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Florian Mehltretter (München)



Immacolata Amodeo (2007): Das Opernhafte. Eine Studie zum gusto melodrammatico in Italien und Europa. Bielefeld: transcript.



Ausgehend von dem bei Italienreisenden wie etwa Rolf Dieter Brinkmann (Rom, Blicke. 1975) dokumentierten Vorurteil, das Gebaren der Italiener sei irgendwie 'opernhaft', fragt die vorliegende Untersuchung nach zweierlei: erstens danach, ob sich aus 'dem Opernhaften' ein deskriptiver kulturwissenschaftlicher Begriff gewinnen lässt, und zweitens ob es eine historische Konstellation gibt, die insbesondere die "Dominanz der Oper im Vergleich zum Roman in der italienischen Kultur des 19. Jahrhunderts" (10) erklärt. Fluchtpunkt beider Fragen wäre dann die am Ende des Bandes zur Diskussion gestellte These, Italien sei geschichtsbedingt ein Raum, in dem sich dieses Opernhafte "besonders anschaulich manifestiert" (199), ohne dass damit gesagt wäre, dass es nicht auch in anderen Kulturen auftreten kann.

Freilich, so einfach ist es mit dem Opernhaften nicht, und dies deshalb, weil die Oper sowohl als komplexe Medienkombination als auch als historisch wandelbares Phänomen nur schwer auf einen wiederum auf andere Medien und Gattungen übertragbaren Begriff zu bringen ist: In Frage kommen systematische Aspekte wie Theatralität oder Musikalität, aber auch historische Konstellationen wie die Wunderästhetik der Barockoper, die Emotionsästhetik der romantischen Oper etc. Natürlich macht dies alles zusammen das Opernhafte aus, aber ein solch umfassender Begriff beschriebe nur tautologisch die Oper selbst in der Summe ihrer Erscheinungsformen als 'opernhaft'; er wäre nicht in gewinnbringender Weise auf andere Medien, Gattungen und Kontexte übertragbar. Will man also angeben, was in anderen Manifestationen der italienischen oder europäischen Kultur das Opernhafte sein könnte, so muss man den Begriff auf einen Kern reduzieren. Ein Teil des Wertes der Arbeit von Amodeo liegt just in der Illustration der Schwierigkeit eines solchen Unterfangens.

In einem ersten Teil ("Das Opernhafte im fremden Blick") versammelt die Autorin Beobachtungen von Italienreisenden, die zur Herausbildung eines solchen Begriffes beitragen könnten. So beobachtet Goethe die Theatralität der italienischen Alltagskultur und erfreut sich an der Mimesis dieser Alltagskultur im Theater, besonders der Opera buffa. Goethe und Stendhal berichten von der Gesangsbegeisterung der Italiener, wobei für Stendhal dies Teilaspekt einer allgemeinen Hinneigung zur Musik und den schönen Künsten überhaupt ist. Stendhal arbeitet darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen einer Kultur der Emotionalität und einer Vorliebe für die Musik heraus.

Nun sind diese von (diesen und anderen) Italienreisenden beobachteten Aspekte der Theatralität oder der Musikbegeisterung vielleicht (recht heterogene) Bausteine eines möglichen Begriffs des Opernhaften, aber sie sind es nur in der besonderen Optik der Untersuchung, die sie in dieser Weise zusammensetzt. Weder Goethe noch Stendhal noch andere Beobachter ihres Jahrhunderts können als Kronzeugen einer zeitgenössischen Wahrnehmung der italienischen Kultur als opernhaft gelten.




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Lohnender ist es dagegen (wie die Verfasserin vorführt), bei ihnen nach Thesen zur Dominanz der Oper als Gattung in der italienischen Kultur des 19. Jahrhunderts zu suchen. Mme de Staël konstatiert jedenfalls, Italien habe keinen nennenswerten Roman hervorgebracht, und sie steht der Oper negativ gegenüber (wenn auch der Nexus zwischen diesen beiden Einschätzungen mehr ein Effekt der Juxtaposition der von Amodeo ausgewählten Zitate als ein tragender Aspekt von Mme de Staëls eigener Theorie ist). Stendhal seinerseits sieht die Dominanz der Musik (aber nicht speziell der Oper) gegenüber der (Lese-) Literatur im Zusammenhang mit einem politischen Spezifikum Italiens, nämlich der besonders starken Rolle der Zensur (38).

Der zweite Teil, "Literaturwissenschaftliche Positionen gegen das Opernhafte", bietet eine mit derjenigen von De Sanctis beginnende Überprüfung kritischer Positionen seit dem 19. Jahrhundert. De Sanctis beurteilt Literatur bekanntlich bevorzugt nach dem Beitrag, den deren jeweilige Semantik zur Herausbildung eines italienischen Nationalbewusstseins geleistet hat; diejenigen ihrer ästhetischen Errungenschaften, die nicht semantischer Art sind (oder sogar zu einer Betonung des Asemantischen führen), bleiben ihm daher unverständlich. Dies führt bei ihm zu einer Abwertung insbesondere klangbetonter Poesie. Dass De Sanctis in der Oper speziell des 18. Jahrhunderts die (ohnehin seiner Ansicht nach dünne) Semantik der Libretti durch die Musik aufgesogen sieht (was durchaus eine gute Beobachtung ist), wertet Amodeo als Stellungnahme gegen das Opernhafte in der italienischen Dichtung. Das Opernhafte wäre in diesem Zusammenhang also nicht das Theatralische, sondern die Musikalisierung, Versinnlichung und (bedingt durch die Marginalisierung der Semantik) Entpolitisierung der Literatur – ein Zustand, der allerdings, wenn man will, mit Bembo auch schon deutlich vor der Erfindung der Oper erreicht wäre. Es fragt sich insofern, was der Begriff des Opernhaften zur Einholung oder Erprobung der von De Sanctis aufgestellten (und abgesehen von ihren Wertungsimplikaten ja nicht abwegigen) Thesen zur Musikalisierung leisten kann.

Auch Croces im Anschluss referierte angebliche Stellungnahme gegen das Opernhafte ist eine Position gegen eine bestimmte Form dichterischer Klanglichkeit. Bei Croces literarästhetischer Grundunterscheidung zwischen großer poesia und bloßer letteratura spricht intellektuell berechnete, quasi handwerkliche Gemachtheit immer für eine Einordnung in letztere Kategorie. Die wohlberechnete Wirkungsästhetik barocker meraviglia kann für ihn niemals Poesie in diesem emphatischen Sinne hervorbringen, und deshalb wertet er neben den Aspekten des descrittivo und des ingegnoso auch den dritten der von ihm herauspräparierten Bestandteile der barocken Überraschungsästhetik ab, die musicalità. Aufgrund dieser Prämissen – aber durchaus nicht im gleichen Zusammenhang – wertet Croce (trotz einer gewissen Theater- und sogar Opernbegeisterung) auch die Opernlibrettistik ab, eben als für einen bestimmten Zweck berechnete Literatur. Bei der Beurteilung dramatischer Texte kommt außerdem für Croce noch eine Unterscheidung zwischen einem negativ bewerteten Spektakelhaften (nicht sprachliche Aspekte von Theatralität) und einem eigentlich Dramatischen (dichterische Handlungsvermittlung) hinzu. Alle diese Aspekte könnten Bausteine einer Theorie des Opernhaften werden, bilden aber aus sich heraus noch keine solche – teils, weil sie auf einer Abstraktionsebene liegen, die oberhalb der Frage nach der Gattung 'Oper' anzusiedeln ist (poesia letteratura), teils weil sie, obwohl auf die Oper zutreffend, keine spezifische Differenz der Oper markieren (das Spektakuläre kann auch anderen theatralischen und sogar allgemein performativen Gattungen eignen, etwa dem Fest).




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Eine solche bislang also nicht geleistete Theorie des Opernhaften "als kulturtypologische Kategorie" (87) versucht nun das dritte Großkapitel der Arbeit aus Abschnitten der Quaderni del carcere von Antonio Gramsci zu destillieren. Gramsci schreibt der italienischen Alltagskultur einen "gusto melodrammatico" zu (87), wobei 'melodramatisch' hier nicht das im Deutschen übliche Bedeutungsspektrum hat, sondern, wie die Verfasserin zu Recht festhält (96), zunächst lediglich so etwas wie 'zum gesungenen Drama gehörig' bedeutet.

Gramsci geht, ähnlich wie De Sanctis, von stark ideologisch geprägten Vorüberlegungen aus. Er fordert, ein Volk müsse eine die Wünsche der in einem 'historischen Blockprojekt' organisierten Intellektuellen und Arbeiter gleichermaßen artikulierende letteratura nazionale-popolare hervor bringen, die er etwa in Frankreich im Populärroman des 19. Jahrhunderts verwirklicht sieht. Diese Rolle eines 'Blockprojekts' habe in Italien die Oper eingenommen, mit der seiner Ansicht nach negativen Folge, dass Sentimentalität und Rhetorik den Geschmack der Italiener prägten, nicht nüchterne Abwägung wie man sie in stiller Romanlektüre hätte entwickeln können. Die These Gramscis, die Anfälligkeit der Italiener für die faschistische Rhetorik könne durch übermäßigen Opernkonsum befördert worden sein, ist durchaus bedenkenswert. Allerdings verlässt sich die Rhetorik des Faschismus dominant auf die Tradition des Hohen Stils (teils in einer an D'Annunzio anklingenden re-latinisierten Variante), die in der Oper (mit ihrer starken Liebesthematik und der Lyrikähnlichkeit der Arien) eher marginal ist.

Der vierte Hauptabschnitt des Buches versucht nun, Gramscis Skizzen historisch zu differenzieren. Zunächst wird durchaus konzediert, dass das 19. Jahrhundert in Italien reich an Opern und arm an Romanen ist; dies wird als "Schwerpunktverlagerung auf die Oper" (109) interpretiert. Allerdings bleibt dabei unberücksichtigt, dass auch die beiden Jahrhunderte davor reich an Opern waren und dass der italienische Roman zumindest im 17. Jahrhundert in beachtlicher Blüte stand.

Das weder politisch noch sprachlich einheitliche Italien konnte zunächst keine breit rezipierte nationale Leseliteratur ausbilden, schon weil zumindest die unteren Schichten hauptsächlich regionale Sprachvarietäten beherrschten und ohnehin kaum lesen konnten. In diesem Zusammenhang wird noch eine Nebenthese eingeführt, nach der die klassische Phase der italienischen Literatur in besonderer Weise von Mündlichkeit geprägt sei – aber dies trifft wohl weniger auf einen spezifischen Kulturraum (Italien) als auf eine historische Periode (Mittelalter und Frühe Neuzeit) zu; auch die Trobadorlyrik oder das Theater der französischen Klassik rechnen eher mit Vokalität als mit stiller Lektüre. Abschnitt 5 versucht nun vor diesem Hintergrund die italienische Kultur als eine Kultur nicht der Lektüre, sondern der Performanz darzustellen. Diesem Befund ist mit Einschränkungen (die besonders die frühe Geschichte des Buchdrucks betreffen würden) durchaus zuzustimmen, aber vielleicht mit der Ergänzung, dass die italienische Kultur in dieser Hinsicht eher in einer gesamteuropäischen frühneuzeitlichen Konstellation verbleibt, die in anderen Kulturen nach und nach durch eine stärkere Ausrichtung auf Druckmedien abgelöst wird.




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Die Frage ist nun, ob in der italienischen Performanzkultur des 19. Jahrhunderts die Oper geradezu zwangsläufig zum die Nation einigenden Massenmedium wurde. Eine Stärke von Amodeos Buch ist hier, dass sie den gängigen Vorstellungen von der – insbesondere Verdianischen – Oper als populäres, Nationalgefühle transportierendes Volksgut nicht auf den Leim geht. Sie zeigt, dass die breite Mehrheit im 19. Jahrhundert keinerlei Kontakt zur Oper hatte und dass auch das Italienisch der Libretti den Unterschichten weitgehend unverständlich gewesen wäre. Verdis Opern waren überdies zwar mit nationalen Ideen kompatibel, aber keineswegs einzig auf diese zugeschnitten; sie zielten eher auf eine überregionale Verwendbarkeit in den verschiedenen Fürstentümern und Staatengebilden der Halbinsel. Erst mit dem Rundfunk ergibt sich im 20. Jahrhundert eine größere Verbreitung der Oper, und erst im Nachhinein wird ihr einigendes Potential herausgestellt. Die Oper entwickelt sich demgemäß erst im 20. Jahrhundert aus einem nur "imaginären Blockprojekt" in "ein Massenphänomen und eine kollektive Form in Gramscis Sinn" (157) – allerdings wohl mit dem Schönheitsfehler, dass das Massenphänomen des 20. Jahrhunderts die Anliegen des 19. vermittelt.

Im Anschluss daran werden literarische und filmische Texte analysiert, die entweder 'das Opernhafte' beschreiben (aber warum soll gerade künstlerische Literatur auf einer kulturwissenschaftlichen Beschreibungsebene mehr leisten als die Fachdisziplin selbst?) oder aber 'nachstellen' und also durch eine Art transposition d'art selbst zu Objekten werden, an denen man das Opernhafte beschreiben kann. Aus den literarischen Texten als Beschreibungen werden so unterschiedliche Definitionen des Opernhaften gewonnen wie: das Spektakuläre (also wohl die spezifische Performanz des Theaters), die Illusionsbildung der Szene oder auch die durch die Superposition verschiedener Codes (theatralisch, textuell, musikalisch) entstehende Komplexität, die als diffuse Wirkung erlebt werden kann. Bei der Lektüre von im Sinne einer transposition d'art 'opernhaften' Texten kommt es gelegentlich zu Überinterpretationen, etwa wenn das komische Verhalten von Charles in Flauberts Madame Bovary im Kontext eines Opernbesuchs als buffaspezifische Komik gedeutet wird, obwohl es doch in anderen Kontexten, in denen die Oper keine Rolle spielt, genauso funktioniert – und obwohl die Opera buffa gerade nicht auf dieser eher subtilen Komik der sozialen Peinlichkeit basiert.

Sehr überzeugend ist dagegen die an Adorno angelehnte These, ein Spezifikum der Oper sei eine Kombination aus starker Stilisierung ('Unnatürlichkeit' der opernspezifischen Mimesis, bei der ja ein auf der histoire-Ebene anzusetzender Dialog oder innerer Monolog durch orchesterbegleiteten Gesang wiedergegeben wird) und naturhaft-körperlichem Gesang ('Natürlichkeit', vgl. 174 – was aber wohl nicht heißen dürfte, dieser die Natur ausstellende Gesang wäre kein Kunstgesang). Allerdings ist gerade diese Kombination nicht auf andere Medien übertragbar und taugt daher kaum für eine kulturelle Kategorie des Opernhaften.




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Daher überzeugen die das letzte Kapitel tragenden Thesen zur Transmedialität des Opernhaften nur zum Teil: Inszenierte Begräbnisse kann man beispielsweise durchaus als 'opernhaft' empfinden, aber dies theoretisch zu begründen fällt schon schwerer; jedenfalls gab es sie auch schon vor der Erfindung der Oper. Fellinis Film E la nave va ist zunächst einmal ein Film über die Oper, vielleicht sogar über ein (künstlerisch, nicht kulturwissenschaftlich entworfenes) Opernhaftes, und erst sekundär dazu (und deswegen) selbst ein wenig 'wie Oper.'

Das Ende kommt auf Gramsci zurück: Dieser wirft der Oper einerseits vor, konventionell zu sein im Sinne von 'unnatürlich, gekünstelt.' Zugleich konstatiert er, sie sei wie jedes historische Phänomen ganz selbstverständlich (und also 'natürlich') konventionell im Sinne von 'auf einer Konvention beruhend.' Daraus wird die These gewonnen: Die Konventionalität der Oper im Sinne von Unnatürlichkeit ist ihr nach den Konventionen dieser Kunstform wesenhaft zu eigen, also natürlich. Aber für welche Kunstform gälte dies nicht? Das 'Opernhafte' entzieht sich abermals.

Dies mag aber auch ein Risiko einer allgemeinen Kulturtheorie vom Typ derjenigen Gramscis sein: In ihrem übergreifenden Interesse bleibt sie beinahe notwendig hinter dem bereits erarbeiteten Kenntnisstand einzelner Fachwissenschaften zurück. Vielleicht wäre es für die Übertragbarkeit und mithin Verwendbarkeit der in diesem Buch aus Gramscis Ansätzen entwickelten Konzeption des 'Opernhaften' günstiger gewesen, die Gattung 'Oper' in einem an Einzeldisziplinen orientierten etwas technischeren Sinn – musikwissenschaftlich, theaterwissenschaftlich, literaturwissenschaftlich – zu beschreiben, um eine spezifische Merkmalskomplexion zu erhalten, welche dann modellhaft das 'Opernhafte' in nicht zur Oper gehörigen Phänomenen greifbar hätte machen können.

Jedenfalls aber ist der Schlussbeobachtung der Autorin zuzustimmen: Wenn es das Opernhafte gibt, verdankt es sich "nicht der Natur der Italiener, sondern der Kultur der Oper" (199) und könnte dann auch in anderen Kulturräumen auftreten. Aber ob wir diese Kategorie wirklich brauchen und wie sie zu definieren wäre, diese Frage kann das ebenso anregende wie materialreiche Buch nicht abschließend beantworten.