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Gabriele Knauer / Martin Kaluza (Berlin)



Die "indigenistische Theorie" der Phonetik im chilenischen Spanisch von Rodolfo Lenz: Ein Vorläufer der modernen Kontaktlinguistik?


Rodolfo Lenz’s "Indigenist Theory" of Phonetics - to be seen as a precursor of the Modern Contact Linguistics?
First of all, we would like to go through some of the details of Lenz’s indigenist thesis and the relevant comments on Lenz’s thoughts made by Amado Alonso. The second key point is to describe and explain the personal and historical background and the genesis of these ideas. Finally, we try to answer the question, what the role of Lenz’s specific theories as a kind of a conceptual precursor of the modern contact linguistics was, which actual beginning coincides with Weinreich’s works (1953).



Jede beliebige Aussage kann als wahr aufrechterhalten werden, was da auch kommen mag, wenn wir nur anderweitig in dem System ausreichend drastische Anpassungen vornehmen.

W.V.O. Quine 1

0 Mit diesen polemischen Worten Quines soll ein kleines Stück Wissenschaftsgeschichte nachgezeichnet werden, in dessen Mittelpunkt der deutsche Philologe Rodolfo Lenz und seine Theorie über den Einfluß des Mapudungu auf die chilenische habla popular stehen. Es handelt sich dabei um ein Konzept, das in der kontaktlinguistischen Forschung (insbesondere zu Hispanoamerika) immer wieder zur Disposition steht.

Der Name Rodolfo Lenz und seine Kernthesen sowie die seines populärsten Kritikers, Amado Alonso, sind inzwischen, glaubt man zumindest Zimmermann (1995:9), linguistisches Allgemeingut geworden. Damit ist natürlich die Gefahr groß, daß Lenz und sein Werk insgesamt als theoretisch und methodologisch wenig ergiebig bzw. widerlegt angesehen werden. So beklagt Petursson denn auch 1989 auf einem Linguistenkongreß in Chile, Rodolfo Lenz werde heutzutage gar nicht mehr im Original gelesen: "El efecto del trabajo de Amado Alonso fue tal que Rodolfo Lenz cayó al olvido" (Petursson 1989:11).

Im folgenden wird in mehrerlei Weise ein wenig Archäologie betrieben. Zum ersten möchten wir einige Thesen aufarbeiten, die unter den heute bekannten Allgemeinplätzen verschüttet liegen. Das heißt, daß wir einige Details der "indigenistischen These" Lenz' herausgreifen und ihre Diskussion mit Alonso verfolgen. Insbesondere ist dies die Interpretation der phonetischen Befunde, die Lenz dazu veranlaßt haben, die chilenische habla popular als Spanisch mit

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araukanischen Lauten zu charakterisieren. In diesem Zusammenhang kann ansatzweise eine interessante Informationslücke geschlossen werden: Lenz stand in Briefkontakt mit Alonso und wurde so noch zu Lebzeiten mit dessen Kritik vertraut. Zwar sind keine Veröffentlichungen bekannt, in denen er zu der Kritik seines Kollegen Stellung nimmt. Während eines Aufenthaltes in Chile erhielten wir jedoch Zugang zu seinem Nachlaß und konnten dort einen Brief aus dem Jahre 1928 ausfindig machen, in dem Lenz Alonso kurz erklärt, warum er trotz dieser Kritik an seiner Theorie festhalten kann (vgl. 3.3). Leider ist der Nachlaß generell in einem sehr bedauernswerten Zustand, so daß weitere Nachforschungen zu diesem Aspekt nicht möglich sein werden.

Der zweite wichtige Aspekt liegt darin nachzuzeichnen, wie sich Lenz' Ideen aus bestimmten persönlichen und historischen Gegebenheiten ergeben haben. Das wäre zwar auch ein erkenntnistheoretisch außerordentlich interessantes Thema 2, aber hier soll es um einen anderen Aspekt gehen: Wie Zimmermann (1995:11) feststellt, ist die Diskussion um die Einflußstärke bestimmter indigener Sprachen auf das Spanische keine rein sachliche. Vielmehr scheint schon die Wahl des Forschungsansatzes stark von den ideologischen Grundeinstellungen des jeweiligen Kontaktlinguisten abzuhängen. Hierüber werden wir zwar keine allgemeinen Feststellungen treffen, aber am Beispiel Lenz lassen sich durchaus solche ideologischen Grundeinstellungen anhand seines persönlichen und historischen Umfeldes vorstellen, die für die Einschätzung bestimmter Thesen von Nutzen sind. Dieser dritte Aspekt ist der Ausgangspunkt der nun folgenden Betrachtungen.

1 Rudolf Lenz 3, geboren am 10.9.1863 im sächsischen Halle, studiert nach Besuch des Gymnasiums vor allem in Bonn und Berlin Romanistik, Germanistik und Anglistik. Bereits 1886 promoviert er über ein Thema der Phonetik, nämlich "Zur Physiologie und Geschichte des Palatalen". Nachdem Lenz ein Jahr in Deutschland als Lehrer tätig ist, wird er von der chilenischen Regierung unter Vertrag genommen, um am Instituto Pedagójico in Santiago (heute Universidad Metropolitana) zunächst Französisch und Englisch zu lehren.

Neben dieser Lehrtätigkeit nimmt Lenz sofort seine wissenschaftliche Arbeit wieder auf. Sein Interesse gilt gleich drei Gebieten: er veröffentlicht zahlreiche Aufsätze und Monographien zu Pädagogik und Didaktik in der Sprachlehre, Untersuchungen und Dokumentationen der Sprache und Kultur der Araukaner sowie linguistische Arbeiten. Seine Untersuchungen über Phonetik, Syntax und Morphologie der chilenischen habla popular gelten als die ersten umfangreichen Arbeiten über einen Dialekt des Spanischen überhaupt (Vgl. Alonso 1940a:277).

Die wichtigsten linguistischen Arbeiten, darunter die "Beiträge zur Kenntnis des Amerikaspanischen" und die "Chilenischen Studien" veröffentlichte er zunächst in Deutschland und auf deutsch (vgl. Bibliographie). Lenz selbst erklärt dies zum einen damit, daß chilenische Akademiker damals keinen wissenschaftlichen Wert in der Untersuchung der habla popular 4 gesehen haben, zum anderen mit dem Fehlen phonetischer Schrifttypen. 5 Sowohl die "Beiträge" und die "Chilenischen Studien" wurden erst 1940, zwei Jahre nach seinem Tod, erstmals in spanischer Sprache veröffentlicht (vgl. Bibliographie).

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Der Bewertungsmaßstab, den Lenz für seine linguistische Forschungsarbeit ansetzt, sind die theoretischen Konzepte (vgl. 1.1), die er aus dem Diskurs und dem Sprachunterricht der europäischen Universitäten seiner Zeit importiert, und durch seine Veröffentlichungen in Deutschland bleibt er an den europäischen akademischen Diskurs angekoppelt. 6 Dies bildet, zusammen mit seinen spezifischen Sprachkenntnissen, den Ausgangspunkt für seine Forschungen in Chile.

El español que conocía era el aprendido en su universidad alemana de acuerdo con los preceptos académicos, y ya se sabe que la Academia no entra en asuntos de fonética (Alonso 1940b:281).

Er sah sich demnach bei seiner Ankunft in Chile einer Reihe ihm unbekannter Redewendungen und phonetischer Eigenheiten gegenüber, so daß er zunächst Verständnisschwierigkeiten hatte. Umso bemerkenswerter ist es, daß er sich im Prinzip sofort daran machte, die für ihn neuen Befunde der Phonetik außergewöhnlich schnell aufzuarbeiten. Die "Chilenischen Studien" erschienen erstmals 1891/92, die "Beiträge" 1893. Sieht man von einigen wenigen Fehleinschätzungen ab, die darauf zurückzuführen sind, daß Lenz bei einigen Selbstversuchen seinen deutschen Akzent nicht ablegen konnte, hat er in dieser kurzen Zeit nach seiner Ankunft eine bahnbrechende Arbeit geleistet. 7 Trotz der immer wieder geleisteten Kritik attestiert Alonso: "En la historia de la fonética española, Lenz ha de figurar siempre en lugar de honor" (vgl. Alonso 1940a:273).

Diesen Ehrenplatz räumt Alonso ihm freilich allein für den deskriptiven Teil der Arbeit ein, nicht für die sprachgeschichtliche Herleitung der entdeckten Phänomene, also der Ansicht, die chilenische habla popular sei in der Hauptsache Spanisch mit araukanischen Lauten. Lenz nimmt zwei kritische Aspekte als selbstverständlich an, anscheinend ohne Alternativen in Betracht zu ziehen:

Al llegar a Chile, Lenz se puso a estudiar la pronunciación vulgar de los chilenos, y cada novedad que hallaba, novedad para el español que Lenz traía de Alemania, la interpretaba como fenómeno peculiar de Chile, ajeno a la índole del idioma español, y, por lo tanto, debido a la influencia de la lengua araucana desplazada (Alonso 1940b:281, Hervorhebung im Original).

Alonso legt damit den Verdacht nahe, Lenz habe seine Thesen nicht aus dem Datenmaterial heraus entwickelt, sondern eine Theorie rund um eine persönliche Überzeugung herum aufgebaut. Wie dem auch sei, wir können die beiden Aspekte zunächst voneinander trennen, um zu sehen, daß sie unabhängig voneinander zu erklären sind:

    (1) Die Abweichungen vom Standardspanisch, die Lenz in der habla popular vorfindet, sind chilenische Eigenheiten.
    (2) Die Besonderheiten der chilenischen habla popular haben ihren Ursprung in der Sprache der Araukaner.

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These (1) läßt sich in der Tat mit der Herkunft und Bildung Lenz' erklären. Daß er zudem vom wesentlichen Einfluß des Araukanischen überzeugt war, wird vor allem dann nachvollziehbarer, wenn wir zwei weitere Faktoren berücksichtigen: Erstens, zu den theoretischen Konzepten, die Lenz aus Europa importierte, gehörten "biologische Substrattheorien" 8 (vgl. 1.1). Zweitens, dieses theoretische Gerüst versuchte Lenz nun mit dem historischen Wissen über die Beziehungen zwischen Eroberern und Araukanern zu füllen, das ihm damals zur Verfügung stand (vgl. 1.2).

1.1 Zu der Zeit als Lenz an den "Beiträgen" zu arbeiten begann, gehörten Substrattheorien zu den bekannten Errungenschaften der Linguistik. Sie wurden dazu benutzt, die Entwicklung des im westlichen Mittelmeerraum dominanten Vulgärlateins zu den heute bekannten, neuen romanischen Sprachen zu beschreiben. Dabei wird davon ausgegangen, daß zwar Vulgärlatein die stärkere Sprache war, von der viele wesentliche Elemente in modifizierter Form in den neu entstandenen Sprachen fortbestehen. Jedoch geht man nach der Substrattheorie davon aus, daß die signifikanten Unterschiede der neuen Sprachen nur dadurch entstanden sein könnten, daß das Vulgärlatein durch den Einfluß der ursprünglich vorhandenen lokalen Sprachen, die am Ende des Prozesses ausgestorben waren, verändert wurde.

In Chile findet Lenz nun eine Situation vor, die der des Mittelmeerraumes zur Zeit der Römer in einem wichtigen Punkt vergleichbar schien: Auch hier hat mit den Eroberern eine militärisch überlegene Macht anderssprachige Gebiete besetzt, in denen sie ihre eigene Sprache installieren will. So beginnt Lenz denn auch seine "Beiträge" 9, indem er zunächst (auch wenn er sie nicht beim Namen nennt) von der Substrattheorie als gängigem Erklärungsschema der gerade erst in den Anfängen steckenden Kontaktlinguistik ausgeht:

La difusión de la lengua española en América desde comienzos del siglo XVI ofrece numerosas analogías con la expansión del latín en los países mediterráneos occidentales. Tanto aquí como allí, sucede que un pueblo de cultura superior somete sin contemplaciones a razas extrañas, recurriendo a todos los medios de la fuerza bruta y de la astucia política (Lenz 1940b:211).

Obwohl Lenz auch die Unterschiede der beiden Situationen sieht 10, rechtfertigt sich für ihn die Suche nach Gemeinsamkeiten in der Entwicklung der jeweiligen Sprachkontakte aus der mit Schuchardt geteilten Annahme, daß die Entwicklungen bestimmten, universellen Gesetzmäßigkeiten gehorchen:

[...] la evolución fonética, en distintos puntos de la tierra, siempre corre por los mismos carriles, que se imponen al hablante, por alguna ley física o fisiológica o psicológica, sin que él mismo lo advierta (Lenz 1940b:223).

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Lenz interpretiert diese Gleise als ethnologische Gesetzmäßigkeiten, die er anhand der phonetischen Besonderheiten im chilenischen Spanisch nachzuweisen beansprucht und stellt sich damit explizit Theorien spontaner Entwicklungen entgegen (vgl. Lenz 1940b:212/1894:114f.). Darunter versteht er in erster Linie, daß Lerner einer Fremdsprache die ungewohnten Laute der zu lernenden Sprache durch ähnliche Laute der eigenen ersetzen. Dieses Schema überträgt er nun auf ganze Völker:

Es claro que en pueblos enteros que aprenden una nueva lengua han de aparecer exactamente los mismos fenómenos que ofrecen en tales casos los individuos aislados (Lenz 1940b:223f).

Als maßgeblich für die sprachliche Evolution in der Kontaktsituation sieht er in Folge seines Ansatzes beim Sprecher, dessen Aussprache sich unbewußt verändert, die habla popular an (vgl. Lenz 1940b:211f.).

Bemerkenswert ist, daß Lenz den Mechanismus der Sprachevolution vor allem auf die phonetische Ebene bezieht und den Geltungsbereich nicht explizit etwa auf das Lexikon oder die Morphologie ausdehnt. Schließlich hätte er auch behaupten können, einzelne Wörter und bestimmte grammatische Strukturen würden ebenfalls in die neue Sprache "mitgenommen".

Halten wir als weitere Kernthesen der von Lenz vertretenen Spielart der Substrattheorie fest:

    (3) Sprachliche Evolution in Sprachkontaktsituationen folgt universellen Gesetzmäßigkeiten.
    (4) Die Gesetzmäßigkeiten sind von ethnologischen Faktoren bestimmt.
    (5) Die Evolution vollzieht sich primär in der jeweiligen habla popular.
    (6) Die Evolution ist in erster Linie eine phonetische.
These (6) läßt sich noch weiter präzisieren:

    (6') Die phonetische Evolution funktioniert so, daß die in der Erziehung wichtigen Bezugspersonen die neue Sprache lernen, deren neue Laute sie durch die ähnlichsten Phoneme ihrer eigenen Sprache ersetzen. Die so verfälschte neue Sprache wird an die Kinder weitergegeben.

1.2 Es soll nun gezeigt werden, daß sich das historische Wissen, das Lenz über die Kolonisierung Hispanoamerikas hatte, ohne weiteres mit seinem Modell einer Substrattheorie vereinbaren läßt. Dabei wird deutlich, daß seine Kenntnis der Geschichte Chiles und die Theorie der Sprachevolution Komplemente sind, die zusammen bereits den Kern der indigenistischen These Lenz' ausmachen, für die er nun "lediglich" noch nach empirischen Belegen zu suchen hatte. Vor allem vier historische Eckdaten sind in unserem Zusammenhang von Belang:

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Erstens war schon zu Ende des letzten Jahrhunderts der Anteil der Spanier und spanischstämmigen Bewohner an der Bevölkerung Chiles ungleich höher als in anderen Ländern Südamerikas. Den hohen Spanieranteil erklärt Lenz, obwohl dies zunächst paradox klingen mag, aus dem verbissenen Widerstand, den die Araukaner leisteten. Da die spanischen Soldaten nicht einmal annähernd soviel Gold fanden, wie ihnen zunächst versprochen worden war, ging bei vielen die Kampfmoral zurück, und sie ließen sich als Bauern nieder. Auf diese Weise kontinuierlich geschwächt, mußte die chilenische Armee immer wieder verstärkt werden: "Así, poco a poco, llegaron a Chile como el doble del número de españoles que habían venido a todas las otras colonias americanas juntas."11

Zweitens wurden in Chile vergleichsweise viele Mischehen zwischen spanischen Männern und araukanischen Frauen geschlossen, denn die Zuwanderung spanischer Frauen war verschwindend gering, und viele Araukaner waren in den Schlachten getötet worden (vgl. Lenz 1940b:225). Mit diesen ersten beiden Punkten attestiert Lenz bereits, daß in Chile die Voraussetzungen für eine Sprachkontaktsituation gegeben seien.

Drittens, sprachen die Mütter der aus den Mischehen hervorgegangenen Kinder entweder Mapudungu oder zumindest ein "mapuchisiertes Spanisch":

Aun cuando las mujeres hubiesen aprendido también el español, su pronunciación debía de estar naturalmente influida por la lengua materna, y por cierto que la influencia materna en el aprendizaje infantil del idioma es mucho mayor que la del padre (Lenz 1940b:225).

Zudem wurden viele Kinder durch ihre auraukanischen Kindermädchen und Haushälterinnen beeinflußt.

Viertens, haben die Spanier weder in Chile, noch in den anderen Kolonien Bildungseinrichtungen installiert, die die neuen Sprachgewohnheiten der Kinder im Sinne des Standardspanischen hätten korrigieren können (vgl. Lenz 1940b:220).

Gegen diese Darstellung erhebt Alonso eine ganze Reihe von Einwänden. Sein verschachteltes Argument gegen den vierten Punkt etwa lautet:

La verdad es que la instrucción pública en Hispanoamérica no era inferior a la que regía en la Península y que, en el sentido que Lenz da a esta palabra, tampoco existía en los demás países de Europa una instrucción pública que influyera 'en grandes masas populares' (Alonso/Lida 1940:220).

Das läßt sich durchaus als Bestätigung für Lenz lesen. Was Alonso behaupten müßte, ist, daß in Chile die Bildungseinrichtungen durchdringenden Einfluß auf die Sprachgewohnheiten des Volkes hätten. Was er tatsächlich behauptet, ist, daß dies auch in Europa nicht der Fall war.

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Stichhaltiger ist die Feststellung Alonsos, daß die Zahlenangaben im ersten Punkt, ebenso wie die Skizze des Kolonisierungsprozesses, stark korrekturbedürftig seien (vgl. Alonso 1953:336ff.). Lenz' Schluß aus dem dritten Punkt, die chilenische habla popular mapuchisiere sich aufgrund der ethnischen Mischung und weil die Kinder von Mapudungu-Sprecherinnen erzogen würden, hält Alonso entgegen, Chile habe zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zwar einen Mischlingsanteil von 51%:

Pero no hace falta acudir al poderoso argumento contrario de que es poco admisible que el otro 49% de blancos se deje arrebatar sin más la dirección de su propia lengua (Alonso 1940b:282f).

Wenn auch Lenz' Kenntnisse der Kolonisierung nicht unbedingt zwingend zu seinen Schlüssen führen, so können wir hier immerhin nachvollziehen, daß er die vier oben dargestellten Punkte problemlos mit seinem substrattheoretischen Ansatz vereinbaren konnte. Der hohe Spanieranteil an der chilenischen Bevölkerung läßt sich allerdings ebensowenig wegdiskutieren wie die ethnische Mischung. Der zweite und der dritte Punkt fügen sich nahtlos in die o. g. Thesen (4) und (5) ein: Wenn sich in Chile tatsächlich eine neue Sprache herausbildet, sind die ethnologischen Wurzeln benannt und die Rahmenbedingungen für die Gleise, auf denen sich phonetische Evolution bewegt, gegeben. Warum die Evolution in erster Linie phonetisch sein soll, ist damit erklärt, daß die Mütter und Kindermädchen ihr altes Lautsystem in die neue Sprache übernehmen, und nebenbei wird deutlich, warum die habla popular maßgeblich sein soll: Kristallisationspunkt für die Evolution ist der Familienhaushalt (vgl. These 6'). 12

Welche Tragweite die historischen Eckdaten Chiles haben, macht Lenz in Abgrenzung zu den übrigen südamerikanischen Ländern deutlich:

En Bolivia, el Perú, Ecuador, Colombia, Venezuela y Paraguay sin duda alguna la mayoría de la población está formada por indios, que han conservado casi intactas sus lenguas y sus costumbres (Lenz 1894, zitiert aus: Alonso/Lida 1940:219).

In diesen Ländern blieben nicht nur die Sprecher indianischer Sprachen unter sich, sondern eben auch die Spanischsprecher. Das wiederum verhindert die Bildung eines starken Dialektes, schon weil von keinem richtigen Kontakt der Sprecher ausgegangen werden kann:

De todo lo dicho resulta claro por qué en Chile ha podido desarrollarse un verdadero dialecto popular español. En otros países hispanoamericanos los habitantes que hablan español forman sólo la casta superior y gobernante; falta, en mayor o menor medida, un bajo pueblo hispánico o habita sólo un par de grandes ciudades (Lenz 1940b:258).

Demzufolge sei Chile im Bereich der spanischen Invasion Amerikas das einzige Land, in dem die Spanier vor einer ähnlichen Situation stünden wie ehedem die Römer in Gallien und Spanien: "Pues si en alguna parte de América había y hay las condiciones exigidas para la formación de una nueva lengua, debe ser en Chile." (vgl. Lenz 1894, in: Alonso/Lida 1940:220).

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Nachdem nun also das theoretische Gerüst und das historische Wissen miteinander in Einklang gebracht sind und feststeht, daß in Chile die Voraussetzungen für die Entstehung einer neuen Sprache gegeben sind, muß das Gedankengebäude "nur noch" empirisch bestätigt werden. In den nächsten Abschnitten wird es folglich darum gehen, Untersuchungsbereich und Kernthesen des kontaktlinguistischen Konzeptes von Rodolfo Lenz darzustellen (vgl. 2), um dann seine empirischen Belege aufzuzeigen und zu überprüfen (vgl. 3).

2 Weiter oben wurde bereits erwähnt, daß Lenz sich in seinen Untersuchungen auf die habla popular des pueblo bajo, des einfachen Volkes beschränkte. Das entsprach seinem Ansatz, dem zufolge sich zuerst in diesem Sprachregister Abweichungen gegenüber der europäischen Ausgangssprache zeigen müßten. Es ließe sich auch so erklären, daß Lenz hier diejenigen Besonderheiten wissenschaftlich aufarbeitete, die ihm in der ersten Zeit nach seiner Ankunft in Chile aufgefallen waren. Freilich findet sich keine genauere Beschreibung der untersuchten Sprechergruppe als eben die, daß die Sprecher aus dem einfachen Volk stammen.

Aus heutiger Sicht wäre wünschenswert, Lenz hätte einige Daten genauer dokumentiert. Beispielsweise ist nicht geklärt, ob die untersuchten Sprecher durchweg einsprachige Chilenen waren oder ob auch zweisprachige befragt wurden. Da Lenz explizit die Auffassung vertrat, die sprachlichen Veränderungen in Chile seien wesentlich mit der Erziehung der (sowohl spanischstämmigen als auch der Mestizen-) Kinder durch Araukanerinnen zu erklären, liegt die Vermutung nahe, er habe möglicherweise nicht nur Spanisch-Einsprachige befragt; er könnte auch die zweisprachigen Mestizen oder sogar Araukaner einbezogen haben, die Spanisch erst nach der Kindheit als Fremdsprache lernten. Lenz selbst meinte zumindest, er habe auch solche Gruppen untersucht. Ein Hinweis darauf findet sich eher am Rande: "[...] la pronunciación española de los indios hispanohablantes que he podido interrogar no se distingue en absoluto de la de los guasos chilenos [...]" (Lenz 1940b:249).

Alonso merkt an, Lenz habe hauptsächlich Sprecher aus der Zentralregion um Santiago und Valparaiso untersucht, deren Bevölkerung vor allem aus Weißen bestand. Gleichwohl legt er nahe, Lenz habe geglaubt, die von ihm befragten Armen seien Indios gewesen:

Pues bien, Lenz estudió exclusivamente la pronunciación de esa región fundamentalmente blanca, y cometió el error de creer de raza india a los 'rotos', que no son más que el pobreterío de los blancos (Alonso 1940b: 283).

Da Alonso sich allerdings auf keine bestimmte Textstelle bezieht und sich auch nicht darüber äußert, ob Lenz dieses Mißverständnis nur gelegentlich oder immer unterlaufen sei, ist schwer zu beurteilen, ob dies für das letzte Lenz-Zitat gilt. Wäre dem so und hätte Lenz hier tatsächlich rotos für Indios gehalten, hätte er hier die Sprechgewohnheiten von rotos ('arme Teufel') mit denen der guasos

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('Bauern')verglichen (also die von Indios und Nicht-Indios). Auf die Auswirkungen eines solchen Mißverständnisses gehen wir in Abschnitt 3.1 ein.

Angesichts des tentativen Begriffs jedenfalls, den Lenz selbst vom "pueblo bajo" hatte und der Verwirrung hinsichtlich der armen Bewohner der Region muß man sich wohl heutzutage daran orientieren (wie Alonso dies tut), welche Bevölkerungsteile zu Lenz' Zeiten "im Straßenbild" anzutreffen waren. Dies waren überwiegend Menschen, die Spanisch als Muttersprache hatten und von denen wiederum ein Großteil einsprachig aufgewachsen war.

2.1 Lenz fand Besonderheiten in der habla popular des Spanischen in Chile auf drei Ebenen vor: in der Morphologie, im Wortschatz und in der Phonetik. Betrachten wir die verschiedenen Ebenen näher, werden wir feststellen, daß sein kontaktlinguistisches Konzept gar nicht so radikal ist, wie Alonso dies oben dargestellt hatte (vgl. 1).

Im folgenden wird deutlich werden:

    (a) Lenz ging nicht davon aus, daß alle Abweichungen der chilenischen habla popular vom europäischen Standardspanisch auf araukanischen Einfluß zurückzuführen seien.
    (b) Lenz war nicht darauf aus, alle Besonderheiten im Rahmen seiner Substrattheorie zu erklären.
    (c) Lenz hielt nicht alle Besonderheiten für allein chilenische Eigenheiten.

Damit wird sich zeigen, daß die Thesen (1) und (2) mit Vorsicht zu betrachten sind und allein auf die Ebene der Phonetik bezogen werden können.

2.2.1 In der Morphologie stellt Lenz zwar Abweichungen gegenüber dem europäischen Standardspanisch fest. Interessanterweise läßt er diese aber im Raum stehen, ohne einen Kommentar über ihre Entstehung oder Herkunft abzugeben. In seinem Aufsatz "Zur spanisch-amerikanischen Formenlehre" von 189113 analysiert er die chilenische Ausprägung des voseo und anderer Anredeformen, die er den von Cuervo und Bello beschriebenen Formen aus Bogotá und Peru gegenüberstellt (vgl. Lenz 1940c:262).

Lenz unterscheidet zwei grammatisch verschiedene Paradigmen, für die er zwar Beispiele gibt, die er aber nicht präzise definiert. Auf der einen Seite stehen Ausprägungen des voseo, bei denen die Verbform offenbar aus dem ursprünglichen Zusammenhang der Anrede hochstehender Personen übernommen, aber modifiziert wurde. Für diese Modifikationen macht er eine "populäre Evolution" verantwortlich, ohne genauer zu erläutern, was er unter einer solchen Evolution versteht: "[...] ya la forma 'bárbaramente corrompida' usada en Bogotá, vos querés, en lugar de queréis, indica evolución popular". Dem stellt er Formen gegenüber, bei denen das Verb offenbar gar nicht mehr mit den Schulgrammatiken in Übereinstimmung zu bringen oder aus ihnen abzuleiten sind:

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Todas las formas como vos te vas, tú dijistes y otras de ese tipo no son resultado de evolución popular, sino contaminaciones de lo puramente popular con la lengua 'culta' (Lenz 1940c:268).

Im zweiten Fall denkt Lenz also offenbar an eine Erklärung im Sinne dessen, was heute als Hyperkorrekturen bezeichnet wird. Er scheint dies als Unsicherheiten einzelner Sprecher oder Sprechergruppen aufzufassen, die das gehobene Sprachregister nicht beherrschen, und so habla popular mit lengua culta (im Sinne von Hochsprache) vermischen. Auch wenn er dies explizit nicht sagt, kann davon

ausgegangen werden, daß Lenz dies als ein einzelsprachliches Phänomen des Spanischen versteht. In diesem Zusammenhang nimmt Lenz also keinerlei Einfluß aus dem Araukanischen an. Damit trifft These (2) für die morphologische Ebene nicht zu.

Im ersten Fall ist nicht klar, was mit der "evolución popular" gemeint ist. Da Lenz hier mit keiner Silbe die Möglichkeit ethnologischer Entwicklung oder eines araukanischen Einflusses erwähnt, bietet sich die Lesart an, die Evolution als volkssprachliche Entwicklung wieder ein und derselben Sprache anzunehmen.

Damit läßt sich mit einiger Sicherheit zusammenfassen, daß Lenz die morphologischen Abweichungen des chilenischen gegenüber dem europäischen Spanisch nicht einmal anhand seines Substratsprachenmodells zu erklären versucht. Das entspricht dem, was sich weiter oben in der Beschreibung des theoretischen Ansatzes schon angedeutet hatte (vgl. These 6).

Darüber hinaus hatte Lenz offensichtlich davon Kenntnis, daß der voseo auch in anderen Ländern Südamerikas üblich ist. Damit gilt auch These (1) hier nicht.

2.2.2 Der Wortschatz ist wohl sein unumstrittenster Untersuchungsbereich. Lenz hat zahlreiche Notizbücher mit chilenismos gefüllt, die aus dem Araukanischen stammen und ein fundamentales Wörterbuch zusammengestellt, das bis heute als Standardwerk gilt (vgl. Lenz 1904/05).

Ob ein Wort aus dem Araukanischen kommt oder aus dem Spanischen, läßt sich verhältnismäßig einfach feststellen. Selbst Linguisten wie Salas, die vehement bestreiten, daß das Auraukanische irgendwelchen Einfluß auf die chilenische Phonetik gehabt hätte, empfehlen unter gewissen Vorbehalten das Wörterbuch:

Para los indigenismos léxicos en el castellano chileno, puede consultarse Lenz [1904/05], fiable siempre que se controle su tendencia a sobreestimar el componente mapuche (Salas 1992:53, Hervorhebung und Verlinkung durch PhiN).


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Diese Überschätzung besteht etwa darin, daß Lenz viele Begriffe aufgenommen hat, die äußerst selten in der habla popular vorkommen. Salas verweist zudem darauf, daß die meisten indigenen Lehnwörter (zumindest in der heutigen habla popular chilena) gar nicht aus dem Mapudungu stammen:

La mayor parte de las palabras de origen indoamericano que circulan en el castellano chileno - excluidas aquellas pertenecientes al castellano general, como chocolate o tabaco - proceden no del mapuche, sino del quechua (Salas 1992:41).

Wenn (im heutigen linguistischen Diskurs) von einem Einfluß des Araukanischen bzw. des Mapudungu14 die Rede ist, sind damit in aller Regel allein die Lehnwörter gemeint. 15 Und da an sich niemand die Entlehnung bestimmter Begriffe aus dem Araukanischen bestreitet, wird sich anhand des Wortschatzes allein nicht entscheiden, ob sich in Chile eine neue Sprache im Sinne Lenz' entwickelt.

2.2.3 Die stärkste und zugleich umstrittenste These stellt Lenz für den Bereich der Phonetik auf:

Si ahora comparamos la fonética del habla chilena, tal como la he estudiado detenidamente en los Estudios Chilenos, con la araucana, aparecen - estoy personalmente convencido de ello - tantos puntos de contacto entre ambas lenguas, que creo lícito atribuir la evolución peculiar del español de Chile precisamente a la influencia de este estrato araucano subyacente. Con otras palabras: el español de Chile (es decir, la pronunciación del pueblo bajo) es, principalmente, español con sonidos araucanos (Lenz 1940b:249, Hervorhebung im Original).

Dies ist die umstrittene Textstelle, auf die immer wieder als die "indigenistische These" bezug genommen wird. Und wir sehen, daß sie sich, obwohl der hervorgehobene Teil mit einem starken Absolutheitsanspruch daherkommt, allein auf die Phonetik bezieht. Was Lenz über Morphologie und Wortschatz aussagt, bleibt davon unberührt und einigermaßen unbestritten. Damit ist die These zunächst nicht ganz so radikal, wie dies bei Alonso zunächst anklang. So widmet sich denn auch Alonso selbst in seinem umfangreichen "Examen de la teoría indigenista de Rodolfo Lenz"16 durchweg der Widerlegung der Beweise für den phonetischen Einfluß der Araukanischen.

Man könnte fragen, ob es denn gerechtfertigt sei, daß Lenz bis heute in den meisten Fällen auf den weiter oben graphisch hervorgehobenen Teil der These reduziert wird. Aber das ist wahrscheinlich ein müßiges Unterfangen, zumal Lenz die These doch für grundsätzlicher hielt als wir sie hier interpretiert haben: Zwar gilt sie allein für die Phonetik der chilenischen habla popular, aber es war gerade die Phonetik, die für Lenz das Wesentliche einer Sprache ausmachte. Diese Auffassung zeigte sich in der Rekonstruktion seiner Substrattheorie und kondensiert in der Klammer des obigen Zitates, in der Sprache und Aussprache nahezu gleichgesetzt werden und die übrigens in den Darstellungen der Ideen Lenz' für gewöhnlich gar nicht mitzitiert wird: "el español de Chile (es decir, la pronunciación del pueblo bajo)".17

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Vorbehalte sind jedoch angebracht, weil nicht ganz klar ist, wie ernst diese These gemeint sein kann. Es könnte eine Hervorhebung der Phonetik im Rahmen von Sprachwandel durch Sprachkontakt sein, aber man kann ebenso verleitet werden, das als eine Art Sprachkonzept zu lesen, etwa in dem Sinne, daß Sprache (in erster Linie) Phonetik sei (vgl. auch 3.4).

3 Lenz ignoriert keineswegs, daß Alternativen zu seinem Modell einer ethnologischen Evolution der Phonetik im Rahmen der Substrattheorie denkbar wären. Die Möglichkeit spontaner Evolution, die nicht in der Angleichung von neuen Lauten an bekannte besteht und sogar andere sprachinterne Entwicklungen bedenkt er immerhin kurz, verwirft sie aber schnell. Sein eigenes Modell hält er für intuitiv viel plausibler, obgleich ihm klar ist, daß es schwierig werden wird, es zu verifizieren: "Entre estas causas, la influencia etnológica es tan fácil de considerar posible, en teoría, como es difícil, en la práctica, demostrarla exactamente" (vgl. Lenz 1940b:223). Untersuchen wir also die Beweise, die seiner Meinung nach für die indigenistische These im oben erläuterten Sinne sprechen.

3.1 Um seine These zu belegen, geht Lenz von einer umfangreichen phonetischen Beschreibung der beiden Sprachen aus, die in Kontakt stehen. Das System der Vokale und Konsonanten im Mapudungu wird im dritten Kapitel der "Beiträge" beschrieben (vgl. Lenz 1940b:234-244). Die umfangreiche Darstellung des Spanischen in den "Chilenischen Studien" hingegen bezieht sich nicht auf das komplette Lautsystem, sondern erfaßt vor allem diejenigen Laute, die vom europäischen Standardspanisch (wie Lenz es kannte) abweichen (vgl. Lenz 1940a:87-196). Aus diesen filtert er etwa zehn Abweichungen heraus, die er für chilenische Besonderheiten hält und erklärt jeweils im Vergleich mit dem Lautsystem des Mapudungu, warum er das entsprechende Phänomen auf araukanischen Einfluß zurückführt (vgl. Lenz 1940b:249-265).

Die Beschreibung des chilenischen Lautsystems gilt, wie bereits erwähnt, als weitgehend zuverlässig. Die Fehler, die sich dennoch eingeschlichen haben, erfaßt Alonso in den Anmerkungen und im Anhang der spanischen Ausgabe der Lenz-Texte. Beispielsweise korrigieren Alonso/Lida (1940:197ff) die Transkriptionen von Beispieltexten, in denen Lenz Fehler in der Akzentsetzung und der Wiedergabe der Laute b, g und d unterlaufen waren. Zu Fehleinschätzungen kommt er auch,

cuando trata en vano de señalar las diferencias esenciales entre los fonemas españoles d y r, observando por medio de ingenioso juego de espejos su propia pronunciación; como Lenz pronunciaba en su hablar la r uvular alemana, al contrahacer la r y la rr españolas lo hacía con falseamientos que él no sospechó (vgl. Alonso 1940a:277f.). 23

Außerdem ging Lenz in seiner Bewertung der Diphthonge von den markanten deutschen Diphthongen aus und kam zu dem Schluß, im Spanischen existierten keine. 24 Aspekte dieser Art werden von Alonso zwar minutiös aufgelistet, jedoch weniger negativ diskutiert.

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Bevor wir nun zu den Beispielen kommen, sei noch auf einen interessanten Zwischenschritt hingewiesen: In den "Beiträgen" plaziert Lenz zwischen der Beschreibung des araukanischen Lautsystems und dem Vergleich mit den besonderen chilenischen Lauten einen kurzen Abschnitt über spanische Lehnwörter im Araukanischen (vgl. Lenz 1940b:244-249). Obwohl er ja eigentlich belegen wollte, wie der Einfluß in umgekehrter Richtung verlief, sieht er die Hispanismen, die er einem Wörterbuch von Febrés aus dem Jahre 1764 entnimmt, als intuitive Bestätigung seiner indigenistischen These an:

Para comprender qué modificaciones requerían las palabras españolas para adaptarse a los hábitos de la lengua de los indígenas, observemos las palabras tomadas del español tal como registra, en especial, Febrés en su Calepino Chileno-Hispano (Lenz 1940b:244).

Dieser Schritt erklärt sich aus der Annahme, daß sich in Chile eine neue Sprache herausbilde, weil die Kinder beim Heranwachsen vor allem mapuchisiertes Spanisch hören: Zwar machen die Lehnwörter allein kein mapuchisiertes Spanisch aus, aber Lenz geht davon aus, daß ein Mapuchesprecher mit einzelnen Lehnwörtern aus dem Spanischen dieselben phonetischen Probleme hat wie derjenige, der die spanische Sprache erlernt (vgl. These 6').

3.2 Es seien nun drei Beispiele aufgeführt, die nach Meinung Lenz' als besonders starke Belege für die indigenistische These gelten und die Alonso durchweg für nicht überzeugend hält.

Beispiel 1: Lenz führt die Aspiration bzw. den Wegfall des s am Silbenende ins Feld, die er für rein chilenische Phänomene hält:18

Delante de consonante y en posición final antes de pausa la s plena es imposible; existen todos los grados de debilitamiento, hasta la completa desaparición, a veces con alargamiento de la vocal precedente o de la consonante siguiente. [...] La s desaparece casi enteramente delante de f [...] Este tratamiento de la s constituye el punto más curioso de la fonética chilena. No hay persona culta que esté en el caso de pronunciar con propiedad cada s, por más esfuerzos conscientes que haga (vgl. Lenz 1940b:252).

Als neues chilenisches Phonem wertet Lenz das h, durch das das s in denselben Situationen häufig ersetzt wird. Dies erklärt nun er durch den Vergleich mit dem Mapudungu: "[...] la h aparece a causa de la ausencia de s en araucano (Lenz 1940b:254).

Beispiel 2: Lenz stellte fest, daß die Chilenen das rr sowie das r in tr-Gruppen assibilieren (wenn er auch den Terminus der Assibilation nicht gebrauchte). Auch hier meint er, daß ein araukanischer Laut ins Spanische importiert wurde:

PhiN 3/1998: 14

La pronunciación popular de la r fuerte es o - el sonido ya descrito, fricativa ápico-supraalveolar, o prepalatal, poco apretada, a veces con sonoridad deficiente. [...] El grupo tr se pronuncia (muy semejante al fonema araucano ya descrito ) (Lenz 1940b:252f).

Beispiel 3: Das dritte Beispiel ist anders gelagert als die ersten beiden. Lenz stellte fest, daß sich in einigen Regionen Südchiles die ursprüngliche Standardaussprache des ll erhalten hatte, obwohl in den restlichen Gebieten Chiles und anderer Länder Hispanoamerikas der Yeísmo üblich geworden war. Der araukanische Einfluß bestand in den anderen Beispielen (und in der Regel) darin, daß dem Spanischen fremde Laute in die gesprochene Sprache importiert wurden.

Daß sich hier nun ein alter Laut des Spanischen erhalten hat, spreche zwar auf den ersten Blick gegen die These Lenz':

En absoluta oposición a las leyes fonéticas del araucano, aparecen en la fonética chilena (mejor, santiaguina) [...] los [...] cambios siguientes: el pasaje de ll española a y, siendo así que l es en araucano un sonido muy abundante (Lenz 1940b:255). 19

Auf den zweiten Blick aber findet Lenz seine These dadurch bestätigt, daß er das ll noch in bestimmten Regionen antrifft: "La ll se pronuncia perfectamente como en la Frontera, en Llanquihue y Chiloé" (Ebd.). Also gerade die Erhaltung des ll sei hier den Umstand zu verdanken, daß es für die Araukaner einfacher auszusprechen sei als das für sie neue y.

3.3 Vor allem Alonso hat die Beweiskraft der Beispiele bestritten, die Lenz für sich in Anspruch nimmt. Die Kritik richtet sich dabei, wie bereits angedeutet, nicht auf die Beschreibung der phonetischen Beobachtungen, die Lenz in Chile machte. 20 Vielmehr bestreitet Alonso entweder, daß das jeweilige Phänomen allein in Chile vorzufinden oder, daß es in Angleichung an das phonetische System des Araukanischen entstanden sei.

Zu Beispiel 1: Alonso bestreitet die araukanische Herkunft der Aspiration des s am Silbenende in zweierlei Hinsicht:

[...] por un lado, el araucano no tenía ni s ni -h aspirada, de modo que ambas le repugnan igualmente, y no iba a desterrar una para imponer otra. Por otro lado, la aspiración de la s final de sílaba es un fenómeno hispánico ahora muy conocido, que en España se extiende por Andalucía, Extremadura (también en dialectos leoneses), Murcia, Castilla la Nueva y parte de Castilla la Vieja. En américa tiene extensísima geografía, con exepción, en general, de las tierras altas (Alonso 1940b:284).

Das Phänomen ist demnach für ihn kein speziell chilenisches und es hat sich darüber hinaus nicht aus dem Araukanischen entwickelt. Wenn die Araukaner, z.B. in Lehnwörtern, überhaupt das s ersetzten, dann allenfalls durch ein s (geschrieben sh).21

PhiN 3/1998: 15

Zu Beispiel 2: Auch hier wird Lenz zweierlei entgegen gehalten. Daß es zu der besagten Assibilierung im Araukanischen komme, erklärt Alonso damit, daß Lenz einem Mißverständnis bei der Lektüre Febrés' aufgesessen sei. Tatsächlich würden einige Diminutive im Araukanischen gebildet, indem ein r durch einen gänzlich anderen Konsonanten, einen Sibilanten, ersetzt würden. Dies sei aber keine Variante des r und zudem bedeutungsunterscheidend: "Así, pues; la r araucana no era ni es asibilada; se cambiaba, con cambio de valor, por una sibilante". 22 (vgl. Alonso 1940b:287; auch Alonso 1953:383ff.

Die tatsächlich im Spanischen Chiles vorkommende, echte Assibilierung des rr und des r sei zudem auch in Uruguay, Argentinien, Paraguay, Bolivien, Peru, Ekuador, Kolumbien, Guatemala, Mexiko und in Spanien in Álava, Rioja, Navarra und Aragón üblich. Im Prinzip ist Lenz hier auf dieselbe Weise wie im ersten Fall widerlegt.

Alonsos Auskünfte über die araukanischen Laute lassen sich aus aktuellen Untersuchungen über das heutige Mapudungu bestätigen. Nach Salas (1992:73) hat das Mapudungu grundsätzlich achtzehn Konsonanten, unter denen sich kein h findet: ch, d, f, k, l, , ll, m, n, , , ng, p, r, s, t, , und tr. Darüber hinaus kommt ein h allein in der Region Osorno als Variante des f vor:

f se pronuncia sonora, igual que en mapuche nortino, o sorda igual que en mapuche central, pero además tiene otras [...] variantes: (1) como h aspirada, como en kofke - kohke, pan (Salas 1992:87).

Auch wenn in diesem Ausnahmefall ein h existiert, so spricht dies doch nicht unbedingt für Lenz. Denn zum einen ist das h eine Variante des f. Zum anderen sollte man erwarten, daß ein h, daß das Spanische in Chile in dem Maße durchdrungen haben soll, wie Lenz dies annimmt, auch im Araukanischen weiter verbreitet sein sollte. Doch eigentlich müssen wir gar nicht erst auf Salas zurückzugreifen, um Alonsos Kritikpunkt zu belegen, denn nicht einmal in der Übersicht, die Lenz selbst über das araukanische Konsonantensystem zusammengestellt hat, taucht das h auf... (vgl. Salas 1992:79). Diese Aussprache kannte auch Lenz und führte es ebenfalls auf araukanischen Einfluß zurück. 25

Oroz (1966:101) legt nahe, Lenz habe nur anfänglich auf seiner Version des aspirierten s bestanden:

Lenz atribuyó, en un principio, este fenómeno a la influencia araucana. Pero, como argumenta muy bien A. Alonso, basta una mirada a la sola geografía del fenómeno para convencerse de que 'es interno del español y ajeno a la influencia araucana'.

PhiN 3/1998: 16

Möglicherweise meint Oroz, der ihn durch die enge Zusammenarbeit am Instituto Pedagógico gut kannte, habe sich Lenz schließlich von Alonso überzeugen lassen. Das erscheint schon deshalb unwahrscheinlich, weil Lenz bereits in den "Beiträgen" durchblicken läßt, daß durchaus nicht alle phonetischen Auffälligkeiten, die er in Chile entdeckt, für rein chilenische Angelegenheiten hält: "El español de Chile coincide en ciertos puntos de su desarrollo fonético, hasta el asombro, con el andaluz" (vgl. Lenz 1940b:222). Die weite geographische Verbreitung der Funde scheint ihn jedoch nicht weiter zu beeindrucken. Dafür spricht u.a. ein Brief, den Lenz am 9./10. Juli 1928 an Alonso geschrieben hat (Lenz 1928) und der als eines der wenigen Dokumente in Lenz' Nachlaß erhalten ist. Aus dem Brief geht hervor, daß Alonso kurz zuvor erstmals Kontakt mit Lenz aufgenommen hatte mit der Idee, die "Beiträge" und die "Chilenischen Studien" entweder zu übersetzen oder in einer kritischen Zusammenfassung auf Spanisch zu veröffentlichen.26

Dabei muß Alonso Lenz schon mit einigen seiner Gegenargumente konfrontiert haben. Offenbar reichte für Lenz ein einfacher Blick auf die geographische Verbreitung des aspirierten s bzw. des assibilierten tr und r nicht aus, um von seiner These des araukanischen Einflusses abzurücken. Die gesamte Passage, die sich mit den Einwänden Alonsos befaßt, lautet:

En lo esencial de Chil. Studien y Beiträge no cambiaría nada. Creo todavía que la y la , parecida a apico-prepalatal, lo mismo que la supresión o debilitación de la s, se deben a influencias araucanas. El hecho de que una parecida se halle en otras regiones de España y América, no prueba nada para la existencia americana del sonido. Hay que buscar en cada región las razones especiales para la fonética moderna. La s debil chilena no puede ser andaluza, porque entonces debería hallarse también en el Perú de donde se colonizó Chile principalmente. En cambio la n final en velar, que parece general desde Perú hasta Centroamérica (por lo menos Venezuela), que existe también en Andalucía, no se halla en Chile (Lenz 1928:1f).

Die Überzeugung, daß also selbst bei verbreiteten Phänomenen jeweils spezifische Ursachen am Werke sein müssen, erklärt auch, warum Lenz die Erhaltung des ll überhaupt als eine besonders wichtige Bestätigung seiner These hielt.

Zu Beispiel 3: Daß die Erhaltung des ll sich araukanischem Einfluß verdanke, hält Alonso für widerlegt. Anscheinend geht er davon aus, daß Lenz schließlich, nachdem auch Max Leopold Wagner ihn kritisiert hatte, überzeugt worden sei. Als Beleg zitiert Alonso einen Brief, den er von Lenz erhalten hatte:

[...] no he dicho, como insinúa Wagner, que la ll se deba a los mapuches. Es evidente que la introdujeron los españoles; se perdió en el Centro y en el extremo sur (Chiloé), como en muchas partes de Hispanoamérica (Alonso 1953:368).27

Was Lenz zu meinen scheint, ist hingegen wohl eher, daß die Mapuche zwar das ll nicht erfunden haben. Daß es sich aber in bestimmten Gebieten nicht zum y weiterentwickelte, führt er darauf zurück, daß dieser Laut gerade in Übereinstimmung mit den Aussprachegewohnheiten der Mapuche stand und diese eher dazu geneigt waren, den bekannten Laut zu konservieren als ihn durch einen gänzlich neuen zu ersetzen. Ein stichhaltiges Argument gegen diesen Punkt findet sich (auch bei Alonso) nicht.

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3.4 Man kann nun zusammenfassen, was Alonso eigentlich an Lenz kritisiert hat. Wir haben gesehen, daß die phonetischen Besonderheiten, die er auf indigenen Einfluß zurückführt, nicht zum Beleg der indigenistischen These taugen. Diese Kritik konnte er noch ablehnen, wenn auch der Eindruck entsteht, er wolle um jeden Preis seine Ansicht aufrecht erhalten. Seine Rechtfertigung dafür bezog Lenz aus dem historischen Wissen, das ihm zur Verfügung stand und das immerhin darauf schließen ließ, daß in Chile möglicherweise (am ehesten jedoch in Südamerika) eine Sprachkontaktsituation bestünde, die einen substrattheoretisch erklärbaren Wandel des Spanischen in Chile zulassen könnte. Folglich hat Alonso gut daran getan, auch die Darstellung der geschichtlichen Gegebenheiten in Chile zurechtzurücken - hier spricht das Ergebnis allerdings nicht derart vernichtend gegen Lenz wie im Falle der phonetischen Belege: Die Mapuche haben den Spaniern lange Widerstand geleistet, es kamen viele Spanier ins Land, und es kam in größerem Maße zu einer ethnischen Mischung als etwa in Bolivien oder Peru. Es ist zudem immer noch unumstritten, daß bilingue Mapuchesprecher Spanisch mit einem starken Akzent sprechen, ein "mapuchisiertes" Spanisch (vgl. Salas 1992:47). Das läßt sich zwar kaum als direkter Beweis für Lenz werten, macht es aber bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar, warum er so hartnäckig an seiner Sehweise festhalten konnte.

Das kontaktlinguistische Konzept, das Lenz hatte, wird von Alonso jedenfalls nicht angegriffen, es wird kaum überhaupt thematisiert. Ein kleines Hintertürchen wird dem indigenen Einfluß sogar gelassen:

[...] no hay que descartar la posibilidad de que el araucano, ya como sustrato, ya como adstrato, haya dejado alguna huella en el chileno, sobre todo en las melodías y en los juegos rítmicos (Alonso 1940b:289).28

Man muß Lenz allerdings schon einer sehr schwachen Lesart unterziehen, um hier noch etwas zu retten - denn eigentlich hatte Lenz viel weiter gehende Behauptungen aufgestellt, die das Spanische in Chile überhaupt angingen.

Der einzige neuere Rettungsversuch für Lenz, der sich finden läßt, stammt von Magnus Petursson, der für die Universität Hamburg als Gast am Octavo seminario nacional de investigación y enseñanza de la lingüística 1989 in Santiago de Chile teilnahm. Die Kritik Alonsos an Lenz erscheint ihm unangemessen:

Con su acerba crítica Amado Alonso presentó el pensamiento de Lenz como un producto de mera fantasía. [...] El efecto del trabajo de Amado Alonso fue tal que Rodolfo Lenz cayó al olvido. Pocas personas se tomaban la pena de buscar los trabajos originales de Lenz que además eran difícilmente accesibles y compararlos con lo que Amado Alonso dice. Los pocos que recordaban el nombre de Lenz lo consideraban como poso serio incluso sin haber leído sus trabajos (Petursson 1989:10f).

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Petursson geht davon aus, daß Alonso die Lenzschen Thesen als über die Maßen stark ausgelegt habe, und sich so gewissermaßen ein Ziel für seine polemische Kritik geschaffen habe. Er schlägt eine Lesart vor, derzufolge Lenz gar nicht so radikale Positionen vertreten habe wie dies nach der Lektüre Alonsos (vor allem 1953) den Anschein erwecke:

Si nuestra interpretación es exacta se puede decir que Rodolfo Lenz consideraba la influencia indígena sobre la fonética del español chileno más importante de lo que otros investigadores pensaban. Incluso es posible que consideraba que el contacto con las lenguas indígenas hubiera podido ser el impulso para la evolución observada. De todos modos se trata de grados de apreciación entre los que rechazan completamente la influencia indígena y los que la aceptan parcialmente, más o menos fuerte según las circunstancias (Petursson 1989:10).

Zu den letzten gehöre er selbst wegen seiner persönlichen Situation als jemand, der mitten in der Sprachkontaktsituation lebte und deshalb zu Überschätzungen geneigt habe. Interessanterweise wird auch hier kaum auf den substrattheoretischen Ansatz eingegangen, den Lenz vertrat.

Wenn man auch Lenz Sympathiepunkte für seine Verdienste unter anderem im deskriptiven Teil der Phonetik einräumen muß, so wird man es aus fachlicher Sicht wohl eher mit Salas halten müssen: Er sieht in Peturssons Argumentation mehr eine rhetorische als eine sachliche Verteidigung:

simplemente no hay manera de hacer que la profesión olvide afirmaciones como '...creo haber demostrado que el desarrollo fonético peculiar del dialecto chileno se halla sometido, en todos sus rasgos principales, a la influencia del araucano (Lenz 1940b: 255)' (Salas 1992:53).

Und damit ist noch nicht ein Bereich genannt, der heute als maßgeblich für die Entstehung von neuen Sprachen angesehen wird:29 die Morphosyntax.

Salas geht sogar so weit, daß er auch mögliche graduelle Einflüsse des Mapudungu für vernachlässigbar hält, wenn man sie einmal mit den Spuren vergleicht, die das Spanische im Araukanischen hinterlassen habe:

En contraste con la fuerte influencia del castellano sobre el mapudungu, la situación inversa no se dio. La población mapuche de las tierras situadas al norte del Bío-Bío, de contácto más temprano y sostenido con los conquistadores, no tuvo incidencia en la formación de la variedad chilena del castellano. De hecho, desapareció sin dejar huellas en la pronunciación, en la gramática o en el vocabulario básico del castellano chileno. Todo lo que ha quedado de la presencia mapuche en esa área son elementos marginales de vocabulario, tales como nombres de flora y fauna y nombres de lugar (Salas 1992:41).30

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4 In den vorangegangenen Abschnitten sollte deutlich werden, daß Lenz tatsächlich "ausreichend drastische Anpassungen" in seinem System vorgenommen hat, um nicht zu der Erkenntnis zu kommen, daß seine indigenistische Theorie in Bezug auf die Phonetik des Spanischen in Chile nicht haltbar ist. Nur die genaue Erfassung der historischen und demographischen Bedingungen für die ethnische Mischung und damit die Sprachkontaktsituation in Chile kann uns ein genaueres Bild bezüglich der bisher diskutierten Fragen vermitteln. Denn betrachtet man Lenz' Konzept und die historischen Prozesse in der Kolonisierung Chiles, kann man sich durchaus fragen, wieso das Mapudungu nicht mehr Spuren im Chilenischen hinterlassen hat - zumal doch die Voraussetzungen, zumindest auf den ersten Blick, gegeben waren.

Dazu bedarf es außerdem der weiteren Überprüfung seines kontaktlinguistisches Konzepts (vgl. Thesen 1-6'), zumal die (zugegebenermaßen schlagende) Kritik Alonsos nicht das theoretische Gerüst trifft, sondern vor allem den Beweis erbringt, daß in Chile die Entwicklung einer neuen Sprache im Sinne der Lenzschen Substrattheorie nicht stattgefunden hat. Betrachtet man das Gerüst dieser Theorie, so klingt sie zunächst einmal gar nicht so abwegig, abgesehen davon, daß sie auf Chile nicht zutrifft. Mit anderen Worten: Wir sind der Meinung, Lenz hat neben seinen hervorragenden phonetischen und lexikalischen Erkenntnissen zum Spanischen in Chile ansatzweise eine brauchbare Sprachwandeltheorie hervorgebracht und trotz aller Evidenzen, die Alonso aufführt, hat er schlicht nicht gesehen (oder nicht einsehen wollen), daß beides im Falle des Spanischen in Chile nicht zusammengeht.

Alonso hat sich vermutlich nicht weiter mit der Widerlegung des theoretischen Teils befaßt, weil die von Lenz emphatisch vertretene These vom araukanischen Einfluß auf das chilenische Spanisch schon nach der Demontage der Beispiele nicht mehr zu vertreten ist. Hinzu kommt, daß Lenz überhaupt nur wenige Details zu seinem Sprachkonzept im allgemeinen äußert. So gibt etwa Zimmermann zu bedenken: "Una teoría del contacto de lenguas sin un concepto de lenguaje adecuado acorta y deforma también los resultados empíricos" (Zimmermann 1995:15). Außer der starken Betonung phonetischer Aspekte in der Untersuchung von Sprachen lassen sich Anhaltspunkte nur noch in varietätenlinguistischer Hinsicht finden (habla popular, habla culta usw.). Daraus läßt sich zumindest schließen, daß er keine Vorstellungen von Sprache im Sinne einer homogenen Größe hatte. Die systematisch hohe Einschätzung der Phonetik für die Evolution von Sprachen durch Lenz könnte man immerhin als einen kleinen theoretischen Fortschritt werten, etwa im Sinne der heutigen Forschung zur phonologisch-phonetischen Variation in der Sprache. Lenz hat offenbar erkannt, daß es nicht ausreicht, Sprachevolution allein an den Veränderungen des Wortschatzes einer Sprache festzumachen. Darüber hinaus sind phonetische Phänomene in erster Linie an die gesprochene Sprache gebunden, die zur maßgeblichen Ebene für sich vollziehende Sprachwandelprozesse avanciert.

Wenn wir mit Weinreich (1953) den eigentlichen Beginn der Kontaktlinguistik als wissenschaftliche Disziplin ansetzen und Lenz' Konzept als Vorläufer derselben betrachten, erscheint es in einem ganz anderen Licht. Und man stellt sich die Frage, was es als ein solches Vorläuferkonzept geleistet hat. So besteht u. a. die traditionelle Sehweise (mit Weinrich) in bezug auf Sprachkontakt auf der phonetisch-phonologischen Ebene darin, daß neue Phoneme in die entlehnende

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Sprache (in unserem Fall Spanisch) vor allem über Lehnwörter eindringen und dort zu Veränderungen führen. Dieser Zusammenhang erscheint bei Lenz, wenn auch nur am Rande, als es um die spanischen Lehnwörter im Araukanischen geht (vgl. 3.1.). In der modernen Forschung ist man inzwischen zu der Erkenntnis gekommen, daß praktisch alles auf der phonetisch-phonologischen Ebene entlehnt werden kann, und zwar unabhängig von den Lehnwörtern. Das kommt Lenz' Konzept bereits näher. Und schließlich findet sich auch das in der Kontaktlinguistik zentrale Konzept des bilingualen Sprechers indirekt bei Lenz, wenn er sich über die Vermittlung eines mapuchisierten Spanisch durch Araukanerinnen äußert.

Leider finden aus Hispanoamerika kommende theoretische Konzepte und damit verbundene Ergebnisse in der Kontaktlinguistik kaum Berücksichtigung. Das trifft auch für das neu erschienene Handbuch der Kontaktlinguistik (vgl. Goebl et al. 1996) zu, obwohl zahlreiche neuere Untersuchungen, auch von deutschen Hispanisten, zu interessanten Ergebnissen geführt haben (vgl. u. a. Zimmermann 1995). In diesem Sinne leisten unsere Überlegungen zu Rodolfo Lenz und seinem in einer spezifischen Situation entwickelten Konzept vielleicht einen ersten Beitrag.



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Anmerkungen

1 Vgl. Quine (1979:47).

2 Seit Jahrhunderten streiten sich Philosophen, wie objektiv unser Wissen und unsere Theorien sein können. Anhand dieses Beispiels ließe sich hervorragend diskutieren, ob wir in der Wissensgewinnung einen übergeordneten, objektiven Standpunkt einnehmen können oder ob unser Wissen über die Welt immer von unserem sozialen und historischen Umfeld abhängt.

3 Die persönlichen Daten entstammen vor allem Figueroa (1900:124).

4 Wir verwenden in der Folge diesen spanischen Begriff für die Bezeichnung eines bestimmten Sprachniveaus, das im Deutschen keine andere Entsprechung als die direkte Übersetzung mit "Volkssprache" hat. Diese Bezeichnung wiederum findet sich nicht in der varietätenlinguistischen Forschung zum Deutschen und entspricht damit nicht der sogenannten Umgangssprache.

5 Vgl. Lenz (1940:81) und Lenz (1928:1).

6 Vgl. Knauer (1993:142ff).

7 Petursson (1989) würdigt vor allem den Phonetiker Lenz; Gotschlich/Letelier (1991) nennen Lenz den "Erfinder der Schleimhautvibration".

8 Der Begriff "biologische Substrattheorie geht nicht auf Lenz selbst zurück, sondern auf Alonso (u.a. 1953).

9 Die "Chilenischen Studien" und die "Beiträge zur Kenntnis des Amerikaspanischen" werden nach der spanischen Erstausgabe in Alonso/Lida (1940) zitiert. Diese Ausgaben bildeten unsere Arbeitsgrundlage, nicht zuletzt, weil sie schon mit zahlreichen Anmerkungen und Kommentaren von Alonso und Lida versehen sind, die für die spätere Diskussion der Ideen Lenzens aufschlußreich sind. Zudem zitiert Alonso in den Anmerkungen der spanischen Ausgabe ausführlich aus einem spanischen Text, der die "Beiträge" ergänzt, den wir jedoch bislang selbst nicht konsultieren konnten (Lenz 1894). Da Lenz (1940a/b) seine Thesen sehr deutlich auf den Punkt bringt und wir keine Zweideutigkeiten vorfanden, die eventuell auf eine mangelhafte Übersetzung zurückzuführen wären, haben wir darauf verzichtet, die entsprechenden Stellen in der deutschen Originalausgabe ausfindig zu machen.

10 Vgl. Lenz (1940b:212) bzw. (1894:114f).

11 Vgl. Lenz (1894) - Leider gibt Alonso hier nicht die entsprechenden Seitenzahlen der Originalausgabe an. Die historische Darstellung sowie das Zitat finden sich in Alonso/Lida (1940:219).

12 Alonso interpretiert dies übrigens als doppelte Erklärungsstrategie und unterscheidet eine biologische und eine kulturelle Erklärung: Die historischen Behauptungen über die Entwicklung des Zahlenverhältnisses von Kolonisatoren und Indios nennt er die biologische Erklärung. Die kulturelle Erklärung entspricht etwa der These 6' (vgl. Alonso 1953:335ff).

13 Hier ebenfalls nach der spanischen Erstausgabe in Alonso/Lida zitiert als Lenz (1940c).

14 "Mapuche" und "Araukaner" sind Synonyme. Die araukanische Sprache wird entweder auf Spanisch als el mapuche oder in der Sprache der Mapuche selbst als Mapudungu bezeichnet (vgl. Salas 1992); bei Zimmermann (1995) findet sich auch die Variante Mapuchudungu.

15 Vgl. u.a. Rabanales (1992:570f).

16 Es handelt sich hierbei um das dritte Kapitel bei Alonso (1953).

17 Hervorhebung in diesem Fall von Knauer/Kaluza. Die Klammer kommt nicht vor in Zitaten und Kurzbeschreibungen z.B. bei Alonso (1940b:281); Alonso (1953:332f); Knauer (1993:145); Oroz (1966:41); Salas (1992:53); Zimmermann (1995:9).

18 Gerade in diesem Zusammenhang wäre es äußerst interessant gewesen, wenn wir die Gaumenzeichnungen hätte einsehen können, die Lenz angefertigt hat. Im Katalog seines Nachlasses (Gotschlich/Letelier 1991) sind diese zwar verzeichnet, aber in den entsprechenden Ordnern befinden sich heute nur leere Plastikhüllen.

19 Vgl. Alonso (1940a: 277); Lenz (1940a:167ff).

20 Vgl. auch Lenz (1940a: 90).

21 Durch einen Druckfehler ist die Seitenzahl hier statt mit 255 als 225 angegeben. Merkwürdigerweise übernehmen Alonso (1940b:284) und Oroz (1966:101) in ihren Zitaten diese falsche Seitenzahl.

22 Die in den drei Beispielen aufgeführten Beobachtungen werden auch noch durch neuere Arbeiten bestätigt, die sich auf das gegenwärtige chilenische Spanisch beziehen (vgl. u.a. Rabanales 1992:566f, 573ff).

23 Vgl. Alonso (1953:357ff).

24 auch Alonso (1953:383ff).

25 Auch dies wurde umgehend von Alonso bestritten (vgl. Alonso 1940b:288).

26 Dieser Brief vom 22. Juni 1928 war leider nicht auffindbar.

27 ebenfalls (gekürzt) bei Alonso (1940b:285).

28 Dasselbe steht praktisch wortgleich bei Knauer (1993:148). Bis heute gibt es offensichtlich keine ernst zu nehmenden Untersuchungen, die sich mit einem Vergleich der Sprachmelodien und -rhythmik befaßt haben. So stellt Quilis (1987:123) fest: "Los estudios sobre entonaciones regionales escasean en todas las lenguas, pero en la nuestra, comparativamente, la realidad llega a ser desoladora." Im folgenden analysiert er komparativ die Sprachmelodien in Spanischen Puerto Ricos, Mexikos und Spaniens, wobei er das Problem des Sprachkontaktes nicht berührt.

29 Vgl. etwa Knauer (1993:146).

30 zum Einfluß des Spanischen auf das Mapudungu vgl. Salas (1992:39ff).

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