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Nicole Kallwies-Meuser (Mannheim)



Burkhard Pohl und Jörg Türschmann (2007) Miradas glocales. Cine español en el cambio de milenio. Madrid / Frankfurt am Main: Vervuert. (= Iberoamericana)




In den letzten Jahren gab es vielfältige Entwicklungen auf dem spanischen Filmmarkt, die bislang in Deutschland wissenschaftlich bis auf vielfältige Monographien über die Werke von Almodóvar nicht erfasst wurden. Dabei ist das spanische Kino längst aus dem Schatten Almodóvars herausgetreten. Zum einen machte eine Reihe von neuen Regisseuren auf sich aufmerksam, zum anderen gab es vielfältige transkulturelle Bewegungen und eine neue Form von Sozialkritik. Dieser Bandbreite an Entwicklungen widmet sich das Sammelband Miradas glocales in 20 Beiträgen von Wissenschaftlern aus Deutschland, Frankreich und England. So entsteht eine bislang einzigartige multiperspektivische, europäische Annäherung an die diversen Facetten des spanischen Kinos zur Jahrtausendwende. Die Beiträge der Sektion "Spanisches Kino seit 1989" des Hispanistenkongresses 2005 in Bremen wurden von Burkhard Pohl und Jörg Türschmann zusammengeführt und sinnvoll in Teilaspekte gruppiert.

Der spanische Filmwissenschaftler Carlos F. Heredero hebt im ersten Teil des Vorwortes die Besonderheit des Bandes hervor, das Perspektiven auf die spanische Filmlandschaft bietet, welche selbst in Spanien bislang kaum skizziert wurden. Die Artikel beschränken sich nicht auf allseits bekannte Regisseure, sondern dringen tief in die Vielfalt der aktuellen Entwicklungen ein. Die beiden Herausgeber Burkhard Pohl und Jörg Türschmann reflektieren im zweiten Vorwort einleitend, was unter spanischer oder insgesamt nationaler Kinolandschaft zu verstehen ist. Zwar indizieren Komponenten wie Produktionsland und -firma, der Stil des Autors oder bekannte Schauspieler die Nationalität eines Filmes. Doch gleichzeitig zeigen die Zusammenarbeit von Produzenten verschiedener Nationalitäten oder regionale Differenzierungen in baskisches oder katalanisches Kino die Schwierigkeiten auf, stringente Grenzen zu ziehen. Was heute als spanisches Kino wahrgenommen wird, ist letztendlich ein Konglomerat verschiedener Traditionen, sich kreuzender Ästhetiken und Themen. Deshalb gilt es, so die Herausgeber, den Blick zu öffnen, die filmischen Genres, das spezifische Autorenkino, die politischen und kulturellen Strategien und ökonomischen Notwendigkeiten zu studieren.




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das ist das Ziel des Sammelbandes, das sich betont auch weniger zugänglichen Produktionen widmen möchte ("la presente publicación quiere dar cuenta también de esta variedad del cine español contemporáneo" [17]).  

Ein auffallendes Charakteristikum des spanischen Kinos der letzten Jahre ist die zunehmende Transnationalität. So dreht bspw. Alejandro Amenábar, wie Nancy Berthier in ihrem Artikel aufzeigt, seinen Erfolgsfilm Abre los ojos (1997) auf englisch und mit Nicole Kidmann in der Hauptrolle und wählt kein spezifisch spanisches, sondern ein international zugängliches Thema. Anstelle des Terminus Transnationalität wählen die Herausgeber im Titel ihres Sammelbandes den von Roland Robertson etablierten Begriff "glocalización". Damit werden die nur scheinbar gegensätzlichen Begriffe Globalisierung und Lokalisierung verbunden, denn die Globalisierung zieht die Entwicklung und Darstellung lokaler Spezifika mit sich. Das Nationale und Regionale konstituieren, so die Herausgeber in Anlehnung an Robertson, eine kommerzielle Strategie: 

Cine glocal, pues, es el producto de la relación entre estrategias cinematográficas hegemónicas en expansión, y las (re-)construcciones de lo local, regional y nacional, por parte tanto de los mismos actores globales, como de los actores locales, regionales y nacionales, en competencia por la supremacía económica y cultural. [...] Precisamente la afirmación de lo propio es una estrategia para obtener una atención fuera del ámbito cinematográfico nacional. (19) 

So dient zum Beispiel die baskische Umgebung in Los lunes al sol von Fernando León de Aranoa (2002) als Kulisse für einen Film, der an das Kino von Ken Loach erinnert. Diesem Zusammenspiel von lokalen und globalen Strategien sowohl auf thematischer als auch auf produktionsspezifischer Ebene widmen sich einige Artikel.

Miradas glocales ist in fünf Kapitel unterteilt, die sich mit verschiedenen Aspekten der aktuellen spanischen Filmlandschaft beschäftigen. Manche Kapitel wie das erste, "Panoramas", sind dabei sehr heterogen. In diesem ersten Kapitel beschreibt José Enrique Monterde die vielfältigen ökonomischen und politischen Hintergründe wie Produktions- und Distributionsbedingen, staatliche Förderungsmaßnahmen etc. Ralf Junkerjürgen untersucht Bilder der spanischen Metropole Madrid im spanischen Kino und entwickelt eine Typologie. Jean Claude Seguin widmet sich dem sehr aktuellen Phänomen der Verwischung der Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentarfilm, unter anderem anhand von La pelota vasca von Julio Medem (2004) und Hay motivo (2004), einer Koproduktion verschiedener zeitgenössischer Regisseure.  

Im zweiten Kapitel, "La violencia y lo cómico", untersucht Dagmar Schmelzer die Repräsentation von Gewalt in La muerte de Mikel (Imanol Uribe, 1983), Historias del Kronen (Montxo Armendáriz, 1994) und El Bola (Achero Mañas, 2000), Bernhard Chappuzeau die Ästhetik der Gewalt in El mar (Agustí Villaronga, 1999).




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Ana Luengo und Burkhard Pohl betrachten den Einsatz von Komik in Días de fútbol (David Serrano, 2003) und La comunidad (Alex de la Iglesia, 2000) sowie weiteren Filmen von Alex de la Iglesia. Der Aufsatz von Pohl gibt eine spannende Annäherung an die für de la Iglesia typischen Hybridisierungen von schwarzer Komödie mit Western, Road Movie oder Science Fiction. Nach einer kurzen Einführung in die Filmographie de la Iglesias wird die bislang erfolgreichste Produktion, La Comunidad, in Bezug auf ihre Verbindung von Komik und Horror im Spannungsfeld der Anlehnung an spanische Traditionen und ästhetische Erneuerungen untersucht. 

Das dritte Kapitel widmet sich der Migration im spanischen Kino, die auffallend oft Thema aktueller Filme ist und sich in die Tendenz eines zunehmend sozialkritischen spanischen Kinos einschreibt. Verena Berger analysiert Migrations-Bewegungen und die Auseinandersetzung mit dem Anderen in Poniente von Chus Gutiérrez (2002), Camila Damerau die Repräsentation von Migration in Alma Gitana (Chus Gutiérrez, 1995) und Flores de otro mundo (Icíar Bollaín, 1999). Aber auch Migrationen in Bezug auf die Nationalität eines Filmes werden behandelt. So beschreibt Isabel Santaolalla eine zunehmende Hispanisierung des spanischen Kinos und Annegret Thiem geht der Frage nach, ob El último viaje de Roberts Rylands (Gracia Querejeta, 1996) als europäische Koproduktion zu verstehen ist. 

Das vierte Kapitel, "Cine intimista", behandelt das spanische Autorenkino, das Kino der Randgruppen von Fernando León de Aranoa, das Spiel mit Zeitbildern im Kino von Julio Medem und die Transgression von sozialen Tabus im Vergleich von La mala educación (2004) und Mar adentro (2004) sowie den sehr persönlichen, berührenden Film La vida sin mi (2002) von Isabel Coixet. 

Im letzten Kapitel werden verschiedene Phänomene der Intertextualität, bspw. in der Adaptation von Literatur auf die Filmleinwand behandelt. Auch die Frage der Nationalität wird von Nancy Berthier gestellt in Bezug auf die beiden ersten Filme von Alejandro Amenábar, Tesis (1995) und Abre los ojos (1997) sowie dessen Remake Vanilla Sky (Cameron Crowe, 2001). María Jesús Beltran Brotons geht auf das filmische Werke der erfolgreichen Regisseurin Icíar Bollaín ein und zeigt die Inszenierung der Blicke sowie die intermedialen Verbindungen in Te doy mis ojos (2003) auf. 

Insgesamt liegt eine in dieser Bandbreite bislang einzigartige Studie über aktuelle Phänomene und Entwicklungen im spanischen Kino vor, die jedem spanischen Cineasten zu empfehlen ist. Besonders hervorzuheben ist dabei das Vorwort der Herausgeber, die in aktuelle Entwicklungen einführen, dem Leser den Einstieg in die verschiedenen Annäherungsformen erleichtern, Zusammenhänge etablieren und einen roten Faden für die Lektüre liefern.