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Johannes Müller-Lancé (Mannheim)



Spanische und französische Orthographie: Ein Kontrast und seine Genese



Spanish and French Orthographies: A Contrast and his Genesis
Spanish and French represent two languages closely related by their geography, history and typology. The writing systems of these two languages, however, are rather different – a so-called "shallow" system for modern Spanish and a "deep" system for modern French. This paper proposes a method for measuring this distance and provides a survey of the evolution of the two writing systems. It demonstrates that in medieval periods both writing systems still were quite similar and that the essential differences did not occur until the Renaissance era. The reasons for the emergence of these differences are searched in phonological and social developments as well as in language policy.



1 Einleitung

An vielen Universitäten gehört die Romanistik der philosophischen Fakultät an – dies zeigt, wie dehnbar unsere begrifflichen Vorstellungen von "Philosophie" sind. Deutlich weniger flexibel sind dagegen unsere graphischen Vorstellungen: So ist vielleicht manchem Leser, genau wie dem Verfasser dieses Artikels, ein kleiner Schauer über den Rücken gelaufen, als er die spanische Entsprechung "filosofía" zum erstenmal in schriftlicher Form gesehen hat: nämlich jeweils mit <f> anstelle der Graphemkombination <ph>, die in vielen Sprachen mit lateinischer Alphabetschrift das griechische φ wiedergibt.

sp. <filosofía>
frz. <philosophie>, dt. <Philosophie>, engl. <philosophy>
lat. <philosophia>
gr. <φιλοσοφία>

Das Beispiel "filosofía" zeigt, dass wir im Spanischen ein Graphiesystem vor uns haben, das sich relativ wenig um sprachgeschichtliche Traditionen kümmert: Im Vordergrund scheint das Bestreben zu stehen, ein bestimmtes Phonem immer durch das gleiche Graphem auszudrücken.1 Die Besonderheiten dieses Schriftsystems zeigen sich aber erst, wenn man es mit den Systemen ähnlicher Sprachen vergleicht. Innerhalb der romanischen Sprachen bietet wohl das Französische den größtmöglichen Kontrast zum spanischen Schriftsystem: Hier kommt der Graphie häufig die Aufgabe zu, homophone Wörter wenigstens geschrieben zu differenzieren. So werden beispielsweise die verschiedenen Bedeutungen der Phonemfolge [tã] durch die Schreibungen <temps>, <tend> und <tant> wiedergegeben, die an lateinisch TEMPUS, TENDIT und TANTUM erinnern.




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Im Folgenden sollen die Orthographiesysteme des Spanischen und des Französischen kurz kontrastiert werden. Anschließend sollen diejenigen Momente aus der Geschichte dieser Sprachen herausgegriffen werden, die dazu geführt haben, dass wir bei diesen beiden Sprachen, die sich geographisch, historisch und typologisch relativ nahe stehen,2 zwei so unterschiedliche Orthographiesysteme finden.



2 Charakterisierung der beiden Schriftsysteme

Wie alle Alphabetschriftsysteme sind sowohl das spanische als auch das französische System phonographischer Natur: Prinzipiell repräsentieren die Grapheme also Phoneme. Solche Systeme stehen im Gegensatz zu logographischen Systemen, in denen die einzelnen Schriftzeichen ganze Bedeutungseinheiten, also Morpheme, repräsentieren (Sampson 1985, Coulmas 1996, Meisenburg 1998: 43).3

Wie die Beispiele aus der Einleitung gezeigt haben, gibt es allerdings schon in der Gruppe der phonographischen Systeme große Unterschiede, was die Komplexität der Phonem-Graphem-Korrespondenzen angeht. Dabei kommt das Spanische dem phonographischen Ideal einer 1:1-Beziehung von Phonemen und Graphemen recht nahe:4 Man spricht hier auch von einem "flachen" (engl. shallow vs. deep) Schriftsystem, da es sich gewissermaßen nur auf der phonologischen Oberfläche bewegt.5



2.1 Ein "flaches" Schriftsystem: Spanisch

Besonders deutlich wird dies am spanischen Vokalsystem, das nur aus den 5 Kardinalvokalen besteht, die problemlos durch die 5 lateinischen Vokal-Grapheme wiedergegeben werden können. Aber auch bei den Konsonanten werden beispielsweise Doppelkonsonanten nur dann geschrieben, wenn ihnen phonologische Relevanz zukommt: vgl. caro ['karo] ('lieb, teuer') vs. carro ['karro] ('Karren'), pero ['pero] ('aber') vs. perro ['pεrro] ('Hund'). Ursprünglich lateinische Wörter, die uns aus dem Deutschen, Englischen und Französischen mit graphischen Doppelkonsonanten geläufig sind, werden im Spanischen konsequent mit einfachen Konsonantengraphemen geschrieben: vgl. sp. <inteligencia> vs. frz. <intelligence>, sp. <esencia> vs. frz. <essence>, sp. <pasión> vs. frz. <passion>, sp. <comunicar> vs. frz. <communiquer>. Aber auch Fremdwörter aus anderen Sprachen werden nicht nur in der Aussprache, sondern auch in der Schreibung an das spanische Phonem- bzw. Schriftsystem angepaßt: sp. <chófer> < frz. chauffeur; sp. <gol> vs. frz. <goal> < engl. goal; sp. <líder> vs. frz. <leader> < engl. leader; sp. <hipótesis> vs. frz. <hypothèse> < gr. hypóthesis (΄υπóθεσις).

Das letzte Beispiel, oder genauer: die Verwendung des Graphems <h> zeigt allerdings, dass es auch im Spanischen Ausnahmen vom phonographischen Prinzip gibt bzw. dass das System gelegentlich mehr in die Tiefe reicht: So finden wir beispielsweise erstens ein historisch bzw. etymologisch begründetes Graphem <h>, dem kein Lautwert entspricht (z.B. in sp. historia < lat. HISTORIA; sp. hispánico < lat. HISPANICUM); zweitens wird das Graphem <h> verwendet, um an ein ursprüngliches lateinisches Phonem /f/ im Wortanlaut zu erinnern (sp. hijo < asp. fijo < lat. FILIUM; sp. hoja < lat. FOLIA).




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Und drittens kann <h> auch diakritischen Charakter haben: So wurde zu einer Zeit, in der graphisch noch nicht zwischen <v> und <u> unterschieden wurde, der Diphthong /we/ durch ein vorangestelltes <h> als solcher markiert, um die Lesart /ve/ zu vermeiden und zu zeigen, dass das Zeichen <u> vokalisch und nicht etwa konsonantisch zu lesen sei (lat. OVUM > sp. huevo). Auch dieses <h> hat sich bis heute erhalten (Müller-Lancé 2006: 47, 87, 116 FN 23).

Die übrigen Inkonsequenzen des spanischen Schriftsystems lassen sich in zwei Gruppen aufteilen:

a) auf lateinische Verhältnisse zurückgehende Positionseinflüsse (zur lateinischen Graphie vgl. Müller-Lancé 2006: 71ff.): So wird /k/ vor /a,o,u/ im Spanischen <c> geschrieben (casa), vor /e/ und /i/ hingegen <qu> (quedar, quien); in Lehnwörtern findet sich auch <k> (kilómetro, kindergarten). Umgekehrt steht <c> vor /e/ und /i/ für /θ/ (cerdo, cintura). Ähnliches gilt für das Graphem <g>, das vor /a,o,u/ dem Phonem /g/ entspricht (gato, gordo), vor /e/ und /i/ hingegen /χ/ (Gerona, coger, giro). Vor /a,o,u/ wird das Phonem /χ/ mit dem Graphem <j> wiedergegeben (jardín, juego). Umgekehrt muss dann, wenn sich in Flexions- oder Derivationsparadigmen die Position ändert, auch die Graphie geändert werden, um die Phonem-Graphem-Korrespondenzen konstant zu halten: z.B. <tocar> [to'kar] ('berühren') vs. <toques> ['tokes] (2.Sg.Kj.) oder <voz> [boθ] ('Stimme') vs. <voces> ['boθes] (Pl.) (vgl. Meisenburg 1998: 50).

b) historisch-etymologisch begründete Inkonsequenzen: Für das Phonem /b/ wird analog zu den lateinischen Etyma graphisch zwischen <b> und <v> differenziert, ohne dass es dafür im Spanischen irgendeinen phonetischen Grund gäbe: beber [be'βεr] (< lat. BIBERE) vs. vivir [bi'βir] (< lat. VIVERE). Entsprechendes gilt für die Differenzierung zwischen <x> und <s> im Falle des Phonems /s/ wie in sp. escudar [esku'dar] 'schützen' (< lat. SCUTUM) vs. excusar [esku'sar] 'entschuldigen' (< lat. EXCUSARE). Daneben dient die graphische Unterscheidung von <b> und <v> auch zur Homonymendifferenzierung: [bo'tar] => votar 'wählen' vs. botar 'werfen' (vgl. Meisenburg 1996b).

Die genannten Beispiele diachronischer Tiefe sind aber Ausnahmen. Im Großen und Ganzen gilt für das Spanische, dass die eindeutigen Phonem-Graphem-Korrespondenzen deutlich überwiegen, so dass es für den Sprachenlerner, der die entsprechenden Korrespondenzregeln kennt, weder ein Problem darstellt, unbekannte gehörte Wörter korrekt zu schreiben, noch umgekehrt geschriebene Wörter korrekt "auszusprechen".



2.2 Ein "tiefes" Schriftsystem: Französisch

Ganz anders ist dies beim Französischen: Es fällt hier zwar relativ leicht, Geschriebenes in die korrekte Lautung zu übertragen (d.h. die Graphem-Phonem-Korrespondenzen sind relativ stabil; z.B. Jean, la gent, les gens, un agent de police aber: z.B. ils nagent), die umgekehrte Übertragung fällt jedoch deutlich schwerer (Raible 1991: 37).6




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Dies hat zunächst einmal phonologische Gründe: Das französische Phonemsystem ist im Vokalbereich z.B. durch die Nasalphoneme und die unterschiedlichen Öffnungsgrade deutlich komplexer als das spanische System. Hinzu kommen die ausgesprochen zahlreichen etymologischen Schreibungen, die ein Beleg dafür sind, dass die morphologische Ebene mindestens ebenso wichtig ist wie die phonologische Ebene – man spricht daher von einem Schriftsystem, das in die Tiefe geht.7 Selbst grundlegende grammatikalische Morpheme wie beispielsweise die Pluralmarkierung beim Verb (il change vs. ils changent) und das Plural -s der Nomina tauchen nur als Graphem, nicht aber als Phonem auf, wenn man einmal von den Sonderfällen der liaison absieht (z.B. les portes vs. les étoiles). Hier findet sich also besonders deutlich belegt, was Christian Stetter (1997: 42f.) die "grammatische Bearbeitung von Sprache durch die Orthographie" nennt.8

Nina Catach (1996: 1445ff.) unterscheidet daher innerhalb des französischen Schriftsystems drei Ebenen:

A) die flache Ebene der Phonogramme, also Schriftzeichen, die ähnlich wie im Spanischen ein Phonem wiedergeben (<a> für /a/, <i> für /i/, z.B. in papa, pipi);

sowie zwei tiefere grammatische Ebenen, bei denen synchronische und diachronische Tiefe schwer zu trennen sind, nämlich:

B) die Ebene der Morphogramme – hier geht es also um Schriftzeichen, die ein Morphem, d.h. eine ganze Bedeutungseinheit wiedergeben, ohne dass dieser ein Lautwert zukäme (grammatische Morphogramme sind z.B. das nominale Pluralmorphem -s in grand vs. grands oder das verbale Pluralmorphem für die 3. Person: elle aime / elles aiment; lexikalische Morphogramme sind z.B. das Adverbsuffix -ment im Unterschied zum Adjektiv/Partizip/Gerundium auf (m-)ant: chèrement / charmant. Auch die allein graphische Unterscheidung der aus lat. ad u. ab hervorgegangenen Präfixe, also die in z.B. associer (< spätlat. ASSOCIARE < AD + SOCIUS) vs. asocial (frz. a- < lat. AB + frz. social) bzw. assembler ('zusammenstellen, versammeln' < lat. ADSIMILARE) vs. asexuel ('geschlechtslos' < frz. a- < lat. AB + frz. sexuel) hat Morphogrammcharakter.

C) Logogramme, also Schriftzeichenkombinationen, die für ein ganzes Wort stehen und nicht von diesem Wort getrennt auftreten. Typischerweise sind diese Logogramme etymologisch oder zumindest historisch bedingt und dienen der Differenzierung von Homonymen: Bereits angesprochen wurde die Beispielreihe temps ('Zeit') : tend (3.Sg.Ind.Prs.Akt. v. tendre 'spannen') : tant ('so viel') : tan ('Gerberlohe')9 : taon ('Viehbremse')10 – sie alle stehen für die Lautfolge [tã].11 Ähnlich vieldeutig ist die Lautfolge [so]. Graphisch kann sie durch <sceau> ('Siegel'), <saut> ('Sprung'), <sot> ('dumm') und <seau> ('Eimer') wiedergegeben werden. Auch diese Graphien beruhen auf dem Etymologieprinzip: <sceau> erinnert an vulg.lat. SIGELLUM (KL: SIGILLUM); die vulgärlateinische Form wird zu afr. seel; ab dem 13. Jh. schrieb man <scel> bzw. <sceau>, um das Wort von seau ('Eimer') unterscheiden zu können (Bloch/Wartburg 1986). Die Schreibung <saut> geht auf lat. SALTUS, <sot> auf mittellat. SOTTUS 'dumm' und <seau> auf vulg.lat. *SITELLUS (KL: SITELLA) zurück – entsprechend finden wir im Spanischen zweisilbiges sello ('Siegel, Briefmarke') und salto ('Sprung').




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2.3 Versuch eines quantitativen Vergleichs

Es hat noch niemand versucht, die Unterschiede des spanischen und französischen Schriftsystems bezüglich des Parameters der Tiefe genau zu quantifizieren – man begnügte sich bisher damit, das spanische als ein flaches und das französische als ein tiefes System einzustufen. Vergleicht man nun genauer, welche Grapheme in diesen beiden Sprachen nur in flacher Verwendung und welche auch in tiefer, d.h. nicht phonographischer Verwendung vorkommen, so erhält man einen Eindruck davon, wie unterschiedlich die Schriftsysteme dieser beiden Sprachen hinsichtlich des Parameters der Tiefe sind.

In der mittleren Zeile von Tabelle 1 sind diejenigen einfachen Grapheme aufgeführt, die in beiden Schriftsystemen vorkommen. Der besseren Vergleichbarkeit halber werden bei den Ausgangsgraphemen die verschiedenen Digrapheme (<ch, ll, qu, mm, nn, rr, tt>)12 ebenso ausgespart wie die Diphthonge und diakritischen Zeichen (z.B. span. <ñ> oder frz. <é, è, ç>). In den Zeilen darüber und darunter ist aufgeführt, inwieweit das jeweilige Graphem in den beiden Sprachen flach oder tief verwendet wird.13 Tritt ein Graphem sowohl in flacher als auch in tiefer Verwendung auf, dann ist es in der Zeile "flach/tief" eingetragen.



Tabelle 1: Flache bzw. tiefe Verwendung der einfachen französ. und span. Grapheme


Im Folgenden werden die Einstufungen der einzelnen Grapheme mit Beispielen belegt. Da die ausschließlich flach verwendeten Grapheme keiner Erläuterung bedürfen – sie entsprechen ja mehr oder weniger einer phonologischen Transkription14 – werden dabei nur diejenigen Grapheme angesprochen, die entweder flach und tief oder aber nur in tiefer Verwendung auftreten. Dabei sind die Typen der Verwendung nicht vollständig aufgelistet; es reicht ja prinzipiell jeweils ein Beleg aus, um tiefe Verwendung nachzuweisen.



Französisch-Grapheme, die (auch) in tiefer Verwendung auftreten:

<a>: phonographisch, also flach für /a/, z.B. in papa;
  tief: für den nasalierten Vokal /ã/ vor Nasalkonsonant + Verschlusslaut15, z.B. in quand – hier hat es also den gleichen Lautwert wie <e> vor Nasalkonsonant + Verschlusslaut (z.B. vent < lat. VENTUM); ganz ohne phonographische Funktion steht <a> im Digraphem <au> für [o] chaud. Im ersten Fall soll das <a> an lat. QUANDO, im zweiten Fall an CALIDUS erinnern.




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<b>: flach für /b/, z.B. im Anlaut: Bertrand;
  ohne Lautwert, also tief, am Wortende nach Konsonant: plomb ('Blei') – erinnert an lat. PLUMBUM.
<c>: diesem Graphem kommt kein eigener, fester Lautwert zu, und es ist, anders als im Spanischen (<c> vs. <qu>), auch nicht nur eine Frage der Position, welcher Buchstabe gewählt wird. Das frz. Graphem <c> soll lediglich an lat. <c> erinnern und ist damit immer tief. Vgl. die Verwendungen:
  vor <a, o, u> für /k/, also mit dem gleichen Lautwert wie <qu>; vgl. quand < lat. QUANDO vs. camp < lat. CAMPUS 'Lager'16 ; das Graphem erinnert hier also an lat. <C>. Denselben Lautwert hat auch <k> (vgl. kilo);
  vor <e, i> mit dem gleichen Lautwert wie <s>; z.B. cerf ('Hirsch') – es erinnert also an lat. <c> in CERVUM, das <s> in servir hingegen an lat. SERVIRE.
<d>: flach für /d/, z.B. im Anlaut: dommage;
  tief, und zwar ohne Lautwert, am Wortende nach Konsonant: fond ('Hintergrund') – erinnernd an lat. FUNDUS.
<e>: flach für /ɘ/ wie in premier;
  tief: teils für /a/ (femme – erinnernd an lat. FEMINA), teils für Schwa (instable), teils ohne Lautwert (ils arrivent); es kann für den Nasalvokal /ã/ vor Nasalkonsonant + Verschlusslaut stehen und damit den gleichen Lautwert haben wie <a> vor Nasalkonsonant + Verschlusslaut (vgl. vent < VENTUM vs. quand < QUANDO; s.o.). Teils steht es für offenes /ε/, und zwar auch ohne Accent grave, z.B. in est [εst] 'Osten'.
<f>: flach für /f/, z.B. im Anlaut: force;
  tief: z.B. als etymologischer Digraph <ff> ohne lautliche Unterscheidung zum einfachen Graphem <f>: effectuer vs. fils, also jeweils für /f/ – erinnernd an lat. EFFECTUS.
<g>: flach für /g/, z.B. im Anlaut vor /a, o, u/: guérir;
  tief: vor /e, i/ gleicher Lautwert wie <j>, nämlich [ӡ]: z.B. geste, erinnernd an GESTUS.
<h>: steht immer ohne Lautwert – z.B. l'humanité /lymani'te/, erinnernd an HUMANITAS –, verhindert lediglich in bestimmten Fällen die Elision (la haine) => immer tief.
<i>: flach für /i/, z.B. in épinard;
  tief: für das Nasalphonem /ε̃/ z.B. im Auslaut vor Nasalkonsonantengraphem (z.B. fin – erinnernd an lat. FINIS); im Digraphem <oi> ohne Lautwert (z.B. foi 'Glaube': [fwa]).
<l>: flach für /l/, z.B. im Anlaut: luxe;
  tief: teilweise ohne Lautwert, z.B. in fils 'Sohn' /fis/ (erinnernd an lat. FILIUS); im Digraphen <ll> ohne doppelten Lautwert (intelligence: [l] – erinnernd an lat. INTELLEGERE) oder mit völlig verändertem Lautwert (fille: [j]).




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<m>: flach für /m/, z.B. im Anlaut: mois;
  tief: im Digraphen <mm> ohne doppelten Lautwert (z.B. emmener 'herbringen' vs. amener 'mitnehmen': beide /m/; die graphische Unterscheidung erklärt sich durch Zurückgehen auf vulg.lat. *IMMINARE vs. *ADMINARE); nach Nasalvokal ohne Lautwert: z.B. faim für /fε̃/ – hier erinnernd an lat. FAMES.
<n>: flach für /n/, z.B. im Anlaut: nuit;
  tief: im Digraphen <nn> ohne doppelten Lautwert (vgl. panneau 'Schild' < vulg.lat. *PANNELLUS vs. moineau 'Spatz' < MONACHUS, beide für /n/ – hier also in Anlehnung an die lat. Schreibungen); Lexeme wie ennemi, étonner und ennuyer werden jedoch trotz der Etyma lat. INIMICUS, vulg.lat. *EXTONARE und spätlat. INODIARE im Frz. mit <nn> geschrieben; ebenfalls tief ist die Verwendung von <n> ohne Lautwert nach Nasalvokal: ton /tɔ̃/ – erinnernd an lat. TONUS.
<o>: flach für /o/, z.B. im Auslaut: bistro (ebenso toleriert: <bistrot>);
  tief: im Digraphem <ou> mit verändertem Lautwert /u/ (cour); weiterhin vor Nasalkonsonant + Verschlusslaut oder am Wortende mit nasaliertem Lautwert als /tɔ̃/: ton, tonton ('Onkel'). Zu beachten ist auch die starke Variabilität des Lautwerts in Bezug auf den Öffnungsgrad in Abhängigkeit von der lautlichen Umgebung: port [ɔ] vs. tonique [o].
<p>: flach für /p/, z.B. im Anlaut: Paul;
  tief: am Wortende und in bestimmten Konsonantenkombinationen stumm (loup 'Wolf', temps; jeweils erinnernd an lat. LUPUS und TEMPUS), im Digraphen <pp> ohne doppelten Lautwert: enveloppe vs. salope.
<r>: flach für das Phonem /ʀ/ ("uvulares r"), z.B. im Anlaut: rue;
  tief: z.B. im Digraphen <rr> ohne doppelten Lautwert (vgl. arrête 'halt an!' < vulg.lat. ARRESTARE vs. arête 'Gräte' < lat. ARISTA; beide /aʀεt/). Die unterschiedliche Schreibung ist also zum einen etymologisch bedingt und dient zum anderen der Homonymendifferenzierung – lautlich ist sie nicht zu rechtfertigen.
<s>: flach für /s/, z.B. im Anlaut: salon;
  tief: am Wortende meist ohne Lautwert und nur zur Erinnerung an die lat. Entsprechungen, z.B. viens /vjε̃/ < lat. VENIS, poids /pwa/ < lat. PONDUS; dagegen mit Lautwert z.B. in fils /fis/. Im Digraphen <ss> steht es ohne doppelten Lautwert: s'asseoir; intervokalisch entspricht es dem stimmhaften /z/: chaise (dann also gleicher Lautwert wie <z>: zéro).
<t>: flach für /t/, z.B. im Anlaut: tôt (/to/);
  tief: am Wortende meist ohne Lautwert und lediglich etymologisch bedingt, z.B. vent < lat. VENTUS, teilweise aber auch zur Homonymendifferenzierung, z.B. court 'kurz' < CURTUS vs. cour 'Hof' < CURIA/COHORTEM,17 beide /kuʀ/); im Digraphen <tt> ohne doppelten Lautwert: z.B. attendre < lat. ATTENDERE vs. atelier < spätlat. ASTELLA.




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<u>: flach für [y], z.B. im Anlaut: urbain;
  tief: im Digraphem <ou> mit verändertem Lautwert /u/ (vgl. cour 'Hof' vs. cure 'Heilung', 'Kur'), vor Nasalkonsonant für nasaliertes [œ̃]: lundi; nach <q> ohne Lautwert: quand /kɑ̃/ in Erinnerung an lat. QUANDO.
<w>: in englischen Lehnwörtern für [w]: water-polo, week-end, also gleicher Lautwert wie der traditionelle Digraph <ou> vor Vokal (ouate [wat], ouest [wεst]); ansonsten für [v] (wagon, wallon), also gleicher Lautwert wie <v>; dem Graphem <w> kommt demnach kein eigener Lautwert zu => immer tief.
<x>: flach für /ks/, z.B. im Anlaut von Gräzismen wie xénophobe;
  tief: am Wortende als Pluralmorphem immer "stumm": les feux, les chevaux.
<y>: flach für den Halbkonsonanten /j/, z.B. in il y a; unter bestimmten Umständen kann mit demselben Lautwert aber auch der Digraph <ll> stehen, vgl. fille;
  tief: als Vokalgraphem kommt <y> derselbe Lautwert zu wie <i>: hyper /i'pεʀ/.
<z>: flach für /z/, z.B.am Wortanfang (z.B. Zénith);
  tief: ohne Lautwert z.B. am Wortende (regardez).



Spanisch-Grapheme, die (auch) in tiefer Verwendung auftreten:

<b>: Eine völlig flache Verwendung mit dem Lautwert [b] liegt nur vor und nach Konsonant vor, z.B. emblema: [em'blema] 'Kennzeichen'; embarcar: [embar'kar] 'einschiffen';
  tief: Im Anlaut wird <b> gleichfalls als Verschlusslaut [b] (barco), intervokalisch jedoch als Reibelaut [β] realisiert (haba 'Bohne'); in beiden Fällen konkurriert es aber mit dem Graphem <v>, das identische Lautwerte aufweisen kann, vgl. beber: [be'βer], vivir: [bi'βir]). <v> und <b> dienen also in diesen Beispielen nur der Erinnerung an lat. BIBERE bzw. VIVERE. Anzumerken ist, dass es sich bei [b] und [ß] nicht um zwei Phoneme, sondern um Allophone eines Phonems /b/ handelt – es gibt also keine Minimalpaare, in denen dieser lautliche Unterschied auch bedeutungsdifferenzierend wäre.
<c>: hat vor /e, i/ den Lautwert /θ/, z.B. ciego 'blind', also denselben wie das Graphem <z> (z.B. zona). Vor /a,o,u/ steht <c> für /k/, z.B. casa /'kasa/, weist also denselben Lautwert auf wie das Digraphem <qu>, das vor /e, i/ als graphisches Zeichen für /k/ verwendet wird, z.B. queso /'keso/. Aus der umgekehrten Perspektive steht <qu> immer für /k/ und <z> immer für /θ/, es handelt sich dort also um zwei flache Korrespondenzen. <c> hingegen hat zwei verschiedene, nicht-eigene Lautwerte und wird nur deshalb verwendet, weil es an lat. CAECUS bzw. CASA erinnert; beide Verwendungen von <c> sind also tief.




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<d>: flach für /d/ z.B. im Anlaut: deseo;
  tief z.T. im Auslaut, wo es häufig ohne Lautwert steht: verdad, Madrid [Ma'dri(δ)], voluntad [bolun'ta(δ)].
<g>: flach vor /a, o, u/, also z.B. in gato /'gato/;
  tief: vor /e, i/ mit dem Lautwert /χ/, z.B. general /χene'ral/, also mit demselben Lautwert wie <j>, das immer denselben Lautwert hat und damit seinerseits flach ist, z.B. Juan.18
<h>: wird durchweg ohne Lautwert verwendet, z.B.: hijo (vgl. Beispiele aus 2.1) => immer tief.
<u>: flach für /u/, z.B. in muro;
  tief nach <g> vor <i,e> in der Funktion eines diakritischen Zeichens zur Garantierung der /g/-Aussprache: Miguel /mi'gel/.
<v>: flach im Inlaut für [β], z.B. in uva 'Traube' ['uβa];
  tief: im Anlaut deckungsgleich mit einem Lautwert von <b>, nämlich [b]: z.B. vaso /'baso/ < VAS(UM) vs. baño: /'baɲo/ < BALNEUM.
Die Grapheme <v> und <b> haben also identische Lautwerte und werden ausschließlich nach der Etymologie verwendet. Die Entscheidung, welcher der beiden Lautwerte jeweils der flachen Verwendung entspricht, ist eigentlich willkürlich und orientiert sich hier an der lateinischen Verwendung: <b> für den Verschlusslaut und <v> für den Reibelaut.19
<w>: wird nur für den Anlaut von Lehnwörtern verwendet, der Lautwert variiert dabei stark. Zwei dieser Anlaute werden im Spanischen ausschließlich durch <w> verschriftet: [w] wie in windsurfing /'windsurfiɳ/ und [v] wie in Waterloo /'vatεrlo/. Es wäre nun Willkür festzulegen, welche dieser zwei Verwendungen die flache Verwendung ist – im Gegenzug ist jedenfalls die andere Verwendung tief (es kann ja immer nur eine phonographische Verwendung geben).
Ebenfalls tief ist die Verwendung von <w> für [gw] wie in western /'gwestεrn/ – es konkurriert ja z.B. zur Schreibung <gu> wie in guapo /'gwapo/; der vierte Lautwert von <w> ist [b] wie in water 'WC': /'batεr/; dieser Lautwert ist also mit dem von <v> bzw. <b> im Anlaut identisch und entspricht daher gleichfalls einer tiefen Verwendung.
<x>: flach für [ks], z.B. in Extremadura;
  tief für [s] (z.B. excusar), außerdem gelegentlich für [χ] (México).
<y>: phonographisch, also flach für /j/ (ya, yogur);
  tief: als vokalisches Logogramm y für 'und' mit dem Lautwert /i/, der üblicherweise mit <i> verschriftet wird.

Zu beachten ist, dass die Tiefe eines Schriftsystems immer mit der jeweiligen regionalen Varietät des Phonemsystems zusammenhängt: Aus Sicht der lateinamerikanischen Spanisch-Varietäten ist beispielsweise die spanische Graphie tiefer als aus Sicht des kastilischen Spanisch: im Rahmen des in Amerika verbreiteten Seseo wurde ja die phonologische Opposition von /s/ und /θ/ aufgegeben (z.B. casa vs. caza => ['kasa]), im Rahmen des Yeísmo die Opposition von /ʎ/ vs. /j/ (z.B. calló 'er schwieg' von callar vs. cayó 'er fiel' von caer => [ka'jo]. In der Graphie hingegen wird die Opposition weiter eingehalten: <ll> vs. <y> und <c>/<z> vs. <s>. Also ein eindeutig tiefer Zug.20




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Versucht man nun, mit Tabelle 1 (s.o.) den Parameter der Tiefe für das Spanische Kastiliens und das Standardfranzösische näherungsweise zu quantifizieren, so kommt man zu folgendem Ergebnis: Im Französischen werden lediglich 3 von 25 einfachen Graphemen ausschließlich flach verwendet, im Spanischen sind es immerhin 15 von 25 – das französische Schriftsystem wäre nach diesem Kriterium also genau fünfmal so tief wie das spanische System. Bei den ausschließlich tief verwendeten Graphemen ist die Diskrepanz geringer, auch hier "führt" aber das Französische. Würde man auch noch die komplexeren Grapheme hinzuzählen, also beispielsweise graphische Doppelkonsonanten und Diphthonge, so würde sich der Abstand weiter vergrößern. Insgesamt scheint ein Faktor 5 realistisch, um den das Orthographiesystem des Gegenwartsspanischen flacher ist als das des Gegenwartsfranzösischen.

Der so ermittelte Abstand kommt auf dem Übersichtsschema (Abb.1) am Ende des Artikels zur Geltung: Am rechten Rand des Schemas sehen Sie den heutigen Stand der beiden Graphiesysteme. Die vertikale Achse steht für den Parameter der Tiefe,21 die horizontale Achse für die Zeit. Sie beginnt allerdings nicht bei 0, sondern bei 800 n.Chr., einem Zeitpunkt, zu dem man den Beginn der romanischen Verschriftung ansetzen könnte (karolingische Renaissance). Die obere Fieberkurve steht für das Französische, die untere für das Spanische. Die jeweiligen Anfänge der Kurven sind so lange gestrichelt, bis die ersten uns erhaltenen schriftlichen Zeugnisse dieser Sprache auftreten. Für das lateinamerikanische Spanisch habe ich eine zusätzliche Linie eingezogen.

Das Schema zeigt auf den ersten Blick, dass der Abstand der beiden Schriftsysteme in Bezug auf den Parameter der Tiefe nicht immer so groß war wie heute. Im Folgenden geht es darum, wie diese gravierenden Unterschiede entstanden sind.22 Hierzu soll auf die wichtigsten Etappen der französischen und spanischen Orthographiegeschichte eingegangen werden.



3 Ursachen der Entstehung unterschiedlicher Systeme

3.1 Anfänge der Verschriftung (8.–11. Jh.)

Da sowohl das Französische als auch das Spanische ein keltisches bzw. keltiberisches Substrat zur Grundlage haben und beide Länder – oder genauer: deren südliche Provinzen – in der Hochzeit des Imperium Romanum regen Austausch mit Rom aufwiesen, kann das Latein dieser Regionen damals noch nicht sehr unterschiedlich gewesen sein.23 Entscheidend für die sprachlichen Unterschiede war vielmehr der Einfluß der Superstratsprachen nach Zusammenbruch des Römischen Reiches: Hier hat sich das Fränkische in Frankreich deutlich stärker ausgewirkt als das Westgotische in Spanien.

Was Lautung und Graphie angeht, hat sich die unterschiedliche Wirkung der Superstratsprachen zunächst allerdings wenig bemerkbar gemacht: Sowohl im frühen Altfranzösischen des 9. Jahrhunderts (Straßburger Eide: 842, Eulaliasequenz: ca. 880) als auch im frühen Altspanischen des 10. Jahrhunderts (Nodicia de Kesos, Glosas Emilianenses/Silenses: ca. 980 n.Chr.) liegen teilweise gleiche Lautentwicklungen vor, die sich schwerlich phonographisch mit den Buchstaben des lateinischen Alphabets darstellen ließen:24 Die Probleme waren also weitgehend identisch, die graphischen Lösungen zumindest ähnlich. Dies zeigt Tabelle 2:25




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  Neue Laut-
entwicklung
Altfranzösische Graphie Altspanische Graphie
Diph-
thonge26
/ié/ <ie> ciel <i, ie, ie> timpo, mircoles, miercoles
/uó/, asp. /ué/ <uo> buona <u, ue, ue> funt, spueras, spueras
Zisch-
laute27
/tʃ/ <ch> chief <g, gg, i, ih, x, cc, chi ...> nog, contradiggo
/dʒ/ (asp. auch ʒ) <g, e, i> getterent, eo/io (>je) <g, gg, i, j, y, gi, ch ...> conceggo, conceio
/ts/ <z> piez <z, ç> poza, poça, pozo
mouillierte
Laute28
/ɲ/ <gn, ng, ign, ing> degnet <nn, nj, gn> anno, senjor, cugnato
/ʎ/ <ll, ill, l> conselliers, moiler <ll, l> caballo, strela

Tabelle 2: Graphische Lösungen für gemeinsame Lautentwicklungen im frühen Afrz. und Asp.


Darüber hinaus kamen im Altfranzösischen an Problemen vor allem die neu entstandenen Nasalvokale und das e-muet hinzu: Erstere wurden gar nicht besonders markiert, letzteres in zahlreichen Variationen, z.B. allein in den Straßburger Eiden als <e>, <o> oder <a>: fradre, fradra, nostro.29 Im Altspanischen kamen als Schwierigkeiten weitere Zischlaute wie [ʃ] und [dz] hinzu, für die es jeweils verschiedene Schreibvarianten gab.30

Die Anfangsphase der beiden Schriftsysteme ist also geprägt von "Gemeinsamkeiten" (vgl. Meisenburg 1989: 252ff.). Das altfranzösische System ist dabei etwas weniger flach als das altspanische System, da es völlig darauf verzichtet, die neuen Nasalvokale graphisch zu repräsentieren.31 Dies kommt auch in der Übersichtsgrafik zur Geltung (Abb. 1). In jedem Falle haben wir es am Anfang in beiden Sprachen mit einer Phase des Experimentierens zu tun, in der das Bemühen um phonographische Lösungen im Vordergrund steht.



3.2 Standardisierung der volkssprachlichen Orthographie (12./13.Jh.)

Im 12./13. Jh. herrscht nach Ansicht einer Richtung der französischen Orthographieforschung in Nordfrankreich ein zunehmend vom Franzischen geprägtes, relativ einheitliches Schriftsystem vor, das dem frühen Aufschwung der Literatur entspricht und deutlich phonographische Züge hat ("le bel françois"). Typisch hierfür seien die graphische Nichtberücksichtigung verstummter Laute (z.B. <eriter> für /erite/ statt nfrz. <hériter> < HEREDITARE), die Anpassung von Schriftzeichen an veränderte Lautungen (ansanble, premieremant) und der Verzicht auf Homonymendifferenzierung (z.B. eine einzige Schreibung <mes> für die Entsprechungen von nfrz. mais (< MAGIS), mes (< MEOS) und mets (< MITTIS)) (Beinke/Rogge 1990: 473f.). Erst ab dem 14. Jh. hätte demnach der phonographische "Sündenfall" (Cerquiglini 1996) begonnen.




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Dass das 12./13. Jh. zum Idealbild einer phonographischen Schreibung hochstilisiert wurde, ist allerdings v.a. dem Urteil von Beaulieux (1927) zu verdanken, der sich wiederum v.a. auf die vom Schreiber Guiot kopierten Schriften des Chrétien de Troyes stützte.32 Meisenburg (1996: 83) zeigt jedoch, dass auch in dieser frühen Phase die Morphosemantik bereits eine Rolle in der Graphie spielte: So wurde <cort> 'kurz' (< CURTUM) im Plural mit dem Affrikatazeichen <z> geschrieben, obwohl das -t- zu dieser Zeit bereits verstummt war: <corz> = /kors/. Das Zeichen für den einfachen Sibilanten <s> wäre also phonographisch korrekter gewesen. Entsprechend wurde afr. pie im Plural trotz Verstummen des Dentallauts immer noch mit <z> geschrieben (<piez>), wohl um an lat. PEDES zu erinnern.

Im Spanien des 12./13. Jahrhunderts liegt durch die Reconquista und die damit verbundene frühe kastilische Sprachendominanz weniger dialektale Vielfalt vor als in Frankreich, wo das Standardfranzösische erst im 19.Jh. mit Einführung der Schulpflicht (Jules Ferry) die primären Dialekte verdrängt. Hinzu kommt im Spanischen eine frühere Fixierungs- und Einigungstendenz, was die Graphie betrifft: Sie wird zumeist zurückgeführt auf das Wirken von Ferdinand III (1217–1252) und Alfons dem Weisen (1252–1284), unter denen das Lateinische als Urkundensprache weitgehend vom Kastilischen ersetzt wurde.33

Trotz dieser Vereinheitlichungstendenzen kann nicht von einer 1:1-Phonographie die Rede sein: Hiergegen sprechen die Nichtberücksichtigung der Betonungsverhältnisse in der Graphie (vgl. asp. <perdono> für nsp. perdono (1.Sg.Präsens) und perdonó (3.Sg.Präteritum) (nach Meisenburg 1996: 210), mehrdeutige Phonem-Graphem-Korrespondenzen (z.B. /ʒ/ verschriftet durch <j> und <g>: <fijo>, <coger>) aber auch einige Unregelmäßigkeiten, wenn man die Graphien unterschiedlicher Texte vergleicht: <cerca/çerca>, <siete/ssiete>, <rey/rrey>, <alfonso/alffonso/alfonsso>.34



3.3 Lautliche Weiterentwicklung, Relatinisierung und Buchdruck (14.-16.Jh.)

Im Mittelfranzösischen (14.-16.Jh.) wird eine Tendenz fortgesetzt, die schon im Altfranzösischen spürbar war und die es deutlich vom Spanischen absetzt: Gemeint ist die ursprünglich durch starken fränkischen Druckakzent hervorgerufene lautliche Verkürzung der Wörter, die jetzt v.a. durch den Schwund von Auslaut-Schwa, Vokalkontraktionen und Konsonantenschwund fortgesetzt wird. Begleitet wird sie von Phänomenen wie Monophthongierung, Phonologisierung der Nasalvokale und Palatalisierung (Meisenburg 1996: 85). Wie stark sich die Verkürzung der lateinischen Wörter gerade auf die französische Wortgestalt auswirkt, zeigt Tabelle 3:35

Latein Italienisch Spanisch Portugiesisch Französisch
QUINQUE
'fünf'
cinque cinco cinco cinq
SINUM
'(Meer-)Busen'
seno seno seno 'Sinus' sein
SANUM
'gesund'
sano sano são sain
SANCTUM
'heilig'
santo santo santo saint
SIGNUM
'Zeichen'
segno seña 'Erkennungszeichen'36
(signo 'Vorzeichen')
senha seing 'Unterschrift'37
(signe 'Zeichen')

Tabelle 3: Wortverkürzung im Französischen




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Die Tabelle zeigt, dass im Französischen durch die Beibehaltung der alten, mehr oder weniger etablierten Graphie zwangsläufig zahlreiche "stumme" Schriftzeichen entstehen – alle aufgeführten Lexeme lauten ja schlicht /sε̃/; durch die Verkürzung der Wörter entstehen im Französischen obendrein deutlich mehr Homonyme als im Spanischen (vgl. das Beispiel oben zu /sε̃/)38. Die stummen Schriftzeichen helfen nun, diese Homonyme zu differenzieren. Der fränkische Einfluß ist also indirekt doch stark verantwortlich für das etymologisierende französische Schriftsystem.

Zusätzlich erhält die Graphie morphologische Relevanz: viele Flexionsformen sind durch den Ausfall von Auslaut-s nur noch in der Graphie zu unterscheiden,39 neu hinzugefügte stumme etymologische Konsonanten heben den lateinischen Charakter des Französischen hervor (afrz. <cors> > mfrz. <corps> (CORPUS); lautlich jeweils [kɔr]. Die Neueinfügung solcher Konsonantengrapheme war problemlos möglich, weil man sich längst daran gewöhnt hatte, dass graphische Auslautkonsonanten (wie bei <cors>) und zahlreiche Silbenauslaute (z.B. <estre> [ε:trɘ]) beim Lesen ohnehin stumm blieben. Diese Relatinisierungen stärkten einerseits die Leserfreundlichkeit und "adelten" andererseits das sich gegenüber dem Lateinischen emanzipierende Französisch durch Betonung seiner Herkunft; vgl. Neugraphien wie <doulce> (DULCEM), <temptation> (TEMPTATIONEM), <faicte> (FACTA) (Meisenburg 1996: 105).

Aus der flachen Graphie des frühen Altfranzösischen wird nun also eine tiefe Graphie, die gerade durch ihren Traditionalismus ausgesprochen leserfreundlich ist (Meisenburg 1996: 95). Die bereits deutlich angewachsene Leserschar40 dürfte ihren Teil dazu beigetragen haben, dass dieses relatinisierte Schriftsystem weitgehend beibehalten wurde.41 Zur Zeit des Buchdrucks (16. Jh.) ging es dann eher darum, diese Orthographie zu vereinheitlichen als darum, sie zu reformieren (Raible 1991: FN 54).42

Im Spanischen gibt es im 13.-16. Jh. weder auf der phonetischen noch auf der graphischen Seite Entwicklungen, die auch nur annähernd den Veränderungen im Mittelfranzösischen entsprächen. Entsprechend wird üblicherweise in der Periodisierung des Spanischen vom Altspanischen direkt zum Spanischen des Siglo de Oro (womit das 16./17. Jh. gemeint ist), übergegangen.43 Letztere Periode wird neuerdings vor allem in der deutschsprachigen Hispanistik auch als "Mittelspanisch" bezeichnet (Bollée/Neumann-Holzschuh 2003: 81).

Die Relatinisierungswelle machte allerdings auch vor Spanien nicht Halt: So wird das schon zu römischen Zeiten verstummte lateinische h- im 15. Jh. immer häufiger geschrieben: z.B. jetzt z.B. <humilde> vs. früher <umilde>.44 Weiterhin wird die Imperfektendung der a-Konjugation, die im Altspanischen mit <v> geschrieben worden war (AMABAM > amava), nun in Anlehnung an das Lateinische wieder mit <b> geschrieben (amaba), ohne dass damit eine lautliche Veränderung einherging. Die in Sachen Orthographie grundsätzlich konservativen Buchdrucker hatten in Spanien wegen des geringeren Buchmarktes weniger Bedeutung und damit weniger Gewicht in der Orthographiediskussion als z.B. in Italien und Frankreich. Entsprechend übernahmen sie im Wesentlichen das vorliegende System mit all seinen Unregelmäßigkeiten, ohne regulierend einzugreifen.




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Ein Blick auf das Übersichtsschema zeigt, wie extrem die beiden Schriftsysteme zwischen 1300 und 1500 auseinanderdriften, wenngleich auch in Spanien im 15. Jh. der Relatinisierungseinfluss deutlich wird (vgl. Abb.1 am Ende des Artikels).



3.4 Sprachlenkung/Reformversuche (16./17./18. Jh.)

Im 16. und 17. Jahrhundert verlangsamt sich in Frankreich der Lautwandel deutlich.45 Dies gibt Gelegenheit, die Graphie nun zumindest insofern zu reformieren, dass aus der Schreibung die Lautung deutlicher hervorgeht – es geht also um die Leseregeln. Hierzu bedurfte es einer weiteren Ausdifferenzierung des Graphemsystems: So wurde in einer von de Tournes verlegten Marot-Ausgabe von 1558 erstmals systematisch zwischen den Graphemen <i/j> und <u/v> unterschieden: suivant, vous. Zusätzliche Ausdifferenzierung wurde durch systematisches Hinzufügen diakritischer Zeichen und Apostrophe erreicht:46 So wendet beispielsweise der Drucker Geoffroy Tory 1549 in der zweiten Auflage seiner sprachtheoretischen Schrift Champ fleury nicht nur Akzente (<volunté> statt <volunte> in der Erstauflage von 1529) und die Cedille (<façon> statt <facon>) sondern auch Apostrophe an (<n'avons point d'accent> statt <navons point daccent>), was das Erkennen der Wortgrenzen und damit das Lesen enorm erleichterte (Beinke/Rogge 1990: 478).47

Was die Leseregeln angeht, so wird die französische Orthographie in dieser Zeit also ein wenig flacher (Meisenburg 1996: 126). Dies gilt aber nicht für die Schreibregeln (Phonem-Graphem-Korrespondenzen): Hier werden v.a. im 16. Jh. noch zahlreiche etymologische und pseudo-etymologische Konsonanten hinzugefügt, die teilweise gleich im 17. Jh. wieder entfernt werden.48 Es geht bei diesen neu eingeführten etymologischen Buchstaben weniger um die Markierung morphologischer Zusammenhänge, sondern schlicht darum, den betreffenden Wortschatz als "gelehrt" zu markieren – es handelt sich also um rein diachronische, nicht um synchronische Tiefe: z.B. <littéraire> (LITTERARIUS), <quotidien> (QUOTIDIANUS), <auiourdhui> (HODIE) (Meisenburg 1996: 163).

Eine neue Qualität des Orthographiewandels bringt das 17. Jh. mit der staatlichen Sprachlenkung, die v.a. von der Académie Française (1635 durch den leitenden Minister Richelieu auf der Basis eines schon zuvor existierenden Gelehrtenzirkels gegründet) ausgeübt wurde. Es entsteht eine "orthographe d'Etat" (Catach). 1694 erschien das erste Wörterbuch der Académie, mit dem nach Cerquiglini (1996) die Geschichte der frz. Orthographie bereits besiegelt war. Die Académie entschied sich nämlich für eine konservative Grundhaltung, die zwar einige der Neuerungen des 16. Jahrhunderts aufgriff (<i/j> und <u/v>-Unterscheidung, Verzicht auf <ng> im Auslaut wie bei un, tesmoin), aber die zahlreichen "stummen" Konsonantengrapheme weitgehend beibehielt (sçavoir, admiral, escrire), vor allem dann, wenn sie der Differenzierung von Homonymen dienten (z.B. chant vs. champ).49 Einige dieser "stummen" Buchstaben wurden allmählich sogar gesprochen ("spelling pronounciation"), z.B. in adjoindre, admettre, admirer, und blieben bis heute in Phonie und Graphie erhalten. In anderen Fällen, z.B. adjourner, advenir, advertir, blieben die Buchstaben ohne lautliche Entsprechung und wurden später wieder getilgt (Beinke/Rogge 1996: 488).




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Zunächst war aber das Académie-Wörterbuch von 1694 weniger erfolgreich als einige Publikationen in reformierter Schreibweise. Deren reformierte Orthographie wurde Anfang des 18. Jh. in 2/3 aller Drucke angewandt, so dass die Académie beschloss, für die Ausgabe des Wörterbuchs von 1740 diese "nouvelle orthographe" selbst anzuwenden. Erst mit der 6. Ausgabe von 1835 wurde das Académie-Wörterbuch zur präskriptiven Instanz für die Schreibung in Schule, Verwaltung und Publikationen (Meisenburg 1996: 183ff). Dennoch kann man sagen, dass sich im 17. Jh. in Frankreich endgültig das leserfreundliche morphologisch-semantische Prinzip durchgesetzt hat (vgl. Raible 1991: 35). Dabei werden morphologisch-semantische Einheiten gleich oder ähnlich geschrieben, obwohl sie von der Lautung her verschieden sein müßten (vgl. dt. BaumBäume statt <Boime> oder neuerdings Aufwandaufwändig).

Spanisch:
Das Spanische des 16. Jahrhunderts wurde anfangs in dem recht locker gehandhabten Schriftsystem geschrieben, das schon im 13. Jh. zum Standard geworden ist.50 Allerdings setzten sich mit zunehmender Verbreitung des Buchdrucks Lesehilfen wie Wortabstände und Interpunktion durch. Die Lautveränderungen des 16. Jahrhunderts blieben aber in der Schreibung zunächst unberücksichtigt: Dies gilt beispielsweise für den Zusammenfall der stimmhaften und stimmlosen Lautpaare /z/ und /s/, /ʒ/ und /ʃ/, /dz/ und /ts/, das Verstummen von anlautendem /h-/ (aus lat. /f-/) und den Zusammenfall von /b/ und /v/. Die Diskrepanz von Aussprache und Schrift wurde also größer. Zu den vorhandenen Alternanzen <q-k-c>, <g-j>, <u-v>, <i-j-y> waren ja jetzt noch die neuen Alternanzen <b-v>, <s-ss>, <c-ç-z> und <g-j-x> hinzugekommen (Schmid 1992: 422). Insbesondere in Lateinamerika entstand durch die Ausbreitung von Seseo und Yeísmo ein neuer phonetischer Standard mit größerer Distanz zur Graphie. Indizien hierfür sind zahlreiche Schreibfehler bei den Sibilanten – so z.B. quinse, desyr (anstelle von asp. quinze, dezir bzw. nsp. quince bzw. decir).51

Anders als im Französischen lieferten aber die Mehrdeutigkeiten der Phonem-Graphem-Korrespondenzen im spanischen Schriftsystem keine zusätzlichen inhaltlichen Informationen, sie waren also nicht funktional. Ähnlich wie in Frankreich gab es nun zahlreiche Reformvorschläge von Grammatikern52 und Druckern, die aber teils uneinheitlich waren – und das, obwohl sich alle auf das Quintilians-Prinzip beriefen –,53 teils auf Widerstand stießen und sich nicht flächendeckend durchsetzen konnten (Schmid 1992: 420f.).

Dieser Streit zwischen Reformern und Traditionalisten dauerte im 17. Jh. an: Mateo Alemán (Ortografía Castellana, 1609, Mexico) und Gonzalo Correas (1630) schlagen zur Versöhnung von Schreibung und Aussprache vor, sich weitgehend von der lateinischen Schreibung zu lösen: So umgeht Correas beispielsweise die <c-qu>-Alternanz durch konsequente Verwendung von <k> für /k/; daneben gibt er die phonologisch ohnehin obsolet gewordene Unterscheidung von <s> und <ss> auf. Alemán propagiert z.B. die heutige Verteilung von <qu> vor /e,i/ und <c> vor /a,o,u/ für das Phonem /k/, sowie die Trennung von <g> (nur für /g/) und <j> (nur für /χ/). Diesen Reformern stehen Traditionalisten wie Juan de Robles und Gonzalo Bravo Grajera gegenüber, die der Ansicht sind, die zeitgenössische Lautung sei zu instabil und korrupt, um sie zur Richtlinie der Schreibung zu machen (Schmid 1992: 420f.).




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Erst im 18. Jahrhundert wird der Streit beigelegt: Die zentrale Rolle hierbei spielt die Real Academia Española (RAE), die 1713 nach französischem Vorbild gegründet wurde, unter anderem mit dem Ziel, die Orthographie zu vereinheitlichen.54 Zunächst, d.h. z.B. in der ersten Ausgabe ihres Diccionario de Autoridades von 1726, ist sie, wie ihr französisches Vorbild, noch stark dem Etymologieprinzip verpflichtet. Beispielsweise bleiben die "griechischen" Digraphen <ph>, <th>, <ch> etc. erhalten oder werden wieder eingeführt, und es wird je nach lateinischem Etymon zwischen <cu> und <qu> unterschieden: qual (< QUALIS), quatro (< QUATTUOR) vs. cuenta (< COMPUTARE), cueva (< CAVUS bzw. vulg.lat. *COVUS). Immerhin versucht man aber bereits, durch eine Akzentregelung die Betonungsverhältnisse eindeutig abzubilden. Man greift damit ein Hilfsmittel auf, das schon Nebrija und Valdés angewandt hatten (Meisenburg 1996: 236f.). Die starke öffentliche Diskussion in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts führt dann aber dazu, dass die Real Academia ihre etymologische Grundhaltung ändert und versucht, die drei Prinzipien Phonetik-Tradition-Etymologie (pronunciación-uso-razón) miteinander zu verbinden. Dies wird schon an der Schreibung der Titel der verschiedenen Ausgaben ihrer Orthographie-Regelwerke deutlich:

1741: 1. Ausgabe: Orthographía
1754: 2. Ausgabe: Ortografía

Trotz der Aufgabe der hellenistischen Buchstaben bleiben einige Inkonsequenzen wie die graphische Unterscheidung von <b/v> und die von <cu/qu> nach wie vor bestehen. Ihre Verteilung richtet sich nach den ursprünglichen lateinischen Verhältnissen. Erstere Inkonsequenz besteht bis heute, letztere bis zur 8. Ausgabe der Ortografía von 1815. Neu zum Alphabet hinzu kommen 1754 die Digrapheme <ll>, <ch> und <ñ>, nicht aber <rr>. Erst in der 3. Ausgabe von 1763 wird die lautlich längst obsolete Unterscheidung von <s> und <ss> aufgegeben. In der 8. Ausgabe der Ortografía von 1815 werden die letzten entscheidenden Veränderungen vorgenommen: Für /k/ werden <c> und <q> in der heutigen Distribution verwendet (d.h. <qu> vor /e, i/ und <c> vor /a,o,u/), für /χ/ werden nur noch <j> und <g> (letzteres vor /e,i/) geschrieben (Schmid 1992: 423ff., Meisenburg 1996: 233).

Obwohl die RAE-Orthographie zunächst keine offizielle Autorität besaß, verbreitete sie sich doch zunehmend – u.a. deshalb, weil 1780, auf Geheiß von Carlos III, an spanischen Schulen die Gramática Castellana der RAE eingeführt wurde. Vor allem aber nahm die RAE eine Mittelposition zwischen konservativen und progressiven Kräften ein, war offen für Vorschläge von außen und griff populäre Tendenzen auf und regulierte diese. Erst 1844 erklärte Königin Isabel die RAE-Orthographie zur offiziellen spanischen Norm, die sich dann bis Ende des Jahrhunderts auch in den lateinamerikanischen Ländern durchsetzte (Schmid 1992: 425).

Insgesamt war also die RAE wegen ihres pragmatischeren, unverkrampfteren Verhältnisses zur Sprache und deren Veränderungen erfolgreicher als die Académie Française, wenn es darum ging, die Orthographie im phonographischen Sinne zu reformieren. Nach Weißkopfs Hochrechnungen sind beispielsweise 41 % der nach 1726 eingeführten Orthographie-Regelungen von Entscheidungen der Real Academia betroffen (Weißkopf 1994: 173). Natürlich muss hier einschränkend gesagt werden, dass die Real Academia mit ihren Entscheidungen zumeist nur Anregungen von außen aufgriff.

Das Wirken der RAE wird im Übersichtsschema (Abb. 1) am Ende des Artikels durch das stärkere Abfallen der beiden Spanischkurven nach 1750 in Richtung des flachen Pols visualisiert.




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3.5 Stellung der Orthographie in der modernen Gesellschaft

Sowohl in Frankreich als auch in Spanien reagieren die Akademien heute meist nur auf Neuerungen, die längst in Umlauf sind. Dabei verhält sich die Real Academia allerdings ein wenig flexibler und reformfreudiger als die Académie Française. Dies mag damit zusammenhängen, dass Spanien und mit ihm die RAE Sprache schon früh als internationalen Machtfaktor betrachtete. Nebrijas Formulierung "siempre la lengua fue compañera del imperio" im an die Königin gerichteten Prolog seiner Grammatik (1492) wirkt hier offensichtlich nach (Braselmann 1991: 175f.). Ziel aktueller Reformen ist daher immer auch die sprachliche und orthographische Einheit mit Lateinamerika. Entsprechend treten die lateinamerikanischen Akademien inzwischen als Mitherausgeber der RAE-Orthographie auf.

Ein Beleg für den Erfolg dieser Strategie ist die Tatsache, dass Chile, das Mitte des 19. Jahrhunderts eigenständig eine sehr fortschrittliche, beinahe phonologische Graphie eingeführt hatte, sich 1927 wieder der nun allgemeingültigen RAE-Norm unterwarf. Die vorangehende chilenische Reform war ausgelöst worden durch Vorschläge, die der Venezolaner Andrés Bello 1823 in London veröffentlicht hatte (z.B. <g> nur für /g/, <j> nur für /χ/ und ausschließlich <q> für /k/: gerra, jeneral, qasa) – unterstützt wurde er 1843 durch den Argentinier Sarmiento, der ähnliche Vorschläge gemacht hatte und dabei zusätzlich noch als weitere Vereinfachung den seseo integriert hatte (Schmid 1992: 425). Überhaupt gingen viele Reformbestrebungen zur spanischen Orthographie von Lateinamerika aus (z.B. auch schon 1609 in Mexico durch Mateo Alemán; s.o.). Hier macht sich offensichtlich die für Lateinamerika größere Tiefe des Schriftsystems bemerkbar (vgl. 2.3).

In der Real Academia herrscht also das Bewusstsein vor, dass zur größtmöglichen Verbreitung einer Sprache eine leicht zu lernende und damit phonographische Orthographie gehört. Hierfür sprechen auch die letzten Reformen, die alle in diese Richtung gingen: In der RAE-Orthographie von 1911 verschwand der Akzent auf der Präposition a und den Konjunktionen e, o, u, 1959 verschwand die Tilde auf den einsilbigen Verbformen fue, dio etc. und man erlaubte die graphische Reduktion von <ps>, <mn> und <gn>: sicología, nemotécnica, nomo. In Spanien gehen also unsichtbare und sichtbare Hand (vgl. Keller 1994), institutionalisiert in der Real Academia, grundsätzlich in dieselbe phonographische Richtung.

Die jüngsten Auflagen der RAE-Ortografía von 1974 und 1999 (letztere komplett im Internet unter www.rae.es) bringen nichts wesentlich Neues im Vergleich zu 1959 (vgl. Weißkopf 1994: 177f.). Von außen kommende Reformvorschläge der letzten 30 Jahre (z.B. Mosterín 1981 und Sousa 1991) zielen hingegen immer auf dieselben grundlegenden Schwachstellen: Gefordert wird die Abschaffung des Graphems <h> und die Beseitigung der graphischen Varianten <c/qu> und <b/v>. Mosterín schlägt beispielsweise vor, <qu> und <c> für /k/ komplett durch das Graphem <k> zu ersetzen. Auf der Lautseite wiederum breiten sich Phänomene wie der Yeísmo auch in Kastilien immer weiter aus. Man kann daher wohl sagen, dass trotz der letzten Reformen die derzeitige Tendenz durch lautlichen Wandel wieder in die Tiefe geht.

Für die französische Gesellschaft und die Académie Française hingegen sind Sprache und Orthographie Bildungsfaktoren und damit auch Instrumente der Klassenunterscheidung und Elitenbildung.55 So wird beispielsweise ab 1832 die Beherrschung der Orthographie Voraussetzung für die Einstellung in den öffentlichen Dienst (Beinke/Rogge 1990: 488). Und so erklärt sich auch die Popularität der in den 1980er und 90er Jahren zum Medienereignis aufgestiegenen "Championnats d'orthographe" in Frankreich (vgl. Pivot 1989). Heute geht in der Bevölkerung allerdings der Trend eher in eine phonographische Richtung, zumindest dann, wenn man sich unbeobachtet oder anonym fühlt – oder aber, wenn man seiner Graphie eine coole, anarchistische Note geben will. Am extremsten illustrieren dies Beispiele aus Internet-Chats (vgl. Müller-Lancé 2004):5




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Marmottedemilka: y paré kstul grattes, tu peux gagner des miyons
  (il paraît que si tu le grattes, tu peux gagner des millions)

Generell hat sich aber das bestehende Schriftsystem in seiner Leserorientierung als funktional erwiesen und wird daher von der Académie immer wieder festgeschrieben (Meisenburg 1996: 393ff.). So wurden beispielsweise die späteren Reformvorschläge des 19. und 20. Jahrhunderts fast durchweg abgelehnt, lediglich bei der Duldung von Verstößen in einigen Zweifelsfällen ist man toleranter geworden. So schlug Thimonnier, an sich ein Befürworter des graphie-zentrierten französischen Systems, nur vor, einige Inkohärenzen zu beseitigen wie z.B. bei allégrement > allègrement (zur Karikierung von Thimonniers Regeln vgl. Catach 1989: 29). Einige seiner Vorschläge fanden Eingang in die vom Erziehungsminister Haby 1976 unterzeichneten Tolérances grammaticales et orthographiques (Beinke/Rogge 1990: 488).

Entsprechend hatten radikale Reformvorschläge wie der des Literaten Raymond Queneau (1965) bisher keine Chance: Queneau ging es bei seiner ortograf fonetik eigentlich nicht um eine Reform der alten, sondern um eine völlig neue Orthographie, die deutlich macht, wie sehr sich die gesprochene Sprache im Vergleich zum sterilen français écrit entwickelt hat – es ging also auch z.B. um die Verschriftung neuer syntaktischer Phänomene. Ähnlich radikal sind die Vorschläge von Blanche-Benveniste/Chervel, die komplett zu einem phonologischen Prinzip wechseln wollen, weil Änderungen des bestehenden Systems wieder nur zu neuen Problemen und Ausnahmen führen würden. Gegen eine systematische Reform sind z.B. Thimonnier und Charmeux, die die frz. Orthographie wegen ihrer hervorragenden Lesbarkeit gerne beibehalten möchten (vgl. Strobel-Köhl 1994: 201).

Die letzten ernsthaft diskutierten Orthographiereformvorschläge fielen also entsprechend behutsam aus. So forderten Linguisten wie Nina Catach, Bernard Cerquiglini und Claude Hagège seit 1989 den weitgehenden Verzicht auf den accent circonflexe (er sollte nur noch dort stehen, wo er bedeutungsdifferenzierend ist, also z.B. auf mûr 'reif' vs. mur 'Mauer'), die Verringerung der Anzahl von Doppelkonsonanten und das Tolerieren von Doppelgraphien, z.B. évènement neben événement, sècheresse neben sécheresse, ognon neben oignon (Beinke/Rogge 1990: 489). Aber selbst diese vorsichtigen Vorschläge entfachten unter Puristen einen Sturm der Entrüstung, als sie im Mai 1990 teilweise von der Académie Française angenommen und im Dezember 1990 als Rectifications de l'orthographe im Journal Officiel veröffentlicht wurden wurden. Gegner warfen den Reformern vor, das komplette graphische System in Gefahr zu bringen und sprachen von einer "Kreolisierung" der französischen Orthographie.57 Besonderen Aufruhr verursachte im Land der Sterne-Köche die Veränderung von <oignon> mit -i- zu <ognon> ohne -i- : so bekam das auf einen Gewerkschaftsslogan anspielende Wortspiel "l'oignon fait la force" einen weiteren Sinn. Sofort ruderte die Académie Française zurück und stellte klar, dass es sich hierbei nicht um obligatorische Vorschriften, sondern nur um zugelassene Varianten handle (Rattunde 1995: 448). Überhaupt war dieser letzte große Reformversuch auch ein Politikum: Er wurde zu Zeiten einer sozialistischen Regierung unter einem protestantischen Premierminister (Michel Rocard) angestrengt – Kritik kam zunächst aus dem konservativen Oppositionslager und erst dann von Intellektuellen und Schriftstellern (vgl. Cerquiglini 1996: 12 und Rattunde 1995: 451)58.




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In jedem Falle geht die lautliche Entwicklung in Frankreich so schnell vonstatten, dass selbst Reformen der Orthographie das Divergieren von Lautung und Schreibung nur kurz reduzieren können. Betrachtet man umgangssprachliche Formen wie /ʃe'pa/ <je ne sais pas>; /ʃwi'pa/ <je ne suis pas> /njapa'dkwa/ <il n'y a pas de quoi>, so muss man sagen, dass die Graphietendenz trotz aller Bemühungen wieder weiter in die Tiefe geht. Dies wird auch in der Übersicht (Abb. 1) am Ende des Artikels deutlich.



4 Fazit

Da in allen Gesellschaften mehr gelesen als geschrieben wird, ist es völlig normal, dass Schriftsysteme immer leserfreundlicher und damit immer produzentenunfreundlicher werden – sie entwickeln sich vom Ohr weg und zum Auge hin. Es scheint nun ein Universale von Alphabetschriften zu sein, dass phonologische Graphien lernerfreundlicher, etymologische Graphien hingegen leserfreundlicher sind (Strobel-Köhl 1994: 217). Alphabet-Orthographien entwickeln sich also typischerweise vom phonologischen Prinzip hin zum etymologischen bzw. morphologischen Prinzip.59 Orthographiereformen können diesen Trend immer nur kurzfristig bremsen.60

Wenn der Lautwandel in einer Sprache eher gering ist, wie beim Spanischen, bleibt auch das Schriftsystem flach, weil weniger Lesehilfen nötig sind. Führt aber, wie im Französischen, starker Lautwandel zu zahlreichen Homonymien, dann wird ein leserfreundliches Schriftsystem zwangsläufig etymologisch. Diese Prozesse sind im wesentlichen Prozesse der unsichtbaren Hand, also nicht gezielt gesteuert. Dennoch kommt es in solchen Schriftsystemen immer wieder zu Forderungen aus der Produzentenecke, bevorzugt aus der Lerner- bzw. Lehrerperspektive (z.B. Rattunde 1995), die Orthographie zu reformieren. So forderten z.B. 1988 in einer Umfrage der französischen Lehrergewerkschaft SNI-PEGC etwa 90 % ihrer Mitglieder eine Orthographiereform (Keller 1991: 234ff.). Solche Forderungen berufen sich zumeist auf die abnehmenden Orthographiekompetenzen in der Bevölkerung – von einer crise de l'orthographe ist die Rede (vgl. Raible 1991: 37f. und Strobel-Köhl 1994: 200 ff.).

Gerade die Bevölkerung klammert sich aber typischerweise eher an die traditionelle und kompliziertere Schreibung – quasi nach dem Motto "Das hat mir auch nicht geschadet". So hat man in Frankreich vor der Reform von 1991 verschiedene Umfragen durchgeführt, bei denen nur 44 % der französischen Bevölkerung einer Reform grundsätzlich positiv gegenüberstanden. Dieser Prozentsatz sank sogar noch rapide, sobald die Umfrageteilnehmer mit konkreten Anwendungen von Reformvorschlägen konfrontiert wurden: Für 65 % bedeutete jede Veränderung auch eine Entstellung der französischen Sprache (Strobel-Köhl 1994: 182).




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Diese Einstellung hat wohl v.a. zwei Ursachen: Zum einen entwickeln bestimmte Schreibungen in einer Einzelsprache corporate identity-Charakter für eben diese Sprache – man erkennt an ihnen sofort, um welche Sprache es sich handelt (z.B. span. <ñ>, port. <nh>, frz. <-aux>, dt. <Straße>). Vor allem ausländische Fremdsprachenlehrer hängen daher häufig an einer Orthographie, die sie selbst intensiv mit der von ihnen vermittelten und von ihnen geliebten Fremdsprache verbinden. Zum anderen ist Lesen und Schreiben vielleicht der erste geistige Lernprozess in der Individualentwicklung, der wirklich bewusst als solcher wahrgenommen wird. Und von dem, was man in diesem frühen Alter gelernt hat, trennt man sich später besonders ungern – man denke nur an Philosophie mit <f>.



Französisches und spanisches Schriftsystem

Abbildung 1: Die Entwicklung des französischen und spanischen Schriftsystems aus der Perspektive des Parameters der Tiefe



Literaturangaben

Altieri Biagi, Maria Luisa (51992): Linguistica essenziale. Milano: Garzanti.

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Anmerkungen

1 Auf der graphischen Seite kann man analog zur lautlichen Seite Graphetik und Graphemik unterscheiden (Günther 1988: 71f.). Ein "Graphem" wäre dann also die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit schriftlicher Sprache (sog. "Distinktivitätskonzeption"; Vertreter z.B. Hartmut Günther). Ein anderer Ansatz der Graphemdefinition besteht darin, das Graphem als die graphische Repräsentation des Phonems aufzufassen (sog. "Repräsentanzkonzeption"; Vertreter z.B. Burckhard Garbe – die Grapheme des Phonems /a/ im Deutschen wären dann z.B. <A,a,AH,ah,Aa,aa> was nach Günther "sprachwissenschaftlich schlichter Unsinn" ist (Günther 1988: 73).
Günther nennt drei Argumente dafür, dass das Graphemkonzept in Abhängigkeit vom Phonembegriff obsolet ist (1988: 76ff.):

  1. Wenn man die Schreibung aus der Lautung ableitet, braucht man gar keinen Graphembegriff – wenn überhaupt, dann wären aus dieser Perspektive die verschiedenen Schriftformen Allographen eines Phonems (= Argument von Augst).
  2. Folgen von Elementen wie <aa> oder <ah> sollen keine schriftlichen, sondern lautliche Distinktheiten abbilden – aus Sicht der Graphie sind sie also unfunktional und damit nicht graphematisch (= Argument von Eisenberg)
  3. Der Begriff "Graphem" in der Lesart der Repräsentanzkonzeption ist kein echtes Analogon zum klassischen Phonembegriff, da ein solches Graphem nicht als Einheit klassifizierbar ist (= Argument von Eisenberg und Kohrt).
Im vorliegenden Artikel wird noch aus einem vierten Grunde die Distinktivitätskonzeption vertreten: Es gibt gerade im Französischen zahlreiche "stumme" Grapheme, die durchaus bedeutungsdifferenzierend sind (wie z.B. das Plural-s im Französischen), aber bei der Repräsentanzkonzeption mangels lautlicher Entsprechung unter den Tisch fallen würden.




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2 Die eigentlichen geographischen Nachbarsprachen im spanisch-französischen Raum sind natürlich Baskisch, Katalanisch und Okzitanisch. Historisch sind dem Spanischen das Galizische, das Portugiesische und das Katalanische näher als das Französische, typologisch zusätzlich noch das Italienische. Immerhin haben wir aber sowohl beim Spanischen als auch beim Französischen ein keltisches Substrat, eine lateinische Basis und ein germanisches Superstrat. Vom Typ her gehören beide zu den SVO- und Aspektsprachen.

3 Das Chinesische hingegen hat beispielsweise ein logographisches bzw. morphemisches Schriftsystem. Wenn zu solchen semantisch basierten Piktogrammen doch einmal ein Symbol für den Lautwert hinzutritt, spricht man von einem Lautrebus bzw. vom Schreiben nach dem Rebusprinzip (Haarmann 1991: 182; z.B. engl. <4U> 'for you', <cu> 'see you' oder frz. <k7> 'cassette'). Ein dritter Typ sind Silbenschriftsysteme wie z.B. im Japanischen. In glossematischer Terminologie entsprechen den Phonemen die Keneme ('leere Einheiten'), den Morphemen die Plereme ('gefüllte Einheiten') (Eisenberg 1996: 1369). In der Terminologie von Martinet ausgedrückt beziehen sich also logographische Systeme auf die première articulation, phonographische Systeme auf die deuxième articulation (Martinet 1980: 13ff., Catach 1996: 1450, Meisenburg 1998: 43).

4 Nach Gauger (1981: 236) entspricht das spanische Schriftsystem nahezu einer phonologischen Transkription. Gauger führt drei Bereiche an, in denen das Spanische eine "leichte" Sprache sei: 1. Lautliches (wenige Phoneme, wenige Akzentmuster); 2. Graphie (annähernd Transkriptionscharakter, nur ein einziger Akzent, keine Probleme bei Großschreibung, Assimilation fremder Wörter); 3. Grammatik (keine Kasusflexion außer bei Pronomina; materielle Klarheit beim bestimmten u. unbest. Artikel, d.h. keine Elisionen o.ä.).

5 Vgl. Sampson (1985: 43f.), Eisenberg (1996: 1375) und Meisenburg (1996a, 1996b und 1998). Der Begriff der Tiefe geht eigentlich auf den phonologischen Theorieansatz von Chomsky & Halle (1996: The sound pattern of English, New York: Harper & Row) zurück. Seit Sampson (1985: 43–45) wird er aber auch in einem engeren Sinn auf Schriftsysteme übertragen: "Flache" Systeme haben demnach ihren Schwerpunkt auf der phonetischen Oberfläche, weniger "flache" Systeme auf der phonologischen Ebene und "tiefe" Systeme gar in der morphologischen Tiefenstruktur. Das spanische System wäre beispielsweise noch flacher, wenn es die positionsabhängigen Allophone des Phonems /n/ auch unterschiedlich verschriftlichen würde, also z.B. un vino /umbino/ oder enviar /embiar/ auch mit <m> schriebe. Das französische System wäre noch tiefer, wenn es beispielsweise anstelle des hörbaren /dy/ – graphisch <du> – die in der Tiefenstruktur zugrundeliegenden Morpheme <de> und <le> schriebe.

6 Im Englischen funktionieren die Phonem-Graphem-Korrespondenzen in keiner Richtung mehr: Hier geht die Entwicklung also in Richtung einer neuen Ideogramm-Schrift (Raible 1991: 37). Vgl. das bekannte Beispiel fish, das man – unter Vernachlässigung der Positionsphänomene – auch als <ghoti> schreiben könnte, wenn man die folgenden Phonem-Graphem-Korrespondenzen zu Grunde legt: enough (/f/), women (/i/), nation (/ʃ/).

7 Nina Catach (1980: 14f.) unterscheidet beispielsweise 130 verschiedene Grapheme für das Französische. Das Deutsche wird von Eisenberg (1996) in Bezug auf den Parameter der Tiefe zwischen dem Spanischen und dem Französischen angesiedelt.

8 Hans-Martin Gauger spricht in diesem Zusammenhang von der "Schattengrammatik" des Französischen. Eben deshalb sind Diktate im Französischunterricht in jedem Falle eine sinnvolle Übung – unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg war das Diktat auch fester Bestandteil des Frz.-Staatsexamens in Deutschland. Ein ebenfalls "schattengrammatisches" Phänomen ist im Deutschen die Unterscheidung von das (Artikel) und dass (Konjunktion) oder die Groß-/Kleinschreibung in Fällen wie "wenn wir Weise reden hören" oder "Helft den armen Vögeln". Stetter (1990: 280) würde hier von einer Schrift-Grammatik oder einem knowing-that sprechen – es geht ja nicht einfach um eine Realisierung in einem anderen Medium, sondern um ein ganz eigenes System, das viel vollständiger ist als dasjenige der gesprochenen Sprache. Natürlich hat die französische Orthographie auch stärkeren Bild-Charakter als die spanische. Vor allem aber zeigt sich hier ein typischer Fall des von Stetter (1997: 9) als "Kohabitation" bezeichneten Phänomens: Die grundverschiedenen Systeme Schrift und Sprache müssen miteinander leben, wobei die ältere Sprache von der jüngeren Schrift immer mehr durchformt wird, z.B. bei der sog. "spelling pronounciation".




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Stetter (1997: 42f.): "In Schriftkonventionen wird allererst das expliziert, was man seit Saussure das Sprachsystem nennt. Das morphematische Prinzip der Alphabetschrift etwa, das sich allmählich gegen das phonematische als das dominierende durchsetzt, bringt nach und nach den Zusammenhang von Singular- und Pluralformen, von Wortstämmen, von Prä- und Suffixen usw. zur Erscheinung. Mit der Orthographie beginnt eine >grammatische< Bearbeitung der Sprache, wie sie auf der Ebene der Oralität niemals denkbar wäre. Genau betrachtet ist die Entwicklung der Orthographie nichts anderes als eben diese Bearbeitung."

9 Von keltisch *tann- 'Eiche' (vgl. frz. tanin).

10 Von spätlat. tabo bzw. dem Akk. tabonem (KL: TABANUS 'Viehbremse').

11 Anderes Beispiel: pois ('Erbse') : poids ('Gewicht') : poix ('Pech'). Derrida kritisiert in seiner Grammatologie übrigens den Phonozentrismus der modernen Sprachwissenschaft, den er an Saussure festmacht. Den Gegenpol bildet der antike Logozentrismus, der gewissermaßen den direkten Weg zu den Dingen, ohne Umweg über die Laute, ermöglicht (Cerquiglini 1996: 23f.).

12 Zum in der Tabelle ausgesparten Graphem <q>: Im Spanischen taucht es nur als Digraph <qu> auf und fehlt daher in der Tabelle. Dieser Digraph wird vor /a, o, u/ als [kw], vor /e, i/ als [k] gelesen, es liegt also eher tiefe Verwendung vor. Im Französischen steht <q> auch gelegentlich allein: z.B. cinq. Dabei hat es, wie hier, entweder den Lautwert [k], oder aber es ist ohne Lautwert, z.B. in der Zusammensetzung cinq cent [sε̃sɑ̃]. Auch im Französischen liegt also zumindest teilweise tiefe Verwendung vor.

13 Für Einzelgrapheme gibt es keine echte Zwischenstufe zwischen flacher und tiefer Verwendung, es kann aber ohne weiteres sein, dass ein Graphem in bestimmten Wörtern flach und in anderen tief verwendet wird. Nun könnte man einwenden, wenn z.B. wie in der neuen deutschen Rechtschreibung geschehen, ein flaches Graphem <e> für das Phonem /e/ durch ein vom typischen Lautwert her recht ähnliches Graphem <ä> ersetzt wird, dann sei dies doch immer noch eine relativ flache oder z.B. "mitteltiefe" Phonem-Graphem-Beziehung (man hätte ja auch z.B. ein deutlich "tieferes" <x> dafür verwenden können). Gerade bei solchen Änderungen zeigt sich aber, dass sie ausschließlich durch morphosemantische Überlegungen motiviert sind: Es geht ja z.B. bei der neuen Schreibung <aufwändig> statt dem phonetisch exakteren <aufwendig> darum, die inhaltliche Beziehung zum Substantiv Aufwand deutlich zu machen – die Schreibung mit <ä> ist also ganz klar eine tiefe Schreibung.

14 Es gibt allerdings Varietäten, in denen die lautlichen Unterschiede zwischen zwei Phonemen extrem reduziert sind: Im Kastilischen haben sich die Realisierungen der Phoneme /l/ und /r/ beispielsweise so stark aneinander angenähert, dass sie in der Graphie gelegentlich verwechselt werden: So fand ich auf einer Toilettentür der Universidad Complutense de Madrid den Spruch "FIROLOGIA ZONA GAY", in dem das auf Rhotazismus beruhende <R> von einem späteren Zeitgenossen mit dem schriftlichen Hinweis "Ignorante, es una L" kommentiert wurde (Müller-Lancé 2006: 90).

15 Vor einfachem Nasalkonsonantengraphem wird der Vokal nicht nasaliert: vgl. panique.

16 Letzteres ist eine Entlehnung aus dem 15.Jh. (Erstbeleg 1490), die mit dem Erbwort champ ('Feld') eine Dublette bildet.

17 Etymologisch geht cour eindeutig auf lat. COHORTEM 'Gefolge' (Akk. von COHORS) zurück. Entsprechend wurde es noch im Alt- und Mittelfranzösischen mit <t> geschrieben, woraus sich auch engl. court erklärt. Die Schreibung ohne <t> wird auf lat. CURIA 'Versammlungsstätte' zurückgeführt, das ebenfalls mit cour in Verbindung gebracht wurde.

18 Dies gilt nicht für die umgekehrte Richtung: Es wird ja nicht jedes /χ/ gleich geschrieben, sondern je nach Position <g> oder <j> verwendet. Die Situation ist also analog zu der der Phoneme /k/ und /θ/, wo die Einstufung der entsprechenden Grapheme ebenfalls auf der Basis der Korrespondenz von Graphem zu Phonem vorgenommen wurde.




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19 Strenggenommen stand <v> im Lateinischen nicht für einen Reibelaut, sondern für den Vokal [u] oder den Halbvokal [w]. Das Graphem <u> war ja bekanntermaßen in Antike und Mittelalter noch nicht üblich.

20 Teilweise – z.B. in Argentinien und Uruguay – wird <y> bzw. /j/ sogar als Allophon [ʒ] oder von einzelnen Sprechergruppen auch als /ʃ/ realisiert: [ka'ʒo] oder [ka'ʃo]).

21 Als Maßeinheit wäre z.B. der Anteil der ausschließlich flach verwendeten Grapheme vorstellbar.

22 Dabei muss das Augenmerk besonders dem Spanischen gelten: Innerhalb der romanischen Sprachen ist nämlich dieses vergleichsweise flache Schriftsystem eher als Ausreißer einzustufen denn das tiefe Französische: Das Portugiesische, das Katalanische und auch das Englische, das in der Orthographie gerade seine romanischen Wurzeln betont, gehen nämlich bei der Verschriftung ebenfalls eher in die Tiefe.

23 Die Unterschiede, die heute angenommen werden, sind zumeist aus den romanischen Sprachen rekonstruiert (vgl. Seidl 2003). Die erhaltenen Texte hingegen sind in Bezug auf die diatopische Variation auffallend einheitlich (vgl. Poccetti et al. 2005: 23, Müller-Lancé 2006: 45ff., 59f.).

24 Dafür, dass sich das Altspanische insgesamt weniger weit vom entsprechenden Lateinischen entfernt hat, spricht die Tatsache, dass in Spanien die ersten volkssprachlichen Textzeugnisse erst ca. 150 Jahre später auftauchen als in Frankreich. Möglicherweise bestand wegen der geringen sprachlichen Distanz zwischen Volkssprache und Bildungssprache ein geringeres Bedürfnis nach volkssprachlicher Verschriftung.

25 Etymologien zur Tabelle: lat. CAELUM, TEMPUS, MERCURI DIES, BONA, FONTEM (nsp. fuente 'Quelle'), FUERUNT, got. *SPAURA > SPORA 'Spore' (nsp. espuela), lat. CAPUT, NOCTEM, CONTRADICTUM, IACTARE, CONCILIUM, PEDES, PUTEUS 'Brunnen' > pozo, davon abgeleitet: poza 'Pfütze', DIGNARE, ANNUM, SENIOREM, COGNATUM, CONCILIARE, MULIER, CABALLUM, STELLA.

26 Die im Klassischen Latein vorhandenen Diphthonge wurden ja im Vulgärlatein monophthongiert (vgl. CLODIUS) – die romanischen Diphthonge sind so gesehen also durchaus eine Neuentwicklung.

27 Zunächst wird im Altspanischen in der Graphie nicht zwischen /ts/ und /dz/ unterschieden. Erst allmählich kristallisiert sich die Zuordnung /ts/ => <ç> und /dz/ => <z> heraus (Meisenburg 1996: 213) – diese Trennung wird dann z.B. von Nebrija gefordert.

28 Die Schreibung <ign> für /ɲ/ hat sich z.B. in Seigneur (< SENIOREM), in oignon (< UNIONEM 'spezielle Zwiebelsorte') und im Eigennamen Montaigne (< MONTANEA) bis heute erhalten. Letzterer ist also ein Fall von "spelling pronounciation" und müßte eigentlich wie montagne gesprochen werden.

29 Beispiele nach Beinke/Rogge (1990: 472ff.). Bei den Konsonanten mussten Lösungen für die Verschriftung der neuen Zischlaute [tʃ] (Eulalie: chief), [dʒ] (Eulalie: getterent; Serments: eo/io > nfr. je) und für das moullierte n [ɲ] (Eulalie: degnet) und l [ʎ] (Eulalie: conselliers, Alexis: moiler) gefunden werden.

30 Beispiele nach Schmid (1992: 415f.); vgl. /eʃir/: <exir> < lat. EXIRE oder auch das neue [j]: <g,i,j,y...> segamus (nsp. seyamos) – Beispiel aus Meisenburg 1996. Graphische Doppelkonsonanten wurden ebenfalls unregelmäßig angewandt (vgl. Cid: commo/como < QUOMODO).

31 Das altspanische Schriftsystem stellt sich also allen lautlichen Herausforderungen und erntet dafür gewisse Unregelmäßigkeiten, das altfranzösische System macht es sich etwas leichter, indem es bestimmte Probleme ausklammert und so auf den ersten Blick regelmäßiger wirkt.




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32 Beinke/Rogge wiederum stützen sich vornehmlich auf Beaulieux und Brunot. Gossen (1967) hingegen weist auf die Uneinheitlichkeiten in der Graphie französischer Urkunden während des gesamten Mittelalters hin (nach Meisenburg 1996a: 75ff.).

33 Vgl. Bollée/Neumann-Holzschuh (2003: 71). So sind z.B. frühe Rechtstexte wie die sog. fueros ab dem 13. Jh. in relativ einheitlichem Kastilisch abgefasst.

34 Nach Meisenburg vertritt Blake die These, dass der Digraph <ff-> am Wortanfang ein Zeichen dafür sei, dass an dieser Stelle tatsächlich ein /f/ gesprochen wurde, während das auf lat. /f-/ zurückgehende und heute <h-> geschriebene asp. <f-> als /h/ realisiert wurde. Meisenburgs eigene Untersuchungen (1996a: 218f.) konnten diese These aber nicht bestätigen. Auch die Verschriftung von /k/ durch <c> und <qu> sowie der unsystematische Erhalt der "griechischen" Buchstaben <th>,<ph>, <ch>, <rh>, <y> sprechen übrigens gegen eine Einschätzung als rein phonographisches System (vgl. in den von Meisenburg untersuchten fueros die Schreibungen <catholica>, <christo>, <prophetas>; 1996: 221).

35 Im Katalanischen finden wir teilweise ähnliche Verhältnisse wie im Französischen: cinc, sa, sant, aber nur zweisilbiges signe (Lehnwort aus dem Frz.) – sinum hat sich im Kat. nicht fortgesetzt.

36 Vom lat. Neutrum Plural SIGNA, der im Vulgärlatein als Fem. Singular interpretiert bzw. reanalysiert wurde (vgl. FOLIUM/FOLIA > sp. hoja) – vgl. neudeutsch "das Antibiotika" oder "der Virus".

37 Erbwort im Unterschied zum Lehnwort signe 'Zeichen'.

38 Vgl. den in Frankreich bekannten Diktat-Test, auf den mich Hans-Martin Gauger aufmerksam gemacht hat: Cinq moines, sains de corps et d'esprit, portaient dans leurs seins le seing du Saint-Père.

39 Zugleich wird die Graphie zunehmend analogisch: So wird beispielsweise an die 1.Pers.Sg.Prs. der -er Verben ein <-e> angefügt (afrz. ie chant > mfrz. ie chante), um die Beziehungen zu den übrigen Personen des Singular-Paradigmas (<-es>, <-e>) deutlicher zu machen.

40 Ab dem 13.Jh. gibt es immer mehr außerklösterliche Schriftzentren wie z.B. Adelshöfe. Die Funktion geschriebener Texte war also nicht mehr auf die Konservierung von Information beschränkt (wie z.B. bei Listen und Urkunden), sondern diente zunehmend auch der Erbauung durch Literatur (Meisenburg 1996: 118ff.). Ein weiterer Grund für das Einfügen etymologisierender Buchstaben hängt mit dem Wechsel von der karolingischen Minuskel zur gotischen Buchschrift im Laufe des 12.Jh. zusammen: Zur gotischen Schrift entwickelte sich nämlich, im Unterschied zur karolingischen, eine Kursiv- also Schreibschrift, die deutlich schnelleres privates Schreiben ermöglichte und ab dem 14.Jh. z.T. auch für Bücher verwendet wurde. Diese Schrift war zwar zeitlich ökonomischer, es war aber schwieriger als bei der karolingischen Minuskel, die einzelnen Buchstaben zu unterscheiden. Zusätzliche "stumme" Buchstaben waren also hilfreich, um beim Lesen Wörter zu identifizieren (Meisenburg 1996: 119f.). Beaulieux (1927: 136–141) versucht die starke Zunahme stummer Konsonanten auch dadurch zu erklären, dass Schreiber nach der Menge des beschriebenen Papiers bezahlt wurden.

41 Damit bestätigt sich eine generelle Tendenz, die Wolfgang Raible beobachtet hat: Je mehr Menschen einer Sprechergemeinschaft lesen, desto schneller vereinheitlicht sich die Orthographie und desto länger bleibt sie – einmal etabliert – stabil (Raible 1991: 36f.).

42 Da es keine Belege für eine Steuerung der mittelfrz. Urkundengraphie "von oben herab" gibt, und die Schreibungen nach wie vor recht uneinheitlich sind, müssen wir annehmen, dass es sich hier um einen typischen Prozess der unsichtbaren Hand handelt (Meisenburg 1996: 124; vgl. auch Keller 1982, 1994): Einzelne Schreiber experimentieren also mit Individuallösungen – der "Markt" entscheidet, was sich durchsetzt.




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43 So spiegelt Nebrijas Grammatik von 1492 (Gramática Castellana) noch weitgehend den Laut- und Graphie-Bestand des 13. Jahrhunderts wieder (Meisenburg 1996: 223). Da Nebrija sich dem Quintilianschen Prinzip "tenemos de escrivir como pronunciamos, & pronunciar como escrivimos" verpflichtet fühlt, versucht er, einige Unregelmäßigkeiten bei den Phonem-Graphem-Korrespondenzen abzuschaffen und auf diese Weise ein neues Schreibsystem zu etablieren (z.B. soll für /k/ nur noch <c> geschrieben werden, für /ts/ nur noch <ç> "con cerilla" und für /ʒ/ nur noch <j>), bleibt aber damit erfolglos. Später allerdings berufen sich Orthographie-Reformer gerne auf seine Entwürfe (Schmid 1992: 419f.). Interessant ist weiterhin, dass Nebrija in seiner Grammatik von 1492 noch glaubt, die Sprache könne sowohl durch eine Intervention der Könige als auch durch Übereinkunft unter den Gebildeten normiert werden. In seinen Reglas de Orthographia en la lengua Castellana von 1517, die seine Vorschläge von 1492 wiederholen, hat er letztere Hoffnung aufgegeben und äußert im Vorwort einen Appell an die "príncipes de nuestro siglo" für eine Intervention von oben. Übrigens ist Nebrija selbst nicht konsequent in der Anwendung seines Systems, wenn man sich nur den Titel seiner Publikation von 1517 betrachtet (Orthographia).

44 Von 1433 stammt die älteste uns bekannte Beschreibung des spanischen Schreibsystems: Enrique de Villenas Arte de trovar. In Zweifelsfällen votiert er für das etymologische Prinzip – und zwar mit der Begründung: "e aquellas letras que se ponen e no se pronunçian según el común vso, algo añaden al entendimiento e significaçión de la diçión donde son puestas" (nach Schmid 1992: 418).

45 In dieser Epoche verstummt das anlautende [h] in germanischen Wörtern (h-germanique) und wird zum h-aspiré, weiterhin wird /ʎ/ zu /j/ also z.B. bei <bailler> 'geben' (BAJULARE) – nicht zu verwechseln mit <bayer> von BATARE 'offenstehen' (vgl. bouche bée) bzw. <bâiller> von BATACULARE 'gähnen' (Meisenburg 1996: 168).

46 Dies hatten verschiedene Orthographiereformer vorgeschlagen. Die radikalsten Vorschläge kamen von Louis Meigret 1550 (Tretté de la grammere françoeze), der ein Akzent/Zirkumflexsystem zur Markierung der vokalischen Öffnungsgrade entwarf (z.B. <e> mit Cedille für /ε/, und von Pierre de la Ramée, der durch die Einführung neuer Schriftzeichen eine Art Lautschrift propagierte (Beinke/Rogge 1990: 480f.).

47 Außerdem ließ er auch einige unetymologische Buchstaben fort, die nur deshalb eingefügt worden waren, um die Worterkennung im kursiven, handgeschriebenen Text ("Schreibschrift") zu erleichtern, und die nun mit der zunehmenden Verbreitung des Buchdrucks überflüssig wurden: z.B. im maskulinen Artikel <ung> > <un> (Meisenburg 1996: 131). Ab ca 1540 wird der gerade Bindestrich immer häufiger zur Worttrennung und zum Verbinden zusammengehöriger Elemente verwendet (z.B. 1587 <mal-aisé>, später auch im Imperativ: <donne-nous>) (Meisenburg 1996: 137). Zu den Akzenten ist zu ergänzen, dass der Akut zunächst nur zur Markierung langer Vokale eingesetzt wurde – er markierte also noch nicht den Öffnungsgrad (vgl. <premiére>, <téte>. Der Gravis diente nur zur Homonymendifferenzierung und hierbei in erster Linie zur Unterscheidung der Präposition <à> von der Verbform <a> (avoir). Zur Unterscheidung von offenem (Gravis) und geschlossenem e (Akut) dient der Akzent erst ab den 60er Jahren des 17. Jh. (Meisenburg 1996: 142). Der Zirkumflex wird im 16.Jh. nur gelegentlich verwandt, und zwar als eigenes Segment an der Stelle, an der "stumme" Konsonantengrapheme getilgt worden waren. Zugleich zeigte er an, dass der vorangehende Vokal lang zu sprechen war: z.B. <hardiement> > <hardi^ment>. Erst im 17. Jh. wird er systematisch gebraucht und über das Graphem des gelängten Vokals gesetzt: <nôtre> (Meisenburg 1996: 145f.). Auch das Trema und die Cedille werden im 16.Jh. eingeführt: Das Trema zur Markierung der Diärese, d.h. hiatisch gesprochener Vokalfolgen (vgl. <fluïde>), die Cedille zur Anzeige, dass <c> vor a/o in bestimmten Fällen als /s/ zu sprechen ist (façon) (Meisenburg 1996: 148ff.).

48 Im 16.Jh. versucht in Frankreich der Schulmeister Honorat Rambaud ein neues Alphabet mit enger Phonem-Graphem-Zuordnung zu etablieren, das aus seiner Unterrichtspraxis entstanden war (Lerner- bzw. Produzentenperspektive). Die Reformvorschläge von Louis Meigret hingegen gehen eher in Richtung Leserperspektive.




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49 In der Grammaire générale et raisonnée von 1660 vertreten die Autoren Antoine Arnauld und Claude Lancelot zwar prinzipiell eine 1:1-Beziehung von Phonem und Graphem als orthographisches Ideal, sie räumen aber ein, dass (nach Raible 1991: FN 45):

[...] il arrive quelquefois qu'il nous est avantageux que ces règles ne soient pas toujours observées, au moins la première et la dernière.

Car il arrive souvent, surtout dans les langues dérivées d'autres langues, qu'il y a de certaines lettres qui ne se prononcent point, et qui ainsi sont inutiles quant au son, lesquelles ne laissent pas de nous servir pour l'intelligence de ce que les mots signifient. Par exemple, dans les mots de champs et chants, le p et le t ne se prononcent point, qui néanmoins sont utiles pour la signification, parce que nous apprenons de lá, que le premier vient du latin campi, et le second du latin cantus. [...]

Et de là on voit que ceux qui se plaignent tant de ce qu'on écrit autrement qu'on ne prononce, n'ont pas toujours grande raison, et que ce qu'ils appellent abus, n'est pas quelque fois sans utilité.

50 Vorbildhafte spanische Autoren wie Juan de Valdés (Diálogo de la lengua, 1535 – der Text wurde in Italien verfasst und beschreibt ein Gespräch von Valdés mit italienischen Höflingen über sprachliche Probleme) geben sogar zu, dass sie zwischen unterschiedlichen Schreibungen variieren. So schlägt der Humanist Valdés beispielsweise vor, <significar> und <digno> statt <sinificar> und <dino> zu schreiben, wenn der Leser Italiener ist. Im Übrigen sei es aussichtslos, Regeln für die Orthographie festzusetzen, "porque es la más rezia cosa del mundo dar reglas en cosa donde cada plebeyo y vulgar piensa que puede ser maestro" (nach Schmid 1992: 420). Erläuterung: nsp. recio: 'hart, rauh, derb'.

51 In der Información de los Jerónimos (Santo Domingo, 1517) findet sich beispielsweise häufig <z> durch <s> ersetzt, aber nie umgekehrt: catorse, quinse, faser, desyr (Wesch 1993: 253).

52 Z.B. in den Orthographietraktaten von Alejo Venegas (1531) und López de Velasco (1582) oder in einem Handbuch für Sekretäre von Pedro de Madariaga (1565).

53 Das sog. "Quintilians-Prinzip", escrivir como se pronuncia, d.h. "ein Buchstabe pro Laut", liest sich bei Valdés folgendermaßen: "Para deziros la verdad, muy pocas cosas observo, porque el estilo que tengo me es natural, y sin afetación ninguna escrivo como hablo; solamente tengo cuidado de usar de vocablos que sinifiquen bien lo que quiero dezir, y dígolo quanto más llanamente me es possible, porque a mi parecer en ninguna lengua stá bien el afetación" (Diálogo de la lengua, ed. Juan M. Lope Blanch, Madrid: Castalia 1969: 154).

54 Vorbild der französischen Académie war die 1583 in Florenz gegründete Accademia della Crusca ('Kleie'). Schon 1612 erscheint ihr erstes Vocabulario della lingua toscana degli Accademici della Crusca – orthographisch hatte die Accademia aber wenig Einfluss: Ihre Wörterbücher waren wegen ihres konservativen und lokalpatriotischen Geistes (Florentinismen) stets umstritten. In der entscheidenden orthographischen Phase war die Accademia geschlossen (von Großherzog Pietro Leopoldo 1783 – wiedergeöffnet unter Napoleon 1811). Ihr orthographischer Einfluss war schon dadurch begrenzt, dass sich die Accademia mit ihrem Gründungsmitglied Salviati für die alttoskanische und damit anachronistische Lösung der Questione della lingua entschieden hatte. Zudem ging es in dem dialektal extrem zersplitterten Italien weniger um die Frage "Wie soll man schreiben?" als vielmehr um die Frage "Wessen Dialektes Schreibung soll man übernehmen?" (vgl. Altieri Biagi 1992: 104 und Carnagliotti 1988).

55 "l'orthographe de caste qui distingue les gens de lettres d'avec les ignorants et les simples femmes" Cohen (1973: 196f.).

56 Teilweise sind solche von der Norm abweichenden Schreibungen ganz gezielte Mode: So findet man in Chats u.a. Belege für Schreibung nach dem Rebusprinzip, also die Verwendung von symbolhaften Lautkürzeln, die zwar das Tippen erleichtern, aber keineswegs phonographisch sind: reality luna: 11 cas reuni ds un appart (on se casse réunis dans un appartement)




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57 So zitiert beim Reformer Goosse (1991: 2). Grund für diese Überreaktion ist möglicherweise, dass man nun bei den Reformvorschlägen erstmals auch an die leichtere Erlernbarkeit im Rahmen der Frankophonie gedacht hat (vgl. Strobel-Köhl 1994: 201). Masson (1991: 133) schreibt zur Tragweite der Reform von 1990: "l'essentiel en moins de 10 secondes: On admet désormais quelques tolérances dans l'emploi des accents".

58 Der vom Premierminister Rocard eingesetzte Conseil Supérieur de la langue française (CSLF) übernahm diese Forderungen der Reformer. Sie fanden sogar Aufnahme in die 13. Auflage der eher konservativen Referenzgrammatik Le bon usage (1993; Hg. André Goosse). Goosse war zugleich Mitglied des CSLF, der seine Korrekturvorschläge der Académie Française vorlegen sollte (Goosse 1991: 1ff.). Damalige Besetzung des CSLF: 1. Vorsitzender: Premierminister Rocard, 2. Vorsitzender: Bernard Quemada (Linguist), hinzu kamen der Erziehungsminister, der Frankophonieminister, der Sekretär der Académie Française, zahlreiche Literaten, Linguisten (z.B. Claude Hagège) und Kulturfreunde aus der gesamten Francophonie sowie ein Expertenkommitee aus Linguisten (u.a. Nina Catach, Bernard Cerquiglini, André Martinet, Charles Muller), Wörterbuchverlegern und Zeitungsherausgebern. Alle Namen sowie genaue Details zu den einzelnen Sitzungen finden sich bei Arrivé (1993: 110ff.). Genaue Informationen zur Vorbereitung der Reform und zu den Widerständen bei Keller (1991: 242ff.) und auch bei Strobel-Köhl (1994: 177ff.).

59 Einen gewissen Sonderfall stellen neuverschriftete Sprachen dar, also z.B. die französisch-basierten Kreolsprachen: Hier dient das phonologische Prinzip häufig auch dazu, sich von der Orthographie des Mutterlandes abzusetzen – das etymologische Prinzip hingegen erlaubt es, die Beziehung zur renommierten Sprache des Mutterlandes deutlich zu machen. Hinzu kommen hier häufig "ästhetische" Argumente: So wird beispielsweise das e-muet gelegentlich als "schön" empfunden. In den karibischen Kreolsprachen ist die Orthographiediskussion also häufig eine reine Stellvertreterdiskussion für politische oder soziale Fragestellungen (Strobel-Köhl 1994: 94f. und 217ff.).

60 Stetter (1997: 67f.) sieht noch einen anderen Grund für die Entwicklung vom phonematischen zum morphematischen Prinzip: Da das phonematische Prinzip die Alphabetschrift ursprünglich konstituiert hatte, musste es seine die Schreibpraxis konstituierende Funktion mehr und mehr verlieren, wenn ein Dialekt erst einmal verschriftet war. Von nun an tritt an die Stelle des phonematischen Prinzips "die Schreibung in Analogie und in Differenz zu in der betreffenden Schriftsprache bereits geschriebenen Wörtern." Anders ausgedrückt: Das knowing-how des frühen Schreiben-Könnens wird zum knowing-that der Orthographie (1997: 70). "Aus dem Hauptwort, welches groß geschrieben wurde, weil es semantisch wichtig war, wird das Substantiv, das groß zu schreiben ist, weil es eben ein Substantiv ist." (1997: 71). D.h., immer wenn ein neues Wort auftaucht, muss der Schreiber zunächst überlegen, ob er es genauso schreibt wie ein phonetisch ähnliches "altes" Wort oder anders.