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Jörg Dünne (Erfurt)



Frank Leinen, Guido Rings (Hg.) (2007): Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten. Romanistische Begegnungen mit der Neunten Kunst. München: Meidenbauer.



Der aus einer Sektion am Deutschen Romanistentag 2005 in Saarbrücken hervorgegangene Sammelband mit dem Titel Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten ist in mehrerer Hinsicht ein Glücksfall für die Comicforschung in der Romania: Zum einen beziehen sich die Beiträge in einer beeindruckenden geographischen Vielfalt auf Comics aus dem spanisch-, französisch- italienisch- und portugiesischsprachigen Raum, wobei auch Lateinamerika, insbesondere mit Argentinien, eine prominente Stellung eingeräumt wird.1 Zum anderen sind die Ergebnisse in schöner Ausstattung beim noch wenig bekannten Münchener Wissenschaftsverlag Meidenbauer publiziert worden, was eine Reihe von Farbabbildungen im laufenden Text ermöglicht hat und vielen der im Band diskutierten Beispiele erst die nötige Anschaulichkeit verleiht.

Über diese generelle Beobachtung hinaus, die allein schon eine Empfehlung darstellt, lohnt sich jedoch auch ein Blick auf die in dem Band entfalteten Ansätze, die nicht nur Aufschluss über aktuelle Positionen der Comicforschung versprechen,2 sondern darüber hinaus möglicherweise auch erkennen lassen, an welche der sich gerade neu formierenden Teildisziplinen der Romanistik die Comicforschung am ehesten anschließt. Natürlich ist es bei Sammelbänden immer nur ansatzweise möglich, einen 'roten Faden' auszumachen – gerade die heterogenen in ihnen versammelten Ansätze bilden jedoch einen willkommenen Anlass zu Mutmaßungen über die genannten Punkte.

Die beiden Herausgeber Frank Leinen und Guido Rings halten sich in ihrer Einleitung (9–22) sehr mit Aussagen zurück, die das weite Feld der von ihnen versammelten Beiträge über Gebühr beschneiden würden – dennoch lässt bereits die insgesamt recht kohärente Aufteilung des Bandes in zwei Hauptteile erkennen, um welche Themen der Band kreist: Die erste Sektion widmet sich dem, was die Herausgeber "Erlebte Wirklichkeiten" nennen und ist vor allem auf politische Lektüren der dort behandelten Comics fokussiert; die zweite kreist um so genannte "Imaginierte Wirklichkeiten", in ihr beschäftigen sich viele Beiträge mit der Selbstbezüglichkeit von Comics als ästhetisches System. Man kann fragen, ob die Opposition von Lebenswelt und Imagination, die im Sektionstitel anklingt, besonders glücklich gewählt ist – der Sache nach geht es wohl eher um die Unterscheidung von dominanter Fremd- und dominanter Selbstreferenz von Comics. Unbestreitbar ist es aber, dass sich zu beiden Themenkreisen wichtige Beiträge im Band finden.




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1 Comic, Kultur und Politik

Die interessantesten Beiträge des ersten Teils unternehmen fundierte kulturgeschichtliche Untersuchungen der Frage, wie Comics in politische Diskurse eingebunden sind. Exemplarisch seien hier die Beiträge von Jessamy Harvey (45–60) zur Funktion des Wunderbaren in Comics zur Zeit des spanischen Franquismus sowie von Joachim Sistig (61–84) zum französischen Comic in der Okkupationszeit hervorgehoben – beide Beiträge lassen eine grundlegende semiotische Ambivalenz des Zeichensystems Comic erkennen, die sowohl zur manichäischen Ideologisierung benutzt werden kann als auch dazu, Freiräume zu schaffen oder zu erhalten, die solche simplen ideologischen Botschaften konterkarieren. Auch der Beitrag von Monica Boria (105–123) zum Comic als Ausdrucksmittel der italienischen Gegenkultur um das für die Studentenbewegung wichtige Jahr 1977 herum lässt aus kultursoziologischer Sicht die Protestfunktionen erkennen, die der Comic dabei angenommen hat. Weniger überzeugend erscheint die politische Lektüre von Comics in dem Band immer dann, wenn sie methodisch an den Hintergrund der vor allem in der Landeskunde und der traditionelleren Kulturwissenschaft betriebenen Stereotypenforschung angeschlossen wird, wie dies in den Beiträgen von Oliver Emanuel (85–104) und Ian Horton (125–141) praktiziert wird – egal, ob stereotype Bilder der deutschen im spanischen Comic Mortadelo y Filemón oder koloniale Stereotypen in Comics unterschiedlichster Provenienz untersucht werden, zeigt sich, dass eine allgemeine Theorie vom Selbst- bzw. Fremdbild, die sich vom konkreten kulturellen Kontext löst, der semiotischen Komplexität von Comics meist nicht gerecht werden kann.

 

Besonderes Gewicht kommt innerhalb dieser Sektion schließlich der Rolle von Comics in der argentinischen Kultur zu, mit der sich die Beiträge von Susanne Schütz (143–162), Ricardo Feierstein (163–185) und Liliana Ruth Feierstein (187–203) beschäftigen: Dabei wird, vor allem bei Susanne Schütz und Ricardo Feierstein, nachdrücklich deutlich, welch wichtige Rolle der Comic für die argentinischen Identitätsdebatte spielt. Allerdings scheint die These von Schütz, nach der der Comic eine "nationale Bildwelt" zur kulturellen Emanzipation Argentiniens zur Verfügung stelle, angesichts der komplexen "peripheren Modernität"3Argentiniens zumindest unterkomplex, und die These von Ricardo Feierstein, nachdem insbesondere der kollektive Held dazu angetan sei, die ideologisch problematischen Züge des amerikanischen Superhelden zu beheben, ist zwar prägnant und materialreich illustriert, aber in ihrer strengen Binarität so wohl nur schwer haltbar. Schließlich führt Liliana Ruth Feierstein in das Œuvre des Comicautors Oesterheld ein, der unter der Militärdiktatur zu einer Symbolfigur des Widerstands aufstieg – ihre unkritische Analogisierung der lebensweltlichen Gestalt Oesterheld mit dem Mythos Kafka wiederholt aber eher den in Comics gängigen semiotischen Prozess der Auratisierung ihrer Protagonisten unter Anleihen bei der literarischen Kultur, anstatt diese Auratisierung als solche zu untersuchen.4




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2 Comic, Semiotik und Selbstreferenz

Im zweiten Teil, der sich vorrangig dem Zeichensystem Comic und seiner Selbstbezüglichkeit widmet, ist der Beitrag von Hartmut Nonnenmacher (265–285) besonders hervorzuheben, der in seinen aufschlussreichen Überlegungen das Aufkommen der speziellen narrativen Metalepse, mittels derer der ein Comic auf seine eigene Entstehung reflektiert, als Indikator für das zunehmende ästhetische Selbstbewusstsein der Comics versteht. Sehr schön zeigt weiterhin der einzige lusitanistische Beitrag des Bandes von Dietmar Frenz (315–331) anhand des Szenaristen- bzw. Autorenpaares António Jorge Gonçalves und Nuno Artur Silva, wie dort die Bildgestaltung zunehmend den Rahmen der klassischen Panel-Struktur zugunsten einer rechnergestützten Maltechnik sprengt, aber gleichzeitig eine Kritik digitaler Bildmanipulation formuliert. Auch Marina Hertrampf (287–313) untersucht intermediale Phänomene im Grenzbereich zwischen Photoroman und Comic anhand von französischsprachigen Comics, lässt jedoch in ihrer typologischen Herangehensweise weitgehend offen, was diese von ihr als "postmodern" bezeichnete Entwicklung für die Selbstreflexion von Comics bedeuten könnte.

 

Nicht ganz nachvollziehbar bleibt allerdings, warum ausgerechnet der Beitrag von María Noriega Sánchez und Alicia Peña Calvo (333–349), der in erster Linie auf eine didaktische Aufbereitung des Albums Mortadelo de la Mancha im Hinblick auf die Vermittlung von Kenntnissen über Miguel de Cervantes' Don Quijote zielt, in diesen Kontext gestellt wurde. Natürlich hat ein solcher Gebrauch des Comicbandes durchaus seine Berechtigung, es hat aber mit den "Optionen des Mediums im Licht von Experiment und Innovation" (so der Untertitel der zweiten Sektion des Bandes) wenig zu tun, wenn Comics vorrangig eine dienende Funktion zur Vermittlung von Kenntnissen über kanonische literarische Texte zugewiesen wird.

 

3 Eine Fußnote

Erstaunlicherweise gibt es in dem Band kaum Beiträge, die zwischen diesen beiden Untersuchungsinteressen, d.h. der Frage nach der Funktion von Comics in der Formierung von Weltmodellen, und der Untersuchung ihrer Selbstreferentialität als ästhetische Praxis vermitteln. Signifikant hierfür ist eine Fußnote eines der beiden Herausgeber: Frank Leinen grenzt sich in seinem sehr interessanten, klar in der Sektion 2 angesiedelten Beitrag (229–263) zur "experimentellen Metafiktion" in Marc-Antoine Mathieus Comics von der – seiner Meinung nach zu engen – Comicdefinition von Georg Seeßlen ab, der den Comic als weltumfassendes, "alle Räume und Zeiten besetzendes Sinnsystem" betrachtet, das Fremdheit eliminiert (S. 252, FN 54). Ganz ohne Zweifel ist Seeßlens Definition tatsächlich zu eng, um einen solch spielerischen Comic wie dem von Mathieu gerecht zu werden – insofern ist Leinen sicherlich recht zu geben. Gleichzeitig ist es aber eine Definition, die für viele Comics möglicherweise eben nicht vollständig obsolet ist, wobei sicherlich zu ergänzen wäre, dass Comics, wie in einigen Beiträgen der Sektion 1 gezeigt, durchaus in der Lage sind, mehr als unterkomplexe Weltmodelle zu liefern. Symptomatisch ist Leinens Ausspielen von semiotischer Komplexität, also Selbstreferenz gegen Weltreferenz, aber im Hinblick auf die fehlende Vermittlung dieser beiden Perspektiven in dem Band. Das ist natürlich nicht den Herausgebern anzulasten, es macht sich aber an dieser Stelle bemerkbar, dass es, im gesamten Band keine Theoriebeiträge im engeren Sinn gibt, sieht man einmal von dem einzigen linguistischen Beitrag des Bandes ab, in dem Mechthild Bierbach (351–379) de facto sehr viel mehr leistet als die angekündigte Untersuchung des Phänomens der Onomatopoetika. Indem sie den Comic als Semioseprozess darstellt, der aktive Beteiligung des Rezipienten fordert,5 entwirft sie nichts weniger als eine pragmatische Theorie der Comics auf Rezipientenseite, den sie auf kognitionspsychologische Fragestellungen öffnet.




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Nur eine Pragmatik des Comic kann aber letztlich auch Aufschluss geben über die Vermittelbarkeit bzw. die jeweilige Vermittlung von Weltreferenz und Selbstreferenz, also von Semantik und Syntaktik des Comic. Ob eine solche Pragmatik aber allein auf systematischer Ebene entworfen werden kann, bleibt die Frage, weswegen es, auch und gerade aus romanistischer Sicht, geboten wäre, verstärkt über eine historische Pragmatik des Comic nachzudenken, insbesondere über die Frage nach seiner medienhistorischen Genese. Ansätze zu einer Mediengeschichte des Comic finden sich insbesondere, wenn der Mitherausgeber Guido Rings (207–228) über den frühen "graphischen Roman" von Rodolphe Töpffer in Abgrenzung zum amerikanischen "comic strip" nachdenkt, letztlich aber die Frage nach der Mediengeschichte des (europäischen) Comic nicht weiter verfolgt und diesen schließlich medienunspezifisch in die Epochengeschichte der Romantik einordnet (was die Gefahr eines Rückfalls in dominant literaturgeschichtliche Kriterien beinhaltet). Weiter zurück denkt sogar noch Albert Barrera-Vidal (25–43) in seiner ansonsten arg überblicksartig ausgefallenen Skizze zur Behandlung des Mittelalters im Comic in Sektion 1 des Bandes, wenn er im Vorübergehen einige Überlegungen zur Entstehung des Comic aus der mittelalterlichen Bildergeschichte heraus einstreut, die an sich viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätten.

Insgesamt verweist die Leerstelle, die zwischen den beiden unterschiedlichen Lektüren des Comic in der Romanistik liegen, wohl nicht zuletzt auf die unterschiedlichen Forschungsinteressen, die sich mit dem Comic vor dem Hintergrund der jüngsten Umwälzungen im disziplinären Zuschnitt der Fremdsprachenphilologien verbinden: Einer dominant auf Weltreferenz ausgerichteten kulturwissenschaftlichen Herangehensweise steht eine an Selbstreferenz orientierte Herangehensweise gegenüber, die eher von der (post-)strukturalistischen Literaturwissenschaft herkommt. Vielleicht ist diese Leerstelle somit letztlich bezeichnend für die Schwierigkeiten einer Disziplin, mit sich selbst zu Rande zu kommen.

 

4 CLANG, BALANG, TANG

So wie Gaston Lagaffes Ritterrüstung in einem Franquin-Comic eigenartige Geräusche produziert, deren Zeichenhaftigkeit, so Mechthild Bierbachs bereits erwähnte Deutung aus linguistischer Perspektive, vom Leser mitkonstruiert werden muss, so konstruieren sich die Teildisziplinen der Romanistik, die in diesem Band vertreten sind, derzeit allesamt ihre eigenen Zugänge zum Comic. Dass es dabei manchmal etwas klappert, ist eher ein Zeichen von Produktivität, sofern das Klappern auf etwas verweist, was in der Romanistik als Disziplin derzeit generell im Umbau begriffen ist – der Comic, der von Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, von Linguistik und Fachdidaktik zugleich für sich in Anspruch genommen werden kann, ist vielleicht eines der Felder, wo die Entwicklungen dieses Umbaus im Moment am besten beobachtet werden können.




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Bibliographie

Hein, Michael / Hüners, Michael / Michaelsen, Torsten (Hg.) (2002): Ästhetik des Comic. Berlin: Erich Schmidt.

Dünne, Jörg (2003): Rez. zu Hein / Hüners / Michaelsen (2002), in: PhiN 26, 79–82. [http://web.fu-berlin.de/phin/phin26/p26t5.htm, 1.1.09].

Sarlo, Beatriz (1999): Una modernidad periférica. Buenos Aires 1920 y 1930. Buenos Aires: Nueva Visión.

 

Anmerkungen

1 Dies hat den Preis, dass der geneigte Leser in der Lage sein sollte, neben Deutsch auch Spanisch, Französisch und Italienisch zu lesen, wenn er alle Beiträge verstehen will. Doch genau diese Vertrautheit mit mehreren Sprachen der Romania ist ja der erklärte Anspruch der deutschen Romanistik – und es ist schön, wenn zumindest die romanistische Comicforschung auf eine Leserschaft zählt, die diesem Selbstbild entspricht.

2 Vgl. Hein / Hüners / Michaelsen (2002) (Hg.) (2002) sowie die Rezension des Verf. (2003).

3 Vgl. dazu Sarlo (1999).

4 Feierstein liefert somit ein aufschlussreiches Indiz dafür, dass die sich die wissenschaftliche Comic-Debatte immer noch nicht von der Orientierung an der Aura literarischer Texten gelöst hat. Aufschlussreicher wäre indes wohl die Frage danach, wie Comics selbst eine besondere Effizienz darin entwickeln, literarische Figuren zu auratisieren.

5 Sie verabschiedet damit quasi nebenbei und in souveräner Weise die traditionelle comic-kritische These, derzufolge (quasi-)onomatopoetischen Ausdrücke (à la "grübel", "ächz", "kotz" etc.) der Verdummung unserer Jugend durch unterkomplexe sprachliche Formulierungen Vorschub leisteten.