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Sabine Schrader (Dresden)



Michael Zimmermann (2006): Industrialisierung der Phantasie. Der Aufbau des modernen Italien und das Mediensystem der Künste. München / Berlin: Deutscher Kunstverlag. (Kunstwissenschaftliche Studien, 127)



Der Kunsthistoriker Michael Zimmermann arbeitet in seinem Buch Industrialisierung der Phantasie. Der Aufbau des modernen Italien und das Mediensystem der Künste die Voraussetzungen der veränderten Wahrnehmung durch visuelle Massenmedien im 19. Jahrhundert in Italien heraus. Er betritt hier vor allem in der deutschsprachigen, aber dank seines interdisziplinäres Zugriffs auch in der italienischen Forschungslandschaft Neuland. Er verknüpft geschichts-, literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen mit präzisen Einzelbildanalysen äußerst gewinnbringend. Die Übersetzung der (allerdings manchmal etwas zu ausführlichen) Zitate und die zahlreichen Illustrationen fördern dabei die Anschaulichkeit der Darstellung.

Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht die teuer und aufwendig illustrierte Mailänder Zeitschrift Illustrazione italiana, die 1874 von Emilio Treves gegründet wurde und die, so eine der zentralen Thesen, entscheidend zur massenhaften Verbreitung naturalistischer Malerei beigetragen hat, so dass "die Phantasie des Einzelnen von den Prozessen der Industrialisierung unhintergehbar erfasst wurde" (348). Michael Zimmermann erzählt aber keine apokalyptische Verfallsgeschichte der menschlichen Vorstellungskraft, da er nicht von einer zeitlich vorgängigen 'freien', individuellen Einbildungskraft ausgeht. Ihn interessiert vielmehr der konkrete historische Bedingungsrahmen der visuellen Phantasie, der sich im Zeitalter der Industrialisierung veränderte und in Italien aufgrund der verspäteten Industrialisierung radikaler als anderswo vonstatten ging. Denn der "Einbruch massenwirksamer, bildlicher Suggestion" musste kaum auf Rezeptionsformen des Bildungsbürgertums Rücksicht nehmen (349).




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Michael Zimmermann beschreibt ausführlich die Verfahren, mit denen Zeichnungen, Malerei, aber auch Fotografie in den Holzschnitt übertragen, reproduziert und der gerade entstehenden Massengesellschaft zugänglich gemacht werden konnten (35ff). In dem Untersuchungszeitraum 1875–1900 herrschte in den Illustrierten, allen voran in der Illustrazione italiana, ein scheinbar harmonisches Nebeneinander von trivialer Pressefotografie und hoher Kunst, die nicht in Konkurrenz zueinander standen. Die Künstler profitierten vielmehr von den aufwendigen Reproduktionen und der Ausweitung des Publikums. Erst mit dem Verschwinden der naturalistischen Malerei in den Kunsthallen, der Tagespresse, folgerichtig in den Illustrierten und dann in der Kunstkritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dem gleichzeitigen Siegeszug des Films verliert die Malerei ihre führende Rolle in der visuellen Kultur. Sie wird zur Nische einer bildungsbürgerlichen Elite.

Zunächst widmet sich Zimmermann Gramscis Quaderni di carcere, in denen jener herausgearbeitet hat, dass Italien bis zur Etablierung der Kinosäle (gegen 1910) kaum über eine nationale Massenkultur verfügte; Fortsetzungsromane wurden beispielsweise aus dem Französischen übersetzt. Italien sei vielmehr durch eine veraltete und überrhetorische Kultur gekennzeichnet. Zimmermann zeigt nun, dass mit der Verbreitung der visuellen Bildkultur dank der Illustrierten im ausgehenden Ottocento der Weg für den Erfolg des Kinos geebnet werden konnte. Maßgeblich ist für ihn zudem noch ein anderer Gedanke: Der italienische Philosoph und Journalist Gramsci gehörte vielleicht zu den ersten, die den gusto melodrammatico in der italienischen Kultur erkannten und damit der Oper in Italien die nationale, massenkulturelle Bedeutung zukommen ließen, die in Frankreich beispielsweise der Feuilletonroman im 19. Jahrhundert hatte. Gleichzeitig erklärte er den gusto melodrammatico zum integrativen Bestandteil der Alltagskultur. Zimmermann übersetzt diesen nicht ganz überzeugend mit 'Dramatisierung',1 und sieht darin, analog zu Gramsci, ein herausragendes italienisches transmediales Verfahren, das er in der Malerei und damit auch in den Illustrationen in dem oben genannten Untersuchungszeitraum realisiert sieht, was er im Laufe seines Buches durchgängig durch seine Bildanalysen zu belegen vermag.

Dank der unterschiedlichen methodischen Blickwinkel gelingt es Michael Zimmermann, die Inszenierung einer homogenen bürgerlichen Kultur in den Illustrationen kritisch nachzuvollziehen, die auf eine kollektive Selbstverständigung und nicht auf kontroverses Engagement ausgerichtet war. Hierzu gehört natürlich die bürgerliche Funktion der Frau als Mutter (90ff), die oft folkloristische Verharmlosung der ländlichen und städtischen Unterschicht (148) und, damit einhergehend, die Kriminalisierung von Armut. Sozialkritische realistische Malerei blieb eine Ausnahme und musste sich den Vorwurf gefallen lassen, keine Kunst zu sein (162), wogegen später auch Giuseppe Pellizza (1868–1907) mit seinem berühmten Bild Il quarto stato (1901) zu kämpfen hatte (257f).2 In den Blick geraten aber auch die symbolistische Malerei von Giovanni Segantini (1858–1899),3 die verdrängte und doch präsente religiöse Ikonographie des Malers Domenico Morelli (1823–1901)4 und die Exotisierung des Südens durch den Maler und Fotografen Francesco Paolo Michetti (1852–1929).5 Es ist der Facettenreichtum der Ausführungen, der einen guten Überblick bietet, aber gerade dieser hätte eine stärkere Bündelung am Ende eines jeden inhaltlichen Abschnitts wünschenswert gemacht.




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Den einzelnen Kapiteln wird in der Regel eine umfangreiche Einleitung zur Geschichte Italiens vorangestellt. Der historische Zugriff an sich ist überzeugend, nicht nur, weil, wie Zimmermann es formuliert, das Wissen über das Italien des 19. Jahrhunderts in Deutschland in der Regel begrenzt ist, sondern weil Literatur und Kunst ohne ihre politisch-ökonomischen Voraussetzungen kaum verständlich sind; insbesondere in einer Zeit, in der sich Literatur und Kunst im Hinblick auf die Nationenbildung definieren. Diese Referenz lässt Zimmermann nie aus den Augen, ohne jemals in Gefahr zu geraten, die Illustrationen auf historische Quellen zu reduzieren. Jedoch muss kritisch angemerkt werden, dass die Geschichtsdarstellungen leider etwas aus dem Ruder laufen, manchmal geht die konkrete Anbindung bzw. die eigentliche Fragestellung verloren. Ein thesenartiger und exemplarischer historischer Abriss hätte meines Erachtens genügt und die Lektüre erleichtert.

Am Beispiel der in Illustrazione italiana abgebildeten Darstellungen der Mailänder Einkaufspassage Galleria Vittorio Emmanuele II, dem größten öffentlichen Bauvorhaben seiner Zeit, beschreibt Zimmermann den Weg zur italienischen Verbürgerlichung in der Idealform der Mailänder Gesellschaft. Die Rezeption im Blick, vollzieht er über die Perspektivierung die Identifikation des Betrachters mit der dargestellten bürgerlichen Welt. Allerdings wird in Anlehnung an französische Illustrationen erst ein bürgerliches Publikum geschaffen, das, obwohl sich gerade in Mailand eine Bürgerschicht herauszubilden begann, so biedermeierlich und geschäftig nicht durch die Mailänder Passagen schlenderte. Die abgebildete bürgerliche Eleganz ist in Italien laut Zimmermann noch eher Fiktion und hat vor allem die Illustrationen der französischen und englischen Metropolen zum Vorbild. Die italienischen Illustrationen feiern demnach "die Vision ihrer eigenen Zukunft" (28) und bringen die bürgerliche Öffentlichkeit erst hervor, zu deren Eckpfeiler bekanntlich auch die Nation und die scharfe Genderdifferenzierung gehörten.

Die Vielschichtigkeit von Zimmermans Ausführungen können exemplarisch mit seinen Überlegungen zu Giovanni Segantini dargelegt werden (105ff). Medienspezifisch zeigt Zimmermann, wie die Illustrationen von dessen Bildern die Umbruchzeit von der Lithografie zum Fotoraster widerspiegeln. Mit einer durch die Gender studies gelenkten Perspektive skizziert er die bürgerliche Darstellung der 'guten' bzw. 'schlechten' Mütter in den Gemälden Segantinis, dabei streift er den medizinpathologischen Diskurs der Hysterie und die zeitgenössische Fürsorgediskussion um Waisenkinder. Seine Analyse der zeitgenössischen Kunstkritik stellt wiederum die im Vergleich mit Frankreich fast anachronistisch wirkende italienischen Kunst unter Beweis. Letztendlich vermag Zimmermann darzulegen, wie Giovanni Segantini zum Modell des in den Kritiken geschürten Künstlermythos des fin de siècle avanciert.




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Am Beispiel des heute in Vergessenheit geratenen, aber Ende des Ottocento sehr erfolgreichen Malers Paolo Michetti zeigt der Verfasser, wie der, von der naturalistischen Malerei bis dato vernachlässigte Süden Italiens in der Malerei mythisiert und gleichzeitig auch bedrohlich und faszinierend fremd wahrgenommen wird. Der pittore dannunziano (Michetti hatte unter anderem das Bühnenbild für D'Annunzios La figlia di Jorio (1904) gemalt,6 die Idee zum Drama entstand wiederum durch Michettis gleichnamiges Gemälde von 1894) verwandelte mit seiner Malerei genau wie der Schriftsteller D'Annunzio mit seinen Texten den verhassten Süden in ein mythisches Gegenbild (332).

Giuseppe Pelizza da Volpedos einst umstrittenes Ölbild Il quarto stato (1901) zeugt von dem Klassenbewusstsein seines Malers. Die Politik des Reformismus trägt um 1900 erste Früchte, das Gemälde bringt die verbreitete Hoffnung zum Ausdruck, der vierte Stand werde sich mit Hilfe von Reformen durchsetzen. Gleichzeitig weist Zimmermann souverän und quasi en passant nach, wie Pelizza da Volpedo durch die geometrische Figurenanordnung Leonardi da Vincis L'ultima cena (1495–1497) zitiert (249; 267f.). Eine fast fotografisch wirkende Reproduktion wird in der Nuova Antologia (1902) veröffentlicht, ansonsten wird Il quarto stato aus dem Reich der Kunst verbannt und stattdessen zur politischen Ikone (248); so erscheint beispielsweise eine Reproduktion in Arturo Labriolas Avanguardia socialista (1904).

Die Illustrationen in den genannten Zeitschriften sind darüber hinaus nicht nur ein Zeichen dafür, dass sich um die Jahrhundertwende in der Kunst der Beobachterstandpunkt in zahlreiche Perspektiven auflöst, sondern auch dafür, dass sich die Erwartungshaltungen ausdifferenzieren:

Die Vision eines einigen, bürgerlichen (oder nationalen) Publikums wurde durch das gleiche mediale System zerstört, das sie aufgebracht hatte. In dem Maße, in dem sich die illustrierten Medien vermehrten, diversifizierten sich die ideologischen und sozialen Identitätsmodelle, die sie ihrer Leserschaft nahe legten. (350)

Kritik muss vor allem an dem Aufbau der Studie geübt werden: Der umfangreiche Anmerkungsapparat ist leider an das Ende des Buchs verbannt. Darüber kann man natürlich streiten, aber in Anbetracht des auch im wahrsten Sinne des Wortes sehr schwergewichtigen Bandes, ist es für die wissenschaftlich interessierten Leser/innen doch sehr unpraktisch. Etwas unhandlich hat sich auch die thematisch sortierte Bibliographie erwiesen; ein schnellerer Zugriff wäre durch eine alphabetische Anordnung möglich gewesen.




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Gleichwohl gehen Michael Zimmermanns Analysen weit über die der Illustrationen hinaus. Seine Monografie zeugt von einem gelungenen Zusammenspiel zwischen Kunst-, Kultur-, Literatur- und Geschichtswissenschaften und bietet ein Panorama der bürgerlichen Ikonographie Italiens im letzten Drittel des Ottocento. Das Buch ist lesenswert, füllt eine Forschungslücke und lädt darüber hinaus zu weiterführenden Studien ein. Insbesondere den von Zimmermann gezogenen Parallelen zwischen Malerei und Film müsste nachgegangen werden.


Anmerkungen

1 Zur Terminologie vgl. die gerade erschienene Arbeit von Immacolata Amodeo (2007): Das Opernhafte. Eine Studie zum "gusto melodrammatico" in Italien und Europa. Bielefeld: transcript.

2 Vgl. Giuseppe Pellizza: Il quarto stato (1901): http://www.pellizza.it/index3.htm (1.10.07)

3 Auswahl der Gemälde von Giovanni Segantini vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Giovanni_Segantini#Werke_.28Auswahl.29 (1.10.07).

4 Auswahl der Gemälde von Domenico Morelli aus der Ausstellung Domenico Morelli e il suo tempo: dal Romanticismo al Simbolismo (Neapel 2005/06) vgl. http://morelli.remuna.org (1.10.07).

5 Auswahl der Arbeiten von Francesco Paolo Michetti vgl. http://web.tiscali.it/fpmichetti (1.10.07)

6 Vgl. Francesco Paolo Michetti: La figlia di Jorio (1894) http://www.italica.rai.it/index.php?categoria=arte&scheda=michetti_studio (1.10.07).