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Christoph Schamm (München)



Die Poesie der Lettern. Zur Typografie der italienischen Futuristen und der deutschen Konkretisten (Marinetti, Soffici, Gomringer)



 

Buchstaben sind Dinge, keine
Abbildungen von Dingen.
Eric Gill



The Poetics of Letters. On the Typography of the Italian Futurists and the German Concretists
Concrete poetry in Germany during the 1950s and 1960s saw itself as an alternative to the type of verse defined by Gottfried Benn in his influential Marburg lecture. At the head of this movement is the Swiss poet Eugen Gomringer, whose 'constellations' privilege their own materiality. In particular, the actual typography is charged with meaning. The fact that Gomringer explicitly regards his work as following in the tradition of classical avant-garde verse invites comparisons with the visual poetry of the Italian Futurists. Although typography is one of the main expressive devices used by both Gomringer and the Italian Futurists, it is none the less possible to discern opposing aims: F.T. Marinetti used typefaces to underline the relationship between words and material phenomena, whereas Gomringer employs typographical devices to indicate the ideas signified by the words. As early as 1915 one outsider of the Futurist movement had already recognised the ambivalence of visual poetry: in his volume of experimental poetry, BÏF§ZF + 18 Simultaneità e Chimismi lirici, the painter, art critic and (in the present case) poet and typesetter Ardengo Soffici went far beyond the programme of the Futurists.


Konkrete Lyrik als Alternative zur Verslyrik

Es gibt Gedichte, die berichten uns ganz explizit, welch qualvolle Kopfgeburten sie ihren Autoren bereitet haben. Ted Hughes berühmter Text The Thought-Fox1 gehört zu diesen Gedichten, obwohl es erzählt, wie ein Wesen, der Gedankenfuchs nämlich, in den Kopf des Lyrikers eindringt, statt ihn zu verlassen – was dem Prinzip der Geburt im Grunde widerspricht. Andere moderne Lyriker bereiten die Schwierigkeit der Textgenese humoristisch auf. Als Musterbeispiel kommt Robert Gernhardts Dreißigwortegedicht2 in Betracht: Obwohl amüsant zu lesen, verbirgt es hinter seiner heiteren Fassade ebenso ernsthafte sprachskeptische Reflexionen wie Gottfried Benns elegisches Gedicht Worte3 aus dem Jahr 1955, in dem das Schaffen des Lyrikers als einsames Ringen mit den Worten dargestellt wird. Dass dieser Kampf als aussichtslos geschildert wird – nachdem sich das Ich vergebens abgemüht hat, muss es zuletzt verstummen –, steht nicht unbedingt in Einklang mit Benns Thesen in seinem folgenreichen Marburger Vortrag Probleme der Lyrik. Ungleich optimistischer heißt es darin, "daß Worte eine latente Existenz besitzen, die auf entsprechend Eingestellte als Zauber wirkt und sie befähigt, diesen Zauber weiterzugeben." (Benn 2001: 27) Das Verständnis von Lyrik als Sprachmagie, die den Worten ihre ursprüngliche Bedeutung nimmt und ihnen einen neuen Sinn gibt, erhält durch den Marburger Vortrag eine theoretische Grundlage. Wer Gedichte schreiben will, benötigt demnach ein exzeptionelles Wahrnehmungsorgan, mit dem sein Bewusstsein den besonderen Reiz der Worte erschließen kann: "Das Bewußtsein wächst in die Worte hinein, das Bewußtsein transzendiert in die Worte." (ebd.: 24) Im 'lyrischen Ich' sieht Benn also beileibe keinen fiktiven Sprecher, der völlig unabhängig von der wirklichen Person des Lyrikers existieren würde. Es ist in seinen Augen eine Bewusstseinslage, in die der Lyriker in bestimmten Momenten seines Lebens Eingang findet: "Das lyrische Ich ist ein durchbrochenes Ich, ein Gitter-Ich, fluchterfahren, trauergeweiht" (ebd.: 25) – diese Eigenschaften hat es in Worte durchaus.




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Zeichen als Objekte – Gomringers Konstellationen

Für viele Jahre bleibt Gottfried Benns Grundriss der zeitgenössischen Lyrik in Deutschland der beherrschende. Um so erstaunlicher ist es daher, dass in deren Schatten eine alternative Lyrik entsteht, die großenteils von anderen Prämissen ausgeht: die konkrete Poesie, wie sie in den frühen fünfziger Jahren von Eugen Gomringer in der Schweiz und Deutschland, gleichzeitig jedoch von der brasilianischen Noigandres-Gruppe in São Paulo entwickelt wird. Zweifellos wäre es übertrieben, jeden Zusammenhang der Werke dieser Autoren mit der seinerzeit etablierten Lyrik zu bestreiten. Das besondere Sprachbewusstsein etwa, das in Benns Worte oder in Hughes' The Thought-Fox seinen Niederschlag findet, ist für ihre Texte ebenso wesentlich. Konkrete Poesie geht von einer radikalen Skepsis gegenüber der sprachlichen Kommunikation aus. Daher ist es nur konsequent, dass sie Wort und Schrift nicht mehr als taugliche Mittel erachtet, um über ihre eigene Problematik zu reflektieren. Sie versucht diese Problematik stattdessen anhand konkreter (!) Fallbeispiele zu demonstrieren. Der Text aus zufall (Gomringer 1995: 73) ist ursprünglich in Eugen Gomringers erstem Gedichtband konstellationen (1953) erschienen.4


Abb. 1:

Eugen Gomringer: aus zufall (Reproduktion mit freundlicher Genehmigung der Edition Splitter & Splitter Art, Wien)


Diese 'Konstellation' ist ein Spiel mit einigen Komposita von "Fall". Sechs Gruppen aus je drei Worten stehen untereinander wie die Strophen eines traditionellen Gedichts. Sie unterscheiden sich nur darin, dass sich die Präfixe von "-fall" ständig ändern, wobei das erste Kompositum jeder Dreier-Gruppe das Präfix des zweiten Kompositums der vorherigen Gruppe übernimmt. Nur die sechste Gruppe weicht von diesem Prinzip ab: In ihrer oberen Zeile steht – ebenso wie in Gruppe 1 – erneut das Wort "zufall", in ihrer unteren Zeile – ebenso wie in Gruppe 5 – erneut das Wort "abfall". Obwohl alle sechs Gruppen absolut 'baugleich' sind, lässt sich die letzte als Resümee des ganzen Gedichts lesen.

Dieses Gedicht ist repräsentativ für weite Teile der konkreten Poesie. Die charakteristische "Ablösung der Sprachzeichen von den Dingen" (Schmitz-Emans 1997: 177) hat stattgefunden. Ebenso gut hätte Gomringer die Komposita von "Zug" ("Umzug", "Aufzug", "Abzug" etc.) verwenden können, um einen Text nach demselben Muster zu schaffen. Häufig spielt es in der konkreten Poesie überhaupt keine Rolle, welche Gegenstände von den Worten bezeichnet werden. Meist bleiben die Worte als Zeichen wirksam und werden nicht auf ihre bloße Materialität reduziert. Sie sind also nicht nur Serien von Lauten oder Druckerschwärze auf weißem Hintergrund. Doch schließen sie alles Faktische aus und verweisen, linguistisch gesprochen, auf ihre Signifikate, d.h. auf zeitlos gültige Ideen (vgl. ebd.: 178).




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Anders als in aus zufall ist in Gomringers Gedicht schweigen (Gomringer 1995 ebd.: 19), seinem vielleicht bekanntesten Text, gerade das Signifikat für das kommunikative Problem relevant. Vierzehnmal ist das Wort "schweigen" derart auf das Papier gesetzt, dass ein Rechteck entsteht, in dessen Mitte eine weiße Lücke ausgespart bleibt:


Abb. 2:

Eugen Gomringer: schweigen (Reproduktion mit freundlicher Genehmigung der Edition Splitter & Splitter Art, Wien)


Hier spielt gerade die Semantik die entscheidende Rolle, damit das Gedicht seine paradoxe Aussage entfalten kann: Ausgerechnet an der Stelle, wo das erwartete Wort "schweigen" ausbleibt, ist es wirklich stumm.5

Meist bleiben Gomringers Worte Zeichen, die sich potenziell auf die Gegenstände der Wirklichkeit beziehen lassen, die sie gemäß ihrer Lexik benennen. Ihre grafische, rein materielle Qualität drängt sich in den Vordergrund, kann den semiotischen Akt des Bedeutens jedoch nicht außer Kraft setzen. Dennoch wird dem Leser bewusst, dass Zeichen selbst Objekte sind und ihr Bezug auf andere Objekte keineswegs naturgegeben ist.

Die konkrete Poesie unterscheidet sich sowohl in thematischer wie in methodischer Hinsicht stark von der etablierten Lyrik der fünfziger Jahre: Hughes oder Benn reflektieren über die spezifischen Schwierigkeiten bzw. das Scheitern des lyrischen Dichtens, wobei sie die Trennung von Objekt- und Metasprache aufrecht erhalten. Gomringer indes führt uns das Versagen sprachlicher Kommunikation im Allgemeinen vor Augen, indem er es nicht thematisiert, sondern in Szene setzt. Jahrzehnte später gelingt es Robert Gernhardt in seinem Dreißigwortegedicht, die metapoetische Reflexion über das lyrische Problem und dessen unmittelbare Inszenierung miteinander zu überlappen: Er schildert die Entstehung seines Textes zum Zeitpunkt der Entstehung.




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Typografie bei Marinetti und Gomringer

Wer sich mit konkreter Poesie befasst, muss sich früher oder später fragen, welche Rolle Typografie und Satzgestaltung in diesen Werken spielen. Konkrete Gedichte eignen sich selten zum mündlichen Vortrag und zur auditiven Rezeption. Stattdessen sollen sie gelesen und angesehen werden. Worte werden auf eine Fläche gesetzt und zu einzelnen Gruppen zusammengefasst. Nicht nur ihre Relation zueinander, auch ihre jeweilige Platzierung auf dem Papierbogen ist bedeutsam. Ob sie im Zentrum, am Rand oder in der Ecke stehen, ist niemals belanglos. So erhält der Begriff der 'Konstellation', mit dem Gomringer traditionelle metrische Einheiten wie Vers oder Strophe ersetzt, seine Bedeutung: "die konstellation ist die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung. sie umfasst eine gruppe von worten – so wie ein sternbild eine gruppe von sternen umfasst" (Gomringer 1988: 11). Da er Worte zuallererst als gegenständliche Phänomene und erst danach als Zeichen betrachtet, wird das Wort "nichts" im Kontext eines konkreten Gedichts zu einem Widerspruch in sich: Mit seinen fünf Buchstaben besitzt es nicht weniger materielle Substanz als das Wort "alles". Gomringers Text schweigen – solange 'schweigen' nichts anderes als 'nichts sagen' ist – spielt mit eben diesem Paradoxon. "Nichts" sagen konkrete Gedichte überall dort, wo das Papier weiß geblieben ist.

Die Anordnung der Worte auf der Fläche ersetzt nicht nur die traditionelle Metrik. Sie übernimmt auch die Funktion der Syntax, indem sie einzelne Worte zu einem sinnvollen Zusammenhang fügt. Gewiss ist Gomringer nicht der erste Lyriker, der die Worte aus dem Satzbau befreit, um ihnen eine Strahlkraft zu verleihen, die sie, eingebunden in ein grammatisches Gefüge, nicht haben könnten. Diesen Anspruch erhebt er auch nicht.6 Vielmehr bekennt er sich von Anbeginn zur Nachfolge der Begründer der visuellen Poesie in der Moderne. Namentlich Stéphane Mallarmé und Guillaume Apollinaire hätten mit den Texten Un coup de dés bzw. Calligrammes dem Konkretismus den Weg geebnet. Diese Autoren, schreibt Gomringer in vom vers zur konstellation, "bezweckten, mit unterschiedlicher absicht, durch komplizierte typografische anordnungen, das einzelne wort aus einer einengenden syntax zu lösen und ihm – oder der einzelnen letter – eigengewicht und individualität zu geben" (Gomringer 1988: 10). Des Weiteren beruft er sich auf die Repräsentanten der futuristischen und dadaistischen Avantgarde. Er fragt in diesem Zusammenhang nicht nach den Gründen, weshalb diese Literaten die Verslyrik zugunsten visueller Ausdrucksformen aufgegeben haben. Auch deren jeweilige Verfahrensweisen interessieren ihn hier nicht. Er stellt lediglich summarisch fest, sie alle hätten die Notwendigkeit gespürt, die Mittel der Lyrik einer kritischen Prüfung zu unterziehen.7

Betrachtet man indes die visuelle Poesie der Avantgardisten – hier soll das Augenmerk derjenigen der italienischen Futuristen gelten –, so lassen sich starke programmatische Differenzen zu Gomringer erkennen. F.T. Marinetti hat ganz andere Gründe, weshalb er von 1912 an Satzspiegel und Zeilen aufbricht und mitunter 'Sehgedichte' schreibt. Allenfalls Gomringers Behauptung, die Gegenwart benötige neue Textformen, die sich schneller produzieren und rezipieren ließen, klingt wie ein Nachhall der futuristischen Manifeste. Denn die Schreibtechnik der parole in libertà will simultan repräsentieren, was simultan geschieht; folglich ebenfalls "mit ihrem schriftbild die zeit aus dem gedicht entfernen" (Gomringer 1988: 11). Ansonsten ist das Programm der konkreten Poesie, das wesentlich von sprachkritischen Reflexionen bestimmt wird, nicht von Marinetti abhängig. Sicher: Die philosophischen Zweifel, ob Worte über die Kraft verfügen, die Welt der Dinge zu erfassen, hatten um 1910 längst auf die Literatur gewirkt. Hofmannsthal stellt bereits 1902 in seinem so häufig zitierten 'Chandosbrief' die schonungslose Diagnose einer fundamentalen Sprachkrise. Marinetti verfolgt indes nicht das Ziel, den Wert der abgenutzten und verschlissenen Worte neu zu erkämpfen. Stattdessen beabsichtigt er, dem neurotischen Décadent des Fin de Siècle einen neuen, vitaleren Menschentyp entgegen zu setzen. Tatkräftig und willensstark, fühlt sich der Futurist überall dort am wohlsten, wo sich die Welt am stärksten verändert: inmitten der Stahlgewitter des modernen Krieges. Sein intensiveres Erleben verlangt nach einer neuen Sprache. Daher werde er, so prophezeit es Marinetti in seinem Manifest Distruzione della sintassi Immaginazione senza fili Parole in libertà, als erstes die Syntax zerschlagen:




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Egli comincerà col distruggere brutalmente la sintassi nel parlare. Non perderà tempo a costruire i periodi. [...] in fretta vi getterà affannosamente nei nervi le sue sensazioni visive, auditive, olfattive, secondo la loro corrente incalzante. L'irruenza del vapore-emozione farà saltare il tubo del periodo, le valvole della punteggiatura e i bulloni regolari dell'aggettivazione. (Marinetti 1983: 70)

Als wäre die Syntax der Kessel einer überheizten Dampfmaschine, birst sie unter dem exzessiven Druck des Bewusstseinsstromes. Mit ihr explodiert der Vers. Selbst die freien Metren betrachtet Marinetti nur noch als Mittel, mit denen die poetische Intuition in unnötige Bahnen gezwungen wird. Dies ist erstaunlich; hatte doch er selbst eine aufwändige Kampagne geführt, um den verso libero überhaupt erst in der italienischen Lyrik zu etablieren.

Als nächstes attackiert er die Typografie, insofern sie ein Regelwerk für die harmonische und ästhetische Gestaltung der Buchseite ist. Dass er jeden überflüssigen Zierart, etwa verschlungene Initialen am Textbeginn oder römische Ziffern als Pagina, entschieden verwirft, steht außer Frage. Seine Revolution der Typografie ist jedoch kein bloßer Angriff auf die 'passatistische' Buchkunst, wie sie beispielsweise in den Gedichtbänden Gabriele d'Annunzios aus dem Mailänder Treves-Verlag ihren Niederschlag gefunden hat. Sie gehört zu den zentralen Forderungen seiner Poetik:

La mia rivoluzione è diretta contro la così detta armonia tipografica della pagina, che è contraria al flusso e riflusso, ai sobbalzi e agli scoppi dello stile che scorre nella pagina stessa. Noi useremo perciò, in una medesima pagina, tre o quattro colori diversi d'inchiostro, e anche 20 caratteri tipografici diversi, se occorra. Per esempio: corsivo per una serie di sensazioni simili o veloci, grassetto tondo per le onomatopee violente, ecc. Con questa rivoluzione tipografica e questa varietà multicolore di caratteri io mi propongo di raddoppiare la forza espressiva delle parole. (ebd.: 77)

Freilich: Solange Marinetti keine radikaleren Forderungen aufstellt, um die Typografie zu revolutionieren, stellt er den nach dem Gesetz des goldenen Schnittes konstruierten Satzspiegel nicht ernsthaft in Frage. Wozu auch? Für a-metrische Texte, die einen kontinuierlichen Bewusstseinsstrom wiedergeben wollen, bieten sich beidseitig bündige Zeilen geradezu an. Die meisten Seiten des Hauptwerkes seiner poesia parolibera, des Kriegsgedichts Zang tumb tuuum, in dem er seine Eindrücke der Schlacht um Adrianopel 1912 verarbeitet, sind denn auch nach diesem Prinzip gestaltet. Im Telegrammstil reiht Marinetti Substantive, Nominalphrasen und infinite Verben aneinander und setzt sie durch erweiterte Spatien voneinander ab, um den visuellen Eindruck der geschlossenen Syntax zu vermeiden.8 Soll indessen der enge Zusammenhang bestimmter Worte hervorgehoben werden, so verkettet er sie mit Bindestrichen oder mathematischen Pluszeichen.9 Dass der Geschützdonner in Zang tumb tuuum allgegenwärtig ist, versteht sich von selbst: Die Klangmalereien, im Manifest Distruzione della sintassi mit Nachdruck gefordert, stechen durch die 'laute' Auszeichnungsform10 des Fettdrucks aus dem Schriftbild hervor.




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Von alledem bleibt der Blocksatz jedoch unberührt. Nur vereinzelt schöpft Marinetti die typografischen Möglichkeiten aus, die der visuellen Poesie als Ausdrucksmittel zu Gebot stehen. Sie bleiben besonders starken optischen Eindrücken vorbehalten. Soll der Anblick eines Schlachtfeldes vermittelt werden, das mit mehreren Brandherden übersäht ist, so wird das kursiv gedruckte Wort "vampe" (Flammen) achtmal über einen ansonsten weißen Bereich der Buchseite verteilt (vgl. ebd.: 775). Steigen Rauchsäulen senkrecht auf, schießen Stichflammen himmelwärts, so sind die entsprechenden Nominalphrasen vertikal gesetzt, selbstverständlich mit Leserichtung nach oben. Zu den Höhepunkten von Zang tumb tuuum gehört der türkische Fesselballon, der als kreisrunder Schriftzug in der oberen Hälfte einer Seite schwebt (vgl. ebd.: 720). Offenbar dient er dem Empfang drahtloser Telegramme, der tsf (telegrafi senza fili), die sich wiederum senkrecht zum waagrechten Zeilenlauf nach oben bewegen. In diesem Fall drückt Marinetti die Bewegung durch einen vertikalen Strich aus, den jede Nachricht hinter sich her zieht. Überflüssig zu bemerken, dass gerade der "pallone frenato turco" in der Sekundärliteratur zu Marinettis parole in libertà mit besonderer Vorliebe thematisiert wird – die tsf sind als autoreflexive Analogien zu den "imaginazioni senza fili" und zum "stile telegrafico" einfach nicht zu übersehen (vgl. Webster 1995: 33).

Doch bleiben Übergänge vom Text zum Bild in Marinettis Hauptwerk Ausnahmen. Die Freiheit der Worte, die er seit dem technischen Manifest von 1912 zum obersten Prinzip seiner Avantgarde-Poetik erhebt, meint weniger Auflösung der Zeile als vielmehr der Syntax. Überhaupt schafft er erst in seinem letzten Manifest der poesia parolibera, der Schrift Lo splendore geometrico e meccanico e la sensibilità numerica vom März 1914, die eigentliche Grundlage für figurale Gedichte: Der futuristische Dichter solle 'synoptische Tafeln' schaffen, die mehr Fläche benötigen als den schmalen Papierstreifen des Fernschreibers:

Colle parole in libertà, noi formiamo talvolta delle tavole sinottiche di valori lirici, che ci permettono di seguire leggendo contemporaneamente molte correnti di sensazioni incrociate o parallele. Queste tavole sinottiche non devono essere uno scopo, ma un mezzo per aumentare la forza espressiva del lirismo. [...] Le parole in libertà, in questo sforzo continuo di esprimere colla massima forza e la massima profondità, si trasformano naturalmente in auto-illustrazioni, mediante l'ortografia e tipografia libere espressive, le tavole sinottiche di valori lirici e le analogie disegnate. (Marinetti 1983: 103–104)

Überall dort, wo der Futurist so viele Wahrnehmungen verschriftlichen will, dass förmlich die Zeile explodiert, rekurriert er auf das Mittel der synoptischen Tafeln. Schon 1909, im Gründungsmanifest seiner Bewegung, hatte Marinetti den Begriff 'velocità' zum zentralen Schlagwort seiner Poetik erhoben. Nachdem er im technischen Manifest von 1912 den Wechsel vom verso libero zu den parole in libertà vollzogen hat, stellt er ihm den Begriff 'simultaneità' zur Seite. Da sich gleichzeitige Vorgänge im Bild wesentlich leichter darstellen lassen als im Text, ist es nur konsequent, dass er sich der visuellen Poesie zuwendet. Überraschend sind jedoch die engen Grenzen, die er dem Bildlichen in seiner revolutionären Avantgarde-Dichtung setzt. So äußert er die Sorge, die synoptischen Tafeln könnten zu viel Eigenleben entfalten, statt wirkliche Objekte möglichst unmittelbar zu repräsentieren:11 "Bisogna [...] evitare ogni preoccupazione pittorica, non compiacendosi in giochi di linee, né in curiose sproporzioni tipografiche" (ebd.: 103).




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Der permanente Fluxus der Sinneseindrücke soll gelegentlich in visuellen Höhepunkten kulminieren, danach jedoch zum gewohnten stile telegrafico zurückkehren: "Appena questa maggiore espressione è raggiunta, le parole in libertà ritornano al loro fluire normale" (ebd.: 104). Im technischen Manifest hat Marinetti gewagte Sprachbilder gefordert, die als Analogien dennoch an ihre eigentlichen Signifikate gebunden bleiben.12 Jetzt spricht er von "analogie disegnate" (ebd.: 104), die er offenbar als deren Variante begreift. Dass sein Text den Bezug zur Wirklichkeit verliert, wie es das 'absolute Gedicht' der zeitgenössischen Verslyrik tut, will er unbedingt vermeiden.

Vor diesem Hintergrund gewinnen konkretistische und futuristische Bildgedichte Konturen als gegensätzliche Ausprägungen visueller Dichtung. Sie gleichen einander insofern, als sie ihren Lesern eine ungewohnte Rezeptionsweise abverlangen. Zwar stehen Gedichte ganz im Allgemeinen nicht in dem Ruf, besonders leicht verständliche Texte zu sein, es wird jedoch nicht ohne Grund behauptet, dass gerade die Lektüre visueller Lyrik ein erhöhtes Maß an Kreativität erfordert – nicht zuletzt von Autoren konkreter Poesie, die darin einen Beweggrund für ihr Schaffen sehen. So kurz und 'überschaubar' etwa Franz Mons Text ainmal nur das alphabet gebrauchen (Gomringer 2001: 101)13 ist, sein Clou wird sich so ganz auf Anhieb niemandem erschließen:


Abb. 3:

Franz Mon: ainmal nur das alphabet gebrauchen (Reproduktion mit freundlicher Genehmigung von Herrn Franz Mon, Frankfurt am Main)


Erst auf den zweiten Blick begreift man, dass dieses Gedicht sich selbst allzu wörtlich nimmt: Der Autor verwendet jeden Buchstaben des Alphabets tatsächlich nur ein einziges Mal. Bei jeder späteren Wiederkehr des fraglichen Buchstabens lässt er eine Lücke. Doch weshalb schreibt er "einmal" am Anfang mit ai? Damit die Lücken nicht so lange auf sich warten lassen.

Nichts liegt Marinetti ferner als derart selbstbezügliche Sprachspiele. Zwar mag der Leser ähnlich amüsiert reagieren, wenn in Zang tumb tuuum ein Flugzeug in Gestalt der Versalie T den Himmel von Adrianopel durchquert. Der "monoplano bulgaro" bezeichnet jedoch einen bulgarischen Eindecker, wie er dort im Oktober 1912 tatsächlich eingesetzt wurde. Anders als die Konkretisten löst Marinetti die Worte niemals von den Objekten der Wirklichkeit, damit sie gleichsam platonische Ideen repräsentieren. Ganz im Gegenteil: Er wandelt die Schrift zum Bild, um einen möglichst engen, unmittelbaren Bezug des Zeichens zu seinem Referenten herzustellen. Im Spektrum der visuellen Lyrik besetzen futuristische und konkretistische Texte – zumindest, wenn sie in ihren hier skizzierten prototypischen Formen auftreten, was durchaus nicht immer der Fall sein mag – zwei unterschiedliche Extreme. Die einen wie die anderen haben aufgrund ihrer konträren Verhältnisse zu wirklichen Objekten mehr Gemeinsamkeiten mit manchen Versgedichten als miteinander. Selbst neuere Beiträge zur Lyriktheorie, die der visuellen Poesie unvoreingenommen gegenüberstehen oder zumindest nichts Gegenteiliges behaupten, tragen deren grundsätzlicher Ambivalenz selten Rechnung. So formuliert Dieter Lamping eine "Begriffsbestimmung des Gedichts als Versrede" (Lamping 1989: 30) und zieht folgerichtig eine klare Grenze zwischen 'echter Lyrik' und visueller Poesie.




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Ohne Zweifel ist diese Gattungsdefinition so strittig wie jede andere. Sie hat immerhin den Vorzug, dass sie mit zwei relativ eindeutigen Merkmalen – Sinnhaltigkeit der Rede und deren Segmentierung in Verszeilen – klare Kriterien für lyrische Texte vorschlägt. Doch stellt sich die Frage, ob Lamping so prominenten Sehgedichten wie Christian Morgensterns Fisches Nachtgesang oder Reinhard Döhls Apfel zurecht den Gedichtstatus abspricht.14 Gehören sie nicht, wie eine Vielzahl anderer figuraler Texte, zu den Randphänomenen der Lyrik? Schließlich sind sie von sehr vielen Lesern als Exemplare dieser Gattung anerkannt worden. Möglicherweise ist es gerade ein spezifisches Merkmal der Lyrik, dass sie sich in besonderem Maß auf die darstellende Kunst öffnen kann, wie im Übrigen auf die Musik. Der Versuch, eine statische Grenze zwischen Bild und Gedicht festzulegen, kann vermutlich nur scheitern. Es empfiehlt sich daher, den Abstecher in die allgemeine Lyriktheorie zu beenden und die Textbetrachtung fortzusetzen.


Konkretistische Einheitstype und futuristische Letternvielfalt

Marinettis parole in libertà und Gomringers Konstellationen repräsentieren zwei gegensätzliche Tendenzen der visuellen Poesie: Während der Futurist das Schriftbild nutzt, um den Bezug seiner Worte zum Materiellen zu verstärken, will der Konkretist gerade diesen Bezug vermeiden. Das gesteigerte bzw. mangelnde Interesse an der Objektwelt findet seinen direkten Niederschlag im jeweiligen Gebrauch der Typografie. Gomringers Anliegen, Worte als Zeichen reiner Ideen zu Papier zu bringen, verlangt nach einer klaren, völlig schnörkellosen Schrift. Tatsächlich kann man sich kaum vorstellen, dass seine Texte in einer anderen Type als der von ihm favorisierten Helvetica gesetzt sein könnten. Gomringer ist in den fünfziger Jahren als Sekretär Max Bills15 an der Ulmer Hochschule für Gestaltung tätig und führt in den sechziger Jahren die Geschäfte des Schweizer Werkbundes. Die damalige Entwicklung im Schrift-Design verfolgt er aus nächster Nähe. In Max Miedingers 1957 für einen Schweizer Satzbetrieb16 gestalteten Helvetica erkennt er frühzeitig die Type, die für seine Konstellationen prädestiniert ist.

Als Groteskschrift fehlen der Helvetica selbstverständlich Serifen. Zu ihren besonderen Merkmalen zählen geringer Stärkenkontrast zwischen Grund- und Haarstrichen sowie schwacher Druck in den Rundungen, allerdings kein vollkommen gleichmäßiger Schnurzug. Die Helvetica wird als geschlossene Groteskschrift klassifiziert und somit von allen geöffneten und geometrischen Groteskschriften differenziert. Dies bedeutet, dass sämtliche Rundungen, wie die Letter O oder die Bäuche von b und d, oval und nicht etwa kreisförmig sind. Die Bögen von c und e laufen nicht waagrecht aus, sondern schließen beinahe mit ihren Ansätzen ab. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Versalie M aus zwei perfekt achsensymmetrischen Hälften besteht. Für die Lyrik Gomringers ist dies jedoch nicht von Belang, weil sie auf jede Großschreibung konsequent verzichtet.




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Unter Grafikern wird die Helvetica mittlerweile gerne als "Schrift ohne Eigenschaften" bespöttelt. Da sie nahezu universell einsetzbar ist und den ökonomischen Vorzug einer geringen Laufweite hat, gehört sie zu den meistverwendeten Typen. Für Gomringer indes, der in den fünfziger Jahren eine neuartige Schrift benötigt, die möglichst weit hinter die Bedeutung des Textes zurücktritt, kommt sie wie gerufen. Miedinger ist nicht der erste Typograf, der die Antiqua-Lettern vom unnötigen Zierart der Serifen, Tropfen und Auslaufpunkte befreit, reduziert sie aber besonders kompromisslos auf ihre Grundformen. Im Gegensatz zu Eric Gill in den zwanziger Jahren oder, in jüngerer Zeit, Hans Eduard Meier17 verzichtet er auf dynamische Schwünge, die der Schrift individuellen Charakter verleihen könnten. Die Helvetica eignet sich für den erhofften neuen Zugang zur Sprache mehr als jede andere Grotesk. Sie ist nicht nur das ideale Gewand einer experimentellen Poesie, die sich als Alternative zur traditionellen Verslyrik begreift, sondern wird selbst Teil dieser Poesie. Durch die kühle, unpersönliche Type wirken Gomringers Worte frisch und unverbraucht, als wären sie zum ersten Mal auf ein Blatt Papier gesetzt (vgl. Vollert 1999: 73–75). Der Konkretist gleicht einem Musiker, der die Saite seines Instrumentes nur anstreicht, um deren Klang zu prüfen, nicht jedoch, um eine Komposition zu spielen.

Anders Marinetti. Seine Ankündigung aus Immaginazioni senza fili, in ein und demselben Text 20 Schriftfamilien und deren sämtliche Schriftschnitte von roman über bold zu italics zu verwenden, setzt er konsequent in die Tat um.18 In Zang tumb tuuum schöpft er die Möglichkeiten der Typografie vollständig aus. Drei verschiedene Auszeichnungsformen auf einer Seite – neben Fett- und Kursivdruck greift er insbesondere auf Versalien und erhöhte Schriftgrade zurück – sind eher die Regel als die Ausnahme. Dennoch ist der Text nach logischen Prinzipien organisiert und artet nicht in anarchisches Chaos aus: Sobald das Maschinengewehrfeuer verklungen ist, ersetzt das roman der Grundschrift das bold der Onomatopöie. Als Standard-Type wählt Marinetti eine moderne Antiqua-Variante, die in jeder Hinsicht Kontraste zu den Hervorhebungen bildet. Die Grund- und Querstriche unterscheiden sich in der Stärke nur mäßig, der Druck nimmt in den Rundungen nur leicht zu. Die Serifen fallen kurz und weich aus, wie bei manchen Jugendstil-Schriften,19 die um 1900 die klassizistischen Antiqua-Typen mit ihren langen, haarfeinen Endstrichen20 ablösen.

Neben dieser Standard-Type kommt jede Auszeichnung optimal zur Geltung. Schaltet Marinetti fettgedruckten Schlachtenlärm in den Fließtext ein, so verwendet er meistens eine Schrift mit kräftigen, keilförmigen Serifen, die das Getöse synästhetisch wiedergibt. Unterbricht er hingegen den gleichmäßigen Zeilenlauf, um die Lautmalereien zusätzlich hervorzuheben, steigert er auch die Vielfalt der typografischen Mittel: Das Wort "bombardamento" setzt er zweimal untereinander auf die Mittelachse einer Seite, wobei er die Vokale so oft vervielfacht, dass es beide Male fast die ganze Zeilenlänge einnimmt (Marinetti 1983, S. 722). Als Type verwendet er dissonant überstreckte Versalien einer Grotesk im condensed-Schnitt21 mit gleichstarken Längs- und Querbalken. Sofort danach folgt in dreifacher Wiederholung die Silbe "bum". Hierbei behält Marinetti die gedrängten Majuskeln bei, er wechselt jedoch zu einer Antiqua mit wechselnder Strichstärke und Balkenserifen ohne Kehlung.22

Noch stärker variieren die Typen, wenn der Fließtext von synoptischen Tafeln unterbrochen wird. Als die weiße Fahne auf dem türkischen Hauptquartier weht, nimmt sie im Schriftbild Gestalt an, indem die Worte – wie schon im Fall des Fesselballons – die Umrisse des Gegenstandes imitieren: Die Worte "bandiera bianca", zweizeilig und linksbündig gesetzt, ergeben den Fahnenstoff. Als Mast ragen die beiden Buchstaben der Präposition "su" aus dem Erdboden des Fließtextes und schaffen die syntaktische Verbindung zu diesem, so dass wir im Kontinuum lesen: "Bandiera bianca su quartier generale Hadirlik [...]" (Marinetti 1983: 724). Während die Textur des Fahnenstoffs aus serifenlosen Versalien gewebt ist, besteht die hölzerne oder metallene Stange logischerweise aus anderem Material: zwei überstreckten klassizistischen Antiqua-Lettern.




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Die Wahl der Schriften ist niemals beliebig und unterstützt die Semantik der Worte nach dem Analogie-Prinzip. Für das "grande T rrrrrrrronzzzzzzante d'un monoplano bulgaro" (ebd.: 712) kommt daher nur eine serifenbetonte Letter in Frage: Der starke Endstrich am Fuß des vertikalen Balkens bildet die Heckflosse des Flugzeugs nach.


Über den Futurismus hinaus: Soffici

Sind figurale Gedichte in jedem Fall visuelle Poesie? Vermutlich schon; aber manifestiert sich umgekehrt visuelle Poesie in jedem Fall als figurales Gedicht? Wer an Döhls Apfel denkt, wenn von visueller Poesie bzw. Bildgedichten die Rede ist, würde diese Frage vielleicht bejahen – und erläge einem Irrtum. Gerade eine Untersuchung lyrischer Texte, die mit den Kategorien der Typografie statt mit denen der Semiotik arbeitet,23 führt zwingend zu einem anderen Schluss. Sie ergibt, dass nicht allein vorhandene oder fehlende 'Ikonizität' den Ausschlag gibt, ob ein Gedicht der visuellen Poesie zuzurechnen ist oder nicht. Der Schriftsatz muss also nicht notwendig bestimmte Gegenstände bildhaft nachahmen, wie dies bei Döhls wurmigem Apfel oder Marinettis Fesselballon der Fall ist. 'Visuell' sind lyrische Texte immer dann, wenn sie zu ihrem vollen Verständnis nicht oder nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen rezipiert werden müssen – also u.a. dann, wenn sie nicht in eine andere Schrift überführt werden können, ohne einen Bedeutungsverlust zu erleiden. Auf Gomringers Konstellationen trifft dies zweifellos zu.

Im Kontext der futuristischen Avantgarde dient das Schriftbild vor allem als Mittel, den Bezug des gesetzten Wortes auf den benannten Gegenstand zu intensivieren. Marinettis Poetik der parole in libertà, die zeitgleich mit seinem Werk Zang tumb tuuum entsteht, belegt diese Absicht ebenso wie das Poem selbst. Somit ließe sich eine ikonische, d.h. motivierte statt arbiträre Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten als Grundprinzip feststellen: Der laute Geschützdonner bedarf der 'lauten' Auszeichnung des Fettdrucks. Dass Marinettis Programm nur zum Schein poetische Freiheit anstrebt, in Wahrheit aber extrem regulativ ist, wurde häufig festgestellt.24 Fernab von Mailand entsteht unter dem Zeichen des Futurismus eine ungleich experimentellere visuelle Dichtung. Der Florentiner Ardengo Soffici erprobt in seinem Werk mit dem ausgefallenen Titel BÏF§ZF + 18 Simultaneità e Chimismi lirici25 vielfältige Möglichkeiten, wie die optische Erscheinung der Satzschriften als poetisches Ausdrucksmittel verwendet werden kann.

Ein paar Worte zu Sofficis Beziehung zum Futurismus erleichtern den Zugang zu diesem Werk.26 Der Maler und Autor gehört nicht zur Stammgruppe von jungen Lyrikern, denen Marinetti es ermöglichte, erstmals eigene Texte zu publizieren. Während die futuristische Bewegung entsteht, avanciert er in einem ganz anderen Umfeld zu einem der führenden Feuilletonisten seiner Generation. Bevor er mit Giuseppe Prezzolini in Florenz die kulturkritische Zeitschrift La Voce gründet, schreibt er einige Jahre für Leonardo. Ebenso wie Marinetti hat er mehrere Jahre in Paris gelebt und wie dieser will er das rückständige kulturelle Leben Italiens erneuern. Anders als die Futuristen jedoch, die sich an die Spitze der europäischen Avantgarden setzen wollen, spricht er sich für den Zusammenschluss mit den progressiven Strömungen in der französischen Kunst und Literatur aus. Die Militanz Marinettis widerstrebt ihm.




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So kommt es, dass Soffici einerseits im Auftrag Prezzolinis nach Paris reist und 1910 in Florenz die erste Ausstellung impressionistischer Maler auf italienischem Boden organisiert. Andererseits besichtigt er im Jahr darauf die Werke der Futuristen in den Mailänder Ufficine Ricordi und schreibt für La Voce einen flammenden Verriss. Marinetti fährt daraufhin mit einigen Mitgliedern seiner Bewegung nach Florenz und stattet dem Caffè delle Giubbe Rosse auf der Piazza della Repubblica einen Besuch ab. Soffici, soviel ist ihnen bekannt, gehört zu den Stammgästen dieses Umschlagplatzes modernistischer Ideen. Nachdem sie ihn öffentlich geohrfeigt und sich Handgreiflichkeiten mit seinen Freunden geliefert haben, verbrüdern sie sich mit den toskanischen Avantgardisten.27 Anfang 1913 erscheint in Florenz die erste Nummer des futuristischen Kampfblattes Lacerba, deren Redaktion von Soffici und Giovanni Papini geleitet wird. Bevor die Allianz mit Marinetti im Februar 1915 in die Brüche geht, finden mehrere gemeinsame Ausstellungen statt, wo Sofficis Gemälde neben denen Boccionis, Carràs, Russolos, Severinis und Ballas zu sehen sind.

So viel Chronik muss genügen. Soffici nimmt in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine ultra-konservative Position ein und spricht sich entschieden für den "ritorno all'ordine" aus, was ihm in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg viel Kritik einträgt. Seine politische Haltung hat sich entschieden negativ auf sein Ansehen als Autor ausgewirkt. Sicherlich ist dies einer der Gründe, weshalb bis heute wenig monografische Untersuchungen zu seinem Werk entstanden sind.

Dabei verdient gerade der Band BÏF§ZF + 18 aufgrund seiner radikalen Innovation das Interesse der Literaturwissenschaft. 1915, kurz bevor sich Soffici freiwillig an die Front meldet, erstellt er die Seiten dieses Buches in der Setzerei seines Freundes, des Verlegers Attilio Vallecchi. Dass er unter der Wirkung der Programmschriften Marinettis steht, ist nicht zu verkennen. Er gibt sich keine Mühe, dies zu verbergen – im Gegenteil: Schon der Titel enthält den futuristischen Schlüsselbegriff simultaneità; eines der verslibristischen Gedichte in der ersten Sektion ist dem Aeroplan gewidmet; ein Text in der zweiten der "sensibilità numerica", die Marinetti im Manifest Lo splendore geometrico propagiert.

Darüber hinaus bestehen Parallelen zwischen den Strukturen von Chimismi lirici und Zang tumb tuuum, da der gleichmäßige Blocksatz der Grundschrift häufig von typografisch markierten Passagen und gelegentlich von figuralen Einschüben unterbrochen wird. Allein der Abschnitt "Treno-Aurora", keine zwei Seiten lang, enthält eine ganze Reihe von visuellen Ausdrucksmitteln. Der Text gibt den Bewusstseinsstrom eines Eisenbahn-Reisenden im Morgengrauen wieder, wobei er den bekannten Telegrammstil verwendet und auf jegliche Interpunktion verzichtet. Wie Marinetti rekurriert Soffici auf (allerdings kursivierten) Fettdruck, um das Stampfen der Lokomotive onomatopoetisch und visuell wiederzugeben: "sibili di fumo nell'asma musica degli stantuftufftufftufftuffi".28 Die direkten Reden der anderen Passagiere macht Soffici durch einen kleineren Schriftgrad kenntlich. Laut Kontext ist der Zug voller "amanti fuggiaschi": "Cara Caro bisognerà pure telegrafare a papà Si da Bologna ma i braccialetti li hai presi tutti? [...] Dans quelques heures il se reveillera cocu tu m'aimes chéri ? Oui tant Non pas ici on voit de l'autre compartiment Ah !". Sofficis Gesprächsfetzen verfehlen keineswegs ihren komischen Effekt, finden sich in ähnlicher Form jedoch bereits bei Marinetti.29 Ebenso verhält es sich mit dem Versuch, durch Schrift und Hilfslinien eine Kaffeetasse, Zigarettenrauch und die Zigarette selbst darzustellen (vgl. Soffici 2002: 97): Soffici stößt zwar weit in den Bereich des figuralen Gedichts vor, dem Fesselballon in Zang tumb tuuum fügt er jedoch keine neue Innovation hinzu.




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Dies ändert sich auf jenen Seiten von Chimismi lirici, wo er Flaschenetiketten, Firmenembleme oder andere pikturale Elemente in den Text einmontiert, also die Collage-Technik der Kubisten übernimmt bzw. diejenige der Dadaisten antizipiert. Damit entfernt er sich von Marinetti, der mit den Namen deutscher Rüstungsunternehmen förmlich um sich wirft – genannt werden Mauser, Krupp und, als Hersteller von Feldstechern, Zeiss (vgl. Marinetti 1983: 692 bzw. 679 und 693) –, aber niemals deren Markenzeichen abbildet. Vermutlich widerspräche dies der Maxime aus Lo splendore geometrico, figurale Einschübe einzig in der Funktion einzusetzen, das turbulente Kriegsgeschehen simultan wiederzugeben. Soffici jedoch vertraut seinem eigenen poetischen und bildnerischen Urteil im Zweifelsfall mehr als den strengen Prinzipien der Mailänder Doktrin. Seine Klausur in Vallecchis Werkstatt gibt ihm die Möglichkeit, der Poesie, im Zeitalter der technischen Novitäten totgesagt, ausgerechnet mit den Mitteln der modernen Druckgrafik neues Leben einzuhauchen. Das Eröffnungsgedicht von BÏF§ZF + 18 ist an eine personifizierte Poesia adressiert, die, wahrscheinlich zum ersten Mal in der Literaturgeschichte mit so viel Bedeutsamkeit, in serifenlosen Lettern gesetzt ist:

Un solo squillo della tua voce senza epoca e tutte le gioiellerie di questo crepuscolo rassegnato in pantofole si mettono a lampeggiare creando un giorno nuovo
[...]
Si direbbe che non siamo mai morti Questi pallidi vermi sarebbero dei capelli biondi e le vecchie ironie una menzogna di réclames fiorite sui muri del sepolcro (Soffici 2002: 11–12)

Sein Spieltrieb erreicht erst auf der letzten Seite von Chimismi lirici die Klimax. Das Schlussgedicht Tipografia wird in allen möglichen Publikationen über den Futurismus reproduziert und ist daher relativ bekannt; um so erstaunlicher ist es, dass kaum Kommentare oder Interpretationen dazu existieren. Denn gerade diese tavola parolibera, falls es sich um eine solche handelt, weist weit über die Grenzen hinaus, die Marinetti dem Bildlichen in der futuristischen Dichtung gesetzt hat.


Abb. 4:

Ardengo Soffici, Tipografia (BÏF§ZF + 18 Simultaneità e Chimismi lirici, © Vallecchi spa, Firenze, 2002. Su gentile concessione dell'Editore)




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Die Bedenken, ob Tipografia als tavola parolibera bezeichnet werden kann, sind zweifach begründet: Zum einen besteht der Text zum großen Teil aus Freiversen, die in regulärer Syntax verfasst sind. Zum anderen setzen sich seine übrigen Partien aus lauter einzelnen Buchstaben zusammen, die ohne jedes Ordnungsprinzip über die Seite verstreut sind – also höchstens lettere in libertà, aber keine parole in libertà bilden. Von den Freiversen unterscheiden sie sich nicht nur durch den völligen Mangel an semantischem Inhalt, sondern auch durch ihre typografische Vielfalt: Die Buchstaben weisen stark differierende Punktgrößen auf und entstammen den verschiedensten Schriftsätzen. Darunter befinden sich alle möglichen Lettern von serifenlosen und serifenbetonten Typen, nur nicht diejenigen der ausgewogenen Renaissance-Antiqua, in der die Freiverse gesetzt sind. Dies bewirkt eine starke formale Trennung des visuell wahrzunehmenden Buchstaben-Chaos und des lesbaren Textes der folgenden 13 Verszeilen, die erneut die Poesia ansprechen und somit den Kreis zum einleitenden Gedicht schließen:

Poesia vertice raggiante dell'universo
Anche i tuoi vestiti mortali sono adorabili

Antiche cose con polpa e nervo
Esseri vivi col loro destino terrestre
Ombre ora confitte in un segno netto e forte
Tipi transustanziazione di misteri influiti

Alfabeti lettere dentelles batiste fiocchi
Ornamenti dell'idea nuda
Je m'abîme dans ce fouilli de tiédeurs charnelles
Respiro i ricchi odori delle tue segretezze
Bacio le ciarpe d'oro che sono un poco del tuo grande corpo

Vecchio satiro cosmopolita di mitologie future
Voilà ti posseggo tutta

Soffici spricht hier mit der Stimme des weltläufigen Literaten: Mit dem psycho-pathologischen Diskurs seiner Zeit bestens vertraut, setzt er seine Schwäche für das typografische Gewand der Lyrik mit der Obsession des Fetischisten gleich, dessen Begehren vom Körper seiner Geliebten auf deren Dessous verschoben ist. Mikrotypografische Elemente wie Serifen, Tropfen und Auslaufpunkte, die bei Soffici als "dentelles" und "fiocchi" bezeichnet werden, verzieren die Schrift wie der Spitzenbesatz die weibliche Unterwäsche. Nicht anders als diese den Frauenkörper, schmücken sie die "idea nuda" der Lyrik und bilden das eigentliche Lustobjekt des Fetischisten. Tipografia zeigt denn auch, wie entbehrlich jeder semantische Inhalt wird, wenn sich der Poet an einem Übermaß an visuellen Reizen berauschen kann: Die Buchstaben verlieren ihre Funktion als Repräsentanten einzelner Laute und fügen sich erst recht nicht mehr zu Worten. Sie verwandeln sich zu reinen Ornamenten, wobei zuletzt nicht mehr zu erkennen ist, ob ihr eigenes Schwarz oder das Weiß ihrer Binnenräume hervortreten soll. So sieht der Betrachter links oben eine Majuskel A mit mächtigen eckigen Blockserifen, nach Belieben auch einen vertikalen Pfeil oder – warum nicht? – die Umrisse eines zusammengeklappten Sonnenschirms. Die Punze30 des darunter liegenden V mit den ausgerundeten Endstrichen hingegen wäre nach diesem Prinzip der schwarze Hintergrund für eine spitz zulaufende, weiße Pinie, das umgedrehte E der Egyptienne mit ihren charakteristischen Balkenserifen im unteren rechten Bereich scheint ein C zu umschließen.




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Wer möchte, kann dieses Spiel nach Lust und Laune fortsetzen. Allein die genannten Beispiele belegen jedoch, dass Soffici die visuelle Poesie in völlig andere Bahnen lenkt als die von Marinetti vorgezeichneten. Das Schriftbild dient ihm eben nicht mehr als Analogie dessen, was es in der Wirklichkeit zu sehen gibt. Stattdessen stellt er es bewusst als gleichwertiges Phänomen neben andere Phänomene, befreit es also von seiner repräsentativen Funktion. Sogar oder gerade wenn Buchstaben keine Worte formen, scheinen sie, ähnlich wie Arabesken, einen geheimen Sinn in sich zu bergen, der freilich unbestimmbar bleibt. Damit die Schrift diese Strahlkraft erhält, muss sie nicht zu signifikanten Einheiten verbunden, sondern in ihre Atome zerlegt werden. Soffici selbst deutet das Schlussgedicht seines Bandes BÏF§ZF + 18 in diesem Sinne: "Le lettere anche prese a sé suggeriscono idee di mistero, di cose trascendenti." Von einer 'Poesie der Materie', die keine höhere Realität jenseits der Objektwelt anerkennt, wie sie Marinetti im technischen Manifest gefordert hat (vgl. Marinetti 1983: 50–52), kann hier keine Rede sein. Dann folgt der in diesem Kontext entscheidende Satz: "Hanno [i.e. le lettere] pure il loro lato decorativo per forma e colore."31

Sofficis visuelle Dichtung ist an dieser Stelle jeder semantischen Bedeutung entledigt und vollständig auf Form und Farbe reduziert. Damit ist sie so 'konkret', wie es die eigentliche konkrete Poesie nur in ihren extremen Ausprägungen sein kann: "Das Konkretistische an der visuellen Poesie [...] ist die Ausrichtung auf die Materialität und Medialität von Sprache als Schrift, d.h. auf ihre konkret-sinnliche Seite und damit auf die selbstreferentielle statt referentielle Funktion [...]."32 Doch stoßen Gomringer und die übrigen Konkretisten nur selten bis zu diesem Extrem vor. Meist behalten sie das Wort als kleinste Einheit ihrer Gedichte bei. Dies tun sie gewiss nicht aus mangelnder Radikalität, sondern um die fundamentale Spannung ihrer Texte zu erhalten. Worte können sich niemals ganz von ihrer Zeichenhaftigkeit trennen, was sie von den Formen und Farben der Malerei unterscheidet. Eine waagrechte Linie, die quer über die ganze Bildfläche verläuft, ist nicht unbedingt der Horizont; ein gelber Farbklecks, selbst wenn er auf einen azurblauen Grund getupft ist, nicht in jedem Fall die Sonne. Die Wörter "Horizont" und "Sonne" hingegen benennen ihr jeweiliges Signifikat, ganz egal ob sie isoliert oder in irgendeinem Kontext stehen. So sehr sie ihre Bedeutung in der konkreten Poesie zu verleugnen suchen, so sehr sie sich in reine Materie auflösen wollen, bleiben sie zuletzt doch mit ihrem Signifikat verbunden. Dieser innere Widerstreit belebt diese alternative Variante der Lyrik. Er trennt sie von der etablierten Versdichtung und macht sie so interessant.




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Anmerkungen

1 Vgl. Hughes (1973: 1). In der ersten Strophe sitzt das lyrische Ich vor einem leeren Blatt Papier. In den zwei letzten geschieht dies: "Across clearings, an eye,/ A widening deepening greenness,/ Brilliantly, concentratedly,/ Coming about its own business// Till, with a sudden sharp hot stink of fox/ It enters the dark hole of the head./ The window is starless still; the clock ticks,/ The page is printed."

2 Vgl. Gernhardt (1996: 177). Alle sieben Verse lauten wie folgt: "Siebzehn Worte schreibe ich/ auf dies leere Blatt,/ acht hab' ich bereits vertan,/ jetzt schon sechzehn und/ es hat längst mehr keinen Sinn,/ ich schreibe lieber dreißig hin:/ dreißig."




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3 Vgl. Benn (1986: 282): "Allein: du mit den Worten/ und das ist wirklich allein,/ Clairons und Ehrenpforten/ sind nicht in diesem Sein.// Du siehst ihnen in die Seele/ nach Vor- und Urgesicht,/ Jahre um Jahre – quäle/ dich ab, du findest nicht." (vv. 1–8).

4 In dem Wiener Verlag Edition Splitter ist in den Jahren 1995 bis 2006 das Gesamtwerk Eugen Gomringers erschienen. Auf Band 1, vom rand nach innen. die konstellationen 1991–1995, folgten 1997 und 2000 die Bände 2 und 3 (theorie der konkreten poesie. texte und manifeste 1954–1997 bzw. zur sache der konkreten. eine auswahl von texten und reden über künstler und gestaltungsfragen 1958–2000) und vor kurzem Band 4, quadrate aller länder.

5 Vgl. Riha (1995: 388). Das Gedicht schweigen bildet Gomringer im Übrigen auch mit dem spanischen Wort "silencio" (vgl. Gomringer 1995: 20), weil er vorführen will, wie wenig der Konkretist auf seine jeweilige Muttersprache angewiesen ist. 1956 äußert er hoffnungsvoll, "daß sich mit der konkreten dichtung die idee einer universalen gemeinschaftsdichtung zu verwirklichen beginnt" (ebd.: 19). Auch darin wird offenbar, wie stark seine Vorstellungen von denen Gottfried Benns abweichen. Noch einmal dessen "Marburger Vortrag": "Das Wort ist [...] national verwurzelt. Bilder, Statuen, Sonaten, Symphonien sind international – Gedichte nie. Man kann das Gedicht als das Unübersetzbare definieren" (Benn 2001: 24).

6 Damit ist er gut beraten, denn bereits Marinetti verspielte mit der Behauptung des noch-nie-Dagewesenen seiner Experimente einen Teil seiner Glaubwürdigkeit. Seine Kritiker waren klug oder missgünstig genug, seinen Vitalismus auf Bergson und seine parole in libertà auf Mallarmé zurück zu führen – beides nicht ganz zu Unrecht (vgl. Marinettis Verteidigungsschrift gegen die Angriffe auf sein technisches Manifest in Marinetti 1983: 55–59).

7 Gomringer würdigt in vom vers zur konstellation ausdrücklich den Experimentalismus F.T. Marinettis oder Hugo Balls. Ebenso unmissverständlich stellt er jedoch fest, dass deren programmatische Prinzipien für seine konkrete Poesie keineswegs verbindlich sind: "die weltanschauliche begründung und der ausdruckswille, der hinter dieser dichtung steht, sind uns nicht mehr zugehörig und sind nicht mehr zeitgemäß" (Gomringer 1988: 10).

8 Konsequent verstößt Marinetti also gegen das typografische Prinzip des harmonischen Zeilenausgleichs.

9 So im Kapitel "Bombardamento" von Zang tumb tuuum: "Marcia del cannoneggiamento futurista colosso-leitmotif-maglio-genio-novatore-ottimismo-fame-ambizione" (Marinetti 1983: 777) bzw. "intorno a Adrianopoli + bombardamento + orchestra + passeggiata-del-colosso + officina allargarsi cerchi concentrici di riflessi" (ebd.: 778).

10 Als 'laute' Auszeichnungsformen werden in der Typografie all jene Hervorhebungen bezeichnet, die das Auge nicht erst dann wahrnimmt, wenn es die fragliche Textpassage erreicht hat. Das Gegenbeispiel einer 'leisen' Auszeichnungsform wäre die Kursive.

11 Unbegründet ist diese Sorge keineswegs. Die literaturwissenschaftliche Rezeption der parole in libertà etwa richtet ihr primäres Augenmerk von jeher auf den Modus und nicht auf das Objekt der Darstellung.

12 Zur sprachbildlichen Analogie heißt es im technischen Manifest unter anderem: "L'analogia non è altro che l'amore profondo che collega le cose distanti, apparentemente diverse ed ostili. Solo per mezzo di analogie vastissime uno stile orchestrale, ad un tempo policromo, polifonico, e polimorfo, può abbracciare la vita della materia" (Marinetti 1983: 48).




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13 Dieses Gedicht erschien zuerst 1967 in dem gleichnamigen Band bei dem Stuttgarter Verlag edition hansjörg mayer.

14 Vgl. Lamping (1989: 31 bzw. 35). Lamping schließt figurale Texte nicht prinzipiell aus der Lyrik aus. Morgensterns Die Trichter, dessen Zeilen auf Mittelachse gesetzt sind und nach unten immer kürzer werden, akzeptiert er aufgrund der rhythmischen Versgliederung als Gedicht: "Bei einem solchen echten Figurengedicht sind Gedichtform und figurale Form identisch. Die Schrift hat die doppelte Funktion, sowohl Partitur wie Figur zu sein [...]. So ist der Text Bild und Gedicht in einem" (ebd.: 34). Die These, dass visuelle Poesie den Bereich der Lyrik verlasse, wenn sie die Versgliederung preisgebe, bekräftigt Lamping in seinem späteren Buch Moderne Lyrik. Dort bezieht er sich explizit auf eine tavola parolibera Marinettis (vgl. Lamping 1991: 81).

15 Das Multitalent Max Bill war Maler, Bildhauer, Designer, Architekt und Kunsttheoretiker. In den Jahren 1951 bis 1956 leitete er die Ulmer Hochschule für Gestaltung.

16 Da dieses Unternehmen die Haas'sche Gießerei in Basel war, hieß Miedingers Schrift zunächst Haas Grotesk und wurde erst 1960 in Helvetica umbenannt. Heute erfreut sie sich unter dem Namen Arial in der elektronischen Textverarbeitung großer Beliebtheit, aus rechtlichen Gründen allerdings in leicht abgewandelter Form (vgl. Stiebner/Leonhard 1992: 65; Friedl/Ott/Stein 1998: 382–383).

17 Gill kreierte im Auftrag der London & North Eastern Railway die Gill Sans – "sans" natürlich für "sans serifes" –, Meier 1995 die Syntax in Zusammenarbeit mit der Firma Linotype, einem Anbieter elektronischer Schrift-Fonts. Es handelt sich in beiden Fällen um offene Groteskschriften, zu deren belebenden Merkmalen ein – bei serifenlosen Lettern außergewöhnliches – zweigeschossiges kleines g gehört (vgl. Ambrose/Harris 2005: 14 bzw. 164). Auf dergleichen eigenwillige Elemente verzichtet die Helvetica selbstverständlich.

18 Marinetti selbst hat nicht über das nötige typografische Know-how verfügt, um einen derart komplexen Schriftsatz zu erstellen. Auf dem Umschlag von Zang tumb tuuum dankt er dem Schriftsetzer und Anarchisten Cesare Cavanna für seine handwerkliche Mitarbeit (vgl. Salaris 1996: 146).

19 Als Beispiel wäre etwa die nach ihrem Schöpfer Peter Behrens benannte Behrens Antiqua aus dem Jahr 1902 zu nennen (vgl. Stiebner/Leonhard 1992: 60).

20 Die vermutlich bekannteste Type dieser Art ist die Bodoni, von Giambattista Bodoni, dem "principe della tipografia" im frühen 18. Jahrhundert entwickelt. Klassizistische Antiqua-Schriften gelten als schriftgrafischer Ausdruck des aufgeklärten Rationalismus. Ihr Hauptmerkmal ist ein extremer Strichstärken-Kontrast: Die Grundstriche sind zu schwarzen Flächen verbreitert, die Haarstriche so fein, dass sie auf schlechtem Papier leicht reißen (vgl. Stiebner/Leonhard 1992: 45–46; Friedl/Ott/Stein 1998: 62–63; Kapr/Schiller 1983: 92).

21 Der Schriftschnitt condensed ist aufgrund seiner disharmonischen und bizarren Erscheinung bei den Futuristen besonders beliebt. Dabei handelt es sich um die horizontal gedrängten, vertikal überstreckten Buchstaben, die wir aus dem Straßenverkehr kennen: Auf den Straßenbelag aufgetragen, werden sie vom Autofahrer entzerrt wahrgenommen. Die englischen Bezeichnungen der verschiedenen Schriftschnitte setzen sich im deutschsprachigen Typografie-Diskurs immer mehr durch. Neben roman (dem Standard-Schnitt) ist von extended (dem Gegenteil von condensed), italics (Kursive), bold (Fettdruck) und light (mager) die Rede.

22 Diese Kehlung ist ein unverzichtbares Kennzeichen jeder echten oder modernen Renaissance-Antiqua. Ob Garamond, Bembo oder Aldus – die Serifen sind nicht einfach rechtwinklig an die Grundstriche angeschlossen, sondern harmonisch ausgerundet. Auch auf der Außenseite sind sie leicht eingewölbt, so dass die unteren Endstriche – mit Flaschenböden vergleichbar – stabiler auf der Zeile zu stehen scheinen. Der lebendige Federzug hat seine organische Form auf den toten Bleikegel übertragen (vgl. Kapr/Schiller 1983: 88).




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23 Wer die Möglichkeiten und Grenzen der semiotischen Analyse der futuristischen parole in libertà kennen lernen möchte, der sei auf Helga Finters Band Semiotik des Avantgardetextes verwiesen (Finter 1980).

24 Hans Magnus Enzensberger legt dar, dass alle Avantgarden an derselben Aporie scheitern: Am Beginn steht das Anliegen, die einengenden Fesseln der Tradition zu sprengen. Zu diesem Zweck wird eine neue Ästhetik entwickelt. Deren Prinzipien werden solange differenziert, bis sie die Künstler stärker einschränken, als es die ungeliebte Tradition je getan hat (vgl. Enzensberger 1962: 303–304).

25 Soffici 2002. Der Übertitel kann als Hinweis auf die bedeutende Rolle der Typografie in diesem Band bewertet werden. Claudia Salaris schreibt in einem Beitrag in dem Band La rivoluzione tipografica: "Il carattere effimero è voluto dall'autore, che realizza la copertina con collage di giornali, prove di stampa e per il titolo utilizza un refuso tipografico" (Baroni 2001: 64). Mit dem Fachterminus 'refuso' bezeichnen italienische Typografen Lettern, die irrtümlich in den Satz geraten – auch und gerade solche, die zur falschen Schriftfamilie gehören. Soffici integriert in seinen absurden Titel auf dem Cover ein spiegelverkehrtes Paragraphen-Zeichen.

26 Wertvolle biografische Informationen über Soffici enthält der Katalog Futurismo & Futurismi zur gleichnamigen Ausstellung, die 1986 im Rahmen der Biennale von Venedig stattfand. Deren Kurator, der ehemalige Dokumenta-Leiter Pontus Hulten, leistete damit einen wichtigen Beitrag zur neueren Futurismus-Forschung in Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft. Bzgl. Soffici vgl. Hulten (1986: 585–587).

27 Die Geschichte von der "schiaffeggiatura" (i.e. Ohrfeigung) vom 22. Juni 1911 ist nachzulesen in Marchetti (1979: 14–16).

28 Marinetti jedoch verwendet nicht die lexikalisierte Kindersprache, wenn er die Dampflok "fufufufufufu fafafafafafa zazazazaza tzatzatzatza" (Marinetti 1983: 766) oder "express-express- expressssssss press-press-press-press [usw.]" (ebd.: 644) tönen lässt.

29 Menschlichen Stimmen kommt in Marinettis Poesie der Materie selbstverständlich nicht derselbe Rang zu wie Kanonendonner und Maschinengewehrfeuer. Gelegentlich sind sie jedoch als akustische Reize in die übrigen Wahrnehmungen eingestreut.

30 Als 'Punzen' werden die vom Buchstaben umschlossenen Innenräume bezeichnet (vgl. Ambrose/Harris 2005: 168).

31 Zitiert nach Vanden Berghe (1999: 85–86). Dirk Vanden Berghe gibt in seinem Beitrag zu einer Soffici-Kongressakte einen Kommentar Sofficis zu seinem eigenen Werk BÏF§ZF + 18 wieder, den er im Nachlass Benedetto Croces gefunden hat. Eine seltsame Anekdote: Ausgerechnet Croce, bestimmt kein Sympathisant des Futurismus, bat Soffici um ein Exemplar des Bandes. Soffici sandte dem großen Hermeneutiker eines, versehen mit der zitierten Lesehilfe (vgl. ebd.: 75).

32 Vgl. Greber (2004: 172). Weiter heißt es dort: "[...] dominantgesetzt ist die nicht-signifizierende Seite der Schriftzeichen, ihre Opazität, ihr Selbstwert als visuelle Form. Der Buchstabe nicht als Notat von Bedeutung, sondern als Gestalt."