PhiN 29/2004: 60



Heike Brohm (Düsseldorf)



Andrea del Lungo (1997): Gli inizi difficili. Per una poetica dell'incipit romanzesco. Padova: Unipress.
Andrea del Lungo (2003): L'incipit romanesque. Paris: Seuil.



Andrea Del Lungos Studie über Romananfänge entstand als Habilitationsschrift an der römischen Universität La Sapienza. Sie wurde 1997 in Buchform veröffentlicht und wurde danach für den französischen Buchmarkt übersetzt, um im Jahr 2003 bei Le Seuil zu erscheinen. Die Arbeit bereichert die (umfangreiche) Incipit-Forschung um eine theoretische Darstellung, aus der sich auch zahlreiche methodologische Impulse ergeben.

Andrea Del Lungo hat seine Arbeit über die "inizi difficili" als systematische Analyse angelegt, die zugleich diachronische Fragestellungen behandelt. So erfassen seine Analysen ein reichhaltiges Textkorpus der (meist) europäischen Literatur vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (mit einem Schwerpunkt auf der französischen Literatur), um sich in einem abschließenden Teil ausschließlich dem Werk Honoré de Balzacs zuzuwenden.

Der erste theoretische Teil macht ca. zwei Drittel des Gesamtvolumens der Untersuchung aus. Zentrales erkenntnistheoretisches Moment des Romananfangs ist nach Del Lungo die prinzipielle Arbitrarität eines jeden Anfangs. Konstruktivistische Positionen klingen an, wenn der Verfasser von der These ausgeht, dass sowohl Fiktion als auch die sog. außerliterarische Wirklichkeit Teil des sprachlichen Kontinuums sind, in dem sich Welt erst konstituiert und eine eindeutige Unterscheidung obsolet wird. Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint dem Verfasser jeder Romananfang zunächst als Akt der Willkür, ein Tatbestand, der in unterschiedlichen Epochen jeweils unterschiedliche ästhetische Verfahrensweisen hervorgebracht hat, die gar in einem chiastischen Verhältnis zueinander stehen. So neige die Romanliteratur des 19. Jahrhunderts dazu, die Arbitrarität des Textbeginns zu ignorieren, indem sie Anfänge setze, die das Incipit als natürliche Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion kodifizierten. Um die Jahrhundertwende jedoch tendiere die Moderne dazu, die Arbitrarität des Incipits zu entlarven, indem sie im Umkehrverfahren die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschleiere. Vor dem Hintergrund so grundverschiedener epistemologischer Voraussetzungen sind die Funktionen des Incipits mannigfaltig. Neben der klassischen Aufgabe, die Rede des Erzählers zu legitimieren, diene es der Initiation in die Fiktionalität des Textes und der Einführung in die Gegenstände der erzählten Welt. Der Romananfang ist also, so muss man Del Lungo verstehen, Ausdruck einer kognitiven Wahl gegenüber der Realität, und gleichzeitig offenbart sich in ihm eine bestimmte Haltung des Autors gegenüber dem Leser.




PhiN 29/2004:61


Das Incipit ist damit der strategische Ort der Kontaktaufnahme. Diese mediale Funktion lässt sich mit Del Lungo kommunikationstheoretisch als phatische Funktion beschreiben. Nicht zwischen Text und Leser werde ein Kontakt aufgebaut, sondern zwischen Autor und Leser mittels des Textes. Doch bei dem Versuch, die Grenzen dieses Ortes aufzuzeigen, bleibt die Analyse des Verfassers eher vage. Da er sich nicht auf quantifizierbare Verfahren stützen will (z. B. den Romananfang mit dem ersten Satz gleichzusetzen), gilt ihm das Incipit als Textfragment, dessen Ausdehnung bis zum ersten wichtigen Einschnitt reiche, der auf vielfältige Weise markiert sein könne. Wichtiger hingegen ist der Hinweis auf die strukturelle Funktion: Als zentraler Referenzpunkt hat der Anfang im Bezug zum Folgenden eine metonymische Funktion und ist damit nicht allein Exposition, sondern ein zentrales Element der strukturellen Ordnung.

In semiotischer Perspektive übernimmt der Romananfang seit dem Realismus die Funktionen anderer Paratexte wie beispielsweise die des Vorworts, so dass das Incipit zur eigentlichen Schwelle zwischen Realität und Fiktion wird. Dennoch scheint der Romananfang nicht eindeutig gattungsspezifisch markiert zu sein. Vielmehr gibt es eine Fülle von Merkmalen, die Del Lungo systematisch erfasst, um zu einer Typologie zu gelangen, die die vorherrschenden Kombinationsmuster der verschiedenen Kategorien aufzuzeigen vermag.

So geht es ihm zunächst um die "Topoi" des Romananfangs. Diese Topoi stehen erkenntnistheoretisch in Relation zur eigentlichen Funktion des Incipits, nämlich derjenigen, den Übergang zwischen Realität und Fiktion zu ermöglichen: Es sind typische Situationen wie Abschied/Ankunft, Entdeckung/Erwartung, Aufwachen, Blickkreuzungen. Als "Modi" beschreibt Del Lungo in Anlehnung an die altbekannten Horazschen Arten des Erzählbeginns die Kategorien ab ovo, in medias res, in ultimas res. Für den Roman der Moderne reichen diese Kategorien aber nicht aus. Del Lungo fügt den Modi weitere hinzu. Zunächst benennt er den selbstreflexiven Romananfang. Vor dem Hintergrund der Unhintergehbarkeit der sprachlichen Konstruktion von Welt und der Auflösung der Sinnbezüge im dekonstruktivistischen Umfeld ist aber vor allem der Beginn in media verba eine notwendige Kategorie geworden. Dies führt schließlich – z. B. anhand der Texte Samuel Becketts - zum Modus des unmöglichen Anfangs schlechthin.

Des weiteren beschreibt Del Lungo unterschiedliche "Funktionen" des Romananfangs. Mit Jurij Lotman definiert er eine kodifizierende Funktion des Textes, die den Leser mit den dem Text zugrundeliegenden ästhetischen Voraussetzungen vertraut macht. Hinzu kommen die traditionelle Funktion der 'Verführung' (vgl. "captatio benevolentiae"), die Funktion der thematischen Einführung, der Informationsvermittlung und der Dramatisierung. Aus der Kombination dieser unterschiedlichen Kategorien kann Del Lungo schließlich vier Haupttypen des Romananfangs gewinnen: den "statischen", den "progressiven", den "dynamischen", den "spannungserzeugenden" Anfang – je nachdem, ob der Beginn der Geschichte, der Fortgang der Ereignisse, eine entscheidende Wende in der bereits eingesetzten Handlung oder der eigentliche Beginn selbst erwartet werden. Damit fordert Del Lungo eine Typologie, in der trotz aller unterschiedlichen epistemologischen Prämissen sowohl der mimetische Realismus des 19. Jahrhunderts als auch der Nouveau Roman oder der experimentelle Roman der Postmoderne ihren Platz finden können. Der Verfasser stellt in seinem theoretischen Teil sowohl ein ausgesprochen breites Spektrum an Primärtexten zur Verfügung als auch eine Fülle theoretischer narratologischer Perspektiven, die auf die Erträge formalistischer, strukturalistischer und semiotischer Forschung zurückgreifen.




PhiN 29/2004: 62


Ein abschließender Teil umfasst eine Fallstudie zu Honoré de Balzac. Hier hinterfragt der Verfasser einen weitverbreiteten Topos der Literaturwissenschaft, nämlich den der Einheitlichkeit und der Modellfunktion der Balzacschen Poetik des Realismus. So zeigt sich zwischen Frühwerk und den ersten Romanen der Comédie Humaine (ca. 1829/30) eine Entwicklung vom statischen zum progressiven Romananfang, um ab 1833 eine neue Form des statischen Incipits hervorzubringen. Nach Del Lungo drückt sich hier das zunehmende demiurgische Selbstverständnis des Erzählers und letztlich des Autors aus, der offensichtlich insbesondere dem Romananfang einen poetologischen Aussagewert in seinem Schaffen beigemessen hat. Der Romananfang wird, so kann man den Verfasser interpretieren, zu einem realismuskritischen Instrument, gehe es Balzac nicht letztlich um eine Mimesis der Realität, sondern um eine kreative Neuordung der Welt, in der sich der Anspruch auf die Realität als Totalität ausdrücke. So gelingt es dem Verfasser, den Balzacschen Realismus – vor allem seit der Kritik der nouveaux romanciers das Emblem einer monolithischen Poetik – als ausgesprochen dynamisches Ringen um eine Poetik des Realismus bzw. als beständiges work in progress offen zu legen und zudem auch den Realismusbegriff, der sich mit dem Namen des Autors verbindet, neu zu überdenken.

Impressum