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Alexander Beissenhirtz (München)



Edgar Allen Poes "The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket" als manieristischer Roman



Edgar Allen Poe's "The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket" as a Mannerist Text
The numerous contradictions, unsolved mysteries, undecipherable hieroglyphics, and structural complexities of Edgar Allen Poes "Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket" (1838) still keep puzzling and confusing readers and critics alike. The "shrouded human figure" which abruptly ends the short novel leaves the main questions unanswered, and thus the meaning of Poe's text appears to remain completely obscure. By stressing the obviously intentional self-referentiality of Poe's Pym, several critics have called the novel an elaborate intellectual hoax. This paper will demonstrate that the playful self-referentiality and labyrinthine complexity of Poe's "Narrative" can be seen in the tradition of mannerist literature. By employing a meta-historical approach to mannerist art and literature I will point out several different mannerist strategies employed by Poe, thus establishing a framework for the interpretation of the work as a mannerist text.



1 Einleitung

Ziel dieses Aufsatzes ist zu prüfen, inwieweit Edgar Allen Poes "Narrative of Arthur Gordon Pym" (1838) manieristische Elemente aufweist. Ausgehend von einem typologischen Manierismusbegriff werde ich einzelne Manierismen des Textes herausarbeiten. Anschließend soll beurteilt werden, ob diese hinreichend sind, um die "Narrative" als manieristischen Text zu bezeichnen.

Es geht mir nicht darum, den zahllosen Interpretationen des Textes eine zusätzliche hinzuzufügen, sondern um einen Teilaspekt, nämlich um die Frage, ob eine manieristische Lesart des Textes die wuchernden Ungereimtheiten, Widersprüche und Rätselhaftigkeiten des Romans erklärbar werden lässt. Ließe sich Poes Roman, eines der zentralen Werke der "American Renaissance", in eine manieristische Tradition stellen, dann liegt die Annahme nahe, dass der Manierismus, wie verschiedene Theoretiker argumentieren, ein wiederkehrendes Phänomen der Geistesgeschichte ist, das über die eigentliche historische Phase in der Kunstgeschichte hinaus als typologische Kategorie in der Literatur wirksam bleibt.




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Im ersten Teil möchte ich in aller Kürze auf den Manierismusbegriff eingehen. Eine ausführliche Diskussion der Problematik ist mit Rücksicht auf den Umfang dieses Aufsatzes nicht möglich. Ich möchte jedoch die historischen und typologischen Ansätze in der Manierismusdiskussion ansprechen und die wichtigsten Kennzeichen manieristischer Literatur (im typologischen Sinn) nennen. Im zweiten Teil werde ich untersuchen, ob sich die zuvor genannten Merkmale manieristischer Literatur auf den Text anwenden lassen. In diesem Zusammenhang soll gezeigt werden, inwieweit metafiktionale Lesarten der "Narrative" (wie beispielsweise John T. Irwins und Peter Krummes) mit einer manieristischen vereinbar sind. Abschließend sollen die an ausgewählten Textpassagen gewonnenen Ergebnisse zusammengefasst dargestellt werden.


2. Zum Manierismusbegriff

2.1 Manierismus als historische und typologische Kategorie

Verschiedene Autoren haben gezeigt, wie der aus der Kunstgeschichte stammende Epochenbegriff des Manierismus für die Literatur anwendbar ist. Während man in der bildenden Kunst mit Manierismus in der Regel den Zeitraum des Übergangs von der Renaissance zum Barock bezeichnet, geht man in der Literaturwissenschaft von einem typologischen Manierismusbegriff aus. Ernst Robert Curtius versteht Manierismus als dehistorisierte, anti-klassische Kategorie, die "den Generalnenner für alle literarischen Tendenzen bezeichnet, die der Klassik entgegengesetzt sind" (Curtius 1948: 277) und damit negativ besetzt sind. Curtius' Schüler Gustav René Hocke verfolgt in seinem Buch "Manierismus in der Literatur" Curtius' Ansatz vom Manierismus als Konstante der Literaturgeschichte weiter. Anders als letzterer beurteilt Hocke den Manierismus nicht pejorativ: Die Klassik (wieder als epochenübergreifender Begriff) steht für "Natürlichkeit", der Manierismus (als "Anti-Klassik") entgegengesetzt für "Artifizialität" (Pacholek-Brandt 1988: 23/24).

Weitere Vertreter eines typologischen Manierismusbegriffs sind u.a. Arnold Hauser, der manieristische Literatur eher als Ausdruck "einer gemeinsamen geistigen Disposition" denn als abgegrenzten Stil- oder Epochenbegriff (wie in der bildenden Kunst) versteht (Hauser 1964: 273), und Hugo Friedrich, der manieristische Kunst in der Formel der "Hypertrophie der Kunstmittel und der Atrophie der Gehalte" zusammengefasst hat (Friedrich 1964: 596). Vor diesem Hintergrund eines typologischen Begriffsverständnisses lässt sich das Manierismuskonzept epochenübergreifend auf einzelne Werke und Autoren applizieren. So stellt Umberto Eco in der "Nachschrift zum Namen der Rose" fest,

dass 'postmodern' keine zeitlich begrenzbare Strömung ist, sondern eine Geisteshaltung oder, genauer gesagt, ein Kunstwollen. Man könnte geradezu sagen, dass jede Epoche ihre eigene Postmoderne hat, so wie man gesagt hat, jede Epoche habe ihren eigenen Manierismus (und vielleicht [...] ist postmodern überhaupt der moderne Name für Manierismus als metahistorische Kategorie) (Eco 1984: 77).




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2.2 Kennzeichen manieristischer Literatur

Um aufzuzeigen, ob Poes "Pym" als manieristischer Text gelten kann, soll zunächst zusammenfassend eine kurze Übersicht darüber gegeben werden, was manieristische Texte auszeichnet bzw. welche formalen und stilistischen Elemente einen Text manieristisch erscheinen lassen.

Hocke spricht bezüglich manieristischer Literatur allgemein von folgenden "Grundtendenzen: affektvolle Übersteigerung oder kälteste Reduzierung des Ausdrucks, Verbergung und Überdeutlichkeit, Verrätselung und Evokation, Chiffrierung und ärgerniserregende 'Offenbarung' " (Hocke 1959: 301). Hocke zufolge entstehen diese formalen Manierismen durch eine Kultivierung des Künstlichen, Extremen, Absurden, Problematischen, Irregulären und Disharmonischen Elemente, die mit einem besonderen, eben manieristischen Menschen- bzw. Künstlertypus verbunden sind (ebd.: 302/303). Hocke entfaltet in seiner Studie ein Panorama manieristischer Traditionen in der europäischen Literatur, das in seinem teilweise wuchernden Zugriff nicht selten selbst manieristisch bzw. labyrinthisch anmutet. Das Manieristische ist für den Autor auf der "dämonen-umwitterten Nachtseite" der Geistesgeschichte anzutreffen (ebd.: 9). In diesem Zusammenhang überschreibt Hocke Teilkapitel seines Buches mit manierismustypischen Themen und Bildern, die, wie später gezeigt werden soll, sowohl in fiktionalen wie theoretischen Texten Poes von entscheidender Bedeutung sind: "Ars Combinatoria", "Bannung des Dämonischen", "Alchimie und Wortzauberei", "Die Bewussten Täuschungen", "Mechanik des Effekts", "Die Nachtseite der Gottheit", "Weiße und Schwarze Mystik", usw.

Arnold Hauser nähert sich dem literarischen Manierismus zunächst im Bemühen um eine deutliche Abgrenzung zum Barock (Hauser 1964: 268 ff.). Das Hauptproblem bei der Vermischung der Begriffe besteht laut Hauser darin, dass man dadurch verleitet ist, "das intellektualistische Moment [der Wirkung manieristischer Literatur, d. Verf.] zu vernachlässigen, das heißt, die Bedeutung des Komplexen, Problematischen und Paradoxen in der Zusammensetzung ihres ästhetischen Gefüges zu unterschätzen" (ebd.: 270). Der Autor bezeichnet ähnliche Merkmale wie Hocke als charakteristisch für den Manierismus: das Paradoxe, Komplizierte, Raffinierte, die Häufung von Vergleichen, Metaphern, Concetti, Antithesen, Wortspielen, etc., die Mischung des Realen und Irrealen, unauflösbare Widersprüche, der Geschmack am Schwierigen und Paradoxen, die irrationale Denkart, etc. (ebd.: 271-273).

Zusammenfassend stellt Hauser fest: "Der Manierismus ist radikale Kunst: er verwandelt alles Natürliche in etwas Kunstvolles, Künstliches, Gekünsteltes" (ebd.: 279). Ein weiteres zentrales Element (das auch für Poes "Pym" von zentraler Bedeutung ist, wie später zu sehen sein wird) ist nach Hausers Manierismusdefinition das Rätselhafte und Chiffrierte: "Alles kann mit allem zum Teil, doch nichts kann je mit irgend etwas restlos geklärt werden. Alles wird zur Chiffre; in dieser Geheimschrift verweist aber das eine Zeichen immer nur auf das andere" (ebd.: 293). Hauser deutet in diesem Zusammenhang an, dass die Chiffrierung letztlich zu einer "Auflösung der Sprache selbst" führt. Aus dieser Definition lässt sich schließen, dass manieristische Texte eine metaliterarische Lesart anbieten, indem, vereinfacht gesagt, Sprache und deren Bedeutung im fiktionalen literarischen Text problematisiert werden. Hauser nennt dies einen "Zustand, der virtuell das Ende der Herrschaft der Vernunft und der Sprachlogik bedeutet" (ebd.: 292).




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Neben den schon erwähnten Kennzeichen manieristischer Literatur muss noch einmal auf die schon zuvor kurz erwähnte Formel von Hugo Friedrich hingewiesen werden, nach der sich im Manierismus die "äußerste Subjektivität [...] bekundet in der Hypertrophie der Kunstmittel und Atrophie der Gehalte" (Friedrich 1964: 596). Dies bedeutet, dass die literarische Form dem Inhalt übergeordnet ist bzw. der Inhalt sich erst über die Form, oder, wie Friedrich es formuliert, "die Überfunktion des Stils" konstituiert (ebd.: 599).

Auch Curtius hatte bereits auf diese "Überfunktion des Stils" hingewiesen, da nach seiner Definition im Manierismus "der ornatus wahl- und sinnlos gehäuft wird" (Curtius 1948: 278). Was Curtius als "Gefahr" sieht (ebd.: 278), ist auch für Hauser "problematisch": "Mit dem Manierismus wird der Stil zum Programm und damit problematisch. [...] Die Kunst verliert damit das Unproblematische ihres Daseins" (Hauser, 1964: 21).

Elke Pacholek-Brandt gibt in ihrer Untersuchung über manieristische Elemente in postmoderner amerikanischer Literatur einen kompakten Überblick über die Poetiken und Stilmerkmale manieristischer Literatur. Sie betont (mit Verweis u.a. auf Hauser und Hocke) eine veränderte Realitätsauffassung im Manierismus: Phantasie und Wirklichkeit vermischen sich, mimetische Naturdarstellung (in bildender Kunst und Literatur) wird verworfen bzw. entstellt. Dies führt zu einer vom Autor bewusst evozierten Schockwirkung auf Seiten des Lesers. Diese, aus dem Gefühl der Entfremdung des Künstlers resultierende, Betonung des Effekts ist für Pacholek-Brandt (wieder in Bezug auf Hauser) eng verknüpft mit dem Phänomen des Narzissmus als "bewusste und gewollte Einstellung des Künstlers zur Gesellschaft, zu seinem Kunstwerk, zu sich selbst" (Pacholek-Brandt 1988: 38).

Im Zusammenhang mit dem Narzissmus-Phänomen verweist Pacholek-Brandt auch auf die Tendenz manieristischer Kunst zur "Reflexion über das Kunstwerk innerhalb des Kunstwerks" (ebd.: 38). Dadurch, dass sich der Künstler seiner Rolle gewissermaßen über-bewusst ist, verkehrt sich das traditionelle Verhältnis von Autor, Leser und Werk: Das Kunstwerk wird zur Bühne, auf der sich alle Beteiligten gegenseitig und selbst inszenieren. Pacholek-Brandt führt in diesem Zusammenhang Roussets "Le théâtre sur le théâtre" als Beispiel an: "Zuschauer, die Schauspieler auf der Bühne sehen, welche wiederum Zuschauer spielen, die Schauspieler auf der Bühne (auf der Bühne) sehen [...]" (ebd.: 38/39). Im Manierismus reflektiert Kunst also theoretisch über sich selbst, indem das Werk seine eigene Gemachtheit ausstellt und thematisiert.

Als zentrale Symbole und Motive manieristischer Literatur nennt Pacholek-Brandt u.a. Labyrinth, Spiegel und Traum: Das Labyrinth dient im Manierismus hauptsächlich als Verwirrspiel, der Spiegel zur Verzerrung der Wirklichkeit, das typisch manieristische Traummotiv verwischt die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit (ebd.: 41-43). Die Autorin verweist weiterhin darauf, dass fast alle von ihr aufgezählten Stilmittel erst dadurch manieristisch werden, dass sie im Übermaß vorhanden sind. Was für Hugo Friedrich die "Hypertrophie der Kunstmittel" ist, nennt Pacholek-Brandt "eine Form des l'art pour l'art" (ebd.: 46).

in Bezug





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3. "The Narrative of Arthur Gordon Pym" als manieristischer Roman

3.1 Verrätselung der Autorschaft und Fiktion als Betrug

Die eigentliche Erzählung von Pyms abenteuerlicher Reise ist eingebunden durch ein "Preface" am Anfang und eine "Note" als Nachwort am Ende. Ein Vorwort hat gemeinhin die Aufgabe, den Leser auf die Rezeption der folgenden Lektüre einzustellen. Als Teil der (fiktionalen) Erzählung hat es diese Funktion nur scheinbar: So gibt sich das "Preface" zu "Pym" nicht als Teil der fiktionalen Handlung zu erkennen: Schon nach wenigen Zeilen empfindet der Leser das Vorwort in keiner Weise als hilfreich, sondern eher als verwirrend. Ebenso ist die "Note" kein Nachwort im eigentlichen Sinn, denn auch sie ist Teil der fiktionalen Handlung, und auch sie wiederum ist getarnt als nicht-fiktionaler Kommentar auf die Kapitel 1 bis 24. Im Folgenden werde ich unterscheiden zwischen Vorwort, bzw. "Preface", "Note", und "Erzählung Pyms" (damit gemeint sind die Kapitel 1 bis 24). Den Roman insgesamt ("Preface", Kapitel 1 bis 24 und "Note") bezeichne ich als "Narrative".

Der erste Satz des Vorwortes (und der gesamten "Narrative") bezieht sich auf das Ende der Erzählung Pyms: Der Protagonist berichtet, dass er nach seiner Rückkehr zufällig auf einige "Gentlemen" trifft, die großes Interesse an seinen Reiseberichten bekunden und ihn daraufhin ermutigen, seine Erlebnisse zu veröffentlichen. Pym nennt drei Gründe, warum er dies nicht tun möchte: Erstens hält er es nicht für möglich, einen Bericht zu schreiben, der auch nur den Anschein von Wahrheit hätte, "the appearance of truth" (Poe 1999: 3), da er während der Reise so gut wie keine Aufzeichnungen gemacht habe. Zweitens erscheinen ihm die Ereignisse seiner Reise "of a nature so positively marvellous" (ebd.: 3), also derart außergewöhnlich, dass diese von der Öffentlichkeit mit großer Wahrscheinlichkeit als Fiktion aufgefasst werden würden, zumal es abgesehen von seinem halb-indianischen Begleiter keine Zeugen gebe. Als dritten Grund nennt Pym seine unzureichenden Fähigkeiten als Autor. Unter den "Gentlemen", die Pym zur Veröffentlichung seiner Abenteuer auffordern, ist auch ein gewisser "Mr. Poe, lately editor of [...] a monthly magazine" (ebd.: 4).

Zum fiktionalen Ich-Erzähler Pym tritt nun wiederum fiktional der wirkliche Autor, sowohl der Erzählung Pyms, als auch des Vorwortes und der "Note". Der (fiktionale) Poe rät Pym, auf die "shrewdness" und den "common sense" der Öffentlichkeit zu zählen: Die Chancen, dass sein Bericht als Wahrheit aufgefasst werde, erhöhten sich durch den Umstand, dass er sich besonders phantastisch ausnehme, eher, als dass sie sich verschlechterten (ebd.: 4). Als Pym dies nicht überzeugt, bietet Poe ihm an, dass er, Poe, auf der Grundlage von Pyms Bericht den ersten Teil seiner Reise in leicht fiktionalisierter Form "under the garb of fiction" veröffentlichen könne (ebd.: 4). Pym stimmt Poes Vorschlag zu, und zwei Episoden (um welchen Teil der Erlebnisse es sich genau handelt, wird nicht geklärt) dieser "pretended fiction" erscheinen unter Poes Namen dies garantiert dafür, so Pym, dass die Geschichte als fiktional aufgefasst wird (ebd.: 4).




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Das Verhältnis um Autorschaft und um das Verhältnis von Fiktionalität und Realität wird weitergeführt: Bezeichnenderweise spricht Pym von einer "ruse" (ebd.: 4), also einer List, mit der er und Poe versucht haben, Reales als Fiktion zu verkaufen: Denn trotz der "air of fable" (ebd.: 4), die durch Poes Autorschaft Pyms Erlebnisse umgibt, bezeugt eine Vielzahl von Leserbriefen, dass Pyms von Poe aufgeschriebene Erlebnisse, obwohl nun anders intendiert, von ihren Lesern als Wahrheit aufgefasst wurden – und dies, obwohl von Poe kein einziges Erlebnis Pyms geändert oder verzerrt wurde (ebd.: 4). Dass alle folgenden Erlebnisse Pyms (wie die gesamte "Narrative") Fiktion (und nicht "fact") sind, diese jedoch von einer fast extrem verzerrten ("distorted") Realitätswahrnehmung bzw. Phantasie des Autors (des "wirklichen" Poe) gekennzeichnet ist, kann der theoretisch zu diesem Zeitpunkt weitgehend unvoreingenommene Leser nicht ahnen. Gerade dieses unerwartete (fiktive) Publikumsecho vertreibt jeden Zweifel Pyms, dass man die Authentizität seiner Abenteuer nun noch in Frage stellen könnte. Er beschließt also, die Geschichte selbst an Stelle Poes weiterzuschreiben und bekräftigt zuvor noch einmal, dass trotz des "garb of fiction" alle seine von Poe auf den ersten Seiten geschilderten Erlebnisse der Realität entsprechen. Überdies stellt er fest, dass es dem Leser kaum Schwierigkeiten bereiten werde, den von ihm geschriebenen Teil von dem Poes zu unterscheiden.

"Pym" schließt mit einer "Note", die jedoch die ohnehin schon recht verwirrende Frage, wer nun eigentlich was geschrieben hat, noch weiter vernebelt. Das Nachwort bietet also keinen Ausweg aus dem Labyrinth, sondern erweist sich als ein weiterer Irrweg. In der anonymen "Note" erfährt man, dass Pym vor Vollendung der Erzählung unter mysteriösen Umständen gestorben sei: Die letzten, fehlenden Kapitel seien durch Pyms Tod (der nicht erklärt wird) unwiederbringlich verschwunden. Pyms Mitreisender und einziger Zeuge Peters steht aus ungenanntem Grund nicht zur Verfügung, und "the gentleman whose name is mentioned in the preface" (ebd.: 4), also Mr. Poe, weigere sich aufgrund von Zweifeln an der Wahrheit der letzten Teile der Geschichte, diese zu Ende zu erzählen. Der (fiktionale) anonyme) Autor der "Note" steuert nichts Weiteres zur Klärung der Frage nach dem Verfasser bei, sondern liefert im Wesentlichen eine Interpretation der Schriftzeichen in den Höhlen von Tsalal (s.u.).

Zunächst fällt auf, wie viele Widersprüche und Ungereimtheiten sich in Vorwort und "Note" finden.: Wie es im "Preface" heißt, fordert der (fiktionale) Poe Pym auf, da er vor allem von den letzten Teilen von Pyms Erlebnissen angetan ist, das zunächst nur mündlich Berichtete aufzuschreiben, weigert sich jedoch, so erfährt man in der "Note", das Fragment nach Pyms Tod zu komplettieren, da er erhebliche Zweifel an der Wahrheit von Pyms Erlebnissen hegt. Irritierend ist zudem, dass Poe die ersten Teile aufschreiben will, obwohl ihm, laut Pym, besonders der letzte Teil von Pyms Erlebnissen beeindruckt hat (welche Teile genau gemeint sind, wird auch hier nicht erklärt).

Fast noch irritierender sind die Annahmen Pyms und (des fiktionalen) Poes bezüglich Wahrheit und Fiktion: Dass Pym seine Geschichte zunächst nicht veröffentlichen möchte, da er das Erlebte als zu ausgefallen beurteilt, als dass man es für real halten könnte, scheint plausibel. Poes Ratschlag, dass genau die phantastischen Aspekte seiner Reise dem Publikum besonders real erscheinen werden, leuchtet weniger ein; auch Pym erscheint dies nicht logisch.




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Warum Pym, der seine angeblich wahren Erlebnisse aus Angst vor Missverständnis auf Seiten der Leser nicht veröffentlichen möchte, Interesse daran haben könnte, das Erlebte in fiktionalem Gewand unter Poes Namen (der für Fiktion bürgt) zu publizieren, ist nicht zu erklären. Noch absurder mutet an, dass die Leserschaft nun ausgerechnet die fiktionalisierte Version von ohnehin schon nahezu unglaublichen tatsächlichen Vorfällen, verfasst von einem Autor fiktionaler Texte, für real halten soll.

Die Widersprüchlichkeit und Verwirrung kulminiert, als im Nachwort von anonymer Seite erklärt wird, dass sich (der fiktionale) Poe aufgrund von Zweifeln an der Wahrhaftigkeit von Pyms Erlebnissen vom Bericht distanziert habe und daher nicht bereit sei, dass fehlende Kapitel nach Pyms Tod zu ergänzen. Dies ist für den Leser äußerst überraschend, hat er doch im Vorwort erfahren, dass Poe Pym zur Niederschrift aufgefordert hat. Poe muss also die gesamte "Narrative" Pyms gekannt haben, da Pym ja nicht bei der Erzählung der Erlebnisse, sondern bei deren Niederschrift verstarb Pym hat ja noch im Vorwort von der Entstehungsgeschichte des Buches und seinem Zusammentreffen mit dem Co-Autor Poe berichten können.

Poe thematisiert auf spielerische Art im Vorwort und in der "Note" die äußerst komplexe Beziehung zwischen Autor, Erzähler, Leser und Werk. Ein Kunstgriff besteht darin, das im Regelfall nicht-fiktionale Vorwort in die fiktionale Handlung zu inkorporieren, um einen literaturtheoretischen Diskurs zu eröffnen. Poe lässt sich selbst als semi-fiktionalen Charakter in der Handlung auftreten, um so Pyms Authentizität zu suggerieren. Realität und Fiktion verschwimmen, da Poe in der Rahmenhandlung (Vorwort und "Note") als Autor auftaucht, der er der Realität entsprechend ja auch ist. In der fiktionalen Rahmenerzählung trifft also der quasi-reale Poe auf den fiktiven Pym, die sich darüber verständigen, wie die "Narrative" geschrieben und veröffentlicht werden soll. Zu diesem Zeitpunkt hat der Prozess des tatsächlichen Schreibens natürlich schon begonnen, denn hinter der Rahmenhandlung lauert der wirkliche Autor Poe. Doch nicht nur Poe, sondern auch die Leserschaft tritt, wieder semi-fiktional, im Buch auf: Poe und Pym machen die Art der Veröffentlichung von den erwarteten und teilweise schon erfolgten Reaktionen der fiktionalen Leser abhängig. Der Leser, der das Buch in der Hand hält, wird gewissermaßen Zeuge, wie der Autor sich mit dem imaginären Ich-Erzähler des Buches über die Leserschaft unterhält der Leser sieht sich also selbst beim Lesen zu.

J. Gerald Kennedy begreift dieses schier unentwirrbare Spiel um Autor- und Leserschaft als einen "hoax": "Poe covertly ridicules the public whose belief he solicits" (Kennedy 1983: 127). Kennedy verweist auf Michael Allen, der einen "gentlemanly elitism" hinter Poes Irrwegen im Vorwort (sowie im ganzen weiteren Roman) vermutet: Wenige gebildete Leser erfreuen sich auf Kosten weniger Gebildeter, die Poes raffinierter, elitärer Erzählstrategie auf den Leim gehen (ebd.: 128).

John T. Irwin verweist darauf, dass durch die Einführung des "fiktionalen" Autors Poe in den Roman die herkömmliche Rolle des fiktionalen Erzählers (hier: Pym) unterminiert wird: Durch Poes Doppelrolle (als tatsächlicher Autor des Romans und als Romanfigur) ist Poe nicht mehr nur "writing self" und Pym nicht mehr bloß "written self". Die Romanfigur Poe ist Autor des Anfangs der Erlebnisse des eigentlichen "written self" Pym; Poe ist zunächst also "writing-" und "written-self" in einer Person, während Pym sich vorübergehend als Teil der Geschichte in ihr auflöst.




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Als Pym jedoch feststellt, dass Poes Erzählung "under the garb of fiction" von den Lesern als Wahrheit empfunden wird, übernimmt er wieder selbst die Erzählung seiner Erlebnisse, wird also wieder zum "written-self". Durch den Zusatz Pyms, dass der Leser an den stilistischen Unterschieden erkennen werde, welcher Teil von ihm und welcher von Poe verfasst sei, dies im Text aber nicht realisiert wird, sind Poe und Pym praktisch nicht mehr voneinander zu trennen (Irwin 1980: 120/121).

Durch diesen doppelten Spiegeleffekt spiegelt sich einerseits Poe in Pym und in der Romanfigur Poe im Werk ergibt sich andererseits, so Irwin, auch eine Umkehrung des traditionellen Verhältnisses von Autor und Werk als "master/slave relationship": Der Autor kontrolliert also gewissermaßen nicht mehr sein Werk, sondern wird von ihm kontrolliert: Als Erzähler steht er sowohl innerhalb (als sprachliche "written selves" Poe und Pym) als auch außerhalb des Werkes (als "writing self", also realer Autor). Er ist somit von seinem Werk nicht mehr eindeutig zu trennen: "The self that speaks is simultaneously written by its words. Language is an effect of the self, and the self is reciprocally an effect of language" (ebd.: 121).

Peter Krumme hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass der angeblich deutlich zu erkennende stilistische Unterschied zwischen Poe und Pym nicht sichtbar ist und Pym und Poe durch ihr wechselseitiges "Delegieren der Niederschrift" verwechselbar werden. Durch den in der anonymen "Note" berichteten Stimmungsumschwung Poes, der inzwischen an der Wahrheit von Pyms Erlebnissen zweifelt und sich distanziert, ist es kaum mehr möglich, die Autorschaft in diesem Verwirrspiel genau zu klären: "Die Frage, wer denn eigentlich die Erzählung abgefasst habe, wird bis zu dem Punkt vorangetrieben, an dem die Möglichkeit einer Erzählung sichtbar wird, die sich von allein geschrieben hat" (Krumme 1978: 101).

Die von Krumme formulierte Möglichkeit der Erzählung, die sich von allein geschrieben hat, wird anhand der Verfasserfrage von Poe als metatextuelles, selbstreferentielles Spiel inszeniert. In der Überkomplexität und Verrätselung der Autorschaft wird ein manieristisches Kunstwollen sichtbar. Vorwort und "Note" verstricken sich in der Widersprüchlichkeit der Aussagen in sich selbst: Man hat bald das Gefühl, dass die Klärung der Frage, wer welchen Teil der "Narrative" (incl. "Preface" und "Note") verfasst hat, in den Hintergrund tritt. Es geht vielmehr darum, den Leser in ein autoreferentielles, der weiteren Handlung kaum mehr dienliches Spiel zu verstricken, das eigenen Gesetzen folgt. Durch die Thematisierung eines erzähltechnischen Problems stellt der Roman seine eigene Gemachtheit aus: Er präsentiert sich von vornherein als Konstrukt. Die Argumentation der Romanfigur Poe, dass ein Text besonders dann vom Publikum als Wahrheit akzeptiert werde, wenn das (Re-)Präsentierte besonders unglaublich scheint, ist para-logisch. Ebenso widersprüchlich ist, dass Poe sich bereit erklärt, den ersten Teil von Pyms Erlebnissen "under the garb of fiction" zu schreiben, obwohl ihn besonders der letzte Teil beeindruckt hat. Hier handelt es sich wiederum um eine Aussage, die durch Poes Distanzierung in der "Note" vom letzten Teil der Erlebnisse Pyms höchst ambivalent wird.

Hocke weist auf den manieristischen Charakter von Paralogismen hin: "Die bewussten Täuschungen der Dichter [...] sind also nichts anderes als Paralogismen, widervernünftige Schlüsse, Trugschlüsse, sind nichts als bewusst konzipierte und formulierte irrationale Figuren, also intellektuell gewollte surreale Sprachgebilde. Ihre logisch widerspruchsvolle Struktur erzeugt 'Meraviglia' " (Hocke 1959: 135).




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Sinnstiftung und Sinnzerstörung wechseln einander ab: Kaum glaubt man als Leser verstanden zu haben, wer sich für welchen Teil der "Narrative" als Autor verantwortlich zeigt, erweist sich die soeben gewonnene Erkenntnis als Trugschluss: Und dies um so mehr, als die "Note von keinem der drei in Frage kommenden (Pym, Poe oder Peters), sondern von einem anonymen Herausgeber verfasst ist (de facto stammt sie natürlich von Poe selbst).

Krumme sieht hinter der radikalen Vermischung der Kategorien von "fact" und "fiction" Pyms Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Ereignisse, Poes Veröffentlichung "under the garb of fiction", die unerwarteten Reaktionen der Leser, etc. in Vorwort und "Note" genaues Kalkül des Verfassers am Werk:

Die Verschlagenheiten und Listen literarischer Einbildungskraft [...] tragen in genau kalkulierten Erschütterungen dazu bei, die Abgründe der Klassifikation aufzutun [...]. An ihren Darstellungsproblemen artikuliert die Narrative of Arthur Gordon Pym Möglichkeit und Unmöglichkeit von Repräsentationen (Krumme 1978: 108).

Diese Subversion von Literatur als Repräsentation verleiht Vorwort und "Note" manieristischen Charakter: Der Text erzeugt keine Illusion, sondern hat sich selbst und die Probleme seiner Produktion zum Thema; der Autor macht dadurch die potentielle Fiktionalität von Texten sichtbar. Linguistisch bedeutet dies, dass das Bezeichnete (das Signifikat) nie mit der Bezeichnung (dem Signifikant) übereinstimmt. Ulla Haselstein bemerkt hierzu:

Insofern der Signifikant nie mit dem Signifikat zusammenfällt, die alltägliche Sprachpraxis aber eine Identität postuliert, kann sie als Institutionalisierung des Betrugs gewertet werden. Sofern die Literatur ihre Fiktivität transparent macht, kann sie die Wahrheit des Diskurses anzeigen, d.h. seinen Betrugscharakter aufdecken (Haselstein 1991: 141).

Durch das von Poe in der "Narrative" inszenierte Verwirrspiel wird dieser potentielle Betrugscharakter von fiktionaler Literatur offensichtlich.


3.2 Spiegelungen, manieristische Ornamente und Fiktion als Clownerie

In seinem Kapitel über das manieristische Theater schreibt Hocke: "Wer kein festes Ich-Zentrum hat, unterliegt der Halluzination von Doppelgängern. Auf der manieristischen Bühne [...] wimmelt es von 'doublés' und 'Dédoublés' "(Hocke 1959: 218). Durch die vielgestaltige Ausfaltung des Doppelgängermotivs erweist sich Poes "Narrative" ebenfalls als manieristische Bühne.

Die Analyse von Vorwort und "Note" hat gezeigt, dass Poe und Pym nicht voneinander zu trennen sind: Poe ist somit ein Double oder Doppelgänger Pyms. Irwin beschäftigt sich in seiner Analyse der "Narrative" eingehend mit dem Phänomen des "Doubling" und zeigt, dass Poe nicht der einzige Doppelgänger Pyms ist: Die Begleiter Augustus und Peters fungieren ebenfalls als Doubles von Pym. Augustus, so Irwin, repräsentiert die irrationale Seite Pyms. Irwin belegt dies an Hinweisen im Text, z.B. an Pyms Bemerkung über "Augustus uncanny ability to enter 'into my state of mind' (Irwin 1980: 123/124).




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Das irrationale Moment tritt dadurch zutage, dass es Augustus, und nicht Pym ist, der den Segelausflug bei nacht auf der "Ariel" vorschlägt. Pym fragt sich nach dem Grund, warum er eine "mad idea" für "one of the [...] most reasonable things in the world" hält (Poe 199: 8). Irwin interpretiert Pyms irrationales Handeln in diesem Zusammenhang als interne Spaltung, also als eine Art der Schizophrenie, die im Roman durch Augustus' Rolle als Doppelgänger artikuliert wird: "The language of the passage [...] evokes both the internal / external doubling of daemonic possesion and the reciprocal oscillation by which rational and irrational are constituted" (Irwin 1980: 124).

Was Irwin als "internal / external doubling" bezeichnet, ist eine Form der Selbstentfremdung oder Persönlichkeitsspaltung, die charakteristisch für den Manierismus ist. Beispielsweise führt Hocke ein Zitat aus einem Theaterstück des Dichters P. Du Ryer an, in dem es heißt: "Ich weiß nicht, wer ich bin, in diesem dunklen Labyrinth von Schmerzen und Langeweile." Hocke zitiert in diesem Zusammenhang Shakespeares "Comedy of Errors": "Bin ich ich selbst? Ich bin mir selbst verkleidet" (Hocke 1959: 218).
Nach Irwins Argumentation tritt Peters als Pyms Doppelgänger an die Stelle von Augustus nach dessen Tod. Peters ist als Doppelgänger und "half-breed Indian" eine noch vieldeutigere Figur als Augustus:

[…] the half-breed [...] besides being a symbol of doubleness, is also one of the most common forms of the double in American fiction, and in the latter half of Pym it is precisely this role of the dark other self that the half-breed Dirk peters plays in relation to the narrator (Irwin 1980: 119).

Peters, so Irwin, ist trotz der Tatsache, dass er zweimal Pyms Leben rettet, deutlich als Pyms "dark other self" zu erkennen, zum einen durch seine animalische physische Erscheinung, die an den ungeheuren Menschenaffen in Poes Detektivgeschichte "Murders in the Rue Morgue" erinnert. Peters' Kraft droht ständig ins Animalische und Brutale zu kippen u.a. verweist Pym auf Anekdoten über Peters, von denen manche "had given rise to a doubt of his sanity" (Poe 1999: 49).

Pyms dunkle Seite spiegelt sich also in Peters wider, Peters selbst ist wiederum durch seine Herkunft als "half-breed" eine gewissermaßen in sich geteilte, ambivalente Figur. Diese Verkettung von Spiegelungen und Teilungen setzt sich jedoch noch weiter fort: Pym hat, bevor er Peters getroffen hat, den Bericht der "Lewis and Clarke"-Expedition gelesen. Peters' Herkunft liegt gewissermaßen im Reisebericht der Expedition, wie folgendes Zitat nahe legt: "his father was a fur-trader, [...] or at least connected in some manner with the Indian trading-posts on the Lewis river" (Poe 1999: 49). Irwin sieht in dieser Konstruktion eine weitere Variation der Verkehrung von "writing-" und "written-self": "Pym can write Peters only because Peters is, in a sense, already written" (Irwin, 1980: 128).

Diese Reihung von Spiegelungen und Ähnlichkeiten verdeutlicht wieder den manieristischen Charakter der "Narrative": Pyms dunkle Seite spiegelt sich in dem in sich geteilten "half-breed" Peters, der wiederum in Pyms Lektüre der "Lewis and Clarke" Expedition als Spiegel eines Teils seiner selbst erscheint. Durch seine Lektüre der "Lewis and Clarke"-Expedition, die wie die "Narrative" eine Abenteuerreise ist, wird Pym selbst zum Leser; der wirkliche Leser der "Narrative" spiegelt sich also bei seiner Lektüre auch einer (vorgeblich) authentischen Abenteuerreise in der Figur Pyms.




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Das Bild vom Leser, der sich selbst beim Lesen zusieht, erinnert an Roussets eingangs erwähntes manieristisches Motiv in " Le théâtre sur le théâtre": "Zuschauer sehen Schauspieler auf der Bühne, die Schauspieler auf der Bühne (auf der Bühne) sehen ..." (Pacholek-Brandt 1988: 39). Durch diese Über-Konstruiertheit oder "Hypertrophie der Form" wird sich der Leser, der unversehens in ein weiteres Labyrinth oder Spiegelkabinett getreten ist, sowohl der Fiktionalität als auch der Selbstreferentialität seiner Lektüre bewusst.

Treten an den oben genannten Textstellen die Spiegelungen eher verdeckt (z.B. als Doppelgänger oder in Pyms Lektüre) auf, verwendet der Autor an anderer Stelle direkt das Spiegelmotiv, u.a. als Too-wit, der Häuptling der Eingeborenen auf Tsalal, sich selbst im Spiegel sieht (Kpt. 18): In der Kabine an Bord der "Jane Guy" hängen zwei Spiegel einander gegenüber. Als Too-wit in einen Spiegel schaut und dem anderen Spiegel den Rücken zuwendet, sieht er sein Spiegelbild. Dies bringt ihn völlig außer Fassung: "I thought the savage would go mad" (Poe 1999: 166). Als er sich umdreht und sich wiederum selbst im zweiten Spiegel sieht, wirft er sich auf den Boden und weigert sich erneut hinzusehen. Hängen sich zwei Spiegel gegenüber, ergibt sich für den Betrachter bekanntermaßen ein verblüffender Unendlichkeitseffekt er sieht sich unendlich oft gespiegelt. Als Pym und die Crew der "Jane Guy" auf Tsalal an einem Bach haltmachen, ruft die eigentümliche Konsistenz und Farbe des in aderähnlichen Einzelströmungen fließenden Wassers unter ihnen eine ähnliche Reaktion hervor, wie sie die Spiegel bei Too-wit ausgelöst haben.

Mag man die beiden beschriebenen Szenen zunächst für eine gegenseitige Spiegelung im Text halten, ist man als Leser, wie Too-wit zwischen den Spiegeln, getäuscht: Denn Krummes Argument leuchtet ein, dass das Wasser nicht reflektierend sein kann, da Too-wit, der aus dem Bach trinkt, dort ebenfalls sein Spiegelbild erblickt hätte und daher nicht vor den Spiegeln an Bord des Schiffs erschrocken wäre (Krumme 1978: 140). An Stellen wie dieser öffnet sich ein breiter Raum der Spekulation: Laut Ricardous Interpretation ist die fehlende Spiegelung ein "foreshadowing" der "shrouded human figure" als Allegorie der leeren Seite, wenn man die fehlende Spiegelung als Symbol für den Schriftspiegel einer Seite versteht (ebd.: 141). Krumme geht in diesem Zusammenhang der Frage nach, "ob überhaupt Re-Flexion und damit auch Bedeutung möglich" ist (ebd.: 140). Irwin führt die Spiegelungen Too-wits und des Wassers auf den Mythos des Narziss zurück, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, dieses jedoch zwangsläufig unerreichbar bleibt (Irwin 1980: 157 ff.).

Gleich welcher interpretatorischen Figur man folgt, erkennt man auch hier, dass der Text wiederholt auf sich selbst verweist. Es ergibt sich eine zweifache "mise-en-abyme": Too-wits Unendlichkeitserfahrung vor den Spiegeln ist ein Blick in den Abgrund. Um ihrer Reise Sinn zu verleihen, steuern auch Pym und Peters dem Abgrund ("abyss", frz. "abyme") entgegen. Auf ähnliche Weise blickt auch der Leser in einen Abgrund, da er versucht, einem unendlich deutbaren Text endgültigen Sinn zuzusprechen. Dieser Aspekt soll später noch genauer ausgeführt werden.

Auch bei seinem 'Auftritt' in der Verkleidung des toten Hartman Rogers sieht Pym sich im Spiegel. In dieser Episode werden neben der Verarbeitung des Spiegelmotivs noch weitere manieristische Züge des Textes offenbar.




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Rogers, selbst ein Meuterer, wird im Zuge der Meuterei auf der "Grampus" von einem anderen Mitglied der Besatzung vergiftet. Poe schildert detailiert, in welcher Weise der Körper des Toten entstellt ist: "[...] the corpse represented in a few minutes after death one of the most horrid and loathsome spectacles I remeber to have seen [...]" (Poe 1999: 77). Poe lässt, wie Marita Nadal anmerkt, keine Gelegenheit aus, höchst unerfreuliche Begebenheiten und Anblicke, meist von verwesten Leichen, oder, wie auf dem Titelblatt der Originalausgabe angekündigt, "atrocious butchery" ausführlich zu schildern: "Thoughout the text, poe explores the threat to bodily integrity and identity by exploiting the disgusting physicality of death" (Nadal 2000: 379).

Auch Kennedy sieht den "exaggerated gore" in der "Narrative" als bewusst gewähltes Stilmittel (Kennedy 1983: 129). Minutiöse Beschreibungen von Abscheulichkeiten aller Art ziehen sich durch den gesamten Text: Neben der Leiche von Rogers z.B. das kannibalische Verspeisen von Parker (Kpt. 12), die Beschreibung der Leiche von Augustus und deren "Entsorgung" (Kpt. 13) oder der Anblick von "twenty-five or thirty human bodies [... that] lay scattered about [...] in the last and most loathsome state of putrefaction" (Poe 1999: 101), um nur einige Beispiele zu nennen. Nadal stellt fest: "Pym's portrayal of horror contributes to the general effect of meaninglessness: its excessive, grotesque character subverts the features it displays" (Nadal 2000: 374). Mit anderen Worten heißt dies, dass die ausgiebigen Darstellungen von Horrorszenarien letztlich kaum etwas inhaltliches beisteuern, sie sind also groteskes Ornament. Wieder trifft Friedrichs Formel von der "Hypertrophie der Kunstmittel und der Atrophie der Gehalte" auf die "Narrative" zu. Die ständige Wiederholung, so abschreckend die Schilderungen von Leichen und Brutalitäten auch sein mögen, erzeugen den manierismustypischen Effekt von "Schock und Langeweile": "Bei allzu häufig wiederholtem 'Verblüffen' gibt es zwischen Sensation und Langeweile wie zwischen klassischer Erhabenheit und Lächerlichkeit nur einen Schritt" (Hocke 1959: 301).

Nun zurück zu Pyms theatralischem Auftritt als "Geist" des toten Rogers. Um die gewalttätigen Meuterer in die Flucht zu schlagen, zieht Pym die Kleidung von Rogers an, schminkt sich mit Blut und verkleidet sich, bis er aussieht wie die entstellte Leiche Rogers': "The streak across the eye was not forgotten, and presented a most shocking appearance" (Poe 1999: 79). Als Pym sich in seiner grotesken Verkleidung im Spiegel sieht, erschrickt er vor sich selbst: "As I viewed myself in a fragment of looking-glass [...] I was so impressed with a sense of vague awe at my appearance, and at the recollection of the terrific reality which I was thus representing, that I was seized with a violent tremour […]" (Poe 1999: 80). Peter Krumme interpretiert den verkleideten Pym als eine Figur, die "dem Tod verfallen ist" (Krumme 1978: 102). Nadal nennt Pyms erschrecken vor dem eigenen Spiegelbild "the contemplation of 'I' as Other" (Nadal 2000: 380). Den Motiven der Selbstentfremdung, der Maskierung und (wie schon zuvor ausgeführt) der Spiegelung kommen im Manierismus zentrale Rollen zu. Poe entwirft ein ironisch gebrochenes manieristisches Tableau: Pym maskiert sich und erblickt den Tod ("the recollection of the terrific reality I was thus representing") im eigenen Spiegelbild der Spiegel wird zum Zerrspiegel, in welchem Pym sich selbst nicht mehr erkennt. Dies erinnert an den historischen Manierismus in der bildenden Kunst, der verzerrt und entstellt, sowie an das schon zitierte "Sich-selbst-verkleidet-sein".




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Pyms Verkleidung weist noch auf ein weiteres Problemfeld: Nachahmung der Natur (bzw. Mimesis): Die Frage, inwieweit Kunst Wirklichkeit abbilden kann oder soll, ist für den Manieristen zentral. Pym versucht durch seine Verkleidung, Realität ("the terrific reality I was thus representing") nachzuahmen: Obwohl er in seiner Aufmachung den gewünschten Effekt bei den Meuterern hervorruft, wirkt diese Szene gleichermaßen lächerlich und phantastisch. Es ist kaum anzunehmen, dass sich eine Horde blutrünstiger Piraten durch den Anblick des verkleideten Pym in Furcht und Schrecken versetzen lässt. Es wirkt slapstick-artig, wenn ausgerechnet derjenige unter den Meuterern, der den von Pym gespielten Rogers umgebracht hat, vor Schreck tot umfällt, als er den kostümierten Pym sieht (Poe 1999: 84).
Hocke sagt über das Scheitern des manieristischen Menschen: "Im saturnischen Bereich der Manieristen führt die berechnende Nachahmung noch mythisch gebundener oder auch nur subjektiver Phantasiai unvermittelt zur extremen Clownerie: zur Clownerie noch vor dem Spiegel" (Hocke 1959: 67). Dies liest sich wie ein Kommentar auf den verkleideten Pym, der sich im Spiegel betrachtet: Pym steckt sich ein Kissen unters Hemd, um den deformierten Körper der Leiche zu imitieren, anschließend lässt er sich von Peters das Gesicht weiß und rot bemalen; dem Leser wird in der Tat "extremste Clownerie" vorgeführt, die zunächst tatsächlich vor einem Spiegel stattfindet und im weiteren Verlauf nichts an Komik einbüßt.

Hocke sagt über das Scheitern des manieristischen Menschen: "Im saturnischen Bereich der Manieristen führt die berechnende Nachahmung noch mythisch gebundener oder auch nur subjektiver Phantasiai unvermittelt zur extremsten Clownerie: zur Clownerie noch vor dem Spiegel" (Hocke 1959: 67). Dies liest sich wie ein Kommentar auf den verkleideten Pym, der sich im Spiegel betrachtet: Pym steckt sich ein Kissen unters Hemd, um den deformierten Körper der Leiche zu imitieren, anschließend lässt er sich von Peters das Gesicht weiß und rot bemalen; dem Leser wird in der Tat "extremste Clownerie" vorgeführt, die zunächst tatsächlich vor einem Spiegel stattfindet und im weiteren Verlauf nichts an Komik einbüßt.

Gerade die Komik und hochgradige Unwahrscheinlichkeit dieser Szene macht einmal mehr die Fiktivität der "Narrative" sichtbar. Pyms Verkleidung als Geist bzw. als Clown ist eine mise-en-abyme für eine Problematik, die auch schon in Vorwort und "Note" und im gesamten Roman verhandelt wird: Pym verkleidet sich als Toter, gibt aber das Bild eines Clowns ab, der auf der Bühne des Romans eine groteske Komödie aufführt. Er versucht Realität zu imitieren, spielt aber sichtbar Theater. Genauso wie die para-logischen Verrenkungen in Vorwort und "Note" letztlich dazu führen, dass der Leser nach deren Lektüre überzeugt sein wird, dass es sich bei der "Narrative" um eine konstruierte Fiktion handelt, wird an Stellen wie Pyms Auftritt als Geist der fiktive Charakter des Textes deutlich. Wieder hat der Roman seine eigene Fiktionalität als Thema: Das Signifikat, der tote Rogers, stimmt nicht mit dem Signifikant, Pym als Clown, überein. Der Autor ist darauf angewiesen, dass die Leser, wie die Meuterer auf der "Grampus", auf die Gaukelei des Romans hereinfallen.




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Was Ulla Haselstein über Derridas Deutung der Metatextualität von Andersens Märchen bemerkt, kann auch für die beschriebene Stelle in der "Narrative" gelten: "[...] der Ort der Wahrheit ist eben im Text, der eine Warnung vor allem rhetorischen Trug formuliert. Der Text dekonstruiert sich also gerade, insofern er eine Warnung (vor sich) ausspricht und Anspruch auf eine Wahrheit erhebt, die durch die Warnung angezweifelt werden muss" (Haselstein 1991: 132).


3.3 Hieroglyphen, Labyrinthe und Meta-Fiktion

In der "Narrative" findet man eine Vielzahl von Hieroglyphen, Chiffren, Wortspielen und Rätseln. Krumme spricht von "einem Geflecht von Wortspielen und Buchstabenkombinationen [...] Das Benannte, auf Erklärung Angewiesene, mündet in eine Hieroglyphik von Namen, Natur und Niegeschautem, die jede Einheitlichkeit der Handlung von vornherein verhindert" (Krumme 1978:105). Neben Hieroglyphen, wie denen an den Wänden der Höhlen von Tsalal, oder Augustus' kryptischer Nachricht für den im Inneren der "Grampus" eingesperrten Pym treten sowohl Namen chiffriert auf (z.B. die offensichtliche Analogie bzw. die Gleichheit im Silbenfall der Eigennamen Edgar Allen Poe und Arthur Gordon Pym, der Eingeborene Too-wit, etc.), wie auch Natur (das Wasser von Tsalal), Landschaft und deren Bewohner (die Eingeborenen von Tsalal) durch ihr Aussehen und teilweise unerklärliches Verhalten als Hieroglyphen erscheinen. Die "shrouded human figure [whose] skin [...] was of the perfect whiteness of the snow" steht als letzte (nicht ?) zu entziffernde Hieroglyphe am Ende von Pyms Bericht (Poe 1999: 217).

Irwin merkt an: "[...] we must understand the way in which Pym's confrontation with the hieroglyphic human figure in the cavern foreshadows his final confrontation with the apotheosized human figure in the mist […]" (Irwin 1980: 170). Zuvor erläutert er den Unterschied zwischen den sogenannten "metaphysical-" und "scientific schools of interpretation" von Hieroglyphen, den ich hier kurz in vereinfachter Form wiedergeben möchte, da er für die Interpretation der Hieroglyphen in der "Narrative" von Bedeutung ist: Die "metaphysical school" geht davon aus, dass ägyptische Hieroglyphen entweder figurative oder symbolische Zeichen sind, die die Objekte selbst abbilden sollen oder ihnen ein symbolische Bedeutung zusprechen. Die "scientific school" hingegen begreift Hieroglyphen als phonetische Zeichen, d.h. ein Zeichen steht, wie ein Buchstabe des Alphabets, für einen bestimmten Laut. Die "metaphysical school" versteht Hieroglyphen als Urschrift aus einer Zeit, in der der Mensch sich auf natürliche Weise ausdrücken konnte: "[...] the farther man moved from his original state, the more obscure became the old emblematic relationship between a sign and its referent" (ebd.: 7). Für die "scientific school" bedeutet das Abrücken von einer figurativen hin zu einer phonetischen abstrakten Schrift einen Beleg für Evolution und Fortschritt. Vor diesem Hintergrund interpretiert Irwin die Hieroglyphik der "Narrative" (ebd.: 166 ff.).




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Nachdem Pym und Peters die Zeilen auf den Höhlenwänden auf Tsalal gefunden haben, stehen sie vor der Frage, ob diese von menschlicher Hand in den Stein gemeißelt wurden oder ob sie zufällig durch natürliche Einwirkung entstanden sind. Pym verwirft den Vorschlag von Peters, dass es sich bei einzelnen Zeichen um alphabetische Buchstaben handeln könne, zugunsten der Ansicht, dass die Einschnitte in der Felswand auf natürliche Art zustande gekommen sind. Er argumentiert jedoch wiederum offensichtlich para-logisch:

I convinced [Peters] of his error, [...] by directing his attention to the floor, where […] we picked up […] several large flakes of the marl, which had evidently been broken off by some convulsion […] and which had projecting points exactly fitting the indentures (Poe 1999: 202).

Es erübrigt sich beinahe festzustellen, dass die herausgebrochenen erhabenen Felsteile eher auf die Richtigkeit von Peters' Interpretation schließen lassen als auf die Pyms. Dennoch räumt dieser ein, dass das erste Zeichen einer menschlichen Figur ähnelt (ebd.: 202).

Wenn Pym also einerseits davon ausgeht, dass die Höhleninschriften auf natürliche Weise entstanden und daher bedeutungslos sind, andererseits aber bestätigt, dass das erste Zeichen einer menschlichen Figur ähnelt, deutet dies auf eine Ambivalenz der Zeichen hin, die durch den Hinweis in der "Note", dass sich die Inschriften durch Heranziehung des äthiopischen und arabischen Alphabets zu einer mehr oder weniger sinnvollen Aussage kombinieren lassen, untermauert wird. Aber auch diese Argumentation ist unsicher, da der Autor der anonymen "Note" zugibt: "Conclusions such as those open a wide field for speculation and exciting conjecture" (ebd.: 220). Wenn die Inschriften weder durch die Natur noch durch menschliche Einwirkung hervorgerufen wurden, bleibt als Möglichkeit auch noch, dass sie göttlichen Ursprungs sind (Irwin 1980: 169). Der Leser ist also stetig dazu angehalten, den Sinn eines Textes zu konstituieren, der sich jedoch vehement der Sinnstiftung entzieht: "Meaning is what man necessarily adds to every scene, but Pym constantly withholds meaning [...]" (ebd.: 183).

Irwin sagt hierzu, dass Pyms Unfähigkeit, die Hieroglyphen als solche zu erkennen (vorausgesetzt, dass sie tatsächlich Bedeutungsträger sind), einen Verlust der Fähigkeit symbolisiert, Zeichen, die vormals verstanden wurden, entziffern zu können. Dieser Verlust, bedingt durch die Beschränktheit des menschlichen (auch kollektiven) Gedächtnisses, ist jedoch zwingende Voraussetzung für jegliche (sprachliche) Repräsentation, denn, so Irwin: "when every detail is equally significant, then nothing is significant, nothing can be made to stand for precisely because nothing stands out [...]" (ebd.: 176). Linguistisch bedeutet ein unbeschränktes Gedächtnis einen "collapse of signification. For language to function there must be a partial forgetting that creates a blank background for signification" (ebd.: 178).

In diesem Sinne sind nicht nur die Hieroglyphen in den Höhlen von Tsalal, sondern sämtliche Hieroglyphen und Verschlüsselungen in der "Narrative", die sich letztlich alle einer eindeutigen Interpretation entziehen, ein "foreshadowing" der großen weißen Figur im letzten Kapitel: Pym, Peters und der Eingeborene Nu-Nu fahren dem Abgrund (abyss), dem Pol, der äußersten Grenze entgegen, wo sie (und der Leser) die Lösung der vielgestaltigen Rätsel, die der Roman aufgegeben hat, finden wollen dort, wo die Bedeutung der Ursprache der Hieroglyphen wiedergefunden werden kann. Die Lösung aller Rätsel bleibt aber verwehrt, da die "Narrative" (abgesehen von der "Note") mit dem Erscheinen der weißen Figur abbricht.




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Dazu bemerkt Krumme: "Etwas wird versperrt, zweifellos, versperrt durch eine weiße Gestalt, die sich vor dem nach Süden drängenden Kanu aufrichtet" (Krumme 1978: 127). Krumme greift hier die Lesart Jean Ricardous auf, der die weiße Figur als Allegorie des leeren Blattes und Pyms Reise Richtung Abgrund als "journey to the bottom of the page" interpretiert (Harvey 1998: 167). So endet das letzte Kapitel "mit einer Apotheose der Schrift und ihrer äußersten Nähe zum leeren Blatt" (Krumme 1978: 128). Irwin dagegen vergleicht die weiße Figur mit einem geschlossenen Theatervorhang, der alles Dahinterliegende – den Abgrund, die Bedeutung der hieroglyphischen Urschrift, die Antwort auf die Frage nach der (Un)Möglichkeit linguistischer Repräsentation des Sublimen etc. – verdeckt (Irwin 1980: 224). Auch er bezieht sich dabei auf Ricardous Interpretation:

[...] the most accurate linguistic representation of the undifferentiated is provided by the narrative's sudden termination as Pym enters the mist, the emptiness of the white page imaging the blankness of the white curtain […]. Yet this absence of language can be described as a 'linguistic representation' (ebd.: 224).

All diese Lesarten weisen die "Narrative" als manieristischen Text aus. Hocke schreibt zum Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem: "Wir begreifen jetzt jedenfalls schon, dass [...] im Manierismus mit bloßen 'Zeichen' in einer ästhetisierenden Literatur nur noch 'operiert' wird. Allmählich geht der Glaube und dann auch das Wissen vom Symbolwert dieser Zeichen verloren" (Hocke 1959: 48). Die Hieroglyphen in der "Narrative", deren Entschlüsselung ausbleibt, thematisieren eben jenen Verlust des Wissens um den Symbolwert von Zeichen. Wie schon zuvor erwähnt, sind Paralogismen ein Mittel des Manieristen, um den Leser in ein Labyrinth zu locken:

Man operiert zwar mit logisch-syllogistischen Mitteln, aber um Anti-Logisches zu erzeugen. [...] Aus der Kombinationskunst als einem Instrument zur Erkenntnis rationaler Zusammenhänge wird ein Instrument zur Bildung irrationaler Verhältnisse gemacht (ebd.: 59).

Dies lässt sich beispielhaft an Pyms Argumentation zur Herkunft der Inschriften auf Tsalal anwenden: Die auf dem Höhlenboden liegenden herausgebrochenen Teile belegen keinesfalls, dass die Zeichen nicht von Menschen stammen könnten, trotzdem trägt Pym im Ton tiefster Überzeugung diese offensichtlich unlogische Schlussfolgerung vor: "Peters was willing [...] to adopt the idle opinion that they were really [alphabetical characters]. I convinced him of his error [...]" (Poe 1999: 202). Pym erscheint durch Äußerungen wie diese dem Leser als unzuverlässig. Trotzdem ist der Leser auf diesen unzuverlässigen, irrational argumentierenden Erzähler angewiesen. Er muss jedoch in dem Wissen weiterlesen, sich auf gewissermaßen unsicherem Terrain zu befinden, da er nicht mehr alles glauben kann, was ihm von Pym berichtet wird. Der Leser muss sich auf ein Spiel einlassen, dessen Regeln er selbst nicht bestimmen kann.

Je mehr die Zahl an Rätseln wächst, z.B. die Ähnlichkeit der Namen Poe und Pym, Augustus' Brief, die Schwarz-weiß-Metaphorik in der Natur, das Wasser auf Tsalal, Too-wits Angst vor Spiegeln, die Hieroglyphen in der Höhle, die weiße Figur am Ende, etc., desto tiefer verstrickt man sich als Leser ins Labyrinth der "Narrative", da man beginnt, die Rätsel miteinander in Verbindung zu bringen.




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Pym zeichnet zum Beispiel die Formen der Klüfte ("chasms") auf Tsalal auf (Abb. 1, 2, 3, 5), obwohl die Form dieser Höhlen eigentlich irrelevant zu sein scheint (ein weiterer Paralogismus). Da die Höhlenformen auf der selben Seite wie die Inschriften (Abb. 4) abgebildet werden, wird man als Leser die Formen der Höhlen als Hieroglyphen wahrnehmen und diese sogar auf die Inschriften beziehen. Durch die Abbildungen 1, 2, 3 und 5 erhalten die Höhlenformen (ein Detail, dem man bei normaler Lektüre möglicherweise keine zu große Aufmerksamkeit gewidmet hätte) eine Bedeutung, die ihnen eigentlich nicht zusteht: Sie tragen nichts zur Entschlüsselung der Inschriften (Abb. 4) bei.

Hier trifft die Bemerkung Hockes über den manieristischen Dichter zu: "Man will das Labyrinthische [...] nicht entwirren, sondern bis ins Unendliche hinein tiefer verwirren" (Hocke 1959: 60).

Umberto Eco bezeichnet das barock-manieristische Labyrinth als Irrgarten "mit zahlreichen Ästen und Zweigen aus toten Seitengängen. Es gibt einen Ausgang, aber der ist nicht leicht zu finden." (Eco 1984: 65). Dieses Labyrinth unterscheidet man vom sogenannten Rhizom-Labyrinth: Letzteres ist "so vieldimensional vernetzt, dass jeder Gang sich unmittelbar mit jedem anderen verbinden kann. Es hat weder ein Zentrum noch eine Peripherie, auch keinen Ausgang mehr, da es potentiell unendlich ist" (ebd.). Nach dieser Definition könnte man zunächst die "Narrative" für ein Rhizom-Labyrinth halten, da sich die Rätselhaftigkeiten vernetzen und man nicht zum Ausgang findet, weil dieser von der "shrouded human figure" verstellt wird.

Wenn man aber wie Irwin und Krumme die weiße Figur selbst als Ausgang aus dem Labyrinth begreift, erscheint die "Narrative" eher als ein barock-manieristisches Labyrinth, deren Rätsel sich als "Äste und Zweige toter Seitengänge" entpuppen. Wie ich anhand der Analysen Irwins und Krummes zuvor gezeigt habe, produziert der Roman seinen Sinn durch seine Meta-Fiktionalität. Hocke nennt manieristische Romane "Labyrinthe des Nichts" (Hocke 1959: 226). Die Problematik des Schreibens und sprachlicher Repräsentation als Thema der "Narrative" findet ihren Ausdruck in einer Art Nichts, der "shrouded human figure": "Like all texts, Pym ultimately can be 'about' nothing other than itself,dramatizing its own insularity" (Harvey 1998: 167). Hocke legt dar, dass ein Roman durch seine Autoreferentialität zum manieristischen Werk wird: "Sicher ist es kein Zufall, dass der größte manieristische Roman aller Zeiten, der 'Don Quixote' von Cervantes, geschrieben worden ist, um Hunderte von Romanen, Produkte fluchwürdiger Traumfabriken, ad absurdum zu führen" (Hocke 1959: 227). Auch die "Narrative" scheint Hunderte "fluchwürdiger Traumfabriken ad absurdum" führen bzw. als solche entlarven zu wollen.

Zum Verhältnis des Manieristen zur Gattung des Romans bemerkt Hocke zudem Folgendes:

Die Manieristen aller Zeiten ziehen dem Epos das Verspoem vor und dem Roman, im landläufigen 'realistischen Sinne', eine nur ihnen gemäße Prosa-Gattung, die wir [...] als intellektuellen Para-Roman bezeichnen wollen (ebd.: 227).

Legt man dies zu Grunde, so erweist sich sowohl Poe als Autor als auch die "Narrative" und die Umstände ihres Entstehens als in jeder Hinsicht manieristisch: Dass Poe die knappe Form von Lyrik und Kurzgeschichte als dem Roman überlegene Gattungen diesem vorgezogen hat, ist aus seinen Essays "The Philosophy of Composition" und "The Poetic Principle" hinlänglich bekannt.




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Dies bestätigt auch die Entstehungsgeschichte der "Narrative": Poe hatte aus künstlerischer Sicht kein Interesse an einem Roman. Sein New Yorker Verlag "Harper and Brothers" lehnte aus wirtschaftlichen Gründen eine Publikation von Poes Kurzgeschichten ab und versuchte den Autor zum Verfassen eines Romans zu motivieren. Poe, der von seinem vorherigen Arbeitgeber, der literarischen Zeitschrift "Southern Literary Messenger", entlassen wurde, erklärte sich schließlich dazu bereit. Poe hatte aber bereits zwei Episoden der "Narrative" im "Messenger" veröffentlicht, wahrscheinlich ohne eine genaue Vorstellung von der weiteren Konzeption zu haben. Diese ersten Episoden baute er dann zum Roman aus, um den Wünschen seines Verlegers entgegenzukommen (Weiner 1992: 44/45).

Diese recht diffuse Entstehungsgeschichte ist eine Erklärung dafür, dass die "Narrative" insgesamt episodenhaft wirkt: Pym gerät von einer Katastrophe in die nächste, die Reihenfolge ist eher sekundär. Da Poe aber nur auf Druck seines Verlegers, auf den er nicht zuletzt aus finanziellen Gründen angewiesen war, die Romanform wählen musste, obwohl dies seinen literaturästhetischen Überzeugungen weitgehend widersprach, mag für ihn Motivation genug gewesen sein, den Roman innerhalb der Gattung selbst zu desavouieren bzw. zu parodieren. Weiner merkt hierzu an: "Whether or not Poe intended to satirize popular travel narratives, he clearly violated his contemporaries' sense of novel in writing Pym" (ebd.: 45).

Die Metafiktionalität der "Narrative", verstanden als eine Absage an den Roman in Romanform – ein literarisches Kabinettstück, das als manieristisch bezeichnet werden kann – verleiht dem Werk den elitären Charakter, der manieristischer Kunst inhärent ist. Pacholek-Brandt führt hierzu aus: "Diese Verbindung von Kunst und kunsttheoretischen oder auch kunstkritischen Überlegungen weist den Manierismus als explizit intellektuelle Kunstrichtung aus" (Pacholek-Brandt 1988: 39). Poe kommt einerseits der Erwartungshaltung des Publikums entgegen bzw. übertrifft diese sogar, indem er, wie schon beschrieben, "atrocious butchery" aller Art bis zum Exzess schildert. Andererseits unterläuft die offene bzw. fragmentarische Form, wie Weiners Zitat belegt (s.o.), sämtliche seinerzeit geltende Konventionen. Insofern überrascht es kaum, dass der Roman in seiner kritischen Rezeption wiederholt als "hoax" des Autors aufgefasst wurde (Harvey 1998: 6). Spricht Pacholek-Brandt noch von "expliziter Intellektualität" (s.o.), betont Hauser (in Zusammenhang mit der komplexen Metaphernsuche des Manierismus) noch deutlicher das Elitäre manieristischer Kunst:

In gewissen literarischen Richtungen, wie vor allem im Manierismus, wird sie [die Metapher, der Verf.] zu einer Geheimsprache, die nicht nur dazu dient, komplexe Gedanken kompliziert zum Ausdruck zu bringen, sondern auch dazu, sich vom Pöbel abzusondern (Hauser 1964: 289).

Gäbe es in der "Narrative" nicht die zahlreichen Rätsel, Ungereimtheiten, Metaphern, Hieroglyphen etc., läse sie sich als reißerische, möglicherweise etwas exzentrische, insgesamt jedoch vergleichsweise konventionelle Abenteuergeschichte. Durch die bewusste Verrätselung, kulminierend im offenen Ende, gewinnt der Roman ein hohes Maß an Komplexität, das sich an der fast unüberschaubaren Zahl an oft einander stark widersprechenden Deutungen, welche die "Narrative" erfahren hat, zeigt. Um zu einer ansatzweise zufrieden stellenden Lesart des Textes zu gelangen, muss man sich eingehend mit ihm auseinandersetzen eine Arbeit, der sich der weniger ambitionierte Leser, der in erster Linie unterhalten werden will, kaum aussetzen wird. Dies zeugt von einer gewissen elitären Einstellung des Autors gegenüber dem Leser. Auch dieses elitäre Kunstwollen hinsichtlich der Rezeption macht den Roman manieristisch.




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Harvey sieht den Grund für die zahllosen Ausdeutungen der "Narrative" darin, dass sich der Text einer letzten und eindeutigen Interpretation entzieht: "Satisfying answers to questions of the work's meaning and its merit seem perpetually to recede ahead of us, as the most basic questions about the text and its composition remain open" (Harvey1998: 3). Das Labyrinth im Text produziert ein Labyrinth möglicher Interpretationen: So bildet der Text gewissermaßen seine Rezeption metatextuell ab. Wie Irwin zeigt, ist auch die endlose Möglichkeit der Interpretation bereits im Text angelegt: Auf den Abbruch des Berichts folgt die "Note", die, da sie sich auf die Höhleninschriften auf Tsalal bezieht, den Leser wieder in den Text zurückführt: "Thus, the note returns the reader to the chasm episode, presumeably to trace the narrative line to the final break in the text, and then on to the note which sends him back to the chasm episode, and so on" (Irwin 1980: 169, 197). Der Leser wird demnach also (theoretisch) nie vom Autor aus dem Text "herausgelassen", es entsteht eine Art Endlosschleife, und immer wieder eine neue Möglichkeit der Interpretation wieder stellt der Text seine eigene Gemachtheit aus, indem er sich ständig von Neuem selbst thematisiert.


4. Schlussbemerkung

Wie zu sehen war, weist sich Poes "Narrative" als manieristischer Text aus. Verschiedene einzelne Manierismen wie Spiegel, Labyrinth, Ornament, Verrätselung, mise-en-abyme-Effekte, Spielcharakter, etc. sind Teil eines manieristischen Gesamtkonzeptes, das vor allem in der meta-fiktionalen Dimension des Romans deutlich wird. Geht man von Ecos Standpunkt aus, "dass postmodern überhaupt der moderne Name für Manierismus als metahistorische Kategorie" sei (s.o.), erklärt dies auch, warum die "Narrative" oft als "proto-modern" bzw. als "proto-post-modern" bezeichnet wird (Harvey 1998: 161). Der manieristische Charakter des Romans kann also als Beleg dafür dienen, dass der Begriff des Manierismus meta-historisch als Bezeichnung für geistesgeschichtliche Umbruchphasen angewendet werden kann. Es bietet sich daher an, weitere Texte Poes oder auch von anderen Autoren der American Renaissance (sowie anderer Epochen) auf manieristische Elemente hin zu untersuchen.


Bibliographie

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