heftige Diskussionen in ostdeutschen Künstler- und Intellektuellenkreisen aus. Das gleichnamige Buch Das Leben der Anderen (Henkel von Donnersmarck 2006) enthält – ebenso wie die DVD – neben dem Originaldrehbuch Hintergrundinformationen zu dem Kinofilm. Dabei sind offenbar Persönlichkeitsrechte Dritter verletzt worden, weshalb der Buch- und DVD-Verkauf gerichtlich gestoppt werden mussten.

6 Vgl. hierzu Krüger (2009a), der in der futuristischen Aufrüstung des Hyperanthropos bereits spätere Marvel-Helden wie Superman, Captain America, Batman oder Spiderman vorgeprägt sieht, Übermenschen, die erkennbar supranationale Merkmale aufweisen, wie überhaupt dem Manifest ein globalisierender Zug eigen ist. Die rasche Übersetzung und weltweite Verbreitung sorgte für 'Publicity' im durchaus schon heutigen Sinn des Wortes: Trotz panitalienischer Schlagseite ist Marinetti et al. zudem bescheinigt worden, dass sie das avancierteste mehrsprachige Projekt der gesamten historischen Avantgarden zustande gebracht haben, womöglich sogar eine "realizzazione [...] in chiave ormai positiva del mito di Babele" (Knauth 1999: 16).

7 Guglielmo Marconi (1874–1937) gilt als Pionier der drahtlosen Kommunikation. 1895 beginnt er mit Laborexperimenten auf dem Landgut seines Vaters. Später verlegt er sein Labor auf die Kreideklippen der Insel Wight. Er lässt sein System patentieren und gründet 1897 das Unternehmen Marconi's Wireless Telegraph Company Ltd. mit Sitz in London. 1899 entsteht die erste drahtlose Verbindung über den Ärmelkanal. Die transatlantische Funkübertragung gelingt wenig später am 12. Dezember 1901.

8 Noch präziser wird das Argument in dem 1916 erschienenen Manifest "La nuova religione morale della velocità" entfaltet. Darin behauptet Marinetti, dass man als Reisender im Zeitalter der Geschwindigkeit die Arbeit der Analogie gleichsam mechanisch verrichte und auf diese Weise wie ein Akkumulator automatisch mit produktiver Einbildungskraft aufgeladen werde: "Chi viaggia molto acquista meccanicamente il lavoro dell'ingegno, avvicina le cose distanti guardandole sinteticamente e paragonandole l'una all'altra e ne scopre le simpatie profonde." (Marinetti 1968: 114–115)

9 Vgl. hierzu Böhme (2000: 185).

10 Vgl hierzu auch Behrens (2006), der in Marinettis Kraftwagen eine "potente macchina, feticcio erotico e surrogato narcisistico maschile" sieht, die es mit dem "ventre dell'Urbe-donna" (ebd.: 127) zu tun habe.

11 Zu den Bildern vgl. Spiegel Online v. 5.3.2007 (http://www.spiegel.de/auto/aktuell/0,1518,469572,00.html, 1.1.09) sowie die Startseite von www.pkw.de (http://pkw.de, 1.9.08). Im Herbst 2008 wurde die Werbekampagne auf pkw.de mit ähnlichen Photos sowie mit dem neuen Slogan "Alles für die Hasenjagd" fortgesetzt. – Dass schon Marinetti bei der Abfassung seiner futurischen Manifeste in massiver Weise durch die zeitgenössische Alltagskultur beeinflusst war bzw. um welche Produkte und Darstellungen es sich dabei im einzelnen handelte, versucht Krüger (2009b) zu rekonstruieren.