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Ulrich Detges (Tübingen)

Echt die Wahrheit sagen.
Überlegungen zur Grammatikalisierung von Adverbmarkern


Thoughts on the Grammaticalization of Adverb Markers
Grammaticalization is the unintentional result of certain types of rhetorical strategies on the part of the speakers. Speakers do not create new grammatical items because they feel a need to express grammatical functions within their languages. Rather, grammar is the fossilised residue of discourse strategies which speakers invent because they want to speak convincingly. In the following paper, I am going to illustrate this view by analysing the evolution of adverb markers, in particular that of Romance -mente and of English -ly. It will be argued that the specific discourse techniques which eventually give rise to adverb markers have in common that they aim at highlighting the speakers' attitudinal involvement in discourse and in the events expressed in the proposition.


0 Daß die Entstehung von Tempusmorphemen das unbeabsichtigte Resultat von alltagsrhetorischen Verfahren ist, habe ich in Detges (im Druck) gezeigt.1 Grammatik entsteht nicht deshalb, weil die Sprecher das Gefühl haben, grammatische Funktionen in ihrer Sprache bedürften dringend formaler Ausdrucksmittel, sondern sie ist das versteinerte Residuum bestimmter Redetechniken, welche die Sprecher zunächst mit dem Ziel erfinden, überzeugend zu sprechen. Diese Überlegung möchte ich im folgenden am Beispiel der Genese von Adverbmarkern, speziell von romanisch2 -mente und engl. -ly, illustrieren.

1 (Leider notwendige) theoretische Vorüberlegungen

1.1 Adverb, Adverbial und Sachverhaltspartizipation

Der Bereich der adverbialen Konstruktionen gilt allgemein als unübersichtliches Terrain.3 Schon deswegen sind theoretische Vorüberlegungen dringend geboten. Adverbiale sind in unterschiedlichem Maße Bestandteil des Satzes. Sätze sind in semantischer Hinsicht Sachverhaltsdarstellungen. Semantisches Zentrum der Sachverhaltsdarstellung ist das (im einfachsten Fall verbale) Prädikat. Verben sehen aufgrund ihrer Bedeutung Leerstellen für typischerweise nominale Elemente vor, die sie als in spezifischer Weise am Sachverhalt Beteiligte (Sachverhaltspartizipanten oder Mitspieler) ausweisen. So stellt etwa das deutsche Verb zersägen einen Sachverhalt dar, an dem typischerweise zwei Partizipanten beteiligt sind, nämlich ein Mitspieler, der etwas zersägt (AGENS), sowie ein weiterer Partizipant, der das OBJEKT angibt, welches zersägt wird. Die Relation zwischen dem jeweiligen Mitspieler und dem durch das Verb ausgedrückten Sachverhalt insgesamt nenne ich Sachverhaltspartizipation.4 In Sätzen wie (1) und (2) dienen die Adverbiale fröhlich und Mozarts 'Kleine Nachtmusik' pfeifend dazu, die Partizipation des AGENS Klaus-Dieter am Sachverhalt ZERSÄGEN näher zu spezifizieren. (1) läßt sich graphisch in Form von Abb. 1 wiedergeben.

    (1) Klaus-Dieter zersägt fröhlich Marie-Louise.
    (2) Mozarts 'Kleine Nachtmusik' pfeifend zersägt Klaus-Dieter Marie-Louise.

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(vgl. Tekavi 1972: 569) Abb. 1

Aufbauend auf dieser Vorüberlegung können wir nun grundlegend zwischen Adverb, Adverbial und adverbialer Funktion unterscheiden:

(a) Adverbiale sind Ausdrücke beliebiger Form, die die Funktion einer Spezifizierung der Sachverhaltspartizipation erfüllen. Beispiele für Adverbiale sind die in (1) und (2) kursiv geschriebenen Ausdrücke.

(b) Adverbien sind demgegenüber Elemente einer bestimmten Wortart, die auf das Eintreten in die Funktion von Adverbialen5 spezialisiert sind. Ein Adverb ist fröhlich in (1), nicht aber Mozarts 'Kleine Nachtmusik' pfeifend in (2). Während die adverbiale Funktion der Spezifizierung von Sachverhaltspartizipation ein universelles Phänomen darstellt, gehören Adverbien als Elemente einer Wortart immer bestimmten Einzelsprachen an.

Die Suffixe -ly und -mente sind nun morphologische Verfahren, um Adjektive in Adverbien zu verwandeln. Der "Sinn" dieses Wortartenwechsels ist es aber (synchronisch gesehen), die betreffenden Adjektive in die adverbiale Satzfunktion einzusetzen. Betrachtet man nun die Mittel, mit denen Sprachen anzeigen, daß Adjektive in die adverbiale Funktion eingesetzt werden, so stellt man fest, daß es im Grunde nur drei übereinzelsprachlich präferierte Strategien zu diesem Zweck gibt, nämlich:

(a) Affigierung des betreffenden Adjektivs durch spezielle Adverbmarker
Hierhin gehören außer romanisch -mente und engl. -ly etwa lateinisch -e und -iter, japanisch -ku, hetitisch -ili, altschwedisch -a (Karlsson 1981: 14-16). In verschiedenen keltischen Sprachen wird die adverbiale Funktion von Adjektiven durch vorangestellte Partikeln markiert (Karlsson 1981: 7, 13).

(b) Die Kongruenz des Adjektivs mit einem Mitspieler des Verbs
Diese sehr unauffällige Strategie ist in vielen Sprachen verbreitet:

Lateinisch: (3) Sokrates laetus venenum hausit. (aus Tekavi 1972: 569)

Sardisch: (4) kanti bonu (Mann) - kanti bona (Frau) (Tekavi 1972: 568)

Französisch: (5) Cette grêle d'insectes tomba drue et bruyante Daudet, Lettres de m.M., cf. Grevisse 1391)

Spanisch: (6) A muchos les gusta bañarse desnudos (Reumuth/Winkelmann 1991: 271)

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(c) Der Einsatz der unmarkierten Form des Adjektivs als Adverb

Unter "unmarkierter Form" ist zu verstehen, daß entweder, wie im Spanischen, das Adjektiv in seiner frequentesten Form, d.h. der maskulinen Form des Singulars, oder wie im Deutschen, Englischen und Französischen in einer nullmarkierten Form auftritt, die ihrerseits, wie im Französischen, identisch sein kann mit der maskulinen Form des Singulars. Im Deutschen und im Rumänischen ist diese Form der Adverbmarkierung der Normalfall, in den Sprachen, die wie das Englische, das Französische oder das Spanische über morphologische Verfahren zur Adverbmarkierung verfügen, treten unmarkierte Formen des Adjektivs vor allem in Verbindung mit bestimmten Verben auf:

Span.: hablar alto/bajo, hablar claro, seguir derecho, sonar elegante, desayunar fuerte/ligero, hablar gordo, respirar hondo, correr rápido, pegar duro, jugar limpio/sucio etc. (Reumuth/Winkelmann 1991: 272)
Frz.: être court vêtue, voler bas/haut, tenir bon, voir clair, filer doux, marcher droit, travailler dur, chanter faux/juste, parler franc, creuser profond, tourner rond. (Grevisse: 1396)
Engl.: to run fast, to dig deep, to fly high, to come quick, to shine bright, to sound clear etc.

Synchronisch-funktional können die Strategien (b) und (c) als morphosyntaktischer Reflex der zweideutigen "Mittelposition" des Adverbials in der Charakterisierung der Sachverhaltspartizipation (vgl. Abb. 2) erklärt werden: in der Strategie (b) wird das adjektivische Adverbial grammatisch in den Satz integriert, indem es mit demjenigen Mitspieler kongruiert, dessen Sachverhaltspartizipation es näher charakterisieren soll; dagegen läßt sich das Auftreten der unmarkierten Form im Rahmen der Strategie (c) als morphologisches Verfahren deuten, bei dem das adjektivische Adverbial eben nicht an einem bestimmten Mitspieler, sondern am zweiten möglichen Pol, nämlich dem Sachverhalt selbst, verankert wird.6

Abb. 2

Anders als bei den Strategien (b) und (c) wäre eine mögliche funktionale Motivation der Strategie (a) allenfalls diachronisch zu erklären. Ein Überblick zeigt jedoch, daß es sich hier eher um eine "Einzelfallsammlung" zu handeln scheint. Lt. -e geht - wie die Adverbmarker vieler anderer indoeuropäischer Sprachen - auf das indoeuropäische Ablativsuffix -ed zurück, das seinerseits in Beziehung zu einem Instrumentalmarker steht (vgl. Karlsson 1981: 9).7 Die Herkunft der keltischen Adverbialpartikeln ist ungeklärt, in einigen Fällen bestehen formale Ähnlichkeiten zum bestimmten Artikel in diesen Sprachen (Karlsson 1981: 13). Ganz besonders romanisch -mente und engl. -ly, die Ergebnis der Grammatikalisierung von lt. mens 'Verstand' und germ. lika 'Körper' sind, haben universell eher den Charakter von Kuriositäten. Die Bedeutungen ihrer Ursprungslexeme weisen jedenfalls keinerlei hervorstechende Gemeinsamkeiten auf, die in einer nachvollziehbaren konzeptuellen Verbindung zu ihrer Funktion als Adverbmarker stünden.

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Auch synchronisch gesehen ist (a) ein markierter Fall: einerseits gibt es Sprachen, die wie das Deutsche völlig ohne spezialisierte Marker zur Adverbialisierung von Adjektiven auskommen, andererseits finden sich (b) und (c) auch in Sprachen, die über spezialisierte Adverbmarker verfügen, wie etwa das Englische, das Französische oder das Spanische.

Diese Vorüberlegungen machen zunächst eines klar: innersprachlich gesehen gibt es keine objektive Notwendigkeit, warum Sprachen durch Grammatikalisierung eigene Marker zur Adverbialisierung von Adjektiven ausbilden sollten, da immer auch einfachere, funktional plausible Lösungen zur Verfügung stehen. Damit sind wir bei der Kernfrage unserer Überlegungen angelangt: wenn der Grammatikalisierung kein Bezeichnungsbedürfnis der Sprecher zugrunde liegt - also das Bedürfnis, eine bestimmte grammatische Funktion durch ein Morphem zu markieren - so müssen ihre Ursachen anderswo gesucht werden. Am wahrscheinlichsten ist, daß solche Prozesse mit den Gründen zu tun haben, weshalb Sprecher überhaupt Adverbiale verwenden. Der Schlüssel zur Lösung unseres Problems liegt m.a.W. in der Frage der semantischen und kommunikativen Funktion von Adverbialen.

1.2 Semantische Klassen von Modaladverbialen

Unter den Adverbialen, die Bestandteile des im Satz dargestellten Sachverhaltes sind - nämlich den Adverbialen der Art und Weise, des Ortes und der Zeit - interessiert uns hier in erster Linie die erste Gruppe. Aus der oben getroffenen Feststellung, daß Adverbiale typischerweise einer Spezifizierung der Sachverhaltspartizipation von Mitspielern dienen, folgt unmittelbar, daß sich semantische Subklassen von Adverbialen unter dem Gesichtspunkt bilden lassen, welche Typen von Mitspielern jeweils in ihrer Beziehung zum Sachverhalt charakterisiert werden sollen. In Anlehnung an Melis (1983) und Kotschi (1991) möchte ich ausdrücklich folgende Typen von Adverbialen unterscheiden:

(a) Attitudinale Adverbiale beziehen sich auf die Disposition des AGENS einer Handlung (Bsp. (7)) oder des vom Sachverhalt Betroffenen (EXPERIENCER) (Bsp. (8)):

    (7) Il dispersa la foule avec brutalité. (Kotschi 1991: 130)
    (8) Erschreckt erkannte er Dieter.

(b) Instrumentelle Adverbiale geben das Mittel an, mit dem eine Handlung durchgeführt wurde. Sie sind ausschließlich auf die Sachverhaltspartizipation von AGENTES gerichtet.

    (9) Jean a déraciné le peuplier avec une pioche. (Kotschi 1991: 130)

(c) Adverbiale, die auf verschiedene andere Partizipanten gerichtet sind, etwa auf das PATIENS (Bsp. (10)) oder das OBJEKT (Bsp. (11)) einer Handlung, liegen vor in (diese Kategorie wird weder von Melis noch von Kotschi eigens erwähnt):

    (10) Le policier blessa mortellement le manifestant. (Kotschi 1991: 132)
    (11) Pierre a coupé le bois en petits morceaux. (Kotschi 1991: 132)

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(d) Verbmodifizierende Adverbiale spezifizieren den verbalen Sachverhalt selbst, ohne besonderen Bezug zu einem seiner Mitspieler:

    (12) La police surveillait étroitement la maison. (Kotschi 1991: 132)

(e) Aspektuelle Adverbiale geben die "innere Zeit" oder das Ausmaß des verbalen Geschehens an. Sie sind genaugenommen eine Untergruppe der verbmodifizierenden Adverbiale:

    (13) Pierre coupe la viande en dix minutes. (Kotschi 1991: 130)

Satzadverbiale sind in vieler Hinsicht ein Sonderfall. Während die Funktion der genannten Gruppen und Untergruppen auf der Ebene der Sachverhaltsdarstellung, d.h. innerhalb des Satzes liegt, operiert ein letzter, für unsere Überlegungen aber sehr wichtiger Typ von Adverbialen außerhalb, genauer "oberhalb" der Satzebene. Satzadverbiale spezifizieren nicht die Relation eines Sachverhaltspartizipanten zum Sachverhalt (wie in Bsp. (15)), sondern die Beziehung des Sprechers zum Gesagten (Bsp. (14)). Ihre Funktion gehört also nicht zum plan du dit, sondern zum plan du dire (Ducrot 1984). Obwohl durch diese Bestimmung ein fundamentaler Unterschied zwischen Satzadverbialen und den unter (a) - (e) aufgeführten Adverbialen der Art und Weise benannt ist, gibt es "Nahtstellen", an denen sich beide Gruppen berühren. Eine satzadverbiale Funktion können attitudinale Adverbien haben, wenn sie von Sprechern zur Spezifizierung von Sachverhalten in der ersten Person des Singulars (1s) verwendet werden (Bsp. (16)). Attitudinal fungiert confidentiellement in (16) im Matrixsatz, wo es die Sachverhaltspartizipation des Agens je spezifiziert; satzadverbiale Funktion hat es dagegen in Bezug auf den eingebetteten Nebensatz, weil es die Beziehung des Sprechers zu dessen Inhalt angibt.

    (14) Confidentiellement, l'université va être radicalement transformée. (Melis 1983: 158)
    (15) Pierre a confidentiellement informé Marie de ce que l'université va être transformée.
    (16) Je vous informe confidentiellement de ce que l'université va être transformée.

Daß solche Verwendungen in der Sprecher-Origo überhaupt recht häufig vorkommen, kann aus Untersuchungen zur verbalen Morphologie erschlossen werden: einschlägige Korpus-Auszählungen8 belegen, daß die 1s in der Frequenz auf dem zweiten Platz hinter der 3 s rangiert.


Written sources

    Present Indicative (N=3570)           Preterite (N=405)



    1s 23%       1p 7%             1s 31%       1p 4%

    2s 16%       2p 1%             2s 7%        2p 0%

    3s 44%       3p 9%             3s 47%       3p 10%



Spoken sources:

    Present Indicative (N=14 332)         Preterite (N=10 414)



    1s 24%       1p 4%             1s 22%       1p 4%

    2s 11%       2p  -             2s 4%        2p  -

    3s 41%       3p 20%            3s 51%       3p 19%



(aus: Bybee 1985: 71) Abb. 3

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Bedenkt man nun, daß ja die Subjekte, mit denen eine verbale 3s sich verbinden kann, auf alle möglichen Entitäten und Personen referieren können (in (7) - (15) Jean, le policier, Pierre, la police usw.), während das Subjekt eines Verbs in der 1s sich notwendigerweise immer auf den Sprecher bezieht, dann geht aus den oben angeführten Zahlen ein wichtiger Befund hervor: am weitaus häufigsten wird als syntaktisches Subjekt das ICH des Sprechers kodiert, oder, anders ausgedrückt: Sprecher verweisen beim Reden am häufigsten auf sich selbst. Dies bedeutet nicht, daß Sprecher sich dabei notwendigerweise selbst zum Thema machen. Mindestens ebenso häufig dürfte der Fall eintreten, daß sie auf sich selbst verweisen, um ihre Einstellung zu den von ihnen thematisierten Sachverhalten zu markieren. Die Häufigkeit der Verwendung der 1s wäre also, wenn diese Überlegung richtig sind, vor allem bedingt durch die hohe Frequenz von Floskeln wie Ich finde ehrlich gesagt, daß ..., Ich würde wirklich gerne mal wissen, wie ..., Ich kann mir gut vorstellen, daß ..., Ich glaube kaum, daß ... usw. Dies bedeutet nun aber, daß der Mitspieler, dessen Sachverhaltspartizipation durch den Einsatz von Adverbialen spezifiziert wird, besonders häufig identisch mit dem Sprecher ist.

Diese Vorüberlegungen leiten nun (endlich!) zu meiner zentralen These über: Grammatikalisierte Adverbmarker, mit deren Hilfe sich Adjektive in Adverbien verwandeln lassen, sind - diachronisch betrachtet - das unbeabsichtigte Ergebnis von alltagsrhetorischen Strategien. Der Zweck dieser Strategien besteht darin, daß die Sprecher ihre eigene Beteiligung an Sachverhalten und ihre eigene Haltung zu Sachverhalten eindrucksvoll und glaubhaft darstellen wollen. Ein plausibler Kanal der Grammatikalisierung von Adverbmarkern ist, mit anderen Worten, der Bereich der attitudinalen Adverbiale und der Satzadverbiale.

2 Romanisch -mente

2.1 mens/mente, 'Verstand'

Lateinisch mens drückt schon durch seine lexikalische Bedeutung Attitudinalität aus: (1) 'Geist', 'Verstand', (2) metonym. 'Denkart', 'Sinnesart', (3) metonym. 'das Gedachte', 'die Gedanken', (4) metonym. 'Absicht'. Dieses Lexem ist geradezu prädestiniert dazu, als Kopfkonstituente komplexer Adverbiale in attitudinaler Verwendung aufzutreten:

    (17) Consolor socios, ut longi taedia belli / mente ferant placida (Ovid, Met. 13. 214, cf. Karlsson 1981: 43)
    'Ich ermutige die Verbündeten, damit sie die Plagen des langen Krieges mit ruhigem Geist ertragen.'

Bei mente placida handelt es sich um eine freie syntaktische Konstruktion mit variabler Wortfolge. Im klassischen Latein waren Konstruktionen geläufig wie immemori pectore 'vergeßlich', laetanti pectore 'freudig', immiti corde ', unfreundlich', languenti corde 'schwach', studioso animo 'eifrig'9 (Karlsson 1981: 42), deren Kopfkonstituenten wörtlich oder metonymisch den Sitz der Gedanken oder Gefühle denotierten: pectus 'Brust', meton. 'Gefühl', cor 'Herz', animus 'Seele'.

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Zum Einsatz als Kopfkonstituente attitudinaler Adverbiale eignen sich Nomina wie mente, weil sie den Sitz bestimmter Eigenschaften denotieren, die Mitspieler in der Rolle AGENS auszeichnen, etwa die Intentionalität, mit der eine Handlung durchgeführt, oder die Kontrollfähigkeit in Bezug auf diese Handlung. Außerdem steht das durch mens/mente bezeichnete Konzept als Sitz der Empfindsamkeit in enger Affinität zur semantischen Rolle des EXPERIENCERS10 (vgl. oben, Bsp. (8), und, für -mente, Bsp. (17)).

Diese Überlegungen machen deutlich, daß mente in (17) etwas Ähnliches leistet wie das in Kap. 1.1. skizzierte Verfahren (b), mit dem Unterschied freilich, daß die Sachverhaltspartizipation des betreffenden Mitspielers nicht durch grammatische Kongruenz markiert wird, sondern durch die assoziative Teil-Ganzes Kontiguität des (durch ein Lexem ausgedrückten) Konzeptes VERSTAND zu dem betreffenden Mitspieler.11

Anstelle von mente placida hätten in (17) auch die mit dem EXPERIENCER kongruierende Form placidi oder die grammatische Adverbform placide verwendet werden können. In der Tat finden sich schon früh Fälle, in denen mente-Adverbiale koordiniert mit "echten" Adverbien auftreten:

    (18) [...] muliebriter forsitan sed fida mente [...]. (Quintus Curtius Alex 8.37, cf. Karlsson 1981: 43)
    'wie eine Frau vielleicht, aber treuen Herzens'

Diese Koordinierungsmöglichkeit sagt nichts über den Grammatikalisierungsgrad der mente-Konstruktion aus; sie beruht ausschließlich darauf, daß sowohl muliebriter als auch das mente-Adverbial in derselben (adverbialen) Satzfunktion auftreten. Anders als Formen wie placidi oder placide verweist mente placida in (17) auf das Organ, mit dem der EXPERIENCER am Sachverhalt teilnehmen soll. Es sagt - im Wortsinn - also mehr über die genaue Art und Weise der Sachverhaltspartizipation aus. Anders ausgedrückt: in einem Term, der wie placida mente die mentale Disposition zum Ausdruck bringt, mit der ein Sachverhalt durchgeführt oder erfahren wird, ist im Hintergrund bereits die Art und Weise angelegt, in der der betreffende Sachverhalt durchgeführt oder erfahren wird. Allerdings unterscheiden sich die mente-Adverbiale von grammatischen Adverbien dadurch, daß sie zunächst - wegen der lexikalischen Bedeutung von mens - immer die mentale Disposition von menschlichen AGENTES und EXPERIENCERN angeben und niemals beispielsweise als instrumentelle oder aspektuelle Adverbiale fungieren können.

Die Grammatikalisierung von mens/mente bedeutet, daß es seine lexikalische Bedeutung 'Verstand' ablegt, und daß das im Hintergrund der MENTALEN DISPOSITION BEI DER SACHVERHALTSPARTIZIPATION angelegte Konzept ART UND WEISE DES SACHVERHALTES zur neuen Bedeutung von mente führt. Es muß sich, mit anderen Worten, ein metonymischer Bedeutungswandel vollziehen. Gleichzeitig muß sich die Technik einer Kombination von mente mit umfangreichen Gruppen frequenter Adjektive als geläufige Praxis einbürgern. Erst diese zweite Dimension des hier interessierenden Sprachwandelprozesses macht seine Qualität als Grammatikalisierung aus und unterscheidet ihn vom einfachen lexikalischen Wandel. Für beide Teilprozesse - für den metonymischen Bedeutungswandel ebenso wie für die Ausbildung der neuen Kombinationstechnik - müssen plausible subjektive Motive auf seiten der Sprecher gefunden werden.

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Noch eine Vorbemerkung zur Rekonstruierbarkeit des historischen Verlaufs der Grammatikalisierung von mente: dieser Prozeß war Produkt der lateinischen Mündlichkeit. Im geschriebenen Latein der Spätantike finden sich lediglich indirekte Hinweise auf seinen Verlauf (s.u.). Den ältesten eindeutigen Beleg dafür, daß mente nicht mehr in der Bedeutung 'Verstand' verwendet wird, stellt in alia mente 'in anderer Weise / anders gesagt' dar, das in einer späten Version der lex Salica (ca. 763/4)12 auftaucht (vgl. Karlsson 1981: 47). Als Paraphrase für das Adverb singulariter 'nur', 'ausschließlich' findet sich in den Reichenauer Glossen (8. Jh.) der Ausdruck solamente (1561a, cf. Karlsson 1981: 48).13 Von diesen spärlichen Hinweisen abgesehen sind wir, was den Verlauf des Grammatikalisierungsprozesses selbst angeht, auf Spekulationen angewiesen. In den schriftlichen Zeugnissen trat mens/mente zu jeder Zeit besonders häufig zusammen mit bestimmten Adjektiven auf. Es ist plausibel anzunehmen, daß sich unter diesen Verbindungen diejenigen Konstruktionen befinden, innerhalb derer der Anstoß zur Entwicklung von mente zum Adverb-Marker erfolgte. Einer Aufstellung von Karlsson (1981: 45) zufolge, die auf einem Korpus schriftlicher Quellen beruht, sind dies in der Zeit vor 200 v. Chr. (der Häufigkeit nach geordnet): (1) tota, (2) qua, (3) tacita, (4) ea, (5) memori, (6) divina, (7) hac. Unter dem Einfluß des Christentums kam es zu einer neuen "Rangliste" der häufigsten Verbindungen mit mente, die die alte Frequenzhierarchie völlig ersetzte. Gleich blieb nur, daß tota weiterhin Platz 1 belegte. Es folgten auf den Rängen Adjektive wie (2) devota, (3) pura, (4) sincera, (5) secura, (6) pia, (7) sollicita, (8) sacrilega, (9) fideli, (10) grata, (11) sana, (12) libera, deren Häufigkeit Karlsson dem christlichen Einfluß zuschreibt. Sämtliche der angeführten Verbindungen wurden (ebenso wie tota mente) in Gebeten und Predigten häufig verwendet, und dürften über diesen Kanal in Kontakt zur alltäglichen sprachlichen Praxis der Sprecher gestanden haben.

2.2 Tota mente: von der mentalen Disposition zum hohen Grad der Sachverhaltspartizipation

Ein plausibler Ansatzpunkt für den Übergang der mente-Adverbiale von der Darstellung mentaler Dispositionen von menschlichen AGENTES und BETROFFENEN in andere Klassen der Adverbiale der Art und Weise ist die Verbindung tota mente 'mit ganzem Verstand': ein Mitspieler, der als AGENS oder als BETROFFENER an einem Sachverhalt MIT GANZEM VERSTAND beteiligt ist, partizipiert immer gleichzeitig im höchsten ihm überhaupt möglichen Grad, d.h. VÖLLIG. Das Konzept VÖLLIG ist im Hintergrund des Konzeptes MIT GANZEM VERSTAND bereits angelegt. Erklärt werden muß freilich, warum es überhaupt zu einer metonymischen Figur-Grund-Verschiebung zwischen beiden Konzepten kommt.14 Wörtlich verwendet wird tota mente in (19), wo wirklich der VERSTAND des Sprechers Thema ist:

    (19) Sed [...] omnia terrent // Virgineas mentes dirusque ante ora Pyreneus // Vertitur et nondum tota me mente recepi (Ovid, Met. 5.275, cf. Karlsson 1981: 46)
    'Aber alles erschreckt // unerfahrene Geister; und vor meinen Augen schwebt [das Bild des] schrecklichen Pyreneus // Und mein Verstand hat sich noch nicht wieder ganz erholt (wörtl.: ich habe mich noch nicht am ganzen Verstand erholt)'.

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Dagegen geht es den Sprechern in Konstruktionen wie tota mente gratulor (Ovid, Tristia 1.9.53) 'ich gratuliere von ganzem Herzen', mente tota volo (Seneca, Ep. Mor. 71.36), 'ich wünsche [etwas] von ganzem Herzen', tota mente devotus (vgl. Commodian, Carm. de duo. pop., 138) '[einer Sache] von ganzem Herzen / voll und ganz hingegeben' nicht mehr darum, Aussagen über ihren Geisteszustand zu machen. Vielmehr versuchen sie, expressiv darzustellen, wie ernsthaft sie eine Handlung betreiben, wie aufrichtig bzw. wie sehr sie etwas wünschen oder wie stark sie von einem Sachverhalt betroffen sind. Der eigentliche Grund dafür, daß tota mente häufig verwendet wurde, bestand m.a.W. darin, daß dieser Ausdruck sich gut dazu eignete, hohe Grade von Sachverhaltspartizipation glaubhaft zu unterstreichen. Ausgangspunkt des Bedeutungswandels von mente ist also eine Beglaubigungsstrategie.

In den Texten der Kirchenväter wird tota mente typischerweise in Formeln verwendet, in denen die Lesart 'Verstand' zwar nicht auszuschließen ist, wo aber das Konzept VÖLLIG deutlich im Vordergrund steht, wie z.B. tota mente conuerti 'völlig bekehrt' (Hieronymus, Jerem. 1.55.3), tota mente feruere '[vor Begeisterung] von ganzem Herzen glühen' (vgl. Hieronymus, 4.23.4), tota mente confidere (Leon. Sacr.) 'aus ganzem Herzen vertrauen', tota [...] mente subiectum 'ganz und gar untertan' (ebd., cf. Karlsson 1981: 46).

Tota mente MENTALE DISPOSITON HOHER GRAD DER SACHVERHALTSBETEILIGUNG
expressives Mittel 'mit ganzem Verstand' Figur Grund
eigentlich Gemeintes 'völlig', 'ganz und gar' Grund Figur

Abb. 4

Im folgenden Beispiel für die Verwendung eines (Teil)Synonyms von tota mente, perfecta mente, ist schließlich die Lesart 'Verstand', 'Geist' problematisch. Möglicherweise "scheint" hier die in der Mündlichkeit längst üblich gewordene neue Bedeutung "durch":

    (20) [...] sed omnes perfecta mente credentes erunt thronus dei. (Hieronymus, Jerem. 1.59.1)
    'Aber alle werden völlig / ?vollendeten Geistes gläubig sein vor dem Thron des Herrn.'

Wenn die bisherigen Überlegungen richtig sind, dann ist der Ausgangspunkt für die Grammatikalisierung der mente-Adverbien also weniger in deren Bezug zur Agentivität zu sehen (vgl. so: Krefeld, im Druck), als vielmehr im möglichen Sprecherbezug;15 Tota mente 'ganz und gar' erlaubt es Sprechern, sich auf eindrucksvolle Art und Weise selbst als Mitspieler darzustellen, die in höchstem Maße (sei es als AGENTES, sei es als BETROFFENE) an Sachverhalten teilhaben (d.h. AUS GANZEM HERZEN GLAUBEN, WÜNSCHEN, FÜHLEN usw.). Diese starke Motivation macht verständlich, wieso es in vielen Sprachen zur Darstellung eines hohen Grades der Sachverhaltspartizipation feste adverbiale Ausdrücke vom Typ dt. von ganzem Herzen, aus tiefstem Herzen, mit Leib und Seele, altfrz. de tout coeur, de couer, de son couer, frz. de tout son coeur, altspan. de coraçon, dalma & de corazon gibt.

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Allerdings haben wir bisher nur erklärt, wie es zu einem Bedeutungswandel für einzelne Verbindungen wie tota mente oder perfecta mente kam. Zur Grammatikalisierung von mente als Adverbialmarker war es zusätzlich notwendig, daß es einen ähnlichen Bedeutungswandel wie bei tota mente in Verbindung mit größeren Gruppen von Adjektiven durchlief.

2.3 Mente und die "christlichen" Adjektive

Die Adjektive, welche die christlichen Autoren der Spätantike besonders häufig zusammen mit mente verwendeten (s.o.), drücken Konzepte aus, die in hohem Maße normativ aufgeladen sind. (Eben dies macht ihre Affinität zum Christentum aus.) Entweder geben sie Eigenschaften an, die besonders positiv bewertet (devotus 'hingebungsvoll', purus 'rein', sincerus 'aufrichtig', pius 'fromm', sollicitus 'eifrig', fidelis 'treu', gratus 'dankbar', liber 'freimütig', securus 'ruhig', 'furchtlos') oder aber, im Gegenteil, stark negativ besetzt sind wie sacrilegus, 'frevlerisch'. Diese Adjektive eignen sich deswegen in hohem Maße zum Argumentieren: mit ihrer Hilfe kann ein Sprecher eigene Handlungsweisen positiv herausstellen oder nicht genehme Handlungen anderer brandmarken. Wenn diese Adjektive dazu dienen sollen, attitudinale Dispositionen darzustellen, so ist mente (neben corde und animo) ihr "natürlicher" Kontextpartner. Bei solchen Verwendungen von Adj.+mente sind nun mehrere Fälle zu unterscheiden:

(a) In den Schriften der Kirchenväter werden Adverbiale der Form Adj.+mente häufig verwendet, um mentale Dispositionen darzustellen, die - wie in Texten religiösen Inhalts nicht anders zu erwarten - explizites Thema des Textes sind. Mente ist hier wörtlich zu verstehen.

    (21) [...] corda nostra purificet, ut Scipturas sanctas mente purissima cognoscere mereamur. (Cassiodor, De Inst. Div. Litt. 32)
    'Er möge unsere Herzen reinigen, damit wir es verdienen, die Heiligen Schriften mit möglichst reinem Verstand zu erfahren [...].'
    (22) Parata est misericordia si petatur mente purissima. (Cassiodor, De Inst. Div. Litt. 32)
    'Die Erlösung steht bereit, wenn sie nur mit reinstem Herzen erfleht wird.'

(b) Eine mentale Disposition wird in rhetorischer Absicht angeführt, um einen Sachverhalt zu bewerten. Typischerweise dürfte dieser Fall in der Weise eintreten, daß ein Sprecher, wie in (23) seine eigene mentale Disposition anführt, um einen Sachverhalt zu bewerten, an dem er selbst partizipiert: 'Ich habe in bester Absicht gehandelt - also habe ich gut gehandelt'. Der "Trick" dieses Verfahrens besteht darin, daß der Sprecher zur Bewertung des betreffenden Sachverhaltes seine Glaubwürdigkeit in die Waagschale wirft: wer mit dieser Bewertung nicht übereinstimmt, muß ihm erst einmal unlautere Absichten nachweisen.

    (23) Remedium quod pro vobis, patres conscripti, pia mente tractavimus, non sinimus vobis fieri acerba suspicione contrarium; quia laesionis instar est occulte consulere, et aliud velle monstare. (Cassiodor, Var. Lib. 10, 18) 'Wir lassen nicht zu, daß das Heilmittel, welches wir für Euch, Senatoren, frommen Herzens / in frommer Absicht / fromm erörtert haben, sich für Euch durch einen bösen Verdacht ins Gegenteil verkehrt; denn es kommt einer absichtlichen Verletzung gleich, sich im verborgenen zu beraten, und gleichzeitig etwas anderes beweisen zu wollen.'

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Von Fall (a) unterscheidet sich (b) vor allem dadurch, daß im Mittelpunkt der Redeabsicht nicht die Darstellung der mentalen Disposition eines Mitspielers steht, sondern die bewertende Spezifizierung dieses Sachverhaltes selbst. Diese Tatsache wird transparent in Fällen wie (24), wo dem Satzprädikat menschliche Mitspieler fehlen, auf die Adj.+mente sich beziehen könnte, und wo für mente eine Interpretation per Inferenz als 'Geist', 'Verstand' zwar noch möglich, aber nicht besonders plausibel ist:

    (24) Sed quia nos uti nullum volumus fraudibus suis [= usurpationis], praesertim cum in dispendio pauperum detestabili mente versetur, prasenti auctoritate decernimus ut [...]. (Cassiodor, Var. Lib. 4, 20)
    'Aber weil wir uns keineswegs ihrer [= der Usurpation] betrügerischen Kniffe bedienen wollen, zumal dies *schändlichen Geistes/?in schändlicher Absicht/schändlicherweise in einen Nachteil für die Armen verkehrt würde, beschließen wir kraft unseres Amtes, daß [...].'

Diese Beobachtungen machen verständlich, wie der Umschlag der Bedeutung 'Verstand', 'Geist' in die Bedeutung 'Art und Weise des Geschehens' stattfand:

pia mente feci MENTALE DISPOSITION ART DES SACHVERHALTES
expressives Mittel 'ich habe es frommen Herzens getan' Figur Grund
eigentlich Gemeintes 'was ich getan habe, ist fromm' Grund Figur

Abb. 5

Die Effizienz des rhetorischen Verfahrens führt dazu, daß in argumentativen Kontexten wie in (23) bevorzugt Konstruktionen der Struktur Adj.+mente zum Einsatz kommen - es bildet sich eine Argumentationstechnik heraus, die an diese Konstruktion geknüpft ist.

(c) Der Beginn der Grammatikalisierung von mente manifestiert sich auf zwei verschiedenen Ebenen. Der Bedeutungswandel von mente bewirkt, daß mente-Adverbiale nun auch Sachverhalte spezifizieren können, die gar keine AGENS- oder EXPERIENCER-Mitspieler vorsehen. Mit dieser Tatsache hängt zusammen, daß mente-Adverbiale jetzt nicht mehr ausschließlich attitudinal verwendet werden, sondern auch satzadverbial oder aber verbmodifizierend. In (24) fungiert detestabili mente als Satzadverb, weil es eine Bewertung des Sachverhaltes durch den Sprecher bewirkt; wenn sich mente nun mit Adjektiven verbindet, die keinerlei implizite Bewertung ausdrücken, etwa, wie in (25), mit par 'gleich(wertig)', so entsteht ein verbmodifizierendes (genauer gesagt ein aspektuelles) Adverbial. Beide Möglichkeiten sind im oben skizzierten Bedeutungswandel von mente angelegt.

    (25) Audio Pontificis et populi voluntatem pari mente congruere. (Hieronymus, Epist. 49, 4)
    'Ich höre, wie der Wille des Pontifex und der des Volkes in gleichem Maße übereinstimmen.'

Beispiele wie dieses, wo mente eindeutig nicht mehr als 'Verstand' zu interpretieren ist, sind die Ausnahme in den schriftlichen Belegen. Daß eine vom Standpunkt der (schrift-)lateinischen Norm "falsche" Verwendung dieses Wortes, die wahrscheinlich in der Mündlichkeit längst gang und gäbe war, sich hier in die Schriftlichkeit "einschleichen" konnte, hängt sicher damit zusammen, daß in (25) das von voluntatem bezeichnete Konzept WILLE in Kontiguität zu den menschlichen Mitspielern pontifex und populus steht, die außerdem explizit im Text genannt werden.

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Als Ergebnis des oben skizzierten Bedeutungswandels ist neben die alte Bedeutung 'Verstand' die neue Bedeutung 'Art und Weise' getreten; mente, ohnehin bereits polysem (s.o., 2.1.), ist um eine Bedeutungsvariante reicher geworden. Der Bedeutungswandel von mente hat nun aber seinerseits fatale Auswirkungen auf das rhetorische Verfahren, dessen Wirksamkeit er ja erst sein Zustandekommen verdankt. Denn dieses Verfahren bezieht seine Expressivität aus der konzeptuellen Differenz zwischen dem "Gesagten" (nämlich der mentalen Disposition des Sprechers) und dem "Gemeinten" (nämlich der Art und Weise, wie ein Sachverhalt sich ereignet). In dem Maße, wie das Gemeinte zur neuen Bedeutung von mente wird, verliert das Verfahren seine Pointe. In den schriftlichen Quellen wird dies nur daran deutlich, daß mente-Adverbiale ohne besondere kommunikative Motivation eingesetzt werden, d.h. ohne daß es den Sprechern darum geht, sie zur Bewertung von Sachverhalten einzusetzen:

    (26) [...] cuncta quae antiqui expositores probabiliter dixerunt, sollicita mente tenenda sunt. (Cassiodor, Inst., 24) '[...] alles, was die alten Schriftsteller wahrscheinlich gesagt haben, muß eifrigen Geistes / eifrig festgehalten werden.'

Die vormals höchst effizienten mente-Adverbiale sind, kommunikativ gesehen, zu Worthülsen mutiert, die sich von grammatischen Adverbien des Typs placide oder solliciter nur noch stilistisch unterscheiden. Mente ist, mit anderen Worten, grammatikalisiert. Die Tatsache, daß die Sprecher Adj.+mente-Konstruktionen normalerweise konsequent aus der Schriftlichkeit heraushielten, wenn dadurch die Lesart 'Verstand' hätte verletzt werden können, zeigt aber, daß ihnen die assoziative Beziehung von alter und neuer Bedeutung durchaus bewußt war, daß also Adj.+mente lange Zeit ein Rest seiner alten Expressivität weiter anhaftete.

3 Die Entwicklung von englisch -ly

Der Prozeß, der zur Entstehung von engl. -ly führt, unterscheidet sich in vieler Hinsicht von der Entwicklung von lt. -mente. Er gleicht ihr jedoch in einem entscheidenden Punkt: auch dieser Grammatikalisierungsprozeß läßt sich als ungewolltes Resultat alltagsrhetorischer Verfahren deuten. Ausgangspunkt dieses Prozesses ist, wie bei mente, der Bereich der attitudinalen Adverbien. Genaugenommen ist die Entstehung von -ly als Adverbmarker das Ergebnis von zwei aufeinanderfolgenden Grammatikalisierungsvorgängen, die, obwohl sie ineinander übergehen, analytisch streng getrennt werden müssen, nämlich

(a) der Grammatikalisierung des Substantivs germ. *lika 'Körper' zu einem Derivationssuffix (got. -leik, germ. -lik, an. -ligr, ae. -lc),

(b) der Grammatikalisierung von -lc bzw. seiner adverbialen Variante -lc(h)e zur Adverbendung -ly, wie wir sie im modernen Englisch vorfinden.

3.1 Von lc 'Körper' zum Adjektivsuffix -lc

Germanisch *lika (got. leik, ae. lik, ahd. lîh, mhd. lîch) war Ausgangspunkt sehr verschiedener etymologischer Entwicklungen. Im Normalfall bezeichnet ae. lic wie im folgenden Beispiel lebende (27) oder, in euphemistischer Absicht, tote16 Körper (Bsp. (28)):

    (27) [...] atol glca, nra gehwylces / lf wi lce [...] (Beowulf 732/3)
    'Übles Untier, es dachte, es würde das Leben aus jedem Körper nehmen'
    (28) r s hlendes lîc ld ws - ubi positum fuerat corpus iesu
    (Jn. Skt. 20, cf. Bosworth/Toller, s.v. Lîc)
    'Wo des Heilandes Körper niedergelegt war'.

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Ausgangspunkt für eine große Vielfalt von Formen mit neuen grammatischen Funktionen war der Bedeutungswandel von 'Körper (von X)' zu 'gleich (wie X)'; etwas, das den KÖRPER VON etwas anderem besitzt, hat DIESELBEN EIGENSCHAFTEN WIE es. Das Resultat dieser Verschiebung finden wir in folgenden Verhältnissen im AE.:

(29) deor 'Tier' deorlc 'wie ein Tier', 'wild', 'tapfer'
freond 'Freund' freondlc 'wie ein Freund', 'freundlich'
cwen 'edle Dame' cwenlc 'wie eine Dame', 'einer Dame geziemend'

Dieselbe konzeptuelle Verschiebung finden wir vor in lc X 'wie X' (> engl. Präp. like), das sich vom Suffix X-lc zunächst nur durch die Voranstellung unterscheidet. Die Bedeutung 'gleich' findet sich außerdem in lc (N) 'der, die das Gleiche' (> me. his/hire liche 'seines-/ihresgleichen'), in gelc (N) 'Gleichheit', 'Ähnlichkeit' und gelc (Adj) 'gleich', 'ähnlich' sowie in glclc (Adj) (1) 'gleich', (2) 'geeignet'17, (3) 'wahrscheinlich'18 (> ne. likely).

In einer weiteren, logisch späteren konzeptuellen Verschiebung, die uns eigentlich nicht interessiert, entwickeln sich Bedeutungen, in denen das im Konzept der GLEICHHEIT bereits angelegte Konzept der NICHT-IDENTITÄT fokussiert wird: etwas, das einer Sache (nur) gleicht, ist eben nicht (ganz) identisch mit ihr. Ein früher Repräsentant dieses konzeptuellen Zusammenhangs ist ae. lcettan 'so tun als ob', 'vorgeben', 'heucheln'. NICHT-IDENTITÄT drückt auch ein anderer Nachfahre von *lika, dt. -lich in schwärzlich (d.h. '(nur) so ähnlich wie schwarz') aus. Im modernen Englischen ist die NICHT-IDENTITÄT die konzeptuelle Grundlage für verschiedene Funktionen von like als Abtönungspartikel.19

Für das Verständnis des unter (29) belegten Derivationsverfahrens ist nun wesentlich, daß -lc keineswegs das einzige Mittel zur Derivation von Adjektiven aus Substantiven war. Ein weitaus einfacheres Muster war die Konversion, bei der, wie in deor (N) 'Tier' > deor (Adj) 'wild', eine saliente Eigenschaft des Konzepts 'Tier' zur Bedeutung des gleichlautenden Adjektivs wurde:

(30) Nomen Adjektiv 1 Adjektiv 2
deor 'Tier' deor 'wild', 'tapfer' deorlc 'wild', 'tapfer'
sr 'Wunde' sr, 'schmerzlich' srlc 'schmerzlich'
sþ 'Wahrheit' sþ 'wahr' sþlc 'wahr'

Schon im AE. wurde nun -lc nicht mehr nur dazu benutzt, Adjektive aus Substantiven abzuleiten, sondern auch, um schon bestehende Adjektive zu modifizieren.

(31) Adj. 1 Adj. 2
freo freolc 'frei', 'adlig', 'froh', 'attraktiv','ansehnlich'
snell snellc 'schnell', 'kühn', 'aktiv'
atol atelc 'schrecklich', 'furchtbar'
earm earmlc 'arm'
grim(m) grimlc 'wild', 'grimmig'

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Historische Grammatiken des Englischen betonen in Anschluß an Uhler (1926), daß beide adjektivischen Formen dieselbe Bedeutung gehabt hätten.20 Uhlers These basiert auf der Beobachtung, daß die kurze Form des Adjektivs und die lc-Form häufig in denselben Kontexten auftreten, oft sogar in verschiedenen Versionen desselben Textes variieren. Mit Uhlers Vorgehen läßt sich allerdings nur die Bezeichnungsgleichheit beider Formen in bestimmten Kontexten, nicht aber ihre Bedeutungsgleichheit nachweisen; diese Vorgehensweise würde zu dem - unzutreffenden (s.u.) - Schluß führen, sauber und säuberlich seien im gegenwärtigen Deutsch synonym, da in jedem Kontext, in dem säuberlich auftritt, immer auch sauber möglich ist. Zwei wertvolle Schlußfolgerungen lassen sich trotzdem aus Uhlers Beobachtungen ziehen:

(1) Im AE. ist -lc semantisch voll transparent, denn obwohl "nahezu jedes Adjektiv [...] eine Ableitung auf -lc neben sich [hat]" (Uhler 1926: 61), werden kaum unterschiedliche Bedeutungen für beide Formen lexikalisiert.

(2) Die Funktion von -lc besteht nicht darin, in bezug auf das durch die adjektivische Wortbasis ausgedrückte Konzept eine NICHT-IDENTITÄT zu markieren, wie dies dt. -lich in dt. schwarz - schwärzlich tut, da der Bedeutungsunterschied zwischen diesen beiden Formen zu augenfällig ist, um weitgehende Bezeichnungsgleichheit zuzulassen.

Die bisher dargelegten Tatsachen werfen nun zwei Fragen auf, die in Wirklichkeit auf eine einzige Frage hinauslaufen:

(1) Warum machen sich die Sprecher die Mühe, ein Adjektiv wie deorlc aus einem Substantiv wie deor abzuleiten, wenn das betreffende Substantiv ohne jeden materiellen Aufwand in ein Adjektiv konvertiert werden konnte?

(2) Was bewegte schließlich die Sprecher dazu, Adjektive per -lc aus anderen Adjektiven zu bilden, wenn es zwischen beiden Bildungen keinen manifesten konzeptuell-semantischen Unterschied gab?

Aus der Sicht der Sprecher war das Verfahren, das Lexem lc an ein anderes Lexem anzuhängen, nicht von dem Wunsch regiert, Transparenz zu erzeugen. Vielmehr wurde das Konzept DIESELBEN EIGENSCHAFTEN HABEN WIE rhetorisch "verpackt" in das kontige Konzept DEN KÖRPER HABEN VON. Dieser "Trick" diente nicht einfach der konzeptuellen Klarheit (oder gar irgendeiner grammatisch-innersprachlichen Funktionalität21 ), sondern sollte überzeugen.22 Zu einem grammatischen Verfahren wurde diese rhetorische Technik in dem Maße wie

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(1) die Bedeutung von -lc sich wandelte, was bedeutete, daß das rhetorische Verfahren seinen Inhalt verlor. Lc bedeutete jetzt, wenn es an Substantive angehängt wurde, nicht mehr 'hat den Körper eines X', sondern einfach nur noch 'hat die Eigenschaften, die ein X ausmachen'.

(2) Aufgrund seines rhetorischen "Effektes" war lc so häufig und so gerne an so viele geeignete Substantive angehängt worden, daß neben dem Bedeutungswandel auch ein Sprachwandel in der Form eingetreten war, daß sich eine neue Technik etabliert hatte. Erst nach dem Eintreten des Bedeutungswandels und dem Verlust der Expressivität von -lc bestand der Sinn dieser Technik nicht mehr darin, effektvoll glaubhaft zu machen, daß jemand oder etwas Eigenschaften eines X hat, sondern einfach nur noch darin darzustellen, daß jemand Eigenschaften hat, die ein X ausmachen. Die Grammatikalisierung von -lc zum adjektivischen Wortbildungsmorphem war das unbeabsichtigte Resultat einer zunächst nur auf Expressivität angelegten rhetorischen Strategie.

Bedeutungswandel und Grammatikalisierung hatten zur Folge, daß es zu einer Ausweitung der möglichen Kontexte kam, in denen -lc auftreten konnte. In seiner neuen Bedeutung 'hat die Eigenschaften eines X' konnte es nun nämlich auch an Adjektive angehängt werden, eine Möglichkeit die lc in seiner wörtlichen Bedeutung 'hat den Körper von X' ja ausschloß.23

Der Sinn dieses Verfahrens könnte in der Verstärkung der Bedeutung des adjektivischen Basislexems bestanden haben: A ist X-lc bedeutet wörtlich 'A hat alle Merkmale, die X ausmachen', d.h. 'A ist echt/wirklich X'. An Adjektive angehängt, hätte -lc eine Funktion gehabt, wie sie im folgenden Beispiel aus dem gesprochenen Gegenwartsdeutsch durch voll markiert wird:

    (32) "Ich finde es voll super, daß man auf 610 DM Basis arbeiten kann!" (Interview mit einem Tübinger, 27 Jahre, der in der Gastronomie beschäftigt ist, Zypresse v. 4.12.1997: 18)

Andere Elemente des Deutschen mit einer ähnlichen Funktionen sind echt, wirklich, irre, ganz, oder gar. Kennzeichnend für diese Ausdrücke ist, daß sie Verstärker sind. Sie drücken alle das Konzept IN HOHEM MASSE EINER EIGENSCHAFT X ENTSPRECHEN aus und werden eingesetzt um anzuzeigen, daß der Sprecher die kommunikative Regreßpflicht für ein Werturteil übernimmt. Aus diesem Grund sind super und voll super konzeptuell voll identisch - der Unterschied liegt im Nachdruck, mit dem der Sprecher jeweils sein Urteil unterstreicht.24 (Zum Problem der "mistery particles" im AE., vgl. Brinton 1996: 1-9).

Das grammatikalisierte Ergebnis eines rhetorischen Verfahrens (freond >freondlc) begründete, wenn meine Überlegungen zutreffen, im AE. also ein zweites Verfahren (freo > freolc), das wiederum - allerdings viel unauffälliger - auf einen bestimmten Effekt abzielte. Was aber hatte dieses -lc mit Adverbien zu tun?

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3.2 Vom Adjektivsuffix -lc zum grammatikalisierten Adverbmarker

Das wichtigste Verfahren des AE. zur Markierung der Adverbialfunktion von Adjektiven bestand im Anhängen der Endung -e (ursprüngl. -) an das Adjektiv. Dieses -e ist ein weiterer Nachfahre des indoeuropäischen Ablativsuffix -ed.

    (33) [...] and ure misdda ondettan georne and geornlice betan. (Ges. 246.1., cf. Uhler 1926: 3)
    'und eure Missetaten bereitwillig eingestehen und wirklich bereitwillig gutmachen.'

Der Adverbmarker -e konnte nun sowohl an das "kurze" Adjektiv (sþ - sþe) als auch an suffigierte Formen, darunter eben auch Adjektive auf -lc angehängt werden (sþlic - sþlice). Zu Beginn des Prozesses, der mit der Grammatikalisierung von -ly zum Adverbmarker enden wird, haben wir im AE. häufig die in Abb. 6 dargestellte Situation. Im ME. waren die Adj.2-Formen auf lice > li in der Regel lexikalisiert oder verschwunden (s.u.).

Adjektiv 1 Adjektiv 2 Adverb 1 Adverb 2
sþ
'wahr', 'echt'
sþlic
'echt', 'wahr', 'richtig'
sþe
'wahr', 'echt'
sþlice
1. 'tatsächlich', 'wahrhaftig', 'wirklich'
2. 'nun', 'aber'

Abb. 6

Für das Verständnis des Prozesses, der zur Grammatikalisierung von -lce führte, bedeutet dieser Befund, daß nicht erklärt werden muß, wie -lce in die Adverbialposition hineingeriet: diese Position stand ihm offen, seit es als adjektivisches Derivationssuffix fungierte; erklärt werden muß vielmehr, wieso ausgerechnet -lce zum präferierten Verfahren der Markierung von Adverbien wurde. In Sprachgeschichten des Englischen ist zu lesen, -lce (> -lic(h)e / -li / -ly) habe sich im ME. deswegen als präferierter Adverbmarker etablieren müssen, weil der alte Adverbmarker -e aus phonologischen Gründen geschwunden sei (Bolton 1982: 115, Strang 1970: 237, Brunner 1962: 58) oder weil -e, das gleichzeitig auch Plural und schwache Deklination des Adjektivs markierte, funktional überfrachtet gewesen sei (Gordon 1972: 145, 190). Diese Argumentation würde bedeuteten, daß sich die allmähliche Ausbreitung von -lce/-ly als "Pull-Phänomen" entwickelt hat: die neue Form etabliert sich in dem Maße, wie die alte abstirbt und das so entstehende funktionale Vakuum einen "Sog" auf andere Formen ausübt. Wie ein Blick auf das Deutsche zeigt, sind solche Erklärungsmuster problematisch: im Deutschen wurde nämlich, nachdem wie im Englischen der alte Adverbmarker -e geschwunden war, die kurze Adverbform, die nun identisch war mit der unmarkierten Form des Adjektivs, einfach weiterverwendet.

Wie ich im folgenden zeigen möchte, war die Ausbreitung von -lce/-ly Folge eines "Push-Effektes": die Formen mit -lce/-ly wurden so häufig verwendet, daß sie neben die e-Formen traten und sie schließlich ersetzten. Angetrieben wurde dieser Prozeß vom Bedürfnis der Sprecher, effizient und überzeugend zu reden, indem sie durch -lce/-ly vor allem die Wahrheit oder Wirksamkeit ihrer eigenen Rolle im sprachlich dargestellten Sachverhalt oder ihre Haltung gegenüber den von ihnen dargestellten Sachverhalten unterstrichen.

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Diese Überlegungen machen nachvollziehbar, warum im adjektivischen Bereich die Technik einer Verstärkung durch -lc/- li irgendwann aus der Mode kam und lediglich einzelne lexikalisierte Wortbildungsprodukte hinterließ. So wurde z.B. earnestli 'ernst', 'ernsthaft' im ME. nur noch adverbial (als Adv.2) verwendet, während das entsprechende Adj.2 verschwunden war (vgl. MED). Das Konzept ERNST, ERNSTHAFT spielt eine wesentlich wichtigere Rolle für Situationen, in denen Sprecher ihre eigene Einstellung markieren, und nur in solchen Situationen ist eine Bekräftigung dieses Konzeptes wirklich sinnvoll: (ich bin wirklich ernsthaft der Meinung, daß ...). Ganz anders in Situationen, in denen über abwesende dritte Personen gesprochen wird: ?der wirklich ernsthafte Dieter. Einer der wenigen Fälle, in denen die Adj.2-Form die unmarkierte Adj.1-Form überflügelte, war grisl 'schrecklich', 'furchtbar', 'grauenhaft', das gegenüber grise die normalere und frequentere Form darstellte.25 Dieser Sachverhalt ist plausibel angesichts der Natur des Konzeptes SCHRECKLICH, das ja typischerweise emotional stark markiert eingesetzt wird wie in grislich an to lokin '(ganz) furchtbar anzuschauen' grissli deofell '(echt) schreckliche Teufel' (cf. MED, s.v. Grisl); entsprechend entwickelte sich in diesem Fall ausnahmsweise die durch lich/li verstärkte Form zur Normalform des Wortes.

Daß -lce/-ly den Sprechern bevorzugt dazu diente, die eigene kommunkative Regreßpflicht zu unterstreichen, wird daran deutlich, daß sein Auftreten in besonderer Weise an attitudinale und ganz besonders an satzadverbiale Verwendungen gebunden war. Bei Adv.2-Formen handelte es sich immer um attitudinale oder Satzadverbien, und zwar auch dann, wenn das entsprechende Adjektiv keine attitudinale Bedeutung oder weitere nicht-attitudinale Bedeutungen hatte.26

Schon im AE. läßt sich eine Affinität der lce-Adverbien zu attitudinalen und satzadverbialen Verwendungen feststellen. Dies schloß keineswegs aus, daß auch die kurzen Adverbformen attitudinal verwendet wurden - nur fehlte hier eben die besondere Bekräftigung durch den Sprecher. Umgekehrt erfolgte aber diese Bekräftigung ausschließlich in attitudinalen oder satzadverbialen Kontexten. Im Beowulf tritt die Adv.2-Form sþlce ('tatsächlich', 'wahrhaftig', 'wirklich', 'wahrlich') ausschließlich attitudinal oder satzadverbial auf, und zwar immer in Verbindung mit dem Verb secgan 'sagen', 'sprechen'. Die Adv.1-Form sþ dagegen kann attitudinal verwendet werden, tritt aber auch in Verbindungen auf wie word oþer fand se gebunden (Beowulf 871) '(er) fand neue Worte wohl gefügt'. Außerdem bildete sþlce, nicht sþe, eine Funktion als Gliederungssignal ('nun', 'aber' lt. autem in (34)) aus. Grundlage dieses Bedeutungswandels war, daß sþlce so häufig dazu verwendet wurde, die Wahrheit von Sachverhalten zu bekräftigen, daß schließlich aus dieser Funktion metonymisch die Ankündigung eines neuen Sachverhaltes erschlossen werden konnte.

    (34) Sþlce þ s hlend ehrde þt iohannes belwed ws [...]
    Cum autem audisset Iesus quod Ioannes traditus esset [...] (Matt. IV, 12, cf. Bosworth/Toller, Solice)

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Im ME. hatte sich die oben skizzierte Situation verfestigt: li-Formen waren immer attitudinal, und zwar auch dann, wenn die entsprechenden Adjektive nicht-attitudinale Bedeutungen aufwiesen. Umgekehrt konnten jedoch auch die kurzen Adverbformen attitudinal verwendet werden. Plain(e) hatte als Adjektiv und kurzes Adverb neben seiner konkreten Bedeutung (1) 'flach', 'eben' die Bedeutungen (2) 'klar', 'einfach', (3) 'ehrlich', 'freimütig'. Dem langen Adverb plainl fehlte einserseits die konkrete Bedeutung 'flach', 'eben', dafür besaß es andererseits die zusätzliche satzadverbiale Bedeutung 'offensichtlich'. Die Form earm bedeutete sowohl (1) 'arm' als auch (2) 'bedauernswert', earmliche dagegen ausschließlich 'bedauernswert'. Cleane in der kurzen Version wurde verwendet, um konkrete physische Sauberkeit auszudrücken (35), cleanly dagegen hatte die beiden attitudinalen Bedeutungen (1) 'sauberen/lauteren Geistes' (Bsp. (36)) und (2) 'säuberlich', 'sorgfältig'(Bsp. (37)). Sweet, eigentlich 'süß',27 konnte mit -ly verbunden werden, wenn es attitudinal in Bedeutungen wie 'freundlich' oder 'froh' verwendet wurde (Bsp. (38) und (39)). Die kurze Adverbform clear wurde (wie heute noch) typischerweise in Kontexten verwendet wie (40), (41), wo es um physikalische Klarheit (Klarheit des Lichtes, einer Stimme etc.) geht. Dagegen wurde clearly ausschließlich attitudinal (42) und satzadverbial (43) verwendet. Deepe in der kurzen Form bedeutete als Adverb vor allem 'tief' im wörtlichen Sinne (44); es konnte aber auch zur Kennzeichnung einer Haltung verwendet werden (45). Dagegen hatte die lange Form deepliche immer eine attitudinale Bedeutung (46). True 'treu', 'aufrichtig' kann in der kurzen Form zur Kennzeichnung einer Haltung verwendet werden (47), truly (1) 'treu', (2) 'wahr', (3) 'wahrhaftig' wurde immer attitudinal (48) oder satzadverbial verwendet (49). Manchmal finden sich Adverbien mit -ly, die uns heute ungewohnt vorkommen. Falsly ist in (50) attitudinal (diesen Gebrauch gibt es heute nicht mehr) und in (51) Satzadverb (diese Verwendung ist heute noch üblich). Die lange Form blithel, (1) 'glücklich, glänzend' (2) 'bereitwillig', 'gerne' (3) 'ohne Zögern' wird formelhaft als attitudinale Antwort auf Bitten (im Sinne von gerne!, mit dem größtem Vergnügen!) verwendet (52) - für das kurze Adv. blithe (1) 'froh', 'freundlich' fehlen solche Verwendungen.

    (35) Hire over-lippe wyped she so clene (Chaucer, A. Prol. 133 cf. Kennedy/Tatlock)
    'Ihre Oberlippe wischte sie so sauber'
    (36) [...] & if clanly he enne com, [...] / at alle at longed to luer ful lodly he hated (CNN 1089f., cf. Kottler/Markman)
    'und wenn er reinen Geistes kam, [...] / so daß er alles, was mit dem Bösen zu tun hatte, mit großem Abscheu haßte.'
    (37) [...] clanlych planned [...] (Cleanness 310, cf. Kottler/Markman)
    'sorfältig geplant'
    (38) Jesus thenne hem sweetly sayde [...] (Pearl 717, cf. Kottler/Markman)
    'Da sagte Jesus ihm freundlich [...]'
    (39) Swythe swethled vmbe his swange swetely that knyt (GGK 2034, cf. Kottler/Markman)
    'Flink gürtete [es] um seine Hüfte froh der Ritter.'
    (40) And with that water that ran so clere (Chaucer, RR 124, cf. Kennedy/Tatlock)
    (41) The briddis, how they syngen clere (Chaucer RR 618, cf. Kennedy/Tatlock)
    (42) It is wel seyn cleerly that thei ne han (Chaucer, Bo 3 p.4.700-5, cf. Kennedy/Tatlock)
    (43) For he was riche and cleerly out of dette(Chaucer, B.Sh. 1566, cf. Kennedy/Tatlock)
    (44) The takel smote, and depe it wente (Chaucer, RR 1729, cf. Kennedy/Tatlock)
    'Der Pfeil traf und tief ging er hinein'
    (45) And sworne so depe to hire to be trewe (Chaucer, LGW 1234, cf. Kennedy/Tatlock)
    'und schwor so tief, ihr treu zu sein'
    (46) [...] and retretith deepliche thinges iseyn byforn (Chaucer Bo 5 m.3.56, cf. Kennedy/Tatlock)
    '[...] und er behandelt noch einmal in aller Tiefe Dinge, die er zuvor gesehen hat'
    (47) [...] who loveth trewe hath no fatnesse (Chaucer RR 2686, cf. Kennedy/Tatlock)
    (48) It semede he lovede me trewely (Chaucer RR 4582, cf. Kennedy/Tatlock)
    (49) And trewely, as myne housbondes tolde me [...] (Chaucer D.WB 607, cf. Kennedy/Tatlock)
    (50) 'Mafay, thou liest falsly' quod he. (Chaucer RR 7578, cf. Kennedy/Tatlock)
    (51) This man to you may falsly be accused. (Chaucer, cf. Kennedy/Tatlock)
    (52) Quod y 'Telle me [...]'. 'Blythely', quod he, 'com sytte adoun!' (Chaucer BD 749, cf. Kennedy/Tatlock)
    'Sprach er 'Sag mir [...]'. 'Gerne', sagte er, 'Komm setzt Dich hin!'

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Wenn sich für die li-Formen einzelner Adverbien Bedeutungen finden, die selbst keinen strikt attitudinalen oder satzadverbialen Charakter haben, so lassen sich diese Bedeutungen doch diachronisch regelmäßig auf formelhafte Verwendungen attitudinaler und satzadverbialer Bedeutungen zurückführen. So hat gdel, geliche als Adverb außer den attitudinalen Bedeutungen (1) 'gut', 'exzellent', 'schön', (2) 'wacker', 'trefflich', (3) 'gutwillig' die Bedeutung (4) 'möglicherweise', 'überhaupt', die zunächst aus dem Rahmen zu fallen scheint. In dieser Bedeutung tritt goodly typischerweise auf in Redewendungen wie as sone as it gdl mai (MED, s.v. Gdl) 'sobald es irgendwie geht'. Ein metonymischer Zusammenhang dieser Bedeutung zu (3) 'gutwillig' erschließt sich aber über attitudinale Verwendungen wie (53).

    (53) as sone as hit gdl mai (MED, s.v. Gdl)
    'Sobald es irgendwie [< bei gutem Willen (des Sprechers oder einer anderen Person)] [sein] mag'

Daß das Auftreten von -ly zunächst an bestimmte kommunikative Sprecherstrategien gekoppelt ist, bedeutet umgekehrt, daß es zunächst nicht in allen Bereichen auftritt, die gemeinhin als grammatische Domäne der Wortart 'Adverb' gelten, die aber außerhalb des Wirkungsbereiches der Sprecherstrategie lagen. Besonders lange hielten sich die unverstärkten -e-Formen des Adverbs unterhalb der Satzebene, wo sie selbst zu Verstärkung von Adjektiven verwendet wurden.28 Zwar finden sich in dieser Position vereinzelt li-Formen (bei Chaucer tritt neben parfit cleer (TC.4.991) schon parfitly trewe (B.Mel.2380-5) auf), doch sind noch bei Shakespeare kurze Formen in dieser Position Legion: excellent good, horrible steep, grievous sick, indifferent well, exceeding poor, wonderful sweet, marvellous forward etc. Noch heute ist umgangsprachlich mighty powerful üblich (cf. Franz 1909: 220).

Auf eine starke kommunikative Motivation zum Einsatz von -ly weist die Existenz von Formen wie godelyly hin, dessen morphologische Absonderlichkeit wahrscheinlich daher rührt, daß das bereits lexikalisierte Adv. godely durch ein bekräftigendes -ly verstärkt wurde.

    (54) [...] so godelyly to pese he hym conformed. (1457, Hardyng, Chron. A, p.747, cf. MED, s.v. Gdlili)
    '[...] so wirklich gütlich fügte er sich ihm in Frieden.'

Aus dem bisher Gesagten ist deutlich geworden, daß einerseits die langen Adv.2-Formen zunächst nur im Bereich der attitudinalen und Satz-Adverbiale auftreten können, während umgekehrt die kurzen Adv.1-Formen prinzipiell in jeder adverbialen Funktion, d.h. eben auch in attitudinaler und satzadverbialer Funktion möglich sind; von den Adv.2-Formen unterscheiden sie sich nur dadurch, daß ihre konzeptuelle 'Echtheit' nicht ausdrücklich verbürgt wird, daß sie also weniger wirkungsvoll sind. Lange Zeit besteht also Wahlfreiheit zwischen beiden Formen. Diese Wahlfreiheit macht allmählich einem "schleichenden" Obligatorischwerden der ly-Formen Platz.

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Beispiel (46) ist die einzige belegte Verwendung von deepliche bei Chaucer, gegenüber 53 Belegen für deepe, die z.T. attitudinal, z.T. nicht attitudinal sind. Viel weiter fortgeschritten ist bei Chaucer die Generalisierung von -ly bei trewe 'treu', 'wahr'. Attitudinal wird die e-Form in weniger als 10 Fällen verwendet - allesamt Verwendungen der Verbindung to love trewe 'aufrichtig lieben', was nahelegt, daß es sich hier um wiederholte Rede, also einen phraseologisch fixierten früheren Sprachzustand handelt. Die Form truely taucht dagegen 154 mal auf, und zwar sowohl als attitudinales Adverb, als auch als Satzadverb. Der Prozeß des Obligatorischwerdens von -ly vollzieht sich also Wort für Wort, und zwar in Abhängigkeit von der lexikalischen Bedeutung des jeweiligen Adverbs. Adverbien, die verwendet werden, um die WAHRHEIT des Gesagten oder die AUFRICHTIGKEIT der Sprechers auszudrücken, laden in besonderer Weise dazu ein, kommunikative Regreßpflicht explizit zu markieren. Ist diese Praxis erst einmal in Gang gekommen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie obligatorisch wird: derjenige Sprecher, der seine kommunikative Regreßpflicht nicht eigens markiert, setzt sich leicht dem Verdacht aus, die Unwahrheit zu sprechen, es nicht ernst zu meinen usw. "Löcher" ergeben sich in dem so entstehenden Muster nur, wenn es, in der Regel streng auf bestimmte Verben beschränkt, konkurrierende Bekräftigungsverfahren gibt, etwa in Form von Floskeln wie to telle plein and plat, sothe for to telle etc. Dadurch, daß es allmählich obligatorisch wird, führt sich das Beglaubigungsverfahren schließlich selbst ad absurdum: wenn alle jederzeit erkennen lassen müssen, daß sie wirklich die Wahrheit sprechen, kommt der einzelnen Beteuerung keinerlei echter Wert mehr zu.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt durchlief -ly einen letzten metonymischen Bedeutungswandel: statt seines bisherigen konzeptuellen Gehaltes HAT DIE EIGENSCHAFTEN VON drückt es nunmehr aus, daß das Adjektiv, mit dem es sich verbindet, die HALTUNG eines Sprechers oder Partizipanten spezifiziert. Damit hat es genaugenommen eine doppelte Funktion:

(1) Im Bezug auf den Satz markiert es konventionell, daß das Adjektiv, mit dem es sich verbindet, der attitudinalen Sachverhaltsspezifizierung dient. Es hat nun keine rhetorische Funktion mehr, sondern eine grammatische.

(2) In Bezug auf das Adjektiv zeigt es an, daß dieses einen konzeptuellen Gehalt ausdrückt, der sich auf die HALTUNG des Sprechers oder eines Sachverhaltspartizipanten bezieht. So konnte im frühen Neuenglischen ein eigentlich aspektuelles Adverb wie fast 'schnell' ausnahmsweise mit -ly versehen werden29 (was heute nicht mehr möglich ist), wenn dadurch die Inferenz nahegelegt werden sollte, daß der betreffende Mitspieler nicht einfach SCHNELL (d.h. aspektuell), sondern BEREITWILLIG (also attitudinal) handelte (Bsp.(55)).30

    (55) Seeing them come fastly to her house (1645, T. Tully, Siege of Carlisle, cf. OED, Fastly)

Es gibt nun Adverbien im Englischen, die durch das Verfahren der Bekräftigung durch -ly niemals erreicht wurden; diese Adverbien behielten die kurze e-Form bis zum lautgesetzlichen Schwund des -e. Die Nachfahren dieser Formen sind im NE. die sog. endungslosen Adverbien. Solche Adverbien treten typischerweise in enger Verbindung zu bestimmten Verben auf (vgl. 1.1., Verfahren (c)), in deren "Windschatten" sie unerreichbar waren für eine attitudinale oder satzadverbiale Verwendung (und damit für eine Bekräftigung durch -ly). In den folgenden Fällen wird bei attitudinalen Verwendungen die ly-Form verwendet, bei nicht-attitudinalen Verwendungen dagegen die 'kurze' Form. In diesen Kontexten wird die alte Funktion von -ly heute noch augenfällig, die Disposition eines Sprechers oder eines Sachverhaltspartizipanten zu denotieren.

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(56) to fly high to think/talk highly of s.o., to recommend s.th highly
to dig deep to regret deeply
to taste sour to complain sourly
to smell bitter to complain bitterly

Dieser durchaus verlängerbaren Liste lassen sich weiterhin Fälle wie ready 'fertig' vs. readily 'bereitwillig', brief 'in kurzer Zeit, in Kürze', briefly 'kurz', 'in wenigen Worten' hinzufügen, in denen das -ly-Adverb sich durch seine attitudinale Bedeutung von der Bedeutung des endungslosen Adjektivs unterscheidet.

Der Befund, daß Reste der "kurzen" Adv.1-Formen bis heute in Randbereichen fröhlich fortexistieren, wo ein Einsatz des bekräftigenden -lic/-ly kommunikativ keinen Sinn machte, ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß das allmähliche Verschwinden der kurzen Adverbien nicht die Ursache, sondern die Folge einer allmählichen Ausbreitung des kommunikativ wirkungsvolleren -lic/-ly war. Die Grammatikalisierung von -lic/-ly vollzog sich als Push-Prozeß. In einer langen Phase der Wahlfreiheit zwischen "kurzen" Adv.1 und "langen" Adv.2 stiegen Zahl und Frequenz der expressiveren Adv.2 allmählich an. Der Wunsch der Sprecher, wirksam zu reden, führte zu einer statistischen Häufung dieser Formen im attitudinalen und satzadverbialen Bereich und schließlich zu einem Bedeutungswandel von -ly und seiner Grammatikalisierung als Attitudinalitätsmarker:

Adjektiv 1 Adjektiv 2 Adverb 1 Adverb 2

Abb. 7


3.3 Lexikalischer Wandel, Grammatikalisierung und innergrammatischer Funktionswandel

Trotz der Häufigkeit von Fällen wie (56) kann man für das NE. nicht mehr guten Gewissens behaupten, ly-Adverbien seien immer attitudinal, endungslose Formen dagegen nicht. Man kann, wie es meine Erklärung voraussagt, nicht sagen *he ran fastly, weil fast nicht attitudinale, sondern aspektuelle Funktion hat, aber man kann durchaus sagen: he ran quickly, was gegenüber der ebenfalls möglichen Konstruktion he ran quick sogar die normativ 'bessere' Form ist. Und was hat der Unterschied zwischen hard 'hart', 'schwierig' und hardly 'kaum' mit Attitudinalität zu tun? Solche Fälle werfen die schon einmal kurz angeschnittene Frage auf, auf welchem Weg ly-Formen den Bereich der Attitudinalität "verlassen", so daß dieser Bereich nicht mehr die einzige Domäne ist, in der wir sie heute vorfinden.

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Der "Export" von -ly vollzog sich zunächst in der Form des individuellen lexikalischen Bedeutungswandels einzelner ly-Adverbien mit ursprünglich attitudinaler Bedeutung. Diesen Mechanismus können wir am Beispiel von me. boldli u.a. (1) 'energisch', 'zupackend', aber auch (2) 'schnell' illustrieren. Beide Bedeutungen stehen in einem metonymischen Zusammenhang. Ein Sprecher, der expressiv darstellen möchte, daß er etwas SCHNELL tun wird, kann dies tun, indem er sagt 'Ich tue es ENERGISCH'. Für dieses Verfahren ist es in gewisser Weise sogar wichtig, daß es sich bei dem Ausgangskonzept ENERGISCH um ein attitudinales Adverb handelt - seine eigene mentale Disposition kann der Sprecher eher kontrollieren als den außerhalb seiner selbst liegenden zeitlichen Verlauf einer Handlung. Auf einem analogen Weg bildete sich die aspektuelle Bedeutung von quickly aus: ae. cwicu-lce, me. quikl bedeuten 'lebhaft', 'aktiv',' temperamentvoll', 'wendig', auch im Sinne von intellektueller Wendigkeit - to speak quickly 'anschaulich sprechen' (Bsp. (57) war eine durchaus gängige Wendung, in der auch der attitudinale Charakter des Adverbs deutlich wird. Der Ausbildung der Bedeutung schnell liegt also eine metonymische Verschiebung der Art 'ich tue es LEBHAFT' > 'ich tue es SCHNELL' zugrunde.

    (57) Of this same matter it is quikli and smertli spoken in a litil book [...]. (Pecock Repr. 235, cf. MED)

Auf ähnliche Weise kam die Bedeutung 'kaum' für hardly zustande. Das Adjektiv hard bedeutet zunächst 'hart'. Von dieser Bedeutung ist metaphorisch eine zweite Bedeutung 'schwierig' abgeleitet. In dieser Bedeutung konnte hard nun attitudinal verwendet werden, um auszudrücken, daß ein Sprecher etwas Bestimmtes (NUR) UNTER SCHWIERIGKEITEN tun konnte. Diese attitudinale Verwendung, die heute nicht mehr üblich ist, war wiederum die Grundlage für die Ausbildung der Bedeutung 'kaum': wenn jemand etwas (NUR) UNTER SCHWIERIGKEITEN tun kann, dann kann er es KAUM tun (58). Mit dem Ausfallen der Bedeutung 'unter Schwierigkeiten' entfiel das konzeptuelle Bindeglied zwischen den Bedeutungen 'kaum' und 'hart', so daß nun die attitudinale Motivation von hardly 'kaum' für die Sprecher nicht mehr zugänglich war.

    (58) I dar seyn hardelye
    'Ich wage nur mit Schwierigkeiten, es zu sagen.'
    > 'Ich wage es kaum zu sagen.'

Dieser Export von ly-Formen in nicht-attitudinale Verwendungen vollzog sich nicht als einheitliche Beglaubigungstechnik, d.h. als Grammatikalisierung, sondern als lexikalischer Bedeutungswandel einzelner Wörter. Er bildet allerdings seinerseits die Grundlage dafür, daß -ly nicht mehr nur als grammatikalisierter Marker der attitudinalen Funktion, sondern als Ausdruck von Adverbialität schlechthin empfunden, d.h. reanalysiert31 und per Analogie nun auch in Fällen verwendet wurde, die in keinem nachvollziehbaren Bezug zur attitudinalen Sachverhaltsspezifizierung mehr stehen, wie etwa bei den Temporaladverbien formerly, recently oder latterly. Heute ist neben to sing loud auch to sing loudly möglich, auch wenn loudly dort keine attitudinale Sachverhaltspartizipation spezifiziert. Reanalyse und analogische Übertragung vollziehen sich ohne die für Grammatikalisierungsprozesse typische alltagsrhetorische Expressivität. Die Reanalyse von -ly ist ein Hörer-Phänomen, gewissermaßen ein "regelgeleitetes Mißverständnis", Grammatikalisierung als ungewolltes Produkt rhetorischer Verfahren dagegen ist ein Sprecher-Phänomen. Reanalyse und analogische Übertragung, wie sie im letzten Stadium der Entwicklung von -ly eintreten, möchte ich aus diesem Grund nicht als einen Fall von (Weiter-)Grammatikalisierung, sondern als einfachen innergrammatischen Funktionswandel interpretieren.

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3.4 Zusammenfassung

Grammatikalisierung ist, wie ich zu zeigen versucht habe, das unbeabsichtigte Resultat alltagsrhetorischer Sprecherstrategien. Ein plausibler Kanal für die Grammatikalisierung von Adverbmarkern ist der Bereich der attitudinalen Adverbiale, weil der rhetorische Verweis auf die eigene Haltung bzw. die eigene Sachverhaltspartizipation eine starke Motivation für die Sprecher darstellt, Beglaubigungstechniken zu entwickeln. Deutlicher als bei der Grammatikalisierung von -mente lassen sich in der Evolution von -ly neben der Grammatikalisierung im engeren Sinne (Phase 1a und 1b) auch bestimmte Etappen und Teilprozesse (Phasen 2 und 3) unterscheiden, die - weil sie nicht an rhetorische Beglaubigungsverfahren geknüpft sind - auch nicht als konstitutiv für Grammatikalisierungsvorgänge gelten können:

Phase 1a: Zunächst ist die expressive lice-Form eine wirkungsvolle freie Alternative zur Adv.1-Form. Ihr besonderer Effekt besteht darin, daß der Sprecher explizit die Regreßpflicht für Aussagen über ihre Sachverhaltspartizipation übernimmt, die sich auf seine Bewertung von Sachverhalten und/oder seine Partizipation an Sachverhalten beziehen.

Phase 1b: In dem Maße, wie die Verwendung dieser Form von den Sprechern für kommunikativ erfolgreich erachtet wird, wird sie obligatorisch: jeder Sprecher, der sie nicht verwendet, würde sich dem Verdacht aussetzten, keine Regreßpflicht für seine Aussagen zu übernehmen, d.h. sich dem Verdacht auszusetzen, die Unwahrheit zu sagen. In dem Maße, wie das Verfahren obligatorisch wird, verliert es seine Expressivität. An diesem Punkt hört -ly auf, materielle Realisierung eines rhetorischen Verfahrens zu sein und wird zum Marker der Attitudinalität als grammatischer Funktion.

Phase 2: Einzelne der im attitudinalen Bereich entstehenden, zur Regel werdenden oder gewordenen ly-Formen werden durch "normalen" lexikalischen Bedeutungswandel in andere semantische Bereiche "exportiert". Dieser Teilvorgang, der nicht konstitutiv für Grammatikalisierungsvorgänge ist, kann sich jederzeit in Phase 1 und 2 ereignen.

Phase 3: Nach Abschluß von Phase 1 verliert -ly - als Ergebnis von Phase 2 - seine eindeutige Bindung an den Bereich der Attitudinalität und wird als Adverbmarker schlechthin reanalysiert. Analogisch wird -ly nun auch zur Spezifizierung nicht-attitudinaler Sachverhaltspartizipation verwendet. Dieser Teilprozeß des innergrammatischen Funktionswandels unterscheidet sich in seinem Verlauf grundlegend von Grammatikalisierungsvorgängen, für die Sprechermotivationen und Verlaufsmuster der Phasen 1a und 1b charakteristisch sind.

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Anmerkungen

1 Vgl. in diesem Sinne auch Traugott/König (1991) und Traugott (im Druck). Allerdings stimme ich aus Gründen, die ich hier nicht genauer ausführen kann, mit Traugotts Begriff der Subjektivierung nicht überein.
2 Der Ausdruck "romanisch -mente" ist eine Sammelbezeichnung für die in verschiedenen romanischen Sprachen wie dem Französischen, dem Italienischen, dem Sardischen, dem Spanischen, Katalanischen, Portugiesischen, dem Okzitanischen, dem Dalmatischen und dem Raetoromanischen verbreiteten Adverbialsuffixe, die sich diachronisch auf lateinisch mens/mente zurückführen lassen.
3 Vgl. Krefeld (im Druck: 1); ein überaus informativer typologischer Überblick über die große Vielfalt morphosyntaktischer Verfahren zur Markierung von Adverbien findet sich bei Karlsson (1981: 5-33).
4 Ich wähle diesen von Hansjakob Seiler (etwa in: Seiler/Premper 1991) eingeführten Begriff, weil er am prägnantesten die semantischen Zusammenhänge auszudrückt, um die es im folgenden geht.
5 Adverbien können aber auch als Satzadverbien (s.u.) "oberhalb" oder als Gradadverbien (extrêmement bien) "unterhalb" der Ebene der Sachverhaltspartizipation (vgl. Krefeld, im Druck: 2) fungieren.
6 Zwischen den Verfahren (b) und (c) gibt es speziell in den romanischen Sprachen Übergänge, weil in bestimmten Fällen die Kongruenz des Adjektivs mit dem betreffenden Mitspieler fakultativ ist, z.B. bei frz. les amendes tombèrent dru/es (vgl. Grevisse 1390) oder sp. las golondrinas vuelan alto/as (Reumuth/Winkelmann 1991: 272). Diachronisch gibt es im Spanischen und Französischen Übergänge zwischen Strategie (c) und (b), weil auch im Rahmen der Strategie (b) das Auftreten der maskulinen, singularischen Form des Adjektivs den häufigsten Fall darstellt; im altkastilischen Beispiel violos el rey, fermoso sonrrisava (Cid 873) 'der König sah sie, er lächelte freundlich' ist gar nicht ersichtlich, ob hier die Strategie (b) oder (c) vorliegt. Dafür, daß hier wohl eher bereits die Strategie (c) und nicht (b) vorliegt, spricht, daß im Cid die Verbindung fermoso sonrisava formelhaft verwendet wird, was bedeutet, daß im Empfinden der Sprecher die Verbindung von Adverb und Verb hier viel enger war als die zwischen dem Adverb und einem möglichen Subjektmitspieler. Im Englischen und Deutschen ist das Zustandekommen der unmarkierten Adverbformen allerdings, wie wir sehen werden, anders zu erklären.
7 Die Herkunft von lt. -iter ist ungeklärt.
8 Diese Werte basieren auf der Auswertung zweier spanischer Korpora. Dieselben qualitativen Befunde ergeben sich aus einer in Berschin u.a. (1987: 213) dokumentierten Auszählung anderer Korpora.

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9 Von den o.e. Nomina scheint zunächst eher animus Kandidat für einen Wandel in Richtung Grammatikalisierung gewesen zu sein. Es entsteht nämlich eine Familie von Adjektiven auf -animis, die ihrerseits regelmäßig attitudinale Adverbien bilden: aequanimiter 'gleichmütig' (< aequo animo), longanimiter, 'langmütig', 'geduldig' (< longo animo), unanimiter 'einmütig'(< uno animo), pusillanimiter, 'schüchtern' (< pusillo animo, v. pusillus, 'winzig').
10 Während Krefeld (im Druck: 9) sehr ausführlich die Beziehungen von mente zur AGENTIVITÄT diskutiert, wird die Funktion des EXPERIENCERS bei ihm nicht erwähnt.
11 Krefeld charakterisiert mente-Adverbiale auf dieser Stufe sehr allgemein als "Aktanzattribute" (Krefeld im Druck: 9).
12 Die älteste, unter Chlodwig zwischen 507 und 511 kompilierte Version, bestand aus 65 Titeln. Eine spätere Version, von Pippin zusammengetragen, umfaßte 100 Titel. Die o.g. Version taucht in einer Edition aus dem 16. Jh auf, die auf Manuskripten basiert, die später verloren gingen; außerdem findet sie sich in drei Manuskripten, die die Kompilation unter Pippin wiedergeben.
13 Wenn auch die Existenz der Glosse darauf hinweist, daß mente nicht mehr 'Geist', 'Verstand' heißt, so folgt daraus nicht, daß -iter als adverbiales Suffix aus dem Gebrauch gekommen wäre. Singulariter bedeutet normalerweise 'einzeln', 'getrennt'. Wenn es hier mit solamente glossiert wird, so nur um die für den Hl. Hieronymus idiosynkratische Bedeutung 'nur' (metonymisch aus 'einzeln' abgeleitet) anzuzeigen. Im 8. Jh. waren -iter-Adverbien weiterhin beliebt (vgl. Karlsson 1981: 49).
14 Das Argument, die häufige gemeinsame Verwendung von mente und totus sei von der Tatsache beeinflußt, daß totus kein entsprechendes Adverb habe (Karlsson 1981: 46), halte ich für nicht stichhaltig; ein entsprechendes Adverb wäre leicht zu bilden gewesen, und zwar auch auf anderen Wegen als mit mente.
15 Weiter oben habe ich ja dargestellt, daß mente sich ohnehin nicht nur auf AGENTES sondern z.B. auch auf BETROFFENE beziehen kann.
16 Durch solche Verwendungen ist lîh 'Körper' > Leiche, 'toter Körper' im Deutschen zu erklären.

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17 Die konzeptuelle Brücke zur ersten Bedeutung ist wahrscheinlich die, daß jemand, der mit einer anderen Person oder einer Sache, insbesondere einem Problem, gleichauf ist, dieser Person oder Sache gewachsen ist; dieselbe Metapher findet sich auch in frz. être à la hauteur de, être à la mesure de, 'einem Problem gewachsen sein', und être à même de faire qc. 'in der Lage sein, etw. zu tun'.
18 Die konzeptuelle Brücke zur zweiten Bedeutung besteht wohl darin, daß jemand, der in der Lage oder geeignet ist, etw. zu tun, dies auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit tun wird. Der Übergang von der zweiten zur dritten Bedeutung ist also als Metonymie zu deuten.
19 In Ausdrücken wie can I like borrow your sweater? dient es dazu, die kommunikative Regreßpflicht für den riskanten Sprechakt der Bitte zu senken (Underhill 1988: 241) - der Sprecher kann sich im Fall einer negativen Reaktion darauf zurückziehen, er habe den Sweater ja nur 'irgendwie', also nicht wirklich, ausleihen wollen. Vgl. auch Jespersen (1942: 417) und Miller/Weinert 1995. NICHT-IDENTITÄT drückt like auch als Marker der "direkt-indirekten Rede" aus, wie in she went like: stop it! Like drückt hier aus, daß das folgende formal in der wörtlichen Rede kodiert ist, daß damit aber nicht wirklich die Worte der zitierten Person wiedergegeben werden (vgl. dazu Romaine/Lange 1991).
20 Für den gotischen Parallelfall zur oben skizzierten Situation kommt Walker (1949: 293) immerhin zu dem Schluß, die Funktion des Suffixes bestehe darin, daß "[...] it causes a consistent metaphorical, moral, or mental extension of the underlying meaning of the base to which it is added." Auf diese Beobachtung werde ich zurückkommen.
21 Damit widerspreche ich explizit Claude Guimier (1985: 168), der behauptet: "The suffix -lic was created because at one point in their history, the germanic languages had to find a sign, in this case a suffix, allowing them to derive adjectives with the grammatical meaning 'having the attribute of'".
22 Unter dieser Prämisse ist es auch nicht unplausibel, daß *lika die Bedeutung 'Form', 'Gestalt', die oft als notwendiger konzeptueller "Zwischenschritt" für die Entwicklung KÖRPER > GLEICHE EIGENSCHAFTEN WIE angenommen wird, gar nicht als eigenständiges Signifikat herausgebildet hat (vgl. Walker 1949, Guimier 1985). Insofern als der KÖRPER eine besonders prägnante konkrete Erscheinungsform des abstrakten Konzeptes FORM darstellt, ist es plausibel, daß die GLEICHHEIT DER FORM, die die GLEICHHEIT DER EIGENSCHAFTEN beglaubigen sollte, von vorneherein in der prägnanteren Variante der GLEICHHEIT DER KÖRPER versprachlicht wurde.

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23 Die Möglichkeit einer Wortbildungsbedeutung von -lc als '-förmig' oder '-gestaltig', wie sie Uhler (1926: 62) annimmt, um den Dopplungseffekt zwischen kurzen Adjektiven und lc-Bildungen plausibel zu machen (krumm - krummgestaltig, groß - großförmig etc.) scheidet schon deswegen aus, weil die meisten adjektivischen Basen gar keine "Förmigkeiten" oder "Gestaltigkeiten" ausdrücken und deswegen mit Suffixen in dieser Bedeutung gar nicht kombinierbar gewesen wären.
24 Die konzeptuell-semantische "Unauffälligkeit" von echt wird u.a. daran ersichtlich, daß Verwendungen wie das ist aber echt falsch möglich sind.
25 Vgl. MED, s.v. Grise u. Griseli.
26 Guimier (1985) stellt in Übertragung einer These von Walker (1949) auf das Englische (s.o., Anm. 21) fest, die li-Formen hätten vorzugsweise metaphorische oder "moralische" Bedeutungen gehabt. In der von mir vorgeschlagenen Perspektive handelt es sich dabei aber um eine Konsequenz der attitudinalen Verwendung dieser Formen, d.h. um einen sekundären Effekt. Wie wir sehen werden, ist für li-Adverbien des Englischen nur die Bestimmung "moralisch" einigermaßen zutreffend, und dies auch nur dann, wenn damit Bedeutungen gemeint sein sollen, die sich zur Kennzeichnung von (Sprecher - und Mitspieler-) Haltungen eignen.
27 Entsprechend besteht der Unterschied zwischen dt. sauber und säuberlich genau darin, daß säuberlich ausschließlich attitudinal verwendet wird, sauber dagegen sowohl konkret als auch attitudinal.
28 Krefeld (im Druck: 8) vermutet, auch die mente-Adverbien seien in solchen Kontexten zuletzt aufgetreten.
29 Schon im AE. existiert die Form fstlce, aber sie bedeutet 'fest', 'standhaft', 'beständig'. In der Bedeutung 'schnell' wird ae. fst, wie es meiner These entspricht, ohne -lce gebildet.
30 Im OED findet sich für fastly die Bedeutungsangabe: 'quickly, rapidly, speedily; hence, readily' (Hervorh. von mir).
31 Im Sinne der präzisen Definition von Reanalyse, die in Waltereit (im Druck) vorgeschlagen wird.
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