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Barbara Puschmann-Nalenz (Bochum)



Tobias Döring (2006): Performances of Mourning in Shakespearean Theatre and Early Modern Culture. Basingstoke: Palgrave.



Die Untersuchung der Darstellung von Trauer auf der elisabethanischen und frühen jakobäischen Bühne in England (ca. 1550–1610) richtet sich gleichermaßen an Kultur- wie Literatur- und Theaterwissenschaftler. Ihr Erscheinen in der Reihe "Early Modern Literature in History" deutet auf die besondere kulturhistorische Kontextualisierung in dieser ebenso konzisen wie innovativen Monographie hin, deren außergewöhnliches Reflexionsniveau und hoher Verdichtungsgrad in der Argumentation den Rezipienten fordern, ihn aber auch mit einzigartigem Erkenntnisgewinn belohnen.

Das Ungewöhnliche der Studie liegt großenteils in der Verbindung von Material und Methode. Zum einen beeindruckt das Spektrum der untersuchten literarischen Texte mit einer äußerst konzentrierten Auswertung hinsichtlich des eigentlichen Fokus der Arbeit. Zum anderen fußt sie, basierend auf den Konzepten der Cultural Studies, auf zeitgenössischen nicht-literarischen Texten der Shakespeare-Zeit über Tod und Trauer, die von Vf. in Verbindung mit Dramen und ihren Aufführungen gebracht werden.

Die beiden Hauptthemen des Autors, als deren wichtiger Aspekt die Trauer erforscht wird, sind der religiöse Wandel im elisabethanischen Zeitalter und seine Performanz, wobei dieser Begriff keineswegs nur die Bühnenwelt umfasst, sondern das Theater nur als 'eine', allerdings essentielle, Ausdrucksform kultureller (Selbst-)Darstellung begreift (19).

Die Shakespeare-Zeit sah als eine ihrer großen epochalen Veränderungen die Auswirkungen der Henricianischen Reform. Elisabeth I war nach verschiedenen religiösen Kehrtwendungen ihrer Vorgänger bereits 1559/60 innenpolitisch eine Befriedung der religiösen Konflikte gelungen mit dem sogenannten Elizabethan Settlement, durch das England bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts eine bürgerkriegsähnliche Situation vermied und welches nur streng katholische und streng reformierte Engländer unbefriedigt ließ.




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Die Auswirkungen der skizzierten zeitgenössischen Ereignisse insbesondere auf die Eliten der Shakespeare-Zeit bestanden in einer Distanzierung von und gleichzeitigen Erinnerung an den Katholizismus, in dem die neu gegründete Church of England tief wurzelte und von dessen Lehren und Riten eine Abkehr zunächst nicht beabsichtigt gewesen war.

Setzt Tobias Döring die Vertrautheit mit der historischen Entwicklung voraus, so zeigt er in seinen Untersuchungen ihre Auswirkungen in dem neuen kulturellen Kontext des späten sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhunderts brillant auf: Trauer in Szenen auf der Bühne ist auch Trauern 'um' etwas und gleichzeitig eine neue Bedeutungsverleihung. Die Erinnerung und das Erinnert-Werden an eine kulturelle Vergangenheit finden ihren wichtigsten Raum im Theater der Shakespearezeit, das – so Dörings These (17f., 69, 148, 192) – den von der Kirche Englands vollzogenen Bruch ansatzweise zu überbrücken vermochte; denn auf der Bühne wird sowohl im gesprochenen Text als auch in Handlung und Verkörperung – und nicht zuletzt in der Interaktion von Darstellern und Publikum – das Verlorene wieder lebendig, und das Neue der nach-reformatorischen Kultur muss reflektiert, ja verhandelt werden. Die Repräsentation von Trauer geschieht traditionell in liturgischen Handlungen und in Bestattungsriten, die bekanntlich zu den ältesten und schon deshalb fraglos wesentlichsten kulturellen Manifestationen der Menschheit gehören. Wie werden diese auf der Bühne dargestellt, wie verhalten Dramen sich zu nicht-literarischen Texten und ihren Informationen über die kulturellen Standards des elisabethanischen und jakobäischen England?

Die Interdependenz von unterschiedlichen Diskursen, die es zu untersuchen gilt, formuliert Vf. gleich zu Anfang: "Shakespearean theatre was both a product and a producer of early modern culture” (4). Damit unterstreicht er auch, dass die Bühne nicht nur mimetische Funktionen erfüllt, sondern durch die Vor- und Aufführung von privaten und öffentlichen Reaktionen auf den Tod auch selbst neue (Be-)Deutungen hervorbringt. Die Frühe Neuzeit hat sich schon zuvor als eine Epoche dramatischer Umwertung emotionaler Normen erwiesen, deren historische Veränderbarkeit bereits Gegenstand vorausgehender Untersuchungen gewesen ist (11). Wie und wann also lässt sich Trauer ausdrücken, welche Darstellungsweisen sind angebracht, wo finden wir Manifestationen des Trauerns außerhalb und innerhalb des Theaters? Welchen Ersatz gibt es auf der Bühne für die außerhalb der Bühne nun zusammen mit den römisch-katholischen Traditionen untersagten und abgeschafften herkömmlichen Formen des Trauerns? Wie verhalten sich die alten religiösen Riten der Messe, die man 1584 als 'Theater' brandmarkt ("rather ... a satirical stage play of fools consecrated to the devil", 18, modernisierte Rechtschreibung von mir) zu der neuen, protestantischen Inszenierung des Wortes Gottes, der Predigt?




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Die Untersuchung von Performanz und performativen Aspekten (Performance Studies) bildet den theoretischen Ausgangspunkt sowohl bei der Deutung der auf der Bühne zur Aufführung gebrachten Texte und Aktionen als auch der Reaktionen, welche sie hervorbringen, die mit dem Begriff cultural performance (14) erfasst werden. Dass Shakespeares Stücke eine Reihe von metadramatischen Reflexionen enthalten, durch die das Interdependenzgeflecht der verschiedenen Kommunikationsweisen (how to do things with words) thematisiert wird, weist Vf. einleitend an Passagen aus Hamlet und Titus Andronicus nach.

Der Aufbau der Studie gliedert sich in Themenkreise der politischen (Kap. 1), pathologischen (Kap. 2), physischen (Kap. 3) und parodistischen (Kap. 4) Ausdrucksformen der Dramen dieser Zeit, wobei Vf. jedem Aspekt eine literarische Gattung zuordnet, ohne dabei jedoch deren Grenzen strikt einzuhalten. Kap. 1 untersucht Shakespeares Historien, Kap. 2 Tragödien von Shakespeare und Kyd, Kap. 3 und 4 hauptsächlich Komödien.

Shakespeares King Henry the Sixth eröffnet das erste Kapitel, welches scharfsinnig die politischen Aspekte des Trauerns untersucht. Das mimetische Element der Bühnentrauer in I,1 des ersten Teils der York-Tetralogie vergleicht Döring zunächst mit dem Bericht eines Staatsbegräbnisses von 1559, dem ersten Jahr der Regentschaft Elisabeths I und unmittelbar nach der gerade erfolgten erneuten Abkehr vom Katholizismus, und anschließend mit den Trauerfeierlichkeiten, die die Königin im September desselben Jahres für den katholischen König Henri II von Frankreich in London nach protestantischem Ritus in ihrer Gegenwart halten ließ. Die verschiedenen Anachronismen – die Bühnenhandlung stellt ein vorreformatorisches Ereignis dar – und ironischen Brechungen dieser Geschehnisse werden von Vf. überaus sinnfällig demonstriert, und er gelangt zu der Feststellung, dass sich die hybrid religious culture (34) der Epoche in ganz unterschiedlichen Diskursen ausdrückt, zu denen auch Architektur und Kunst zählen: man ließ Trümmer und Ruinen des reformatorischen Bildersturms zur allgemeinen Erbauung und politischen Machtdemonstration stehen – eine Entwicklung, die Shakespeare wiederum auf der Bühne thematisiert (38, 90). Die hybride religiöse Kultur bei gleichzeitiger Politisierung aller religiösen Manifestationen ist polyvalent und wird zweifellos auch vom und im Theater instrumentalisiert, sei es als Loyalitätsbezeigung, Erinnerungsfeier oder Kritik. Dass die narrative Komponente der Historien Erinnerung an vergangene Ereignisse mit Prophezeiungen der Zukunft verknüpft und dies nicht selten in der Repräsentation von Sterbeszenen tut, charakterisiert nicht nur die bekannte Szene vor dem Tod John of Gaunts in Richard II. Kontinuität zu suggerieren ist eine ihrer Funktionen, dynastische Übergänge – oder Brüche – mit ihren Gefahren für die soziale Ordnung abzusichern eine zweite.





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Im Gegensatz zu den monumentalen Trauerbezeigungen, die der durch den Tod verursachten Nivellierung menschlicher Individuen entgegenwirken, stehen in den Königsdramen die Klagen und Flüche der königlichen Frauen, für deren rituelle und nationale Bedeutung King Richard III das imposanteste Beispiel liefert. Vf. will den 'Kampf der Erinnerungen' auf der Bühne, die eine katholische Liturgie nochmals inszeniert, nicht als cultural nostalgia und auch nicht als Geste des Abschwörens vom Protestantismus interpretiert wissen, sondern als eine relocation, also Neu-Positionierung von erinnerten Elementen aus der kulturellen Vergangenheit, die legitim und identitätsbestätigend wirkt.

Klagen und Trauern sind in King Richard II zentral. Deren Repräsentationen sind machtvoll genug, um abwesende Trauer in der geschichtlichen Situation und den Verlust von traditionellen Formen des Trauerns zu ersetzen (69). Die Toten, um die nicht getrauert werden durfte und die unterdrückten religiösen Konflikte feiern auf der Bühne, der epochemachenden sozialen Plattform des elisabethanischen Zeitalters, ihre Auferstehung.

Das zweite, der Rachetragödie gewidmete Kapitel, untersucht die destruktiven und selbstzerstörerischen Aspekte des Trauerns anhand von Thomas Kyds Spanish Tragedy und Shakespeares Titus Andronicus sowie Hamlet. Ihre Repräsentationen verdeutlichen, wie der Weg von Verlust zu Trost gestört, verbarrikadiert und auf pathologische Weise in Exzesse der Grausamkeit umgeleitet werden kann. Vf. stellt fest, dass gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts, wie man aus historischen Quellen weiß, viele traditionelle Formen der Verlustbearbeitung, denen die moderne Psychologie auch eine positive, ja heilende Wirkung zuschreibt, abgelehnt oder sogar verboten waren. Unendliche Rache konnte diesen Emotionen in der religiösen Krise zumindest im So-Tun-Als-Ob auf der Bühne Gestalt verleihen (77).

Die Tatsache, dass die Untersuchung hier bis auf die Traditionen und Stoffe antiker Literatur zurückführt, ist erhellend und vielleicht im Hinblick auf die folgenden Analysen notwendig, unterbricht allerdings etwas die sonst strenge Fokussierung der Monographie. Repräsentationen von Trauer auf der Bühne, die in Wut und Raserei umschlägt, imitieren in den fast unerträglichen physischen (Selbst-) Verstümmelungen in Kyds Stück und Titus Andronicus auch die rituellen Praktiken physischer Vernichtung z. B. bei Exekutionen in elisabethanischer Zeit. Dass verstümmelte religiöse Riten – Gebet, Trauerprozession – gepaart mit den unsäglichen Verlusten von Nachkommen, Gliedern, Sprache und physischer Unversehrtheit Emotionen nicht nur auf eine alle Traditionen zunichte machende Weise ausdrücken, sondern auch ausbrechen lassen und so imstande sind, einer Trauer um die Zerstörung erst Raum zu geben, gehört zu den Funktionen des Theaters, das in der Zerstörung eine machtvolle Erinnerung schafft.




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Diese Exzesse der Trauer und Vergeltung verlegt Shakespeare in ein fernes Land unter andere Nationen, doch spiegeln sie verfremdet die Kontroversen um emotionale Mäßigung oder Maßlosigkeit im England des späten sechzehnten Jahrhunderts, die in den verschiedenen Diskursen wie Predigt, kolonialen Reiseberichten, religiösen Traktaten und Literatur ausgetragen werden.

Hamlet, eine Variante der Rachetragödie, verzichtet auf die Darstellung von brutalem Mord und Totschlag auf der Bühne. So bedeutend der Umgang mit Tod für diese Tragödie ist, so sehr fällt das gänzliche Fehlen von inszenierter Blutrünstigkeit auf. Statt dessen spricht Vf. sehr treffend von failed mourning, gescheiterter Trauer, als Thema dieser Tragödie, die durch Handlung bzw. Nicht-Handeln und Reflexionen der Charaktere alle Spielarten möglicher Reaktionsweisen auf Tod erwägt und erwägen lässt. Dazu zählen auch die 'angenommenen Verhaltensweisen', welche Emotionen und Glauben begleiten sollen, aber auch hervorbringen können, wie es besonders augenfällig der um Hecuba weinende Schauspieler, aber auch der niederkniende Mörder Claudius und in Komödien die Szenen lediglich gespielten Todes zeigen (171).

Tränen und Weinen als physischer Ausdruck von Trauer und Gram werden in Kap. 3 zentrales Thema. Hatte im Jahre 1579 ein französischer Arzt Lachen und Weinen als die den Menschen vom Tier unterscheidenden Ausdrucksformen innerer Bewegung in einem viel gelesenen Traktat herausgestellt, so kommt dem Weinen auf der Bühne noch besondere Bedeutung zu, weil der Schauspieler seine physischen Regungen den imaginären seelischen unterordnen kann – sicher wurden auf der elisabethanischen Bühne auch allerlei Tricks angewendet, um diesen Effekt hervorzubringen. Theatertränen werden zur Unterstreichung von Gemütsbewegungen keineswegs nur in Tragödien, sondern auch in Komödien eingesetzt und vorzugsweise von Frauen – die auf der Bühne ja Männer waren – vergossen, in Richard III ebenso wie in A Midsummer Night's Dream. Döring sieht Weinen um etwas oder jemand nicht bloß als Katharsis wie im klassischen Drama, sondern als eine Metapher für das Fegefeuer (purgatory), welches von den protestantischen Glaubenslehren abgelehnt und aus der Kirche Englands verbannt worden war. Die christlich-religiöse 'Reinigung', die nun nicht länger durch Ablässe und Gebete für Verstorbene herbeigeführt werden konnte, fand ebenso wie die Trauer auf offener Bühne statt und inspirierte die Zuschauer zu ebensolchen Emotionen (148, 163).

Das abschliessende Kapitel 'Parodies of Mourning' exemplifiziert zunächst noch einmal das Paradox, dass das Abwesende gerade auch durch seine Abwesenheit erinnert wird und dass öffentliche Vorführungen unkontrollierbare Erinnerungen an Vergangenes – Vf. nennt sie ghosts – freisetzen; dies geschieht sogar in der Parodie, die selbst noch Kontinuität schafft und die Debatten sozialen Lebens der Epoche spiegelt (156).




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Parodie basiert auf einem durch Übertreibung und Verzerrung unernst gewordenen 'Zitieren' in einem neuen, unpassenden Kontext, ihr Effekt beruht auf dem Wiedererkennen des Originals durch die Rezipienten. Die Politik des Parodierens wird damit zu einem Instrument nachreformatorischer Ablehnung, aber paradoxerweise auch zu einer Form des Erinnerns im Theater. Much Ado about Nothing, wo Heros mock funeral eine solche Parodie des rituellen Trauerns darstellt, dessen Uneigentlichkeit durch die discrepancy of awareness zwischen Protagonisten und Randfiguren für die Zuschauer metadramatisch thematisiert wird, entstand um die Jahrhundertwende. In Nicholas Udalls unter der Regentschaft Edwards VI entstandener Komödie Ralph Roister Doister parodiert und kritisiert das Scheinbegräbnis noch ungleich stärker die Obsequien der römischen Kirche in Wort, Tat und in den im gesprochenen Text erwähnten Paraphernalien. Nur das Theater konnte aufgrund seines Spielcharakters frei von Skrupeln und ohne Sanktionen, parallel zur Etablierung einer neuen religiösen Ordnung, die alten Riten einer früheren sozialen Wirklichkeit wieder erstehen lassen – ein Vorgang, den Vf. als trans-contextualization bezeichnet (187 u.ö.); nur auf der Bühne können Verse mit Anklängen an katholische Liturgie geschmiedet werden, wo "the sound ... compromises sense" (185).

Dörings Buch bleibt bis zur letzten Seite beeindruckend durch die Stringenz seiner Gedankenführung, die Vielschichtigkeit des erarbeiteten Materials und die Komplexität der kulturellen Welt, die sich auftut mit ihrer Dialektik und ihren zahlreichen Paradoxien.